Gesammelte Werke: 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen, 2 Abhandlungen & Essays - Honoré de Balzac - E-Book

Gesammelte Werke: 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen, 2 Abhandlungen & Essays E-Book

Honore de Balzac

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Beschreibung

Die "Gesammelten Werke" von Honoré de Balzac stellen ein monumentales literarisches Erbe dar, das die gesellschaftlichen Strömungen des 19. Jahrhunderts in Frankreich eindrucksvoll widerspiegelt. Durch seine prägnante Prosa und tiefgründige Charakterzeichnung gelingt es Balzac, ein komplexes Geflecht aus Macht, Geld und menschlichen Beziehungen zu entwirren. Die 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen sowie die beiden Abhandlungen und Essays ermöglichen es dem Leser, die Vielfalt und Tiefe seines Schaffens zu erleben, während er gleichzeitig in die Themen der menschlichen Ambition, des sozialen Wandels und der persönlichen Tragödien eintaucht. Honoré de Balzac (1799-1850) gilt als einer der Begründer des modernen Romans. Seine umfangreiche Schriftenreihe, die gemeinsam als "La Comédie Humaine" bekannt ist, reflektiert seine leidenschaftliche Beobachtungsgabe und sein Engagement für die Darstellung der zeitgenössischen Gesellschaft. Balzac nutzte seine persönlichen Erfahrungen sowie seine Beobachtungen der Pariser Gesellschaft, um Charaktere und Handlungsstränge zu entwickeln, die bis heute relevant sind und Leser in ihren Bann ziehen. Für alle Liebhaber klassischer Literatur und jene, die ein umfassendes Bild der damaligen sozialen Strukturen gewinnen möchten, sind Balzacs gesammelte Werke ein unverzichtbarer Lesegenuss. Diese Sammlung eignet sich sowohl für den neugierigen Neueinsteiger als auch für den erfahrenen Literaturwissenschaftler, der die Feinheiten der menschlichen Psychologie und des sozialen Lebens im 19. Jahrhundert erkunden möchte. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Die Autorenbiografie hebt persönliche Meilensteine und literarische Einflüsse hervor, die das gesamte Schaffen prägen. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Honoré de Balzac

Gesammelte Werke: 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen, 2 Abhandlungen & Essays

Bereicherte Ausgabe. Ein literarisches Porträt des 19. Jahrhunderts: Realismus, Gesellschaftskritik und menschliche Leidenschaften
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Einführung, Studien und Kommentare von Lachlan Bell
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547796251

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Autorenbiografie
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Gesammelte Werke: 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen, 2 Abhandlungen & Essays: Katharina von Medici + Die dreißig tolldreisten Geschichten: Band 1 bis 3 + Verlorene Illusionen + Glanz und Elend der Kurtisanen + Die Frau von dreißig Jahren + Vater Goriot und mehr
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Sammlung versammelt 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen sowie 2 Abhandlungen und Essays von Honoré de Balzac und eröffnet damit eine breite, zugleich fokussierte Annäherung an sein erzählerisches Universum. Der Titel nennt bewusst Schlüsselwerke – von Vater Goriot, Verlorene Illusionen und Glanz und Elend der Kurtisanen bis zu Katharina von Medici und den Dreißig tolldreisten Geschichten. Die Edition versteht sich nicht als vollständiges Gesamtwerk, sondern als repräsentative Auswahl der Comédie humaine in deutscher Sprache. Sie bietet einen strukturierten Zugang für neue Leserinnen und Leser und zugleich eine konzentrierte, thematisch gegliederte Wiederbegegnung für Kennerinnen und Kenner.

Ziel dieser Zusammenstellung ist es, die Spannweite von Balzacs Projekt sichtbar zu machen: von frühen psychologischen und gesellschaftlichen Studien über reife Gesellschaftspanoramen bis zu späten Reflexionen. Die Romane und Erzählungen sind so gruppiert, dass sich die großen Linien der Comédie humaine nachvollziehen lassen, ohne eine feste Lektüreordnung zu erzwingen. Bekannte Knotenpunkte – etwa urbane und provinzielle Schauplätze, Familienchroniken, ökonomische Verflechtungen und historische Rückblicke – treten als Orientierungspunkte hervor. So entsteht ein Leseraum, in dem Entwicklung, Wiederkehr und Variation balzac’scher Motive erfahrbar werden, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Die Auswahl umfasst mehrere Textsorten: umfangreiche Romane, prägnante Erzählungen, zwei Novellen sowie zwei Abhandlungen und Essays. Neben zentralen Romanen wie Eugénie Grandet, Der Landarzt oder Die Frau von dreißig Jahren stehen Erzählungen von hoher formaler Dichte, darunter Der Ball von Sceaux, Sarrasine, Oberst Chabert, Das Haus Nucingen oder Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan. Die dreißig tolldreisten Geschichten sind in drei Bänden vertreten; ergänzend findet sich eine freie, verkürzte Nachdichtung. Mit Adieu und Lebewohl sind kurze Formen aufgenommen, die die Bandbreite von Balzacs Prosa zeigen. Die Abhandlungen Physiologie der Ehe und Physiologie des Alltagslebens rahmen die erzählerische Arbeit gedanklich.

Als Gesamtheit vermittelt die Sammlung ein Panorama der französischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Balzac beobachtet das Ineinandergreifen von Geld, Macht, Begehren, Familie und Standesehre, in Paris ebenso wie in den Provinzen. Seine Figuren stehen an entscheidenden Schwellen: soziale Aufstiege und Abstiege, berufliche und künstlerische Ambitionen, Loyalitäten und Verführungen. Die Texte zeigen, wie private Entscheidungen von wirtschaftlichen Mechanismen und historischen Kräften geprägt werden. Dabei verbindet Balzac genauer Milieubeschreibung mit psychologischer Analyse. Die Komplexität entsteht aus der Vielzahl der Perspektiven – vom Salon bis zur Werkstatt, vom Kontor bis zum Kloster –, die ein vielschichtiges Bild der Moderne zeichnen.

Stilistisch vereint Balzac erzählerische Anschaulichkeit mit analytischer Schärfe. Wiederkehrende Figuren und Schauplätze schaffen Kohärenz und vertiefen die Beobachtung über mehrere Texte hinweg. Die Erzählstimme wechselt zwischen Nähe und Distanz, kommentiert gelegentlich, klassifiziert, ordnet und verknüpft. Aus dieser Mischung von Detailgenauigkeit, typisierender Kraft und sozialer Diagnostik entsteht ein Realismus, der nicht bloß abbildet, sondern Strukturen sichtbar macht. Die Figuren werden nicht als Einzelphänomene verstanden, sondern als Knoten in Netzen von Beziehungen, Interessen und Abhängigkeiten. So erhalten Liebe, Ehrgeiz, Finanzwesen, Recht und Religion zugleich individuelle und gesellschaftliche Kontur.

Die interne Gliederung der Comédie humaine spiegelt sich im Auswahlprofil: Szenen aus dem Landleben und Lebensbilder stehen neben städtischen Sittenbildern und Geschichten aus der Welt von Handel, Börse und Verwaltung. Diese Zusammenstellung lässt Verbindungen erkennbar werden, die bei selektiver Lektüre leicht verdeckt bleiben. Figuren, Themen und Motive wandern zwischen Texten, nehmen neue Funktionen an, werden bestätigt oder widerlegt. Dadurch entsteht ein Resonanzraum, in dem auch scheinbar randständige Episoden Bedeutung gewinnen. Die Sammlung lädt dazu ein, querzulesen: vom Provinzroman zur Pariser Finanzszene, von Familiengeschichten zu politischen Erzählungen, von intimen Bekenntnissen zu satirischen Tableaus.

Ein Teil der Erzählungen richtet den Blick auf Geschichte und Politik. Katharina von Medici rückt höfische Machttechniken und religiös-konfessionelle Konflikte in den Vordergrund, während eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft die Verwerfungen revolutionärer Umbrüche spiegelt. Texte wie Die Königstreuen oder Der Auftrag greifen Loyalitäten, Verrat und Staatsräson auf. Balzac interessiert sich dabei weniger für das Ereignis als solches als für dessen Nachhall in Biografien, Familien und Institutionen. Historische Stoffe werden so zu Laboratorien sozialer Dynamik: Sie zeigen, wie alte Ordnungen zerfallen, neue entstehen und wie Menschen in den Zwischenräumen handeln.

