Gesammelte Novellen II - Eduard von Keyserling - E-Book

Gesammelte Novellen II E-Book

Eduard von Keyserling

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Beschreibung

Eine Sammlung der schönsten Novellen des großen Impressionisten Eduard von Keyserling: Feiertagskinder, Seine Liebeserfahrung, Dumala, Harmonie. Dumala: Herr auf Schloss Dumala ist der alte, invalide Baron Werland, der letzte der Dumalaschen Linie. Die Mäuse nagen hinter dem Getäfel der stark renovierungsbedürftigen Zimmer des geschichtsträchtigen Gemäuers. Der Baron kann nicht mehr laufen und wird von seiner Gattin, der jungen Baronin Karola Werland, voller Hingabe gepflegt. Wenn der Pastor Erwin Werner länger ausbleibt, kann der Schlossherr ungehalten werden. Pastor Erwin Werner tut so, als erfüllte er streng und weise seine Pflicht, geht jedoch einen eher unreinlichen Weg und begehrt heimlich die schöne Baronin. Die Gefühlsverwirrungen führen schließlich zu einem Mordanschlag.

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LUNATA

Gesammelte Novellen

Band 2

Eduard von Keyserling

Gesammelte Novellen

Band 2

© 1905-1919 Eduard von Keyserling

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Feiertagskinder

Seine Liebeserfahrung

Dumala

Harmonie

Feiertagskinder

In dem Buchowschen Landhause Lalaiken standen an diesem Novemberabend die Schatten besonders groß und schwarz an den weißen Wänden des Kinderzimmers. Eine einzige Kerze brannte auf dem niedrigen Kindertisch und die Wärterin, Frau Müller, hatte sie nahe zu sich herangezogen; dann, die Hornbrille auf der Nase, nähte sie. Die beiden Kinder saßen auf den Kinderstühlchen. Der siebenjährige Uli war schläfrig, er legte seinen Arm auf den Tisch, stützte den Kopf, der mit den ungeordneten blonden Locken ganz groß erschien, auf den Arm und blinzelte mißmutig in das Licht. Die zwei Jahre ältere Isa spielte mit Holzpüppchen. Die grauen Augen schauten wach und aufmerksam vor sich hin, und die schmalen Lippen bewegten sich tonlos.

»Jetzt ist Schlafenszeit,« sagte Frau Müller und ließ ihre Arbeit sinken. »Geht jetzt euern Eltern gute Nacht wünschen.«

Uli jedoch verzog weinerlich sein Gesicht. »Heute geh ich nicht,« sagte er, »heute geh ich nicht durch die dunklen Zimmer. Heute stehen sie alle in den dunklen Ecken und es ruft an den Fenstern.« Frau Müller zuckte die Achsel. »Du weißt, was dein Vater sagt, wenn du dich fürchtest.« Jetzt weinte Uli. »Nein, heute geh ich nicht,« wiederholte er. Erschrocken sah Isa auf, sie zog die Augenbrauen zusammen, als fühlte sie einen Schmerz, und die Mundwinkel bogen sich nach unten, was ihr einen ältlichen kummervollen Ausdruck verlieh. Sie konnte es nicht ertragen, daß Uli weinte. Sie stand auf. »Gut, dann gehe ich allein,« meinte sie. Auf der Türschwelle zögerte sie einen Augenblick, dann lief sie in die dunkle Zimmerflucht hinein. Auch sie fürchtete sich. Aber sie ertrug es mit der Resignation des Kindes, dessen Leben nun einmal ganz von Unheimlichkeiten umstellt ist. Am Ende der Zimmerflucht schimmerte ein Licht, dort waren die Eltern.

Ulrich von Buchow hatte vorgelesen, jetzt lehnte er sich im Sessel zurück und rauchte. Ihm gegenüber in der Sofaecke saß seine Frau. Wie frierend drückte die schmale Gestalt sich wie in sich selbst zusammen; den blonden Kopf hatte sie zurückgelehnt und das junge Gesicht schien vor Müdigkeit wie erloschen. Als jedoch Isa auf der Schwelle erschien, ging ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau, das es wunderbar erhellte. »Meine Tochter,« sagte sie. »Wo ist Uli?« fragte Buchow streng. »Uli kommt heute nicht,« beichtete Isa, »er fürchtet sich.« »Ach ja,« sagte Irma von Buchow, »heute ist es auch zum Fürchten, ich gehe zu ihm.« Buchow zog unwillig die Augenbrauen zusammen, schwieg jedoch. Isa ging jetzt zu ihrem Vater und bot ihm ihre Kinderstirn dar, dann zu ihrer Mutter, und endlich ging sie in die Ecke des Zimmers, wo im großen Lehnsessel der Großvater, der Graf Pax, saß und schlief. Vorsichtig küßte sie ihn auf die weiße Perücke, dann ballte sie in einem festen Entschluß ihre Hände und lief wieder in das Dunkel hinein.

»Wenn wir dem Jungen das durchlassen,« versetzte Buchow, »dann werden wir keinen Helden erziehen.« »Ach Gott,« meinte Irma und zog die Augenbrauen empor, »wozu Helden? Heute ist auch ein Tag zum Fürchten. Uli kam schon heute nachmittag zu mir und sagte: ›Ich weiß heute nicht, was ich spielen soll,‹ und wirklich, ich hätte auch sagen können: ›Ich weiß auch nicht, was ich spielen soll.‹«

»Ja, spielen!« bemerkte Buchow.

Eine leichte Röte stieg in Irmas schmales Gesicht. »Ja, spielen; ich weiß, du denkst, das Leben ist ernst, und man hat seinen Pflichtenkreis. Ach ja, natürlich, aber man will doch auch seine kleinen Freuden haben, denn die großen kommen ja doch nicht. So, und jetzt gehe ich zu meinem Sohn.« Sie stand auf, reckte einen Augenblick die Arme in die Höhe, wie um der schwankende Gestalt Haltung zu geben, und verschwand dann in der Dunkelheit.

Buchow lehnte seinen Kopf in den Sessel zurück. Das Gesicht mit der vorgewölbten Stirn, den tiefliegenden grauen Augen, dem starken Kinn, schien wie von einer inneren Energie zusammengedrückt, der Mund schloß sich so fest, daß die schmalen Lippen weiß wurden.

Die großen Freuden, dachte er – sie wartet auf die großen Freuden, woher sollten die kommen? Er hatte das Leben stets als etwas betrachtet, das bezwungen werden mußte, damit es uns nicht in den Rücken fällt. Diese Novembertage mit ihrem Nebel und ihrem Sturm, sie spannten etwas in ihm an, sie erhöhten seine Lust am Tun und Schaffen. Er war nun einmal solch eine Nebelkrähe, und von ihm erwartete dieses lichte und kostbare Geschöpf die großen Freuden. Woher sollte er sie nehmen?

Der Großvater war in seinem Lehnsessel erwacht; er richtete sich auf und schaute noch ein wenig traumverloren um sich, dann lächelte er, und das kleine Gesicht unter der weißen Perücke wurde ganz kraus von Falten. »Ich habe geschlafen,« sagte er. »Ja, du hast geschlafen, Vater,« bestätigte Buchow. »Ich habe aber auch geträumt,« fuhr der Großvater fort. »Mir träumte, ich ging, ich weiß nicht mit wem, die Hauptallee des Bois de Boulogne entlang, da waren Menschen und Wagen und Pferde, sehr lustig. Eine Equipage sah ich mit gelben Pferden, eine Dame saß darin, na, lassen wir das. Die Hauptsache war das Gehen. Ich sag dir, meine Beine waren so gelenkig, so leicht, es war ein Genuß das Gehen, das Gehen, wie ich's in jungen Jahren konnte. Ja, das war famos, nun will ich schlafen gehen – vielleicht kann ich weiter träumen.« Er erhob sich und ging mit tänzelnden Schritten, welche die Schwäche seiner Beine verdecken sagten, hinaus.

