Geraubte Wahrheit - Alia Cruz - E-Book

Geraubte Wahrheit E-Book

Alia Cruz

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Beschreibung

Sie sind Kunstdiebe und nennen sich ART HUNTER. Doch sie stehen auf der Seite des Gesetzes und stehlen im Auftrag von Museen, um Sicherheitslücken aufzudecken. Das Besondere daran? Jeder von ihnen ist mit einer ganz speziellen Fähigkeit ausgestattet.   Art Hunter Clément Marchal soll in Wien die Renovierung im Kunsthistorischen Museum überwachen. Doch abgelenkt durch eine Affäre mit der Schauspielerin Regina Haller versagt er, und ein Gemälde von Dürer wird gestohlen. Um das Gemälde wiederzubeschaffen tut er alles, doch die Spur führt ihn zu Regina.   Pflicht oder Liebe?   Wie weit gehst du, um die, die du liebst nicht zu verlieren?

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GeraubteWahrheit

Art Hunter 4

Alia Cruz

Geraubte Wahrheit – Art Hunter 4Alia Cruz

© 2018 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864437434ISBN eBook-mobi: 9783864437441ISBN eBook-epub: 9783864437458

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Über den Autor

Prolog

In einem Kloster außerhalb von Paris, 1985

Schwester Patricia seufzte laut. Die Nonne sah angewidert auf das Baby hinab. Der Junge schrie unablässig. Wahrscheinlich hatte er Hunger. Sie war eingeteilt, ihn zu füttern. Was hatte sie nur getan, um diese Strafe zu verdienen? Warum musste Gott sie ausgerechnet mit einer Ausgeburt des Teufels konfrontieren? Nichts anderes war dieses Baby.

Sie wusste, dass sie nicht so denken durfte, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Vor einem Monat hatte man das Neugeborene in Decken gewickelt auf den Stufen des Klosters abgelegt. Oberschwester Beatrice hatte das Kind gefunden. Durch die dicken Decken war ihnen zunächst nichts aufgefallen, aber mittlerweile war klar, dass es sich nicht um ein normales Kind handeln konnte.

Noch hatte die Oberschwester nicht entschieden, was mit dem Baby passieren sollte. Es in ein Waisenhaus, wie es üblich gewesen wäre, zu geben, wurde immer wieder hinausgezögert.

Sobald man mit der Haut des Jungen in Berührung kam, bekam man einen schmerzhaften elektrischen Schlag verpasst. Anders ließ es sich nicht beschreiben.

Sie alle fassten den Jungen nur mit Handschuhen an. Dicke Winterhandschuhe waren von Nöten. Kein Mensch würde so etwas adoptieren, keine Pflegefamilie würde so eine Missgeburt aufnehmen.

Patricia streifte sich die Handschuhe über und nahm das Fläschchen. Es war ihr egal, ob das Kind sich verschluckte, sie hob nur leicht den Kopf in der Wiege an und stopfte ihm den Gummipfropfen in den Mund. Das Baby auf den Arm zu nehmen, kam nicht in Frage.

Ekelhaft. Unheimlich. Die blauen Augen erschienen ihr uralt, und jedes Mal, wenn das Kind sie ansah, glaubte sie, es könne ihre schlechten Gedanken lesen.

Hoffentlich wurden sie das Baby bald los, keiner wollte es hier im Kloster haben. Nur leider schien Oberschwester Beatrice sich mit ihrer Entscheidung Zeit zu lassen. Es war sicher kein gutes Zeichen, dass sie heute nach dem Morgengebet verkündet hatte, dass sie den Jungen taufen wollte. Jetzt bekam das Ding auch noch einen Namen.

Clément, denn so hatte Beatrices Vater geheißen, und Marchal sollte sein Nachname sein, nach dem Gründer ihres Klosters. Die Zeichen deuteten darauf hin, dass die Oberschwester das Kind behalten wollte.

Sie war nicht die Einzige im Kloster, die dieser Idee mit Widerwillen begegnete.