Daneben entfalten psychologische und geistige Erkundungen eine zweite Achse des Œuvres. Louis Lambert verhandelt Ideenwelt und Bewusstseinszustände, Seraphita berührt religiös-mystische Fragen, Die Lilie im Tal und Die Frau von dreißig Jahren untersuchen intime Lebensläufe unter moralischen und gesellschaftlichen Zwängen. Diese Texte verschmelzen Empfindung, Reflexion und Beobachtung, ohne ins rein Bekenntnishafte zu kippen. Balzac nutzt innere Monologe, Briefelemente und erzählerische Rahmungen, um unterschiedliche Wahrnehmungsweisen zu kombinieren. Das Ergebnis sind Studien über Wunsch und Verzicht, über geistige Berufung und soziale Bindungen – stets rückgebunden an konkrete Räume, Zeiten und Beziehungen.

Besonders prägnant ist Balzacs Analyse ökonomischer und juristischer Ordnungen. Das Haus Nucingen beleuchtet Finanzstrategien und deren Wirkung auf Beziehungen und Ansehen; Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang zeigt das Risiko unternehmerischer Existenz; Die Börse und Oberst Chabert verknüpfen Geld, Recht und persönliches Gedächtnis. Solche Texte sind keine Traktate, sondern dramatische Erzählungen, in denen Verträge, Kredite, Titel und Akten nicht bloß Requisiten, sondern Handlungskräfte sind. Die Verflechtungen zwischen Markt, Staat und Privatsphäre werden sichtbar, ohne dass Einzelschicksale an Kontur verlieren. Damit verbindet Balzac erzählerische Spannung mit sozialer Erkenntnis.

Die dreißig tolldreisten Geschichten bilden einen eigenen Tonraum: burlesk, frech, derb, zugleich kunstvoll komponiert. In ihnen erprobt Balzac Possenspiel, Satire und Lustspielhaftes, oft mit historischem Kolorit und pointierter Moral. Neben der dreibändigen Folge findet sich hier auch eine freie, verkürzte Nachdichtung (Bierbaum/Riba), die den Stoff eigenständig interpretiert. Diese Texte erweitern das Spektrum der Sammlung um das spielerisch-komische Register und zeigen, wie Balzac neben der großen Gesellschaftschronik auch komödiantische Miniaturen beherrscht. Der Wechsel zwischen Groteske und Ernst verstärkt das Gesamtbild: Sittenkritik und Vergnügen greifen ineinander.

Mit der Physiologie der Ehe und der Physiologie des Alltagslebens werden zwei Abhandlungen geboten, die Balzacs Beobachtungsmethode in essayistischer Form ausstellen. Unter dem Etikett der „Physiologie“ verbindet er Anekdote, Typologie und sozialstatistische Anmutungen zu einer halb analytischen, halb satirischen Betrachtung. Diese Texte liefern keine Gesetze, sondern Heuristiken: Sie testen Begriffe, ordnen Erfahrungen und schärfen Kategorien, die in den Erzählwerken narrativ erprobt werden. So bilden die Essays ein Reflexionsfeld, in dem sich die literarischen Verfahren spiegeln: Klassifikation, Variation, Vergleich – Grundlagen einer Prosa, die Gesellschaft als dynamisches System begreift.

Gelesen als Einheit, zeigt diese Auswahl die Tragweite von Balzacs Lebensprojekt, der Comédie humaine: ein Mosaik gesellschaftlicher Formen, das von der Intimität der Gefühle bis zur Makrostruktur der Institutionen reicht. Zwischen 1829 und der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, verbinden die hier versammelten Texte Beobachtung, Erfindung und historische Aufmerksamkeit. Sie sind als Panorama und als Netzwerk lesbar, chronologisch oder thematisch, in langen Bögen oder in pointierten Episoden. Die Sammlung lädt dazu ein, Verbindungen zu entdecken, ohne Vorwissen zu verlangen, und eröffnet Wege, Balzac heute erneut als Chronisten und Analytiker einer sich formierenden Moderne zu erfahren.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

Honoré de Balzac (1799–1850) gilt als einer der prägenden Romanciers des 19. Jahrhunderts und als Schlüsselfigur des literarischen Realismus. Sein monumentales Projekt La Comédie humaine entwirft ein vielschichtiges Panorama der französischen Gesellschaft zwischen Restauration und Julimonarchie. Mit minutiöser Beobachtung, psychologischer Genauigkeit und sozialhistorischer Breite beleuchtet er Macht, Geld, Ehrgeiz und Milieus von der Provinz bis zur Hauptstadt. Balzacs Werk zeichnet sich durch die Wiederkehr von Figuren, die Vernetzung einzelner Romane und die systematische Typisierung sozialer Rollen aus. Diese Architektur machte ihn zu einem der einflussreichsten Chronisten seiner Epoche und zu einem Maßstab für erzählerische Weltentwürfe.

Geboren in Tours und früh nach Paris gelangt, erhielt Balzac eine solide Schulbildung und wandte sich anschließend dem Jurastudium zu. Tätigkeiten in Kanzleien vermittelten ihm Einblicke in Verwaltungs- und Rechtsabläufe, die später seine Prosa mit institutioneller Detailkenntnis prägten. Literarisch prägten ihn nach eigener Aussage besonders Sir Walter Scott und die französische Aufklärungstradition, zudem die wissenschaftlichen Klassifikationsmodelle seiner Zeit. Aus diesen Anregungen formte er die Idee, gesellschaftliche Typen mit der Genauigkeit eines Beobachters zu erfassen. Gleichzeitig studierte er Geschichte, Ökonomie und Journalismus seiner Gegenwart, um Handlung, Milieu und Diskurs eng zu verschränken.

Seine frühen literarischen Versuche in den 1820er-Jahren entstanden häufig unter Pseudonymen wie Lord R’Hoone oder Horace de Saint-Aubin. Er schrieb rasch produzierte Unterhaltungsromane, lernte das Handwerk des Plottens und der Szenenführung und tastete sich an marktfähige Stoffe heran. Parallel engagierte er sich unternehmerisch im Druck- und Verlagswesen, ein Schritt, der ihn in erhebliche Schulden stürzte und seine Disziplin als Berufsschriftsteller schärfte. Aus finanzieller Not und künstlerischem Ehrgeiz entwickelte er eine enorme Arbeitsmethode, die Planung, Revision und serielle Publikation kombinierte. Diese Lehrjahre lieferten ihm zudem Themen und Kontakte, die später in La Comédie humaine einflossen.

Einen Durchbruch markierte 1829 der historische Roman Les Chouans, flankiert vom zeitnah erschienenen La Physiologie du mariage, einer analytischen Schrift zum Eheleben. Kurz darauf folgten La Peau de chagrin, das Fantastik und Gesellschaftssatire verbindet, sowie der ökonomisch und sozial fein austarierte Provinzroman Eugénie Grandet. Mit diesen Werken gewann Balzac kritische Aufmerksamkeit und ein breiteres Lesepublikum. Zugleich verfeinerte er seine Methode, soziologische Beobachtung mit spannungsreicher Handlung zu verbinden. Die Bandbreite reichte von Alltagsmilieus bis zu den Mechanismen der Macht, stets getragen von der Idee, dass gesellschaftliche Kräfte individuelle Schicksale formen.

In den 1830er- und 1840er-Jahren bündelte Balzac seine Romane, Erzählungen und Studien unter dem Titel La Comédie humaine. Das Projekt mit wiederkehrenden Figuren und verknüpften Erzählsträngen erlaubt Querbezüge zwischen Werken wie Le Père Goriot, Illusions perdues, Splendeurs et misères des courtisanes, La Cousine Bette und Le Cousin Pons. Balzac ordnete die Texte in thematische Gruppen, um private, provinzielle und pariserische Sphären vergleichend darzustellen. Er zielte auf eine Art soziale Enzyklopädie, die Mechanismen von Geld, Status und Begehren sichtbar macht. Diese architektonische Anlage, unterstützt von akribischer Dokumentation, wurde zum Markenzeichen seiner erzählerischen Modernität.

Balzacs Poetik verbindet realistische Detailfülle mit umfassender gesellschaftlicher Diagnose. Wiederkehrende Themen sind Kredit, Spekulation, Presse, Recht, Karriere und die Wechselwirkung von öffentlicher Sphäre und Intimität. Sein Erzählen ist häufig allwissend geführt, reich an Dialogen, die Milieu und Machtverhältnisse hörbar machen, und getragen von beschreibender Präzision. Politisch stand er der Legitimisten-Tradition nahe; wichtiger als Parteinahme war jedoch sein Anspruch, Kräftefelder einer Klassengesellschaft zu zeigen. Er arbeitete methodisch, recherchierte Orte, Berufe und Verfahren und integrierte diese Kenntnisse in die Fiktion. Dadurch erreichte er eine Dichte, die seine Figuren zugleich exemplarisch und individuell erscheinen lässt.