 Es war schon spät am Nachmittage, als Buchow hinausging, seine Äcker zu übersehen. Der Wind wühlte in den Hängebirken, warf ihre dünnen Zweige durcheinander wie Peitschenschnüre, er riß Löcher in den dichten Nebel, so daß dieser wie große, graue Fetzen über dem Erdboden hing. Die Natur macht uns heute nichts vor, sagte sich Buchow und steckte die Hände tiefer in die Taschen seines Überziehers. Am Rande eines Feldes blieb Buchow stehen. Dort pflügte ein Mann. Der lange Mensch ging langsam und verdrossen hinter dem Pfluge her. Der Wind zerrte an seinem Kittel und dem roten Bart, er warf die Mähnen des vor Feuchtigkeit struppigen Pferdes bald nach vorn, bald zurück. Die aufgeworfenen Schollen hatten einen matten Metallglanz, und nasse, aufgeblasene Krähen gingen auf ihnen hin und her. Der Mann blieb stehen, sah zum westlichen Horizont hinüber, wo ein welker, rosenfarbiger Streif die grauen Wolken säumte, dann stellte er die Pflugschar hoch und fuhr auf dem Wege hinauf. Er grüßte seinen Herrn. »Andre,« fügte Buchow, »du weißt, deine Frau ist bei mir gewesen, um über dich zu klagen, weil du sie schlägst.«

»Ich weiß,« erwiderte Andre verdrossen, »würde sie Ruhe geben, so würde ich sie nicht schlagen.«

»Sie will nicht, daß du das Geld in den Krug trägst,« meinte Buchow. Andre zuckte die Achsel. »Wenn man am Sonnabend nicht in den Krug gehen soll, was hat man dann, das ist doch noch das einzige.« Damit trieb er sein Pferd an, ging auf der nassen Straße ein wenig steifbeinig weiter, verschwand, eine graue Gestalt im grauen Nebel.

»Die kleinen Freuden,« klang Irmas Stimme Buchow in den Ohren. Wenn dieser Knecht in seine dunkle Häuslichkeit zurückkehrte, waren die Kleider naß, die Glieder steif, die Frau weinte, die Kinder schrien, nun, dann ging er zu den kleinen Freuden.

Buchow war auf der Landstraße weitergeschritten, bis er an eine Brücke gelangte, auf der er haltmachte. Die Brücke führte über eine sumpfige Schlucht zu dem Marktflecken Drixen. Im Sommer standen hier grellgrüne Tümpel beieinander, Kiebitze liefen zwischen ihnen auf und ab, einzelne Kühe weideten hier, die Füße tief im Sumpfboden eingesunken. Jetzt waren die Tümpel schwarz, und dunkle Wasserlachen breiteten sich zwischen ihnen aus. Buchow stand auf der Brücke und schaute hinab. Wie er diesen Sumpf haßte! O, er würde ihm schon beikommen; wenn man den kleinen See über dem Ort niedriger legen könnte, dann würde auch dieses unnütze, giftige Sumpfland verschwinden. Nächsten Sommer wollte er ihm zuleibe gehen. In Drixen wurden die Lichter in den Häusern bereits angesteckt, zitternde, gelbe Flecken im Nebel. Buchow fror. Er ging durch die Dunkelheit nach Hause, und die nasse Landstraße hatte noch einen matten, blinden Glanz.

Vor seinem Hause angekommen, bemerkte er, daß die Fenster des großen Saales erleuchtet waren. Im Flur hörte er, daß auf dem Klavier ein Walzer gespielt wurde. »So, so,« sagte er und lächelte. Im Saal fand er den Großvater am Klavier, einen Walzer spielend. Irma tanzte mit Uli, Isa stand, die Hände in den Seiten, still da. »Tanz doch,« rief Irma ihr zu, dann begann sie sich langsam zu drehen. Als Irma an Buchow vorüberkam, nickte sie ihm zu und sagte: »Wir tanzen, es war sonst zu traurig.«

»Gut, gut,« meinte Buchow und ging in das Wohnzimmer. Er setzte sich an den Kamin; er war müde, die Wärme tat ihm gut, es war angenehm, die Beine vor sich hinzustrecken; aus dem Saal kamen die durch den schwachen Anschlag des Großvaters matten Töne des Walzers und das leise Geräusch der tanzenden Füße. Buchow schloß die Augen, ein tiefes Behagen erwärmte ihn. Ja, dachte er, solche Augenblicke gibt es eben auch.

 Der Wind hatte sich gelegt; es fror, und ein wenig Schnee war gefallen. Er lag auf den Dächern, in den Ackerfurchen und legte grellweiße Flecken in die fahle Landschaft. Es dämmerte bereits, als Buchow nach Drixen hinüberging, um seinen Anwalt, Dr. Viervogel, zu sprechen.

Viervogel war Buchows Schulkamerad gewesen, hatte sich dann als Anwalt im Flecken niedergelassen, und da er jede Gelegenheit versäumte, weiterzukommen, saß er noch heute dort. Mit seinem Schimmel und Jagdwagen fuhr er in die Stadt, um seine Injurien- und Hausmieteprozesse zu führen, wohnte bei der Witwe Weidemann, von der er sich beköstigen ließ. Er saß oft stundenlang in der reinlichen Wohnung und sah der stattlichen Frau mit den schönen Armen, wie sie eifrig schaffend hin und her ging, zu. Die wenigen Laternen im Marktflecken wurden schon angesteckt, im ersten Hause war Licht in den Fenstern, es war das Anwesen des Gärtners Kappelmeier, und dort war immer Bewegung und Lärm, denn die großen, blonden Töchter schafften unermüdlich. Die eine wusch den Flur, die andere sah Buchow durch das Fenster am Backtrog stehen; sie riefen einander zu mit hellen Stimmen und lachten. Der alte Kappelmeier aber, der Wiedertäufer, ein großer Greis, ging im dämmerigen Garten zwischen den mit Tannenreisig bedeckten Beeten hin und her. Buchow kannte sie alle. Da war jetzt der Kramladen, vor dem es nach Fellen und Pfeffergurken roch, und durch die Glastüre konnte man die Krämerin sehen, mit ihrem großen, blassen Gesicht, geduldig und böse; endlich die Apotheke, hell und sauber. Der Apotheker mit dem langen, grauen Bart, stand wie ein Priester zwischen den weißen Büchsen und bauchigen Flaschen. Der schöne Provisor Glaiksner war nicht zu Hause. Ihn fand Buchow an der Hausecke mit dem Postfräulein zusammenstehen, das ihn liebte. Sie stritten miteinander. »Aber Glaiksner,« sagte das Mädchen, »das ist doch keine Mühe, zum Fenster hinaufzusehen, wenn du vorübergehst; ich habe so darauf gewartet.«

»Immer diese Dummheiten,« erwiderte Glaiksner, »ich habe auch an anderes zu denken; ob ich nun da hinaufsehe oder nicht.«

»Aber Glaiksner,« erklang die weinerliche Stimme des Mädchens, »ich warte den ganzen Vormittag darauf.«

Jetzt kam Fräulein Christa Hassel, die Lehrerin an der Volksschule, Buchow entgegen. Sie ging mit kleinen, harten Schritten über das knisternde Pflaster, drehte dabei ihre untersetzte, flache Gestalt hin und her; das runde Gesicht mit dem breiten Munde und den guten, braunen Hundeaugen war von der Kälte gerötet. »Ah, Herr von Buchow,« sagte sie. »Guten Abend,« erwiderte Buchow, »ich mache noch einen Geschäftsgang.« – »So,« meinte Fräulein Christa, »und wie geht's bei Ihnen zu Hause?«

»Ich danke, gut,« berichtete Buchow, »man feiert bei uns ein Fest, Sie wissen, man feiert bei uns immer Feste. Es ist, glaube ich, des ersten Schnees wegen. Man sitzt am Kamin, ißt Bratäpfel und erzählt sich Märchen.«

»Das ist hübsch,« sagte Fräulein Christa und bog den Kopf zurück, um Buchow anzuschauen.