Wenn Clément Marchal im Kloster aufwachsen sollte, dann würden Patricia und ihre Schwestern, ihm schon zeigen, dass er ein Monster war. Wenn das Kloster die Ausgeburt des Teufels beherbergen sollte, dann würden sie ihm die Hölle auf Erden bereiten. Gott würde das sicher absegnen.

1

Paris, Chantilly – heute

Théo, Chef der Art Hunter, sagte nichts. Stattdessen musterte er Clément schon seit geschlagenen drei Minuten. Théos Blick blieb an dem Pflaster an Cléments Hals hängen.

„Was?“ Clément konnte nicht verhindern, dass er seinen Boss anblaffte. Die letzte Woche war die Hölle gewesen. Er hatte nichts anderes in seinem Leben. Es gab nur das Eine: ein Art Hunter sein. Früher war er mal Privatdetektiv gewesen. Ein ziemlich guter sogar, aber die Art Securité, eine Sicherheitsfirma, für die ihre Gruppe arbeitete, hatte ihn rekrutiert. Clément war ein wandelnder Lügendetektor, deshalb war er so erfolgreich als Detektiv. Das hatte die Art Securité auf ihn aufmerksam gemacht und sie hatten ihn engagiert.

Jetzt war er Kunstdieb, entwendete in Museen und Privatsammlungen Kunstgegenstände, um Sicherheitslücken aufzudecken. Auch darin war er verdammt gut.

Weil er eben nichts anderes in seinem Leben hatte. Keine Frau, wie mittlerweile fast alle Art Hunter, bis auf Théo und Tristan. Doch Théo würde wahrscheinlich auch nie wieder eine Frau an sich ranlassen. Er war mal verheiratet gewesen, doch Vivienne war brutal ermordet worden.

Tristan war zu sehr mit seiner Schwester beschäftigt, die lange im Koma gelegen hatte und jetzt vollkommen verwirrt durch die Gegend streifte.

Freunde hatte Clément auch keine, weil er keine wollte. Zumindest redete er sich das ein. Wer würde auch schon mit ihm befreundet sein wollen? Okay, die anderen Art Hunter bemühten sich um ihn, das hatten sie zumindest am Anfang getan, und nachdem er seinem Kollegen Maurice das Leben gerettet hatte, waren sie jetzt sowas wie Freunde. Vielleicht.

Maurice kannte sein Geheimnis. Irgendwann würde ihn das auch abstoßen. Dann war wieder niemand da, also sollte er sich nicht an diese Freundschaft gewöhnen.

„Ich bin mir nicht sicher, ob du fit genug bist.“ Théos laute, tiefe Stimme holte ihn in die Realität zurück.

„Ich bin fit. Gib mir einen Auftrag.“

„Du hattest eine Kugel in der Schulter und eine im Hals. Du hast ein riesen Glück gehabt. Niemand hat was dagegen, wenn du dich noch ein paar Wochen schonst.“

Clément hob den Arm. „Die Schulter ist verheilt. Mein Hals auch. Ich kann arbeiten.“

Théo stand auf und hinkte um seinen Schreibtisch. Sein Boss hatte die Fähigkeit zu heilen, und warum er sich nie selbst geheilt hatte, würde Clément immer ein Rätsel bleiben. Menschen waren ihm meistens ein Rätsel. Sie logen ständig. Verbargen so viel. Waren freundlich und nett und dachten doch etwas ganz anderes von ihm. Menschen hatten ihm noch nie etwas Gutes gebracht.

„Ich weiß nicht, ich wollte eigentlich Pascale mit der Aufgabe betrauen, er hätte gut mit Tom zusammenarbeiten können.“

„Also gibt es einen offenen Job?“ Clément schöpfte Hoffnung, er konnte nicht noch länger untätig im Schloss sitzen.

„Eigentlich zwei Jobs. Ich werde Pascale für den Diebstahl einteilen, dann bekommst du den anderen Auftrag, den ich ursprünglich für ihn vorgesehen hatte.“

„Kein Diebstahl?“

„Nein, du bist noch nicht fit genug dafür, egal, was du mir erzählst.“

Verdammt. Clément zwang sich wie immer, keine Gefühlsregung zu zeigen. Das hatte er perfektioniert. Wenn man mit so vielen Gefühlen von anderen Menschen konfrontiert wurde, entweder sobald man sie berührte, was Clément vermied, oder ihnen in die Augen sah, dann reduzierte man seine eigenen Gefühle auf ein Minimum.