In den späten Jahren steigerte Balzac sein ohnehin hohes Arbeitstempo, um das Großprojekt weiterzutreiben, das dennoch unvollendet blieb. Gesundheitliche Belastungen nahmen zu; kurz vor seinem Tod heiratete er, starb jedoch 1850 in Paris. Sein Nachruhm gründet auf der Weite und Kohärenz von La Comédie humaine, deren Figurenkosmos und Gesellschaftsanalyse bis heute Debatten anregt. Autoren des europäischen und internationalen Realismus nahmen Impulse auf, unter anderem Flaubert, Zola oder Henry James; auch spätere Erzähler und Theoretiker verweisen auf Balzacs Modell des vernetzten Romans. In Forschung und Lehre bleibt sein Werk ein Referenzpunkt für Erzählarchitektur, Milieustudie und soziale Imagination.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Honoré de Balzac (20. Mai 1799, Tours – 18. August 1850, Paris) entwarf zwischen 1829 und 1850 mit der Comédie humaine ein umfassendes Gesellschaftspanorama der Restauration und der Julimonarchie. Die in der Sammlung versammelten Romane, Erzählungen, Novellen und Abhandlungen spiegeln Frankreichs Wandel von der Nachrevolutionszeit bis zur Schwelle von 1848. Paris und die Provinz, Finanzplätze, Salons, Gerichte, Kasernen und Pfarrhäuser erscheinen als vernetzte Schauplätze. Balzac verfolgte die Wiederkehr von Figuren und Milieus über mehrere Texte hinweg und schuf damit ein kohärentes Universum, in dem Eigentum, Ehrgeiz, Liebe, Glaube und Wissen als Kräfte wirken, die Biografien formen und politische Umbrüche überdauern.

Der politische Rahmen reicht von der Bourbonen-Restauration (1814/15–1830 unter Ludwig XVIII. und Karl X.) über die Julimonarchie (1830–1848 unter Louis-Philippe) bis zur Revolution von 1848. Die Julirevolution (27.–29. Juli 1830) und die Barrikadenkämpfe in Paris bildeten die Zäsur, welche die Macht der Besitzbürger festigte. Zensur- und Sicherheitspolitik prägten den öffentlichen Diskurs, insbesondere die Septembergesetze von 1835, die Presse und Theater einschränkten. Zwischen Legitimisten, Orléanisten und Republikanern entfaltete sich ein vielschichtiger Parteienstaat. Dieses Kräftefeld strukturiert zahlreiche Handlungszusammenhänge, von Karrierewegen in Verwaltung und Justiz bis zur moralischen Ökonomie von Ehre, Kredit und Loyalität.

Die beschleunigte Kommerzialisierung der Gesellschaft, sichtbar an der Pariser Börse im Palais Brongniart (eröffnet 1826) und der Macht der Banque de France (seit 1800), bildet einen zentralen Hintergrund. Spekulationen auf Immobilien, Kolonialwaren und Staatspapiere, die Eröffnung der Sparkassen (caisses d’épargne, 1818) und dichte Netze von Notaren und Wechselbanken veränderten Vermögen und Lebensläufe. Die Reform des Konkursrechts durch das Gesetz vom 28. Mai 1838 regelte Insolvenz, Vergleich und Betrugsdelikte neu. Konjunkturelle Schocks – die 1847er Krise und die globale Störung ab 1837 – erschütterten die Aufstiegsversprechen. Das Zusammenspiel von Kredit, Reputation und rechtlicher Haftung durchzieht die Handlungslogiken vieler Figuren und Institutionen.

Paris wandelte sich zwischen 1820 und 1848 rasant. Gasbeleuchtung erhellte Boulevards, überdachte Passagen (z. B. Passage des Panoramas) wurden Konsumtempel, und seit 1828 verbanden Omnibuslinien (Stanislas Baudry) die Quartiere. Unter Präfekt Claude-Philibert de Rambuteau (1833–1848) entstanden Brunnen, breitere Straßen und Kanalisationsprojekte; zugleich blieben Elendsquartiere in den Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marcel bestehen. Die alte Topographie der Hôtels particuliers stieß auf Mietskasernen für Arbeiter, während das Palais-Royal, die Boulevards und das Théâtre-Français das Leben der Wohlhabenden strukturierten. Dieser Stadtkörper, mit seinen unsichtbaren Grenzlinien von Rang und Zugriff, ermöglicht Aufstiegskorridore und Abgründe gleichermaßen.

Provinzstädte wie Angoulême, Saumur, Tours oder Issoudun verkörpern die Gegengewichte zur Metropole. Der Code civil (1804) – insbesondere die Gleichteilung der Erbschaften – zerschnitt alte Besitzkomplexe und band Familieninteressen an Heiratspolitik und Notariatsakte. Notables (Bürgermeister, Notare, Ärzte) und Kleinhändler bildeten lokale Oligarchien; die Nähe zur Landrente bestimmte Mentalitäten. Die Differenz zwischen provinzieller Sparsamkeit und Pariser Verführung erzeugt starke narrative Spannungen: Bildungswege führen junge Talente aus Druckereien, Kanzleien oder Seminarien in die Hauptstadt; zugleich holen sie Loyalitäten, Schulden und Abhängigkeiten der Herkunft ein und verknüpfen Stadt und Land dauerhaft.

Familie, Ehe und Vormundschaft sind durch das bürgerliche Recht gerahmt. Seit 1816 war die Scheidung in Frankreich abgeschafft; nur Trennung von Tisch und Bett (séparation de corps) war möglich, die Autorität des Ehemanns blieb stark. Güterstände, Mitgift, Heiratsverträge und Testamente bildeten die juristische Grammatik sozialer Strategien. Frauen verfügten über eingeschränkte Rechtsfähigkeit; ihre ökonomische Sicherheit hing meist von Erben, Mitgiften oder diskreter Patronage ab. Die Ehe als Bündnis von Vermögen und Ansehen, die Gefahr der Verschuldung sowie die Rolle der Tante, des Onkels oder des Notars als Garanten oder Gegner treiben die Erzählmechanik vieler Werke an.

Religion und Kirchenpolitik prägten sowohl Provinz als auch Hauptstadt. Nach 1815 gewann die katholische Erneuerung an Kraft; die Jesuiten, seit 1814 wiederhergestellt, beeinflussten Bildung und Frömmigkeit. Félicité de Lamennais’ Schriften (1817–1823) und seine späteren Konflikte spiegeln Spannungen zwischen liberalem Katholizismus und Ultramontanismus. Auf dem Land organisiert der Pfarrer Armenfürsorge und Moral; in Städten wirken fromme Vereine wie die 1833 von Frédéric Ozanam gegründete Société de Saint-Vincent-de-Paul. Beichte, Predigt und kirchliche Wohltätigkeit konkurrieren mit aufstrebender Säkularität und politischem Pragmatismus. Das religiöse Feld liefert Motive für Bekehrung, Heuchelei, Trost und soziale Kontrolle.

Wissenschaft, Spekulation und Okkultismus überlagern sich. Der Einfluss Emanuel Swedenborgs nährte Visionen vom metaphysischen Substrat der Welt; der Mesmerismus faszinierte Salons und Ärzte. Die Phrenologie nach Franz Joseph Gall verknüpfte Schädelkunde und Charakterlehre. Psychiatrische Reformen unter Philippe Pinel und Jean-Étienne Esquirol (Hospice de Charenton, Salpêtrière) etablierten neue Diagnosen und Behandlungsmodelle. Gleichzeitig revolutionierten Chemie, Elektrizität und frühe Industrialisierung das Alltagsleben. Balzacs Figuren oszillieren zwischen rationaler Berechnung und transzendenten Sehnsüchten, zwischen Labor und Séance; Genie und Irrsinn erscheinen weniger als Gegensätze denn als Pole gesellschaftlicher Wahrnehmung in einer Zeit, die Fortschritt und Aberglauben gleichzeitig beherbergt.