»Gehen Sie doch hin, Fräulein Christa,« schlug dieser vor. »Hingehen,« versetzte das Fräulein nachdenklich, »das ist eine Versuchung. Denn ich habe zu Hause einen ganzen Stoß Hefte liegen, die ich korrigieren muß. Aber Gott, wozu ist die Nacht da, also ich gehe hin, auf Wiedersehen.« Damit ging sie weiter mit ihren kleinen, harten Schritten.

Jetzt war Buchow am Hause der Witwe Weidemann und stieg die dunkle Treppe hinauf. Auf sein Klopfen erscholl ein heiseres »Herein«. Er fand den Doktor am Schreibtisch über Akten gebeugt.

»Guten Abend,« sagte Buchow. Die kurzsichtigen Augen des Doktors erkannten ihn nicht sogleich, als jedoch Buchow näher kam, sprang der Anwalt auf. »Ah, du bist es,« rief er, »eine unerwartete Freude.« Die beiden waren stets sehr höflich miteinander. Viervogel half Buchow aus seinem Überzieher, stellte ihm einen Sessel zurecht, bot eine Zigarre an, holte eine Flasche Portwein hervor und Gläser, die er vollschenkte. »So,« sagte er, »bei dieser Kälte wird das gut tun; der Winter kommt.« Und als er Buchow gegenübersaß, sah er ihn erwartungsvoll an.

»Ich komme zu dir,« begann Buchow, »um dich zu bitten, mir wieder einen Kontrakt zu einem Holzverkauf zu machen. Du weißt, mein Bruder hat mich voriges Jahr ein wenig stark in Anspruch genommen, und so muß wieder verkauft werden. Die Bedingungen sind dieselben, nur bitte ich, den Kontrakt ein wenig schärfer zu fassen, denn Aronsohn erlaubte sich voriges Jahr allerhand Freiheiten. Besonders wollen wir ihn, was die Lagerplätze und die Zeit des Abführens betrifft, fester binden.«

»Wird gemacht,« erwiderte Viervogel, »wir wollen dem Knaben ordentlich die Hände binden; morgen schon mache ich den Entwurf und lege ihn dir dann vor.«

»Danke,« sagte Buchow und nippte vorsichtig am Portweinglase. »Guter Wein, wie geht es sonst?«

»Gott,« erwiderte Viervogel, »bei mir ist es immer das gleiche. Das ist das Charakteristische in meinem Leben, und so ist's mir recht. Siehst du, in diesen dunklen Tagen ist es seltsam, daß ich es fast körperlich fühle, wie die Zeit verrinnt; sie verrinnt ganz langsam und stetig und trägt mich mit. Ich fühle das.«

»Sie trägt dich?« fragte Buchow, »wohin?«

»Ans Ende,« erwiderte Viervogel, »einmal muß es ja doch zu Ende sein und dann kommt vielleicht etwas andres und das ist es, was mich zuweilen beunruhigt. Es gibt Augenblicke, in denen ich mich vor dem Tode fürchte und nur aus Trägheit, weißt du. Es kommen vielleicht andre, ganz andre Verhältnisse, und ich bin an mein Hinstumpfen so gewöhnt, daß mir das unbequem erscheint. Das kommt davon, wenn man sich an solch ein zweckloses Leben gewöhnt hat; du natürlich wirst auch das jenseitige Leben frisch in die Hand nehmen. Du hattest schon als Knabe immer Ziele und Zwecke.«

»Nun ja,« versetzte Buchow nachdenklich, »es ist ein fatales Gefühl, wenn es uns plötzlich klar wird, daß, was wir treiben, keinen Zweck hat. Schon als Kind überkam es mich zuweilen, man spielte, man stand auf einem Brett, das auf einer Wiese lag, und das Brett war ein Schiff und die Wiese ein Meer. Doch plötzlich wurde man sich bewußt: es ist nur ein Brett, auf dem du stehst, und kein Schiff, und ringsum ist nur eine Wiese und kein Meer, und dann mußte man gewaltsam weiterspielen, um nicht jede Lust am Spiel zu verlieren. Solche Augenblicke habe ich auch heute noch.« Viervogel lachte. »Nun, ich weiß immer, daß ich auf einem Brett stehe, das auf einer Wiese liegt. Was ich tue, hat vielleicht keinen Zweck, aber ich bin zufrieden; ich wollte da einmal etwas Farbe in mein Leben bringen und fing an, der Agnes Kappelmeier nachzustellen, ich dachte mir, es würde so etwas wie eine Liebschaft herauskommen. Aber die Kappelmeierschen Mädchen sind ja hübsch, aber für mich zu laut, zu intensiv – so gehe ich denn lieber zu meiner Witwe Weidemann hinunter und sehe zu, wie sie Brot bäckt.«

»Aber du arbeitest doch?« wandte Buchow ein.

»Man muß eben leben,« versetzte Viervogel, »nun ja, zu etwas wird mein Leben vielleicht gut sein, und ich habe meine Stelle in der großen Welteinrichtung; aber eine Stelle wie das ›und‹ in einem Manuskript, es ist nicht zu entbehren, die Rolle aber, die es spielt, ist nicht sehr bedeutend.«

Sie schwiegen beide eine Weile. Buchow betrachtete nachdenklich das Gesicht seines Freundes, dieses ein wenig fette Gesicht mit der großen Adlernase, den blauen Augen, die hinter den blanken, runden Brillengläsern hervorschauten, und dem hübschen, weichlichen Munde. »Es ist eigentlich schade um dich,« sprach er vor sich hin.

Viervogel lächelte. »Meinst du – ja, vielleicht ist es schade um mich, aber mein Fall ist hoffnungslos, denn ich bin zufrieden. Ich hatte Zeiten der Unruhe, aber das ist vorüber. Ich schlafe jetzt sehr gut, das ist doch ein Zeichen inneren ›Friedens‹.«

»Ja, Schlaf ist eine gute Sache,« meinte Buchow und stand auf, »ich will dich aber nicht länger von deinem Stammtisch fernhalten.«

»Gott, der Stammtisch,« erwiderte Viervogel, »es ist wohl gleichgültig, ob ich früher oder später höre, wie der Doktor von der Camorra erzählt, er spricht am liebsten von der Camorra, oder was der Apotheker von den Streichen seines Provisors berichtet,« er half Buchow in den Überzieher. »Also auf morgen,« sagte er und leuchtete die dunkle Stiege hinab.

Buchow trat wieder in die Frostnacht hinaus, das Gespräch mit Viervogel hatte ihm die Brust eng gemacht, drum tat ihm die scharfe, kalte Luft wohl.

Es war in den Weihnachtsfeiertagen, als Achaz, Ulrichs Bruder, nach Lalaiken kam. Er war jünger als Ulrich und diente im Auswärtigen Amt. Mit klingenden Schellen fuhr sein Schlitten vor das Haus. Schon im Flur hörte man seine helle Stimme zu dem Diener Klaus sagen: »Guten Tag, Klaus, hier riecht es ja nach Familienweihnacht.«

Als er in das Zimmer trat, erwartete ihn die ganze Familie und lachte ihm entgegen, lachte, nur weil sein Erscheinen so jugendlich und heiter war. »Ah, die ganze Familie,« rief er, »wie hübsch ihr alle seid. Sie nicht am wenigsten, lieber Graf,« sagte er zum Großvater, »und Uli hat sich entwickelt, er zeigt Anlagen zum bel homme, und wie hell es hier ist und wie gut es nach Tannen und Lebkuchen riecht! Ich bin froh, bei euch zu sein. Irma ist noch immer schön wie die ewige Seligkeit.«

Irma lachte. »Wie er die Komplimente ausstreut, wie Weihnachtszuckerwerk.«

Daun saß man im Wohnzimmer, die Kinder standen neben Achaz und schauten ihn erwartungsvoll an, ob er etwas Lustiges sagen würde.