„Was soll ich machen?“

Théo seufzte. „Eigentlich bist du wirklich der Beste für den Job. Du bist der Einzige, der Deutsch spricht.“

Cléments Muttersprache war französisch, er hatte aber eine Zeit lang in Deutschland gelebt und später in New York, daher konnte er fließend Deutsch und Englisch sprechen. „Was soll ich denn jetzt machen? Spuck es aus.“

Théo hob die Augenbrauen an. „Man könnte fast meinen, du fühlst dich im Schloss nicht wohl.“

Clément fühlte sich nie wohl. Das lag aber nicht an seiner Umgebung, sondern an ihm selbst. Doch das würde er seinem Boss nicht auf die Nase binden. Irgendwann hatte er kapiert, dass man vor sich selbst nicht weglaufen konnte. Das war es, was ihm auf dieser Welt am meisten Angst einjagte. Er war allein. Mit sich selbst. Für immer. Ein scheiß Gefühl.

„Ich arbeite nun mal gern und das weißt du.“

Théo setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und holte ein paar Blätter aus einer Schublade. Sorgfältig legte er sie in einen Aktenordner und überreichte ihn Clément.

„Im Kunsthistorischen Museum in Wien wird ein Trakt renoviert. Du wirst während der Zeit tagsüber ein Auge auf diesen Trakt haben. Wegen der Renovierung gibt es keine Sicherheitsmaßnahmen, nur nachts werden Kameras alles überwachen. Sieh zu, dass keiner in den nächsten Wochen etwas mitgehen lässt. Das ist alles.“

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Nimm den Auftrag an oder nicht. Deine Entscheidung.“

Wie langweilig war das denn? „Du hast keinen anderen Job für mich?“

„Nein, das ist das Einzige, was ich dir anbieten werde, solange du nicht hundertprozentig fit bist.“

„Ich bin hundertprozentig fit!“

Théo schüttelte den Kopf. Es war aussichtslos. Mit dem Boss diskutierte man nicht.

„Also schön. Ich packe dann mal.“

„Pass auf dich auf!“

Verwundert blieb Clément kurz stehen. Das hatte Théo noch nie gesagt. Erstens glaubte er nicht, dass sein Boss ihn sonderlich gut leiden konnte, zweitens was sollte bei diesem Job schiefgehen?

2

Wien

Clément verließ die kleine Pension, um seinen ersten Arbeitstag im Kunsthistorischen Museum zu beginnen. Es waren nur ein paar hundert Meter und der kurze Marsch tat ihm gut. Wegen der Verletzungen, die er in New York davongetragen hatte, war sein Sportprogramm zu kurz gekommen.

Sport war neben seinem Job die einzige große Leidenschaft, die er pflegte. Jeden Tag lief er mehrere Kilometer und verbrachte mindestens zwei Stunden im Fitnessstudio im Schloss. Er rauchte und trank nicht. Doch manchmal fragte er sich, warum er so gesund lebte. Wollte er etwa hundert werden? Wozu? Die Aussicht auf Jahrzehnte der Einsamkeit war nicht gerade verlockend.

Während er einen Fuß vor den anderen setzte, schweiften seine Gedanken ab. Er war immer ein Außenseiter gewesen, im Kloster unter den Nonnen, wo er aufgewachsen war, später in Berlin, als er studiert hatte, und natürlich als Privatdetektiv in New York.

Mit wem hätte er sich auch zusammentun sollen? Verdammt, er musste dringend wieder Sport treiben und einen richtigen Job von Théo zugewiesen bekommen, sonst würde er noch in seinem Selbstmitleid ertrinken.

Er meldete sich wie vereinbart am Personaleingang des Museums. Der Mann, der ihn empfing, musterte ihn von oben bis unten.

„Wir haben eine Uniform, ich hole Ihnen gleich eine in Ihrer Größe“, war das Erste, das er nach der Begrüßung sagte.