Der Medienmarkt expandierte explosiv. Günstige Massenblätter wie Émile de Girardins La Presse (1836) und Le Siècle (1836) etablierten das Feuilleton; Vorabdrucke steuerten Lektüregewohnheiten und Autorenhonorare. Die Gazette des Tribunaux (seit 1825) popularisierte Gerichtsreportagen. Verlegen und Vertreiben wurden durch Dampfpressen und neue Vertriebswege rationalisiert; Balzac arbeitete mit Verlegern wie Béchet, Werdet und vor allem Furne (Ausgabe der Comédie humaine ab 1842). Konkurrenz durch populäre Fortsetzungsromane von Alexandre Dumas oder Eugène Sue verschärfte den ökonomischen Druck. Vertragsfristen, Abschlagszahlungen und das Publikumsgeschmacksmoment prägen die Komposition, den Umfang und die Publikationsrhythmen vieler Texte.

Justiz, Polizei und Unterwelt bilden ein enges Geflecht. Die Sûreté, 1812 von Eugène-François Vidocq geprägt, professionalisierte Ermittlung und Beobachtung; seine Memoiren (1828–1829) beeinflussten die Populärkultur. Pariser Gerichte (Palais de Justice), das Cour d’assises und die Gazette des Tribunaux machten Prozesse zu öffentlichen Spektakeln. Schuldgefängnisse wie Clichy, die Bagnes von Toulon und Brest sowie die Verwaltung der Prostitution ordneten Randzonen der Gesellschaft. Der Code de commerce (1807) und die Reformen von 1838 unterschieden zwischen unverschuldeter Insolvenz und betrügerischer Banqueroute. Diese institutionellen Arrangements liefern Stoff für Aufstieg, Sturz, Verstellung und die schillernde Figur des Informanten.

Der militärische Nachhall der Kaiserzeit durchzieht Biografien. Nach 1815 lebten zahlreiche Offiziere als Halbsoldempfänger (demi-solde) im Schatten verflogener Ehre; Veteranen und Invaliden prägten Straßenszenen und Erinnerungsdiskurse. Die Eroberung Algeriens ab 1830 eröffnete Karrieren und lieferte Legitimationsnarrative für Härte und Improvisation. In den Provinzen wirkten die Erinnerungen an die Chouannerie und die Vendée-Kriege (1793–1800) nach; in den Städten kursierten Zeichen geheimer Gesellschaften (Charbonnerie in den 1820er Jahren). Militärische Tugenden – Disziplin, Kameradschaft, Gehorsam – geraten im Zivilen in Konflikt mit Marktlogik und Intrige, wodurch Loyalitäten und Ehre ökonomisch aufgeladen werden.

Sozialräume der Geselligkeit strukturieren Chancen. Aristokratische Salons – etwa bei Madame Récamier im Kloster der Abbaye-aux-Bois – standen neben bürgerlichen Kreisen der Julimonarchie. Maskenbälle an der Opéra, Cafés wie Tortoni oder das Café de Paris (ab 1822) und die Theater von den Variétés bis zum Théâtre-Français formten Reputation. Die lateinischen Quartiere beherbergten Studenten und Künstler; die Grisette wurde zur Figur der urbane Zärtlichkeit und Prekarität. In den 1830er Jahren traten die Lorettes im Schatten von Notre-Dame-de-Lorette auf, eine Halbwelt zwischen Liebeshandel und Stilmacht. Hier zirkulieren Informationen, Kredite, Protektion und Skandale mit bemerkenswerter Geschwindigkeit.

Gesundheitskrisen und Sozialreform schufen neue Sensibilitäten. Die Cholera von 1832 tötete in Paris zehntausende und legte hygienische Mängel offen; eine zweite Welle traf 1849 die Stadt. Debatten über Seuchentheorie, Kanalisation und Trinkwasser begleiteten Hospitalreformen (Hôtel-Dieu, La Charité). Statistiker wie Adolphe Quetelet (Sur l’homme, 1835) und André-Michel Guerry (1833) kartierten Kriminalität und Armut. Die 1841er Kinderarbeitsschutzgesetze regulierten Fabriken, ohne das Elend fundamental zu beseitigen. Wohltätigkeit – etwa über die 1833 gegründete Saint-Vincent-de-Paul – konkurrierte mit staatlicher Verantwortung. Ärzte, Apotheker und Landärzte erscheinen als Grenzgänger zwischen Naturkunde, Moral und Verwaltung der Armut.

Beschleunigte Mobilität veränderte Zeit- und Raumgefühle. Frühe Eisenbahnen – Saint-Étienne–Andrézieux (1827), Paris–Saint-Germain (1837) – und das Gesetz vom 11. Juni 1842 zur Netzplanung verknüpften Regionen neu. Diligencen, Messagerien und Postkutschen blieben wichtige Träger bis zur Verdichtung der Schienenwege. Die elektrische Telegrafie fasste in Frankreich ab Mitte der 1840er Fuß; 1849 erschien die erste französische Briefmarke (Cérès-Ausgabe). Der zunehmende Fluss von Waren, Briefen und Gerüchten beschleunigte Karrieren, ruinierte reputative Sicherheiten und verbreitete Skandale über Distanzen. Geschäft, Amt und Literatur adaptierten sich an Takte, die zugleich Chancen mehren und Abhängigkeiten verschärfen.

Im literarischen Feld verschob sich der Ton von der Romantik zum Realismus. Die Schlacht um Hernani (25. Februar 1830, Théâtre-Français) markierte den Triumph einer neuen dramatischen Sprache; gleichzeitig entstanden realistische Verfahren bei Stendhal (Le Rouge et le Noir, 1830) und in der Presse. Balzac systematisierte ab 1842 die Comédie humaine in Szenen des Privat-, Provinz-, Pariser und politischen Lebens, mit wiederkehrenden Figuren als methodischem Kern (Rückkehrfiguren seit 1834). Sein Anspruch war eine soziale „Naturgeschichte“ Frankreichs, in der Beobachtung, Dokument, Gerücht und Fabel verschmelzen. Das Werk konkurriert mit Feuilletonerfolgen, positioniert sich jedoch als langfristige moralische und ökonomische Anatomie.

Historische Tiefenhorizonte strukturieren Gegenwartsszenen. Erinnerungen an das Ancien Régime – venale Ämter, noblesse de robe, Hofsitten – durchziehen Sprechweisen und Rangordnungen nach 1789. Die Revolution (1789) und die Schreckensherrschaft (1793–1794) wirken über Konfiskationen, Emigration und Namensdiskurse fort. Frühere Jahrhunderte, etwa die Religionskriege unter Katharina von Medici und die Bartholomäusnacht (24. August 1572), liefern Gleichnisse für List, Gewalt und Staatsräson. Balzacs spielerisch-archaisierende Contes drolatiques (1832–1837) verarbeiten Rabelais-Traditionen, um Moral und Zensur zu umspielen. Historisches Wissen dient weniger als Kulisse denn als Reservoir von Modellen, mit denen zeitgenössische Ambitionen lesbar werden.

Die Revolution von 1848 resultierte aus der Bankettkampagne 1847, Wirtschaftskrise und politischer Versteinerung. Am 24. Februar 1848 dankte Louis-Philippe ab; die Zweite Republik wurde ausgerufen, die Junitage erschütterten Paris. Pressefreiheit, Clubs und soziale Forderungen entfalteten sich neben Repression. Diese Umbrüche werfen rückwirkend ein scharfes Licht auf die zuvor beschriebenen Mechanismen der Bereicherung, Verdrängung und Maskerade. Balzac heiratete Ewelina Hańska im März 1850 in Berdytschiw (heute Ukraine) und starb am 18. August 1850 in Paris. Sein Panorama blieb Referenz für Leser, Historiker und Soziologen, die Frankreichs Übergang von der ständischen zur kapitalistischen Ordnung verstehen wollen.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Das Chagrinleder (1831)

Ein junger Mann erhält ein magisches Talismanleder, das Wünsche erfüllt, aber seine Lebenskraft schrumpfen lässt – eine Parabel über Begehren, Willen und Endlichkeit im Spiegel der Pariser Gesellschaft.

Louis Lambert (1832)

Biografisches Porträt eines visionären Schülers, dessen metaphysische Spekulationen an den Zwängen der Welt zerschellen – eine Studie über Genie, Schwärmerei und geistige Grenzen.

Der Landarzt (1833)

Ein wohltätiger Arzt erneuert ein armes Tal durch soziale und wirtschaftliche Reformen und verkörpert Balzacs Ideal aufgeklärter Fürsorge.

Eugénie Grandet (1834)

Im Haus eines Geizhalses erfährt Eugénie erste Liebe und die zersetzende Macht des Geldes – ein präzises Sittenbild provinzieller Habsucht und stiller Opfer.

Vater Goriot (1834)

In einer Pariser Pension kreuzen sich väterliche Selbstaufopferung und jugendlicher Aufstiegswille – eine schonungslose Anatomie von Familienband, Ehrgeiz und sozialer Härte.