Der alte Graf hatte seinen Stuhl nahe zu Achaz herangezogen, legte die Hand ans Ohr, hörte mit Behagen die schönen Titel, die in Achaz Erzählungen vorkamen, die Namen der Theater und großen Restaurants, sog begierig die Großstadtluft ein, die von dem jungen Mann auszugehen schien. Auch Irma hatte sich vorgebeugt, ihre graublauen Augen glitzerten, und ihr Gesicht nahm den hübschen, strahlenden Ausdruck an, den es zu zeigen pflegte, wenn's um sie her hell und heiter war. Buchow in seiner Sofaecke sprach wenig, allein auch er lächelte zufrieden. Er bewunderte diesen Bruder, dessen bloßes Erscheinen die Menschen glücklich und fröhlich zu machen schien. Achaz war größer und schmäler als Ulrich, er glich ihm, aber sein Gesicht war klarer, die Augen weit auf, und der Mund lächelte ein ausgelassenes Knabenlächeln. Als Buchow aufstand und in sein Arbeitszimmer ging, flog ein Schatten über Achaz Züge, er zog schmerzlich die Augenbrauen zusammen, und ein hilfloser Ausdruck zeigte sich auf seinem eben noch so heitern Gesicht. »Ich muß mit Ulrich sprechen,« sagte er, stand auf und folgte dem Bruder.

Im Arbeitszimmer schloß er sorgfältig die Tür, und als er sich Ulrich zuwandte, war sein Gesicht bleich und trug noch immer den knabenhaft hilflosen Ausdruck. »Ulrich, ich muß mit dir sprechen,« sagte er, »es ist besser, es geschieht gleich, sonst verdirbt es mir die schöne Zeit hier.«

»Was gibt es denn?« fragte Ulrich und wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.

Achaz ging nervös im Zimmer hin und her. »Da ist wieder so eine dumme Geschichte,« begann er, »ich weiß selbst, wie unverantwortlich das ist, aber es ist nun einmal geschehen. Ich habe mich da in einem Kasino wieder zum Spiel verleiten lassen; ich weiß nicht, was diese Nacht über mich gekommen war, aber ich spielte wie ein Wahnsinniger. Natürlich verlor ich.« Er schwieg einen Augenblick.

»Wieviel?« fragte Ulrich vom Fenster her.

»Fünfzehntausend!« erwiderte Achaz. Eine Pause entstand.

Endlich wandte sich Ulrich wieder dem Bruder zu. »Und du willst,« sagte er seltsam deutlich, die Worte vor sich hinzischend, »du willst, ich soll sie dir geben?«

»Natürlich war das meine Hoffnung!« erwiderte Achaz und errötete, »eine andere Hoffnung habe ich doch nicht.«

»Du überschätzt meinen Etat,« fuhr Ulrich fort, »ich habe eine Familie, ich kann mich nicht deiner Spielschulden wegen ruinieren. Voriges Jahr ging das ganze Geld für den Holzverkauf auf deine Schulden drauf und jetzt wieder.«

»Du hast ganz recht,« unterbrach ihn Achaz, »und ich wundere mich nicht, wenn du ungehalten bist, es ist unverantwortlich von mir, ich könnte mich schlagen; wie eine Verrücktheit ist es über mich gekommen; ich sage dir offen, ich verachte mich, verachte mich tief, aber nun es einmal geschehen ist … Der Ertrinkende greift nach allem, was ihn retten kann, und du weißt es ja, bezahle ich die Schuld nicht, dann ist es aus mit mir, ganz aus, dann bleibt mir nur die Kugel. Das ist nicht eine geschmacklose Drohung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Aber komme ich diesmal noch durch, dann spiele ich nie mehr, dann beginnt ein neues Leben.«

Ulrich hatte unbeweglich zugehört. Sein Gesicht schien kleiner geworden, wie zusammengedrückt, und seine Lippen waren wieder ganz fest geschlossen. Als er jetzt zu sprechen begann, war seine Stimme leise und ein wenig heiser.

»Es ist erst dann Aussicht, daß du deine guten Vorsätze verwirklichst, wenn du dir bewußt wirst, daß du allein für dein Leben verantwortlich bist, daß du, bei allem was du tust, dich und nur dich einsetzest. Jetzt hast du das Gefühl, ich stünde hinter dir und müßte für dich aufkommen, aber, mein Lieber, der Augenblick kommt, in dem ich das nicht mehr kann und nicht mehr will. Solange ein Mensch die Verantwortung für sich selbst nicht trägt, ist er ein Gespenst.«

»Du hast ja tausendmal recht,« rief Achaz, »ich sage mir das alles selbst, aber jetzt soll es anders werden, du wirst sehen. Natürlich ist das Geld, das du mir gibst, nur geliehen, ich erstatte es dir zurück, sobald ich kann. Meine Aussichten sind gut, ich stehe mich mit meinen Vorgesetzten ausgezeichnet und ich habe Talent zum Diplomaten, ich fühle es, ich bin der geborene Diplomat. Ich denke, ich lasse mich nach Rom versetzen; von den Italienern kann man viel lernen, und du wirst sehen, ich gehe wie ein Licht in die Höhe. O, darum ist mir nicht bange, und an jenem Morgen nach der Spielnacht fühlte ich, daß es wie eine Krankheit von mir abfiel, mein ganzes, dummes Leben. Ich bin kein Spieler, aber es kommt zuweilen wie ein Rausch über mich, aber das ist vorbei.«

»Gut,« sagte Ulrich, trat an den Tisch und klopfte mit dem Finger hart auf die Tischplatte, »wie dem auch sei, du wirst dich künftig daran gewöhnen müssen, deinen Rausch selbst zu bezahlen. Wenn ich dir diesmal noch helfe, so bin ich damit an die Grenze der Möglichkeit, dir zu helfen, gekommen.«

»Ich danke dir, mein Alter, du bist mein Retter. Du bist wie ein Vater für mich, aber du wirst sehen, mit dem unsoliden Leben ist es jetzt aus, ich werde ein ernster Mensch, das Buchowsche in mir kommt heraus, du wirst noch Freude an mir erleben. Und weißt du, was du mit den wenigen Worten: ›Ich werde dir diesmal helfen!‹ tust? Du rettest einen Menschen vor dem Tode, ganz einfach, du rettest einen Menschen vor dem Tode.«

Ulrich erwiderte nichts. Er setzte sich müde ans das Sofa und schaute mit den tiefliegenden, grauen Augen sinnend vor sich hin.

»Du sagst, sich selbst einsetzen,« fuhr Achaz fort, »das ist gut gesagt, aber das ist es eben. Wenn ich etwas Verwegenes tue, eine Dummheit meinetwegen, etwas, wobei es sich um die Existenz handelt, eine Summe setze oder so etwas, dann ergreift mich ein angenehmer Schwindel, ich spüre deutlich, daß ich mich selbst einsetze, und es ist eine köstliche Spannung in mir, ob ich gewinne oder verliere. Ich muß da an unsre Knabenjahre denken. Erinnerst du dich noch, wie wir uns auf der Wippschaukel schaukelten: du saßest auf dem einen Ende, ich stand auf dem andern. Es war nicht leicht, dort zu stehen, aber es gab eine angenehme Spannung: werde ich fallen oder werde ich nicht fallen. Aber das ist jetzt vorüber, tempi passati, ich bin ein andrer Mensch geworden, wirklich, ich fühle die Exzellenz schon in mir keimen,« und er lachte ein offenes, frohes Lachen.