„Nicht nötig.“ Clément hatte nicht vor, in einen dunkelblauen Anzug zu schlüpfen. Entweder sie nahmen ihn mit Tarnhose und schwarzem T-Shirt oder gar nicht. Anscheinend war sein Blick so deutlich, dass der Mann mit den Schultern zuckte.

„Wie Sie wollen, der Trakt ist ja sowieso für Besucher gesperrt während der Renovierung.“

Sie benutzten die Treppe in der Mitte des Museums, um auf die erste Ebene zu gelangen. Rechts befand sich die Gemäldegalerie für italienische, spanische und französische Malerei. In der Mitte die Sonderausstellung und die Kuppelhalle. Ihr Ziel war die linke Seite. Dieser Teil sollte renoviert werden.

Sein Vorgesetzter oder was auch immer der Mann sein sollte, bedeutete ihm, zu folgen.

„Wir hatten auf dieser Seite vor geraumer Zeit einen Wasserschaden. Zum Glück ist den Bildern nichts passiert.“ Es war der Teil, in dem sich die niederländische, flämische und deutsche Malerei befand. „Die Säle neun bis einundzwanzig werden benutzt, zweiundzwanzig bis vierundzwanzig stehen schon seit geraumer Zeit leer. Wir haben die leeren Räume genutzt, um einige sehr wertvolle Bilder während der Renovierung dort unterzubringen. Ihre Aufgabe ist es, den Leuten ein wenig auf die Finger zu schauen. Wenn Ihnen was verdächtig vorkommt, melden Sie es mir.“

Das sollte ja nicht allzu schwer sein. Fast hätte Clément geschnaubt. Was für eine bescheuerte Aufgabe.

„Die Firma geht Saal für Saal mit der Renovierung vor. Das wird ein paar Wochen in Anspruch nehmen.“

Ein paar Wochen? Davon hatte Théo nichts gesagt. Doch er hätte es sich denken müssen. Also hatte der Boss ihn für ein paar Wochen aufs Abstellgleis geschoben. Na, herzlichen Glückwunsch. Hoffentlich kam er nicht vor Langeweile um.

„Die Arbeiter machen von 13:00 Uhr bis 14:00 Uhr Mittagspause, dann können Sie ebenfalls Pause machen.“

Die würde Clément mit den Arbeitern verbringen. Wenn einer ein krummes Ding in Erwägung zog, konnte er sich am besten in der Pause zwischen ihnen umsehen.

„Sie reden wohl nicht viel?“

„Wozu?“

„Dann gutes Gelingen.“

Der Mann streckte ihm die Hand hin. Clément ignorierte die Geste, drehte sich um und ging in Saal Nummer neun, wo die Arbeiter gerade mit der Renovierung begannen.

Regina Haller stand vor dem Spiegel ihres Ankleidezimmers. Nein, das ging gar nicht. Warum hatte sie sich dieses leuchtend rote Kleid eigentlich gekauft? Ach nein, das war ihr von Gucci geschickt worden. Vor drei Monaten, wenn sie sich recht erinnerte. Aber wer konnte sich das schon merken. Jeden Tag kamen Pakete und Päckchen von Designern und Kosmetikfirmen an. Das meiste Zeug gefiel ihr nicht. Ihr Agent bestand darauf, dass sie diese Sachen trug. Ihre Stylistin ebenfalls. Ex-Stylistin um genau zu sein, deswegen steckte sie ja jetzt in diesem Dilemma und wusste nicht, was sie anziehen sollte. Sie hatte Sandra vor drei Tagen gefeuert. Zum zweiten Mal hatte man sich in mehreren Klatschmagazinen über sie lustig gemacht. Als Regina die Fotos gesehen hatte, war ihr auch klar gewesen warum. Ihr Busen war zu groß für diverse Kleider, in die Sandra sie gesteckt hatte, und sie hatte unmöglich ausgesehen. Blindes Vertrauen ihrer Stylistin gegenüber, war ein dummer Fehler. Natürlich war sie nicht ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen auf die Events gegangen, aber Sandra hatte all ihre Bedenken im Keim erstickt.