Die Lilie im Tal (1835)

Die keusche, verzehrende Liebe eines jungen Mannes zu einer verheirateten Frau wird zur Studie über Entsagung, Erinnerung und den Zwiespalt zwischen Leidenschaft und Pflicht.

Die alte Jungfer (1836)

In einer Provinzstadt löst die späte Aussicht auf Heirat Rivalitäten und Intrigen aus – eine Satire über Berechnung, Klatsch und verpasste Gelegenheiten.

Verlorene Illusionen (1837–1843)

Dichter Lucien de Rubempré lernt die Mechanik von Presse, Mäzenatentum und Markt kennen – ein großer Roman über Talent, Korruption und den Preis des Ehrgeizes.

Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang (1838)

Der kometenhafte Aufstieg und Bankrott eines Pariser Parfümeurs zeigt Risiken der Spekulation und den Ehrenkodex des Bürgers.

Glanz und Elend der Kurtisanen (1838–1844)

Die Fortsetzung von Verlorene Illusionen verfolgt Luciens Verstrickung in Demi‑Monde und Justiz – Liebe, Verbrechen und Maskeraden prallen auf Staatsmacht.

Der Dorfpfarrer (1839)

Seelsorge als Motor moralischer Läuterung und sozialer Verbesserung, zentriert um ein verborgenes Vergehen und seine Folgen für eine Gemeinschaft.

Die Frau von dreißig Jahren (1842)

Ein Mosaik über Ehe, Ernüchterung und Selbstfindung, das die Zwänge und Rollenbilder für Frauen im Frankreich der Restauration offenlegt.

Junggesellenwirtschaft

In einem provinziellen Erbschafts- und Familienkampf ringen zwei Brüder und ein Kreis von Intriganten um Einfluss und Vermögen – ein Spiegel von Gier, Schwäche und sozialer Taktik.

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit

Eine geheime Wohltätigkeitsgemeinschaft und die Läuterung Gefallener zeichnen eine moralische Gegen-Geschichte unterhalb der offiziellen Politik.

Die Königstreuen

Vor dem Hintergrund des royalistischen Aufstands in der Bretagne kollidiert eine Liebesgeschichte über Lagergrenzen hinweg mit Bürgerkriegstreue und Ehrbegriffen.

Das Haus Nucingen (1838)

In Bankgeschäften und Salonklatsch seziert Balzac Hochfinanz und gesellschaftlichen Aufstieg und zeigt, wie Geld Ruf und Fassade erzeugt.

Katharina von Medici (1836)

Drei historisch-literarische Porträts rehabilitieren die Königinmutter als politische Akteurin zwischen Religionskrieg, Hofklüngeln und Staatsräson.

Tante Lisbeth (1846)

Eine gedemütigte Verwandte spinnt ein Rachenetz, das eine Pariser Familie zerrüttet – ein unerbittlicher Blick auf Neid, Begehren und bürgerliche Zerbrechlichkeit.

Die Kleinbürger (1856)

Unvollendetes Panorama kleinbürgerlicher Ambitionen und kommunaler Intrigen, in dem Statushunger zu komischer Knausrigkeit und leiser Grausamkeit führt.

Frühe Erzählungen (1830–1832)

Umfasst: Der Ball von Sceaux, Sarrasine, Vendetta, El Verdugo, Die Börse, Die Grenadiere, Oberst Chabert – kompakte Geschichten über Stolz, Leidenschaft, Identität, soldatische Ehre und die Verlockungen des Geldes im frühen Restaurationsmilieu.

Mittlere Pariser Erzählungen (1835–1839)

Umfasst: Ein Drama am Ufer des Meeres, Facino Cane, Die Messe der Gottlosen, Die Entmündigung, Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan, Eine Evatochter – Salonspiele, Rechts- und Standesfragen sowie Zufallsbegegnungen entlarven Schulden, gespielte Rollen und den Preis des guten Rufs.

Politische Intrigen und Staatsaffären (Der Auftrag, Eine dunkle Geschichte, Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft)

Verschwörungen, Polizeidossiers und Revolutionsgerichte zeigen, wie private Schicksale durch Staatsräson und Regimewechsel verbogen werden.

Seraphita (1835)

Ein mystisch-philosophischer Récit in nordischer Landschaft erkundet Androgynität, geistige Ekstase und die Sehnsucht, das Irdische zu überschreiten.

Adieu/Lebewohl (1830)

Eine Episode der Napoleonischen Kriege wird zur eindringlichen Studie über Trauma, Treue und die Grenzen heilender Liebe.

Die dreißig tolldreisten Geschichten: Bände 1–3 + Tolldreiste Geschichten (Bierbaum/Riba)

Derb-heiter erzählte Renaissance-Fabliaux über Lust, Listen und klerikale Schwächen feiern komische Erotik und Schläue; die freie Nachdichtung strafft und modernisiert Ton und Pointe.

Szenen aus dem Landleben: Band 1 & 2

Sammelband ländlicher Sittenstudien (u. a. Der Landarzt, Der Dorfpfarrer), in denen seelsorgerische, medizinische und ökonomische Reformen das Verhältnis zwischen Individuum und Dorfgemeinschaft ausloten.

Lebensbilder: Band 1 & 2

Porträts aus Provinz und Paris bündeln typische Figuren der Comédie humaine – Künstler, Finanzleute, Adelige, Beamte – und beleuchten ihre Motive in alltäglichen Konstellationen.

Weitere kürzere Erzählungen (Der Diamant, Die falsche Geliebte)

Geschichten um ein kostbares Kleinod und eine scheinbare Liaison variieren Balzacs Themen Besitz, Freundschaft und freiwilligen Verzicht.

Physiologie der Ehe (1829)

Witziges, pseudo‑wissenschaftliches Handbuch, das Stadien, Taktiken und Selbsttäuschungen der Ehe ausleuchtet und private Sitten zur Gesellschaftsdiagnose verdichtet.

Physiologie des Alltagslebens

Satirische Skizzen städtischer Typen, Routinen und unausgesprochener Codes, die das soziale Uhrwerk des Pariser Alltags sichtbar machen.

Gesammelte Werke: 15 Romane, 27 Erzählungen, 2 Novellen, 2 Abhandlungen & Essays: Katharina von Medici + Die dreißig tolldreisten Geschichten: Band 1 bis 3 + Verlorene Illusionen + Glanz und Elend der Kurtisanen + Die Frau von dreißig Jahren + Vater Goriot und mehr

Hauptinhaltsverzeichnis
Romane
Das Chagrinleder (1831)
Louis Lambert (1832)
Der Landarzt (1833)
Eugénie Grandet (1834)
Vater Goriot (1834)
Die Lilie im Tal (1835)
Die alte Jungfer (1836)
Verlorene Illusionen (1837-1843)
Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang (1838)
Glanz und Elend der Kurtisanen (1838-1844)
Der Dorfpfarrer (1839)
Die Frau von dreißig Jahren (1842)
Junggesellenwirtschaft
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit
Lebensbilder: Band 1 & 2
Erzählungen
Der Ball von Sceaux (1830)
Sarrasine (1830)
Vendetta (1830)
El Verdugo (1831)
Die Börse (1832)
Die Grenadiere (1832)
Oberst Chabert (1832)
Ein Drama am Ufer des Meeres (1835)
Seraphita (1835)
Facino Cane (1836)
Die Messe der Gottlosen (1836)
Die Entmündigung (1836)
Katharina von Medici (1836)
Das Haus Nucingen (1838)
Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan (1839)
Eine Evatochter (1839)
Die falsche Geliebte (1841)
Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft (1845)
Tante Lisbeth (1846)
Die Kleinbürger (1856)
Die dreißig tolldreisten Geschichten: Band 1 bis 3
Tolldreiste Geschichten (Freie verkürzte Nachdichtung von Bierbaum/Riba)
Der Diamant
Die Königstreuen
Der Auftrag
Eine dunkle Geschichte
Szenen aus dem Landleben: band 1 & 2
Novellen
Adieu (1830)
Lebewohl (1830)
Abhandlung/Essays
Physiologie der Ehe (1829)
Physiologie des Alltagslebens

Romane

Inhaltsverzeichnis

Das Chagrinleder(1831)

Inhaltsverzeichnis
Der Talisman
Die Frau ohne Herz
Der Todeskampf
Epilog
Anmerkungen

Sterne (Tristam Shandy, Kap. CCCXXII)

Für Monsieur Savary Mitglied der Akademie der Wissenschaften

Der Talisman

Inhaltsverzeichnis

Gegen Ende Oktober 1829 trat ein junger Mann in das Palais-Royal, als die Spielhäuser, wie es das Gesetz vorschreibt, das eine hohen Steuern unterliegende Leidenschaft schützt, gerade öffneten. Ohne lange zu zögern, stieg er die Treppe zum Spielsaal hinauf, der die Nummer 36 trug.