Drüben vom Saal her tönten Ulis kleine, schrille Freudenschreie, auf dem Klavier wurde ein Walzer gespielt. »Was tun sie dort?« fragte Achaz. Er öffnete die Tür und schaute zum Saal hinüber, dann war auch er hinausgeschlüpft, und Buchow hörte bald, wie Achaz's Lachen sich in Ulis Freudenschreie mischte. Buchow stand auf, schloß die Tür und setzte sich wieder auf seinen Platz zurück. ›Ja, sprechen kann er,‹ dachte er, ›sprechen können sie alle,‹ aber der Zorn in ihm war verraucht, ein mitleidiges Bangen ergriff ihn um diesen jüngern Bruder, von dem er, der schwerblütige, so viel Heiterkeit und Sonnenschein empfangen hatte. Einmal mußte der Augenblick kommen, in dem er nicht mehr helfen konnte, was wurde dann aus Achaz! – Dann wäre es aus, ganz aus, hatte Achaz gesagt, und an diese Worte zu denken, schmerzte Buchow. Das Leben schien solche sorglose und glänzende Wesen nur zu schaffen, um sich eine Weile damit zu schmücken, und um sie dann als unnütz beiseite zu werfen.

Drüben vom Saal her hörte er Irmas und Achaz' Lachen, Ulis Jubeln, der Großvater spielte seinen Walzer. Ein bitteres Gefühl der Einsamkeit ergriff Buchow. Ja, die konnten heiter sein, die Sorgen waren auf ihn abgeladen, und er hatte sich mit ihnen zurechtzufinden. Es wurde an die Tür geklopft und der Inspektor trat ein, um über die Arbeit des Tages zu sprechen.

Es war ein Feiertag. Die Wintersonne beschien hell das dicht mit Schnee bedeckte Land. Auch die Zimmer waren voll goldnen Lichtes. Irma saß in ihrem Eßzimmer am Frühstückstisch, ganz in der Sonne, und kniff behaglich die Augen zusammen. »Ja, so ist es dir recht,« sagte Achaz, der im Zimmer auf und ab ging, »sich so ganz in der Sonne zu baden, wie eine Libelle, die in der Luft mitten in einem Sonnenstrahl in ihrem Fluge innehält.«

»Ja,« sagte Irma, »wenn die Sonne scheint, dann weiß man doch, wozu man da ist.«

»So, das weißt du,« meinte Achaz, »da weißt du viel. Aber das ist richtig, dieses Licht gehört zum Feiertage. Die Natur sieht aus wie ein Zimmer, das für den Feiertag aufgeräumt worden ist, und wenn ich an die Sonntage meiner Jugend denke, so sehe ich die Zimmer immer gelb von Sonnenschein.«

»Ohne Sonnenschein,« versetzte Irma nachdenklich, »geht man doch nur wie ein Gespenst herum.«

»Gut,« begann Achaz wieder und blieb vor Irma stehen, »die richtige Umwelt wäre da, nun kommt es darauf an, ein Programm zu entwerfen, was wir in dieser Umwelt tun.«

»Ach ja,« sagte Irma und lächelte erwartungsvoll zu Achaz auf.

»Zuerst natürlich die Kirche,« fing Achaz seine Aufzählung an, »ich liebe diese Landkirchen, die Leute haben ihre Sonntagskleider an, setzen andächtige Gesichter auf, und das Klappern der Sonntagsschuhe hallt in dem hohen Raum wider; man friert ein wenig, das ist der Anfang der Andacht; dann kommt die Orgel und der Gesang; die Leute singen und machen den Mund weit auf und sehen mit ein wenig leeren, tiefberuhigten Augen vor sich hin; sie ruhen aus in dem Unbegreiflichen, das sie anbeten. Nun und nach der Kirche kommt das sonntägliche Mittagessen; hoffentlich gibt es eine Bouillon mit Fleischpiraggen, das war so gewohnte Sonntagssuppe. Haben wir diese?

»Christa kommt,« erwiderte Irma.

»O Fräulein Christa,« rief Achaz, »die paßt hier herein, sie sieht selbst aus wie ein Lebkuchenweibchen und sagt einem so unterhaltend taktlose Dinge. Ich glaube, Fräulein Christa war eine Zeitlang in mich verliebt.«

»O nein,« widersprach Irma, »die hat immer nur ihren Viervogel geliebt.«

»So,« meinte Achaz, »es wäre eine Verschönerung ihres Lebens gewesen, in ihrem einsamen Gouvernantenstübchen zu sitzen und sich nach mir zu sehnen. Aber, mein Gott, alle können einen ja nicht lieben.«

»Ja, willst du das denn?« fragte Irma.

»Nein, nicht gerade,« erwiderte Achaz, »aber es ist immerhin ein angenehmes Gefühl, auf ein weibliches Wesen zu wirken wie ein elektrischer Funke. Gleichviel, nachmittags fahren wir spazieren, ich fahre mit dir, und wir nehmen Uli mit, Ulrich fährt mit Fräulein Christa und Isa, wir fahren durch den Flecken, sehen die hübschen Gärtnerstöchter vor der Tür stehen, dann geht es weiter in den Wald, der heute wunderbar geheimnisvoll sein wird.«

Buchow trat ins Zimmer. »Ah, Ulrich,« begrüßte ihn Achaz, »du machst heute auch dein Sonntagsgesicht, das ist recht, heute denken wir nicht an Geschäfte, das Programm für den Tag ist schon fertig.«

Am Nachmittag fuhren die beiden Schlitten mit hellem Schellengeläute von Lalaiken über die Brücke durch den Marktflecken. Die Drixner Mädchen gingen in langer Reihe auf der Hauptstraße nebeneinander her mit kleinen, vorsichtigen Schritten; sie trugen neue Kleider und neue Pelzkappen. Vor ihrer Haustüre standen die hübschen Gärtnerstöchter und lachten, als Achaz sie grüßte. In der Türe des Lehmannschen Gasthauses lehnte Viervogel und blinzelte gelangweilt zur Sonne auf. Auf dem Bürgersteig aber ging der schöne Provisor neben dem Postfräulein einher; er machte ein mißmutiges Gesicht und hob nur langsam seine langen Beine. Jeder Schritt schien eine Gnade zu sein.

»Ein hübscher, festtägiger Ameisenhaufen,« sagte Achaz.

»Wenn die Sonne scheint,« meinte Irma, »und die Mädchen neue Kleider anhaben, dann ist es hübsch, aber wenn ich in grauen Herbsttagen durch den Ort gehe, an den Dächern hängen Tropfen, hinter den kleinen, trüben Scheiben stehen die Menschen mit bleichen, traurigen Gesichtern, und die Hunde, mein Gott, die Hunde, struppig und naß gehen sie gelangweilt durch die Pfützen, das ist dann so alltäglich, so herzbrechend alltäglich, daß ich weinen könnte.«

»Ach,« versetzte Achaz, »ich glaube, die Leute hier sind ebenso glücklich wie anderswo. Sie lieben und hassen, sie verdienen Geld, sie haben ihre Schicksale. Sieh doch den Provisor, sieht er nicht aus wie ein leibhaftiges Schicksal? Die Hunde, nun ja, Kleinstadthunde können die alltäglichsten Geschöpfe der Welt sein. Sie haben ja eine so überlegene Art, ihre Langeweile zu zeigen.«

Hinter dem Marktflecken begann der Lalaikensche Forst, und große verschneite Tannen säumten den Weg ein, sie hielten ihre Schneelast wie auf gespreizten Riesenhänden. An ihnen vorüber sah man in das Innere des Waldes. Überall erglänzte das grelle Weiß, weiße Plätze, weiße Ecken, weiße Brautstuben, weiße Klosterzellen, und all das ganz still, ganz regungslos. Ein Hase setzte über den Weg in den Wald hinein. Der tiefe Schnee machte ihm Mühe, er versank bei jedem Satz fast bis zu den Löffeln.