Seit sie vor ein paar Monaten den Oscar in Hollywood bekommen hatte, war sie Österreichs neue Nationalheldin. Da konnte sie sich solche Schnitzer nicht erlauben, vor allem, wenn sie weiterhin ernste Rolle bekommen und nicht auf ihren Busen reduziert werden wollte.

Sie warf das rote Gucci-Kleid in die Ecke. Womit konnte man ihre blöden Brüste ein wenig kleiner machen? Also farbtechnisch gesehen? Oder kam es auf den Ausschnitt an? Gott, sie hatte keine Ahnung davon. Mode und dieser ganze Kram hatte sie nie interessiert, Jogginganzüge waren ihre Lieblingskleidung.

Doch der Ball dieses Bauherrn heute Abend wurde ihr zu Ehren gegeben, also musste sie auch erscheinen, und das nicht im Jogger.

Das silberne, hochgeschlossene Kleid wäre passend, aber halt, das hatte sie schon einmal bei einem öffentlichen Auftritt getragen. Mist, verdammter, dafür hatte man eine Stylistin, die diese Dinge überwachte.

Derzeit besaß sie 567 Kleider. Zeit, shoppen zu gehen und sich für heute Abend ein neues zuzulegen. Vielleicht eins von der Stange? Oh Mann, die High Society würde in Ohnmacht fallen. Regina kicherte.

„Was ist so lustig?“

Mit einem Aufschrei schnappte sie sich ihren Morgenmantel und wickelte ihn um sich. „Hast du mich erschreckt! Mach das nie wieder!“

„Ich dachte, du hättest mich im Spiegel gesehen.“

„Nein. Sag mal, hast du heute Abend schon was vor?“

Reginas Bruder Georg hob die Augenbrauen. Er sah verdammt gut aus und das wusste er. „Du brauchst einen attraktiven Begleiter?“ Er verbeugte sich. „Stets zu Diensten.“

„Dann lass uns shoppen gehen.“

„Wenn du zahlst.“

Regina verdrehte die Augen. Sie hatten beide ein beträchtliches Vermögen von ihren Eltern geerbt, aber während sie selbst mittlerweile zu den bestbezahlten Schauspielerinnen der Erde zählte, wusste sie nicht so genau, was ihr Bruder mit seinem Vermögen anstellte oder angestellt hatte.

Er lebte in einem teuren Appartement mitten in Wien, das ihm gehörte. Sein Studium hatte er abgebrochen. Erst war es Marketing gewesen, dann irgendwas mit Computern. Er brachte sowieso nie etwas zu Ende in seinem Leben, damit hatte Regina sich abgefunden. Sie stellte auch keine Fragen mehr.

Georg war schließlich ihr Bruder und sie hatte mehr als genug Geld. Was schadete es schon, ihm ab und zu unter die Arme zu greifen. Sie hakte sich bei ihm unter und mit zwei Bodyguards im Schlepptau machten sie sich auf den Weg in die City.

Clément hätte am liebsten selbst einen Pinsel in die Hand genommen. Er stand in Saal neun herum und beobachtete, wie sieben Leute ein wenig Farbe hier und da an die Wand klatschten, ein paar Lampen austauschten und in einer Ecke Fliesen legten. Dort sollte eine Vitrine aufgestellt werden. Das alles sollte Wochen dauern? Hier wurden keine Tapeten von den Wänden gerissen und eine Grundsanierung vorgenommen, hier wurde nur ausgebessert und verschönert.

Vielleicht änderte sich das ja in einem der anderen Säle. Schlagartig um 13:00 Uhr ließen die Männer die Werkzeuge fallen. Es war ihnen nicht erlaubt, im Saal zu essen oder zu trinken, also folgte er ihnen in den Pausenraum.

Er könnte ihnen dank seiner Fähigkeit in den nächsten Tagen auf den Zahn fühlen, sehen, ob einer etwas zu verbergen hatte. Und falls nicht, vielleicht zog man ihn dann ab? Die Chance war verschwindend gering, aber einen Versuch wert. Das Problem war nur, dass er dazu Konversation betreiben musste. Nicht gerade seine Stärke. Er könnte sie auch alle berühren und so in ihre Köpfe schauen, aber allein bei dem Gedanken wurde ihm schlecht.