»Ihren Hut bitte, Monsieur!« rief ihm mit trockener, mürrischer Stimme ein kleiner, alter Mann zu, der zusammengeduckt hinter einem Verschlag im Halbdunkel saß und, als er sich unvermittelt erhob, ein fahles, abstoßendes Gesicht zeigte.

Betritt man ein Spielhaus, dann nimmt einem das Gesetz zuerst einmal den Hut. Ist das ein symbolisches Vorzeichen, ein Akt der Vorsehung? Oder ist es nicht vielmehr eine Art Teufelspakt, der einen Pfand abfordert? Will man den Spieler vielleicht auf diese Weise nötigen, Ehrerbietung denjenigen gegenüber zu wahren, die ihm sein Geld abknöpfen wollen? Oder hat die Polizei, die ihre Nase in jeden schmutzigen Winkel der Gesellschaft steckt, gar ein Interesse daran, den Namen seines Hutmachers oder seinen eigenen zu erfahren, falls er ihn in sein Hutfutter geschrieben hat? Oder ob man etwa dem Schädel Maß nehmen will, um eine lehrreiche Statistik über die Größe der Spielerhirne aufzustellen? Über diesen Punkt hüllt sich die Verwaltung in tiefstes Schweigen. Aber eines muß der Spieler wissen: Sowie er den ersten Schritt zum grünen Tisch getan hat, gehört ihm sein Hut ebensowenig, als er sich selber gehört. Er ist dem Spiel verfallen, er, seine Habe, sein Hut, sein Stock und sein Mantel. Verläßt er schließlich den Saal, demonstriert das Spielhaus wie mit einem Zeichen beißenden Hohnes, daß es ihm wenigstens etwas läßt: den Hut. Sollte er jedoch einen neuen Hut besitzen, wird er aus seinem Schaden lernen, daß es ratsam ist, sich eine spezielle Kleidung fürs Spiel zuzulegen.

Das Erstaunen des jungen Mannes, als er für seinen Hut, dessen Ränder zum Glück schon leicht abgegriffen waren, eine numerierte Marke erhielt, zeugte deutlich genug von einer noch unverdorbenen Seele, daher sandte ihm auch der kleine Alte, den der Fieberrausch des Spielerlebens von Jugend an verzehrt zu haben schien, einen trüben teilnahmslosen Blick, aus dem ein Philosoph das Elend der Spitäler, das unstete Dasein der Gescheiterten, Protokolle unzähliger Selbstmorde, lebenslänglicher Zwangsarbeit oder Verbannungen an den Coatzacoalco hätte herauslesen können. Dieser Mann, dessen längliches weißes Gesicht nur noch von Darcets Gallertsuppen genährt schien, verkörperte das bleiche Bild der auf ihren einfachsten Ausdruck gebrachten Leidenschaft. In seinem runzeligen Gesicht hatten langjährige Qualen ihre Spuren hinterlassen; anscheinend verspielte er sein kärgliches Gehalt noch am Zahltag. Wie alte Schindmähren, die die Peitsche nicht mehr spüren, so vermochte ihn nichts mehr zu erschüttern.

Das dumpfe Stöhnen der Spieler, die davongingen und alles verloren hatten, ihre stummen Flüche, ihre stumpfen Blicke machten auf ihn schon lange keinen Eindruck mehr. Er war das leibhaftig gewordene Spiel. Hätte der junge Mann diesen erbärmlichen Zerberus näher betrachtet, hätte er sich vielleicht gesagt: ›In diesem Herzen gibt es nur noch ein Kartenspiel!‹ Der Unbekannte indes achtete auf diese lebendige Warnung nicht, die zweifellos die Vorsehung vor jene Tür gestellt hatte, wie sie vor alle unheilvollen Stätten den Ekel setzt. Er trat entschlossen in den Saal, wo der Klang des Goldes auf die von Begehrlichkeit angestachelten Sinne eine magische Faszination ausübte. Wahrscheinlich wurde dieser junge Mann von dem logischsten aller bedeutsamen Sätze Jean-Jacques Rousseaus dort hingetrieben, dessen trauriger Sinn, wie ich glaube, folgendermaßen auszudrücken ist: ›Ja, ich begreife, daß ein Mann zum Spiel geht, aber nur dann, wenn er zwischen sich und dem Tode nichts als seinen letzten Taler sieht.‹

Am Abend atmen die Spielhäuser nur eine recht vulgäre Poesie, obgleich ihre Wirkung da unfehlbar ist wie die eines blutrünstigen Dramas. Die Säle sind voll von Schaulustigen und Spielern, von notleidenden Greisen, die sich hinschleppen, um sich aufzuwärmen, von erhitzten Gesichtern; Orgien, die im Wein begonnen und in der Seine enden werden. Wenn hier auch Leidenschaft im Übermaß vorhanden ist, so ist man wegen der allzu großen Anzahl der Akteure daran gehindert, den Dämon des Spiels von Angesicht zu Angesicht zu betrachten. Der Abend gleicht einem wahren Ensemblestück, wo die ganze Truppe grölt und jedes Instrument einen anderen Part spielt. Man kann da manch ehrbare Leute antreffen, die der Zerstreuung wegen kommen und dafür zahlen wie fürs Theater, für Tafelfreuden oder den Besuch in einer Dachstube, wo sie wohlfeil drei Monate schmerzhafte Reue einhandeln. Aber begreift man die wahnwitzige Leidenschaft in der Seele eines Mannes, der ungeduldig das Öffnen eines Spielkasinos erwartet? Der Spieler, der morgens kommt, unterscheidet sich von dem am Abend wie der gleichgültige Ehemann von dem Liebhaber, der unter den Fenstern seiner Angebeteten schmachtet. Nur morgens kommt die zitternde Leidenschaft und die Not in ihrem unverhüllten Grauen.

Um diese Zeit kann man den wahren Spieler bewundern, einen Spieler, der nichts gegessen, nicht geschlafen, nicht gelebt, über nichts nachgedacht hat, so furchtbar ist er von der Geißel seines Spielfiebers durchglüht worden, so sehr juckt es ihm in den Fingern nach einem Trente-et-Quarante. Zu dieser verhängnisvollen Stunde begegnet man Augen, deren Ruhe schaudern macht, Gesichtern, von denen man nicht loskommt, Blicken, die die Karten förmlich durchbohren und verschlingen. Großartig sind die Spielhäuser deshalb nur, wenn die Karten gegeben sind und die Kugeln zu rollen beginnen. Wie Spanien seine Stierkämpfe, Rom einst seine Gladiatoren gehabt hat, so ist Paris stolz auf sein Palais-Royal, dessen nervenzehrende Roulettes das Vergnügen verschaffen, zuzusehen, wie das Blut in Strömen fließt, ohne daß das Publikum Gefahr läuft, darin auszugleiten. Wollen Sie einen flüchtigen Blick in diese Arena werfen? Treten Sie ein! ... Wie kahl alles ringsum ist! An diesen Wänden, die bis in Mannshöhe von einer fettigen Papiertapete bedeckt sind, kein einziges Bild, das die Seele erfreuen könnte. Nicht einmal ein Nagel ist da, der den Selbstmord erleichtern könnte. Das Parkett ist ausgetreten und schmutzig. Ein länglicher Tisch nimmt die Mitte des Raumes ein. Die gewöhnlichen Rohrstühle, die eng um das vom Gold abgewetzte Tuch herumstehen, künden von einer erstaunlichen Gleichgültigkeit gegen den Luxus bei Männern, die doch hierherkommen, sich um des Geldes und des Luxus willen zugrunde zu richten. Dieser Widerspruch im Menschen wird dort sichtbar, wo die Seele übermächtig auf sich selbst zurückwirkt.