»Der geht jetzt in seine weiße Welt,« sagte Irma nachdenklich, »das muß gut sein, solch eine Welt, ganz weiß, ganz hell, ganz rein.«

»Nun, ich denke,« warf Achaz ein, »wir würden uns bald in solch einer Welt nach etwas Dunkelheit sehnen.«

»Ich habe immer gefunden,« fuhr Irma fort, »daß in solch einem glänzenden Weiß etwas wie ein unhörbares Lachen steckt. Mein Vater hat mir einen Morgenrock aus weißem Samt geschenkt. Wenn ich den anziehe, ist es mir, als kleide ich mich in Schnee, und das unhörbare Lachen geht in mich über, ich muß lächeln, und selbst meine Kammerjungfer Minna lächelt dann.«

»Das muß hübsch sein,« meinte Achaz.

»Ich will nicht, daß alles weiß ist,« ließ sich plötzlich Ulis Stimme vernehmen, »es soll so sein wie Schnee, aber schön rot.«

»Du siehst,« meinte Achaz, »mein Junge, der Wald gehorcht dir.«

Die Sonne ging unter. Ein purpurnes Licht floß an den weißen Baumgestalten nieder, es lag auf der Schneedecke wie Blutlachen, ein plötzliches wunderbares Erglühen des Waldes. Ein Vogel flog aus einer Tanne auf, ein schwarzes Flattern in all dem Rot. Uli jubelte. »Bravo,« sagte Achaz, »auf solche Überraschungen versteht sich die Natur.«

»Ja,« versetzte Irma, »ihr fällt immer etwas Hübsches ein, aber Ulrich sagt, er liebt das Graue; an grauen Tagen fühlt er sich tatkräftig und frisch, dann ist er auch besonders heiter. Nun ja, er hat seine Arbeit, seine Gedanken, ›Pflichtenkreis‹, wie er sagt.«

»Pflichtenkreis,« wiederholte Achaz, »das Wort riecht schön nach Schulstuben, schimmliger Tinte und feuchten Kleidern.«

»Nein, Ulrich ist gut,« sagte Irma verträumt. »Ulrich ist sehr gut, ich wollte, ich wäre so gut wie er.«

»Warum willst du denn so gut sein?« fragte Achaz leise.

Das Abendrot war verglommen, sie bogen jetzt vom Waldwege auf die Landstraße ab, an dem kleinen See entlang. Auf der weißen Fläche dämmerte es bereits und der Schnee wurde bläulich. Auf der andern Seite aber lag der Marktflecken, in dem bleiche Lichter erglommen; oben im dunkelwerdenden Himmel erwachten einige unruhig blitzende Sterne. »Jetzt ist es wieder traurig,« erklang Ulis Stimme.

»Nein, mein Junge,« sagte Achaz, »es ist schön, aber du bist noch nicht reif für die Dämmerung, das mußt du erst lernen.«

»Ich finde es traurig,« sagte der Knabe, schmiegte sich eng an seine Mutter und schloß die Augen.

»Ich könnte ewig so fortfahren,« versetzte Achaz, »in dieses Dämmern hinein, Sterne über dem Kopfe, und man ist beieinander, ganz nah beieinander.«

Irma schwieg und sah träumend in die Dämmerung hinein.

Ulrichs Schlitten, der hinter ihnen her fuhr, kam ihnen jetzt ganz nahe, und sie hörten durch das Schellengeläute hindurch Fräulein Christas laute Stimme, die Ulrich etwas sagte. Achaz trieb sein Pferd an. »Nein, das wollen wir nicht,« sagte er, »wir wollen das Gefühl haben, daß wir in dieser weichen Dunkelheit ganz allein sind.«

Zu Hause war es hell und warm; der Großvater ging unruhig durch die erleuchteten Zimmer, denn seine Einsamkeit drückte ihn schon.

Im Kamin brannte das Feuer, Irma lehnte sich in einem großen Sessel zurück und schloß halb die Augen. Die Luft hatte sie müde gemacht. Fräulein Christa saß ihr gegenüber und erzählte aus dem Marktflecken, erzählte von der Witwe Weidemann und von den Gärtnerstöchtern, von der Schule, ruhige Geschichten, von denen Irmas Gedanken oft abschweiften, um wieder an den verschneiten Wald und die dämmerige Welt zu denken.

»Ich habe auf Sie gewartet, lieber Achaz,« sagte der Graf Pax, »denn wir wollen Piquet spielen.«

So setzten sich die Herren an den Spieltisch. Ulrich ging ab und zu, sah dem Spiele zu, sprach mit Fräulein Christa, ging dann wieder, saß still in seinem Zimmer. Er liebte es, wie alle guten Arbeiter, die Ruhe des Feiertags auszukosten. Auch Irma fühlte sich wohl. Vom Kartentisch schallte bisweilen Achaz' helles Lachen oder der süß duftende Hauch der türkischen Zigarette wehte herüber.

So war es gut und morgen war alles vorüber.

»Heute muß ja Abschied gefeiert werden,« rief Graf Pax.

»Klaus, bringen Sie von meinem Wein, und eine Ananas ist noch da, natürlich eine Bowle muß getrunken werden; daß ich das vergessen konnte,« und der alte Herr war ganz Geschäftigkeit im Bereiten seiner Bowle.

Als man dann um den Tisch herum saß, jedes Glas vor sich, da wurde der Graf ganz Weltmann, sprach vom Herzog von Urach und dem Duc de Brollie, von Diners bei Véfour, von Bällen und schönen Damen. »Ach Gott, meine Jugend,« sagte er; damals war noch Würde in der Jugend; schon das Tanzen, nicht das regellose Herumstürmen wie jetzt.« Er stand auf. »Bitte, Fräulein Christa, einen Augenblick,« sagte er, ergriff Fräulein Christas Hand und tanzte mit unendlicher Würde einige Figuren der Française, küßte Fräulein Christa dann die Hand und führte sie an ihren Platz zurück. »Seht,« sagte er, »das war élégance.«

»Ja, das können wir nicht mehr,« versetzte Achaz, »in jenen Zeiten mischte sich etwas Heiliges in das gesellschaftliche Leben.«

»Das ist es, das ist es,« bestätigte der Graf, und in diesem Zimmer beim Duft der Ananasbowle und der türkischen Zigaretten, in der Wärme des Kaminfeuers und dem lässigen, heiteren Gespräch erschien allen das Leben freundlich und warm.

Achaz reiste ab. Er küßte Ulrich und sagte: »Ich danke dir, mein Alter, du bist wie ein Vater für mich; nein, du bist mehr als ein Vater, du hast mich zweimal gerettet, wie man einen Ertrinkenden rettet, ich werde dir das nie vergessen.«

Ulrich machte ein sehr ernstes Gesicht. »Wenn ich dir helfen kann,« versetzte er, »so werde ich es immer tun, aber du weißt, so geht es nicht weiter, und es kommt der Augenblick …«

»Du brauchst mir nichts zu sagen,« unterbrach ihn Achaz, »denn ich habe mir selbst all das viel schärfer gesagt. O, ich habe mich nicht geschont, ich bin ein andrer Mensch geworden, das wirst du sehen, also leb wohl, mein Alter, noch einmal vielen vielen Dank, du hast mir sozusagen das Leben gerettet.«

Leichtfüßig ging er hinaus. Er fand Irma in ihrem Schreibzimmer am Fenster stehen, neben ihr Uli, der weinte. Es war ihr recht, daß Uli weinte, denn sie konnte und wollte nicht weinen, und doch war ihr kläglich zumute. »Also lebe wohl, Irma,« sagte Achaz, »es war hübsch bei euch, es ist verdammt, daß ich fortfahren muß; nun wirst du dich wieder in dein weißes Winterleben einspinnen, am Fenster bei den Hyazinthen sitzen und auf den Schnee hinausschauen. Ja, hübsch ist das, aber es ist zu viel Schatten in deinem Leben.«

»Ich lebe mich in den Schatten schon hinein,« erwiderte Irma matt lächelnd.