Im Grunde war es den Art Huntern sowieso nicht erlaubt, ihre Fähigkeiten während eines Auftrages einzusetzen. Niemand durfte herausfinden, dass sie anders waren als andere Menschen. Das Problem war nur, dass Clément seine Fähigkeit im Gegensatz zu den anderen nicht abstellen konnte. Er wusste immer, wann ein Mensch log. Wenn er jemanden berührte, konnte er sogar in dessen Kopf eindringen und die Gedanken lesen. Letzteres hatte er über Jahre hinweg so weit unter Kontrolle bekommen, dass die Menschen dabei nur noch einen leichten bis gar keinen elektrischen Schlag mehr bekamen.

Das war mal anders gewesen. Als Kind hatte er noch keine Ahnung gehabt, wie er es kontrollieren konnte. Der Sport half ihm, und bestimmte Atemtechniken. Er hatte lange gebraucht, um das herauszufinden und es zu lernen. Wenn es ihm nicht gut ging, so wie in New York, als er die Kugeln einkassiert hatte, konnte er es auch nicht kontrollieren. Er hatte Maurice berührt, als der ihm im Krankenhaus seine Freundschaft anbot. Jetzt kannte der andere Art Hunter sein Geheimnis. Er konnte nur hoffen, dass Maurice es für sich behielt.

Er hatte nicht gemerkt, dass einer der Typen ihn angesprochen hatte. „Was?“

„Hier im Pausenraum werden wir schon nichts mitgehen lassen. Was willst du hier?“

Natürlich wussten sie, dass er zum Sicherheitspersonal gehörte, anscheinend passte es keinem von ihnen, dass sie bewacht wurden.

Clément schwieg. Was wollte er hier? Was wollte er überhaupt in diesem beschissenen Leben? Auf einmal erschien ihm der Pausenraum viel zu eng für acht Personen. Er brauchte frische Luft. Dringend. Vielleicht hätten sie ihn in New York besser sterben lassen sollen. Clément war das alles so leid. Ehe er überhaupt mitbekam, was er tat, hatte er auch schon das Museum verlassen und lief ziellos durch Wien.

In einem Kloster außerhalb von Paris – 1995

Schwester Patricia sah ihn wie immer voller Abscheu an. Er hatte ihr nie etwas getan, bemühte sich immer, ihr alles recht zu machen. Sie unterrichtete ihn in Sprachen und Literatur. Er wäre gern in eine Schule gegangen. Manchmal nahmen sie ihn mit in die Stadt in eine Kirche. Clément war mittlerweile zehn Jahre alt und noch nie hatte er mit anderen Kindern gespielt.

Die Oberschwester war immer nett zu ihm. Er hatte das Gefühl, dass sie die Einzige war, die ihn überhaupt leiden konnte.

Sie unterrichtete ihn in Religion und Mathematik. Dreimal die Woche kam ein männlicher Geistlicher, der die naturwissenschaftlichen Fächer übernahm. Von ihm hatte er einen Fußball geschenkt bekommen. Clément liebte Fußball. Seit der letzten Weltmeisterschaft hatten sie ihm einen kleinen Fernseher ins Zimmer gestellt.

Er liebte diesen Fernseher. Dort konnte er sehen, wie das Leben da draußen war, an dem er nicht teilnehmen durfte.

Schwester Patricia stand vor ihm. „Bist du endlich fertig?“

Er nickte. Oberschwester Beatrice war gestorben. Die Einzige, die ihn gern gehabt hatte. Sie mussten zu ihrer Beerdigung. Clément hatte die ganze Nacht geweint. Er weinte oft, weil er allein war. Da war niemand, der ihn in die Arme schloss und ihm sagte, dass alles gut werden würde. Nie berührte ihn jemand. Das lag an seiner Behinderung, wie Oberschwester Beatrice es immer genannt hatte.

Deswegen hatten ihn auch seine Eltern verstoßen. Nein, denen trauerte er nicht hinterher, sie hatten ihn schließlich nicht gewollt. Doch konnte er ihnen einen Vorwurf machen? Er war nichts wert. Er war ein Krüppel der Gesellschaft, so nannte ihn Schwester Loreley.