Der Liebende möchte seine Geliebte in Seide, in die schmeichelnden Gewebe des Orients hüllen und besitzt sie die meiste Zeit auf einem armseligen Lager. Der Ehrgeizige träumt sich auf dem Gipfel der Macht, während er sich im Schmutz knechtischer Unterwürfigkeit erniedrigt. Der Kaufmann vegetiert in den hinteren Räumen eines ungesunden feuchten Ladens, derweil er ein prächtiges Haus bauen läßt, aus dem sein Sohn und vorzeitiger Erbe späterhin durch eine vom Bruder angeordnete Zwangsversteigerung hinausgejagt wird. Gibt es schließlich etwas Freudloseres als ein Freudenhaus? Seltsames Problem! Wie der Mensch, immer im Widerspruch mit sich selbst, seine Hoffnungen durch die Mißhelligkeiten der Gegenwart trügt, über seine Mißhelligkeiten mit einer Zukunft hinwegtäuschen will, die ihm nicht gehört, und dadurch allen seinen Handlungen den Stempel der Inkonsequenz und der Schwäche aufdrückt! Das Unglück allein ist auf Erden vollkommen.

Als der junge Mann den Saal betrat, waren schon einige Spieler versammelt. Drei alte Kahlköpfe saßen in ungezwungener Haltung am grünen Tisch; ihre bleichen, maskenhaft starren Gesichter, teilnahmslose Diplomatenmienen, ließen erkennen, daß ihre Seelen abgestumpft waren und ihre Herzen seit langem verlernt hatten, schneller zu schlagen, selbst wenn der letzte Notpfennig der Frau auf dem Spiel stand. Ein junger schwarzhaariger Italiener mit olivfarbenem Teint saß reglos am Ende des Tisches, hatte die Ellbogen aufgestützt und schien jenen inneren Stimmen zu lauschen, die einem Spieler verhängnisvoll zuraunen: ›Ja! – Nein!‹ Der südländische Kopf atmete Gold und Feuer. Sieben oder acht Zuschauer standen im Kreise herum und harrten der Szenen, die ihnen die Fügungen des Schicksals, die Mimik der Spieler, die Bewegung des Geldes und der Rechen bereiten sollten. Diese Müßiggänger standen schweigsam, starr und gespannt da, wie das Volk auf der Place de Grève, wenn der Henker einen Kopf abschlägt. Ein großer, hagerer Mann in fadenscheinigem Rock hielt in der Hand ein Register und in der andern eine Nadel, mit der er den Wechsel von Rot und Schwarz registrierte. Das war einer von jenen, die am Rande aller Genüsse ihrer Zeit leben, ein moderner Tantalus, einer jener Geizhälse, die keinen roten Heller ihr eigen nennen und um einen imaginären Einsatz spielen; eine Art vernünftiger Narr, der einer Schimäre nachhängt, um über sein Elend hinwegzutrösten, der mit dem Laster und der Gefahr umgeht wie junge Priester mit dem Abendmahl, wenn sie weiße Messen lesen.

Ein oder zwei jener geriebenen Spekulanten, die die Chancen des Spiels genau einschätzen und alten Sträflingen gleichen, welche die Galeere nicht mehr schreckt, hatten ihren Platz gegenüber der Bank gewählt, um drei Einsätze zu wagen und mit dem erhofften Gewinn, von dem sie ihr Leben bestritten, sofort zu verschwinden. Zwei alte Saaldiener schlenderten mit verschränkten Armen auf und ab und blickten von Zeit zu Zeit durch die Fenster in den Park, wie um den Vorübergehenden ihre nichtssagenden Gesichter als Aushängeschild zu zeigen. Der Croupier und der Bankhalter hatten eben jenen unbewegten Blick über die Spieler gleiten lassen, der ihnen den Atem nimmt, und grell ihr: »Faites le jeu!« gerufen, als der junge Mann die Tür öffnete. Irgendwie wurde die Stille noch tiefer, und alle Köpfe wandten sich neugierig dem Neuankömmling zu. Etwas Unerhörtes ging vor: Die stumpfen Greise, die versteinerten Angestellten, die Schaulustigen, sogar der fanatische Italiener, alle empfanden beim Anblick des Unbekannten ein Gefühl des Entsetzens. Muß man nicht sehr unglücklich sein, sehr hinfällig und unheimlich aussehen, um in diesem Saale, wo der Schmerz stumm sein muß, das Elend Fröhlichkeit heuchelt und die Verzweiflung den Anstand wahrt, Mitleid zu erregen, Teilnahme zu erwecken, einen Schauder hervorzurufen? Nun denn, in dem ungewohnten Gefühl, das jene eisigen Herzen bewegte, als der junge Mann eintrat, war von alledem etwas enthalten. Aber haben nicht auch Henker manchmal über die Jungfrauen geweint, deren blonde Köpfe auf einen Wink der Revolution fallen mußten?

Beim ersten Blick lasen die Spieler in dem Gesicht des Neulings ein schreckliches Geheimnis; die Anmut seiner jugendlichen Züge war umschattet, sein Blick zeugte von vergeblichen Anstrengungen und von tausend gescheiterten Hoffnungen. Der düstere Gleichmut des zum Tode Entschlossenen verlieh seiner Stirn eine matte, krankhafte Blässe; ein bitteres Lächeln zog leise Falten in seine Mundwinkel, und der Anblick der tiefen Hoffnungslosigkeit, die seine Züge ausdrückten, war kaum zu ertragen. Ein verborgenes Genie flackerte im tiefsten Inneren seiner umflorten Augen, die vielleicht von Vergnügungen ermattet waren. Hatte die Ausschweifung ihr schmutziges Siegel auf dieses edle, ehemals reine und leuchtende, jetzt entwürdigte Antlitz gedrückt? Die Ärzte hätten die gelben Ringe um die Augen und die Röte auf den Wangen zweifellos einer Krankheit der Lunge oder des Herzens zugeschrieben, während die Dichter Zeichen Kräfte verschleißenden geistigen Ringens, die Spuren nächtlichen Studiums beim kärglichen Schein einer Lampe darin gesehen hätten. Aber eine Leidenschaft, tödlicher als Krankheit, eine Krankheit erbarmungsloser als Studium und Genie, verheerte dieses junge Gesicht, verkrampfte diese beweglichen Muskeln, preßte dieses Herz zusammen, das Wollust, Studium und Krankheit nur leicht gestreift hatten. So wie im Bagno ein berühmter Verbrecher bei seiner Einlieferung von allen Sträflingen respektvoll empfangen wird, so grüßten diese menschlichen Dämonen, diese in allen Folterqualen Erfahrenen einen unerhörten Schmerz, eine tiefe Wunde, die ihr Blick zu ergründen suchte, und erkannten in ihm an der Majestät seiner stummen Verachtung, der eleganten Kläglichkeit seiner Kleidung einen ihrer Fürsten.

Der junge Mann trug wohl einen Frack von guter Fasson, aber die Verbindung seiner Weste mit der Krawatte war zu kunstvoll hergestellt, als daß man darunter ein Hemd vermuten konnte. Seine Hände, hübsch wie die einer Frau, waren von zweifelhafter Sauberkeit; seit zwei Tagen hatte er keine Handschuhe mehr getragen. Wenn selbst den Croupier und die Saaldiener ein Schauder überflog, so weil über den feingeschnittenen Zügen, den natürlich gewellten dünnen, blonden Haaren noch ein Hauch von Unschuld lag. Dies Gesicht war noch fünfundzwanzig Jahre jung, und das Laster schien darauf nur ein Zufall zu sein. Die Lebenskraft der Jugend kämpfte darin noch an gegen die Verheerungen unterdrückter Begierden. Licht und Finsternis, Sein und Nichts stritten gegeneinander und zeugten Anmut und Grauen zugleich. Der junge Mann erschien in dieser Runde wie ein Engel ohne Strahlenschein, der vom rechten Wege abgekommen war. Und wie ein altes zahnloses Weib vom Mitleid ergriffen wird, wenn es sieht, wie sich ein schönes junges Mädchen dem Verderben preisgibt, so waren alle diese Würdenträger des Lasters und der Schande nahe daran, dem Neuling zuzurufen: »Flieh von hier!« Jener aber schritt geradewegs auf den Tisch zu, blieb stehen und warf auf gut Glück ein Goldstück, das er in der Hand hielt, auf den Tisch. Es rollte auf Schwarz; zugleich richtete er, wie starke Naturen, die die quälende Ungewißheit verabscheuen, einen ungestümen, wiewohl gefaßten Blick auf den Croupier. Das Interesse an diesem Einsatz war so groß, daß keiner der Alten setzte; aber der Italiener folgte mit der Besessenheit der Leidenschaft einem Gedanken, der ihm gerade gelächelt hatte, und setzte sein ganzes Gold gegen das Spiel des Unbekannten. Der Bankhalter vergaß seine stereotypen Wendungen zu rufen, die mit der Zeit heiser und unverständlich geworden sind: »Faites le jeu! – Le jeu est fait! – Rien ne va plus.« Er breitete die Karten aus und schien dem Zuletztgekommenen Glück zu wünschen, gleichgültig, ob den Veranstaltern dieses finstern Vergnügens Gewinn oder Verlust daraus entstünde. Jeder der Zuschauer wollte in dem Schicksal dieses Goldstücks ein Drama, die Schlußszene eines edlen Lebens sehen; ihre Augen, auf die verhängnisvollen Karten geheftet, funkelten; aber trotz der Aufmerksamkeit, mit der sie abwechselnd den jungen Mann und die Karten betrachteten, konnten sie auf seinem kalten und gefaßten Antlitz kein Zeichen der Erregung wahrnehmen.