»Nein,« entgegnete Achaz, »manche Blumen sind für die Sonne da und andre für den Schatten. Ich möchte dich aus dem Schatten herausheben, hoch in die Sonne hinein, dort, wo das Leben blank und lachend ist.«

»Laß mich nur in meinem Schatten,« meinte Irma trübselig.

»Nun, Uli, mein Junge,« rief Achaz, »du weinst um mich? Das ist hübsch von dir. Ein Abschied ohne Tränen ist wie die Suppe ohne Salz; mit den Lerchen komme auch ich wieder; lebt alle recht wohl, ihr guten und schönen Menschen.« – Damit ging er.

Als Uli am Fenster stand und weinend dem davonfahrenden Schlitten nachschaute, sagte er kläglich: »Jetzt fahren die Festtage fort!«

»Ja, die Festtage fahren fort,« wiederholte Irma.

Uli wurde in die Kinderstube geschickt und Isa befohlen, ihn zu erheitern; der Großvater saß auf seinem gewohnten Platze am Fenster, schaute auf die Vorübergehenden und auf die Hunde oder blickte die Landstraße hinauf, ob nicht Besuch käme, Ulrich stand auf dem Hof und sprach mit dem Inspektor. Die Zimmermädchen trugen die Tannenbäume hinaus und fegten den Goldschaum vom Fußboden. Der Alltag, dachte Irma, nimmt unerbittlich vom Hause wieder Besitz. Sie mußte wohl auch in ihren Pflichtenkreis, wie Ulrich sagte, zurück, aber was war doch ihr Pflichtenkreis? Der Haushalt? O, den besorgte die Mamsell besser als sie. Sie setzte sich, wie Achaz es gesagt hatte, an das Fenster und schaute auf den Schnee hinaus, unschlüssig, was sie tun sollte.

Am Nachmittag kam Fräulein Christa, um den Kindern Unterricht zu erteilen. Irma hörte vom Nebenzimmer auf das eintönige und stockende Lesen der Kinderstimmen, sonst war das Hans ganz still, nur ab und zu prasselte das Feuer in einem Ofen. Die Stuben waren voll weißen Schneelichtes, und draußen begann es ganz leise zu schneien.

›Das ist doch hübsch,‹ sagte sich Irma, ›das ist doch gemütlich,‹ und dennoch ergriff sie eine unbändige Sehnsucht, Achaz' helles und leichtsinniges Lachen zu hören, eine Sehnsucht nach dem süßen Duft seiner türkischen Zigarette, und sie ärgerte sich darüber, es war unrecht und lächerlich für eine Frau, jemanden so stark zu vermissen. Es muß etwas unternommen werden, entschloß sie sich, und nach dem Unterricht sagte sie zu Fräulein Christa: »Wir gehen nach Drixen hinein, du sagst, Lehmann hat eine neue, weiße Stube eingerichtet, mit Marmortischen, wo man Schokolade trinken und Apfelkuchen essen kann, da gehen wir hin.«

»Muß das heute sein?« fragte Fräulein Christa und sah mit ihren guten Hundeaugen Irma besorgt an.

»Ja, es muß sein,« erwiderte Irma.

So machten sie sich denn auf. Es war erfrischend, durch den niederfallenden Schnee zu gehen, an den verschneiten Häuschen vorüber; ein blasses Abendrot hing am Himmel, und Krähen flogen schwarz und eilig durch das lautlose, weiße Niederrinnen. Bei Lehmann war es warm und behaglich; sie saßen vor ihren Schokoladentassen und Fräulein Christa sprach von Viervogel. Als dieser Gegenstand erschöpft zu sein schien, begannen sie von Achaz zu sprechen.

Der Winter war in diesem Jahre hart, klares Frostwetter, der Schnee blieb bis in den März hinein liegen, unverändert dehnte sich die weiße, weite Fläche vor den Lalaikenschen Fenstern aus unter dem bleichen Winterhimmel. Die Bauernschlitten mit den struppigen Pferden, die sich mühsam durch den Schnee arbeiteten, sahen aus wie abgegriffene Spielzeuge. Ulrich war viel draußen bei seiner Landwirtschaft, ab und zu kam er angeregt herein und verlangte einen Schnaps. Der Graf Pax ging mit kleinen Schritten durch die Zimmer, schaute in die brennenden Öfen, oder stand an den Fenstern und wartete auf Besuch. Irma suchte ihren Pflichtenkreis; sie ging zu der Mamsell und wunderte sich über die vielen Würste und Schinken. Sie schaute nach den Kindern, allein Uli war in diesen Tagen schwierig; wenn er auch seine alte Frau Müller mit einem bunten Tuch und roten Plaid verkleidet hatte und Isa an einer Leine kutschte, so wurde er des Spieles doch bald überdrüssig, ging dann mit schlaff niederhängenden Händen durch die Zimmerflucht und fragte seine Mutter weinerlich: »Was gibt es zu Mittag? Es ist jetzt nichts, worauf man sich freuen kann.«

»Man freut sich auf jeden Tag,« belehrte die Mutter, aber sie empfand es tief, wie recht der Kleine hatte. Nein, es war nichts da, worauf man sich freuen konnte. Selbst wenn ihr Vater herangetrippelt kam und angeregt verkündete: »Ein Schlitten hält vor der Tür!« so erhoffte sie sich davon nichts. Es war die Baronin Brünner, die dann in weitläufigem Seidenkleide hereinrauschte, behangen mit klingenden Goldsachen, sie saß am Teetisch, strickte mit klappernden Elfenbeinnadeln, erzählte aus der Nachbarschaft von zweifelhaften Ehen und von hohen Partien im Klub des Städtchens, von Dienstboten und Gouvernanten, oder es waren Herren, dann roch es nach guten Zigarren im Zimmer, und die Herren sprachen von Gründüngung und von Leuten, die ihre Güter schlecht bewirtschaften. Nein, das waren keine Ereignisse, dachte Irma. Achaz hatte gesagt, nur wenn das Leben uns wie die Welle im Seebad hochhebt, dann ist es des Lebens wert. Mein Gott, sie war nun einmal dazu bestimmt, die Hyazinthe im Fenster des adligen Hauses zu sein.

Abends kam Ulrich nach Hause, wärmte sich am Kamin und fühlte sich sehr behaglich. Er erzählte viel von seiner Arbeit und von den Leuten. Irma lag in ihrem Sessel und hörte ihm mit halbgeschlossenen Augen zu.

»Dich interessiert das alles wohl nicht?« fragte er schroff.

»Doch,« erwiderte Irma, »erzähle nur deine grauen Geschichten.«

»Grau?« wiederholte Ulrich verwundert.

»Ja,« erwiderte Irma, »diese Männer sind grau, und die Frauen sind grau, und die Stuben und die Kinder, alles ist grau.«

Ulrich schwieg eine Weile und dachte nach. Endlich sagte er: »Ich meine, du solltest dich mehr mit den Leuten abgeben; da sind kranke Frauen, kranke Kinder; eine Gutsfrau sollte so etwas wie eine wohltätige Göttin sein, das würde dir auch wohl tun –«

»Das kann ich nicht,« unterbrach ihn Irma, »ich kann keine Wunden sehen, ich verstehe nicht Kranke zu behandeln, dazu ist ja Doktor Bulster da, und der Geruch in diesen Bauernzimmern macht mich krank. Das ist alles sehr unsympathisch und wenig tugendhaft – aber ich kann nichts dafür.«

»Nun, wenn du nicht kannst,« sagte Ulrich, schwieg dann und schloß seinen Mund so fest, daß die Lippen weiß wurden.

Einen festlichen Augenblick gab's an jedem dieser stillen Wintertage: das war der Sonnenuntergang. Die Sonne hing als rote Kugel am Rande des weiten Horizontes, purpurne und goldene Wolken lohten wie Flammen in den blassen Himmel hinauf, die Ebene wurde rosenrot, das Haus war voll roten Lichtes. Der Graf Pax trippelte von Fenster zu Fenster, rieb sich lächelnd die Hände und flüsterte befriedigt vor sich hin: »Grand spectacle.« Irma stieg in den Garten hinab, ging durch die verschneiten Alleen, wie durch weiße Korridore, immer der Sonne entgegen. Sich von diesem roten Lichte bescheinen zu lassen, erregte sie, es war wie ein Versprechen, wie eine Anzahlung des Lebens auf große und schöne Dinge. Eine Welt, die sich so prächtig schmückt, mußte auch ihr etwas bringen. Die Kinder liefen Schlittschuh auf einem kleinen, schmalen Gewässer des Parkes unter der Aufsicht der Frau Müller. Der Abendschein färbte das Eis. »Wir laufen auf einem rosa Bonbon,« sagte Uli. Er breitete seine Arme aus, lief lächelnd der Sonne entgegen. »Gib acht,« warnte Frau Müller. Er aber meinte: »Ich muß zur großen Roten hin!« und stieß schrille Vogellaute aus. Plötzlich aber fiel er, fiel rücklings, lag still da und wimmerte. Man trug ihn in das Haus; er hatte sich Schaden getan am Rücken und am Bein, und Doktor Bulster wurde geholt; klein, mit kurzgeschorenem Haar, stand er breitbeinig am Bett des Knaben, machte ein bedenkliches Gesicht und stopfte sich Tabak in die Nase. Uli litt Schmerzen und fieberte, und eine furchtbare Angst und Niedergeschlagenheit breitete sich von diesem Kinderbette aus über das ganze Haus, es schien leer, weil die kleine blonde Gestalt fehlte. Trübselig saß der Großvater auf seinem Platz am Fenster und sah in den Hof hinab. Selbst die Hunde schienen traurig. Ulrich kam häufig in das Krankenzimmer, schaute sein bleiches Kind ernst an. ›Ich weiß wohl,‹ dachte Irma dann, ›auch dich verfolgt diese Angst überallhin,‹ diese Angst, die sie den ganzen Tag nicht verließ, als lauere etwas Entsetzliches auf sie, wo sie ging und stand. Irma wachte die Nacht über bei Uli; sie saß bei der Nachtlampe, ein Buch vor sich aufgeschlagen, aber sie las nicht, sie starrte in die Ecken, in denen die schwarzen Schatten zitterten; Uli flüsterte leise und geschäftig im Fieber, sein Gesicht war bleich, umgeben von der Aureole der blonden Locken. Es kamen Irma Gedanken, seltsam wie schreckende Träume; wie konnte etwas so Kleines und Hilfloses mit dem furchtbaren, unbekannten Tod ringen; und dann dort drüben, – gut – es waren dort Engel, Licht – allein, jetzt sah sie dieses Jenseits ganz deutlich – eine große, dämmrige Ebene von einer erschreckenden Fremdheit, und dort sollte Uli umherirren? Allein, hilflos, klein und eine so unbeschreibliche Angst zitterte in ihr, daß sie nicht weinen konnte. Und dennoch, als Frau Müller um vier Uhr kam, um sie abzulösen, und sie sich todesmatt auf das Bett warf, da war es ein köstliches Gefühl, den Kopf in die Kissen zu drücken und die Augen zu schließen.

Ulis Zustand besserte sich; sein Rücken schmerzte ihn. Aber es gab Augenblicke, in denen er lächelte. Isa saß treu am Ende des Bettes und sah ihn aufmerksam mit ihren grauen Augen an. Der stete Gefährte aber des Knaben war der Großvater. Der alte Mann hätte alles getan, um ein Lächeln auf das bleiche Kindergesicht zu bringen. Er machte vier Knoten in ein Taschentuch und war dann ein Clown, ruhte nicht eher, bis Uli bei seinen Sprüngen und Künsten hell auflachte; er schleppte alle Schätze seines Zimmers herbei, Schweizer Holztiere und Häuschen, Krawattennadeln und Bilder. Er wurde der kindliche Kamerad des Kranken, und wenn Uli nicht lachte, sondern sich wimmernd in seinem Bette wand, wurde auch der alte Herr ganz niedergeschlagen und machte ein Gesicht, als hätte er Podagra. Endlich kam die Zeit, da Uli ein wenig aufstehen durfte, aber er mußte sich auf eine Krücke stützen, das Gehen fiel ihm schwer, und Doktor Bulster machte noch immer ein bedenkliches Gesicht und sagte zu Ulrich: »Wir müssen zusehen, daß uns der Knabe nicht verwächst.«

Draußen war währenddessen das Frühjahr gekommen, warmer Sonnenschein, über die Bäume breitete es sich wie grüne Schleier, und das junge Gras duftete aus der feuchten Erde. Die Amseln schlugen wie berauscht; Uli durfte in einem kleinen Rollstuhl, von Frau Müller geschoben, die Parkwege entlang fahren, der Großvater ging nebenher, versuchte es, aus dem Frühling alles hervorzusuchen, was den Knaben erheitern konnte. »Jetzt fahren wir zum Drosselnest,« sagte er, »jetzt zu den Veilchen,« »jetzt schauen wir uns an, wie das Vieh hinausgetrieben wird.« Er sprach unermüdlich. »Eine Livree müßten wir Frau Müller machen,« meinte er, »rot mit goldnen Tressen, dann würde jeder, an dem du vorüberfährst, sagen: ›Da fährt der Baron Buchow‹.« Das bleiche Kindergesicht lächelte und schaute erwartungsvoll zum Großvater auf, ob dieser nicht etwas Neues, Vergnügliches sagen würde.

Die Abende waren noch kalt, so brannte das Feuer im Kamin; der Großvater schlief in seinem Stuhl, Irma und Ulrich saßen am Feuer und schwiegen. Ja, Ulrich schwieg, denn er war es gewohnt, die Zähne über einem Schmerz zusammenzubeißen, ihn stumm in sich bohren zu lassen. Irma weinte zuweilen still vor sich hin.

»Weine doch nicht,« sagte Ulrich weich. »Ich muß weinen,« erwiderte Irma, »wenn ich an den armen Rücken des Kleinen denke, wenn ich denke, daß sein Leben Schmerzen und Entsagung sein wird.«

»Wir müssen tapfer sein, Kind,« sagte Ulrich.

»Tapfer,« wiederholte Irma und ein wenig Rot stieg in ihre Wangen, »für wen soll ich tapfer sein, für wen soll ich die Heldenmutter spielen, wenn das Leben meines Kindes zerstört wird?« Ulrich schwieg darauf, sann nach und sagte dann vor sich hin: »Viervogel sagt, wenn man auch noch so vorsichtig durchs Leben geht, sich gleichsam vor dem Leben versteckt – es hilft nichts, irgendwo an einer Ecke lauert es einem auf und trifft uns, wo wir am verwundbarsten sind.«