»Rouge, pair, passe«, verkündete der Croupier im Amtston.

Eine Art dumpfen Röchelns entrang sich der Brust des Italieners, als er die gefalteten Geldscheine, die ihm der Bankhalter zuwarf, einen nach dem anderen vor sich niederfallen sah. Der junge Mann indes begriff seinen Ruin erst in dem Augenblick, als der Rechen seinen letzten Napoleon hinwegraffte. Das Elfenbein entlockte dem Goldstück, das rasch wie ein Pfeil auf den vor der Kasse angesammelten Goldhaufen zuflog, einen trockenen Ton. Der Unbekannte schloß sacht die Augen; seine Lippen wurden bleich; aber bald hob er die Lider, sein Mund gewann korallene Röte, er nahm die Miene eines Engländers an, für den das Leben keine Geheimnisse mehr birgt, und entfernte sich, ohne mit einem jener herzzerreißenden Blicke um Trost zu flehen, die verzweifelte Spieler häufig genug den Anwesenden zuwerfen. Wieviel passiert im Zeitraum einer Sekunde und wieviel hängt von einem Wurf des Würfels ab!

»Das war gewiß seine letzte Patrone«, sagte lächelnd der Croupier nach einem Augenblick des Schweigens, in welchem er dieses Goldstück zwischen Daumen und Zeigefinger hochgehalten hatte, um es den Anwesenden zu zeigen. »Der ist so überspannt, daß er sich ins Wasser stürzen wird«, sagte ein Gewohnheitsspieler mit einem Blick auf die andern, die einander alle kannten.

»Ach was!« rief der Saaldiener und nahm eine Prise Tabak.

»Hätten wir es nur gemacht wie der Monsieur dort!« sagte einer von den Greisen zu seinen Kollegen und deutete auf den Italiener.

Alle sahen auf den glücklichen Gewinner, dessen Hände beim Zählen der Banknoten zitterten.

»Ich habe eine Stimme gehört, die mir ins Ohr rief, das Spiel werde gegen die Verzweiflung dieses jungen Mannes recht behalten«, sagte er.

»Das war kein Spieler«, meinte der Bankhalter, »sonst hätte er sein Geld in drei Teile geteilt, um bessere Gewinnchancen zu haben.«

Der junge Mann wollte hinausgehen, ohne seinen Hut zu verlangen; aber der alte Wachhund hatte den armseligen Zustand dieser Kopfbedeckung bemerkt und reichte sie ihm wortlos hin. Der Spieler gab mit mechanischer Bewegung die Garderobenmarke zurück und stieg die Treppe hinunter, indem er ›Di tanti palpiti‹ pfiff, aber so leise, daß er die reizende Melodie kaum selbst vernahm.

Er befand sich bald unter den Bogengängen des Palais-Royal, ging bis zur Rue Saint-Honore, schlug dann den Weg zu den Tuilerien ein und durchquerte unschlüssig den Park. Er lief, als wäre er mitten in einer Wüste; Menschen stießen ihn, die er nicht sah, er hörte durch das Geschrei der Menge hindurch nur eine Stimme: die des Todes. Er war in ein lähmendes Nachdenken verloren, wie es einst jene dem Schafott Bestimmten befiel, die ein Karren vom Justizpalast zur Place de Grève führte, zu jenem Richtplatz, der getränkt ist von all dem Blut, das seit 1793 dort vergossen wurde.

Etwas Großes und Entsetzliches liegt im Selbstmord. Bei den meisten Menschen ist ein Sturz so ungefährlich wie bei Kindern, die zu niedrig fallen, um sich ernstlich zu verletzen; aber wenn ein großer Mann zerschmettert, muß er aus großer Höhe gefallen sein, muß er sich bis zu den Himmeln erhoben und ein unerreichbares Paradies erschaut haben. Unerbittlich müssen die Gewalten sein, die ihn treiben, von der Mündung einer Pistole Frieden für seine Seele zu erlangen. Wieviel junge Talente verzehren sich und gehen, in einer Mansarde eingesperrt, zugrunde, weil ihnen ein Freund fehlt, eine Frau, die sie tröstet, und das inmitten von Millionen von Wesen, angesichts einer am Gold übersättigten, von Langeweile gepeinigten Menge! Wenn man dies bedenkt, erscheint der Selbstmord ungeheuerlich. Gott allein weiß, wieviel Entwürfe, unvollendete Dichtungen, wieviel Verzweiflung und erstickte Schmerzensschreie, wieviel mißlungene Versuche und verworfene Meisterwerke zwischen dem freiwilligen Tode und der keimenden Hoffnung liegen, deren Stimme den jungen Mann einst nach Paris gelockt hat. Jeder Selbstmord ist ein Poem von erhabener Melancholie. Wo fände man im Ozean der Literaturen ein die Zeiten überdauerndes Buch, das sich an Poesie mit dieser Zeitungsnotiz messen könnte: ›Gestern um vier Uhr stürzte sich eine junge Frau vom Pont-des-Arts in die Seine.‹

Vor diesem Pariser Lakonismus verblassen alle Dramen und Romane, selbst jenes alte Titelblatt: ›Die Klagen des ruhmreichen Königs von Kaërnavan, den seine Kinder in den Kerker warfen‹; der einzige Überrest eines verlorengegangenen Buches, das den harten Sterne, der doch selbst Frau und Kinder verlassen hatte, zum Weinen brachte.

Tausend ähnliche Gedanken stürmten auf den Unbekannten ein, jagten bruchstückhaft an seinem inneren Auge vorüber, zerfetzten Fahnen gleich, die mitten im Schlachtgetümmel aufflattern. Warf er einen kurzen Augenblick lang die Last seiner Gedanken und Erinnerungen ab, um vor einigen Blumen still zu stehen, deren Blüten sich auf der weiten Rasenfläche sacht im Wind wiegten, durchzuckte ihn dann das Leben, das sich noch bäumte unter dem lastenden Todesgedanken, hob er die Augen zum Himmel: doch dort rieten ihm die grauen Wolken, die trauerbeladenen Windstöße, die niederdrückende Atmosphäre zu sterben. Er nahm den Weg zum Pont Royal und sann über die letzten seltsamen Einfälle seiner Vorgänger nach. Er mußte lächeln, als ihm einfiel, daß Lord Castlereagh erst das bescheidenste menschliche Bedürfnis befriedigt hatte, bevor er sich die Kehle durchschnitt, und daß Auger, Mitglied der Akademie, seine Tabaksdose geholt hatte, um auf dem Weg zum Tode schnupfen zu können. Er durchdachte diese Absonderlichkeiten und befragte sich daraufhin selbst, wobei er sich dabei ertappte, wie er sorgsam den weißen Staub abschüttelte, mit dem ein Lastträger der Hallen, welchem er, dicht an das Brückengeländer gepreßt, ausgewichen war, seinen Rockärmel beschmutzt hatte. Als er auf dem höchsten Punkt der Brückenwölbung angelangt war, starrte er trübsinnig ins Wasser.

»Schlechtes Wetter, sich zu ertränken!« rief ihm ein altes, zerlumptes Weib lachend zu. »Die Seine ist kalt und schmutzig!«

Er antwortete mit einem knabenhaften Lächeln, das den ganzen Wahnwitz seines Entschlusses bewies; aber plötzlich schauderte er, als er in der Ferne am Hafen der Tuilerien über einer Baracke in fußhohen Lettern die Aufschrift erblickte: ›Rettungsstation‹. Monsieur Dacheux erschien ihm im Rüstzeug seiner Philanthropie, wie er jene tugendhaften Ruderstangen in Bewegung setzte, die den Ertrinkenden die Schädeldecke einschlagen, wenn sie unglückseligerweise noch einmal an die Wasseroberfläche gelangen. Er sah ihn die neugierigen Gaffer herbeilocken, einen Arzt auftreiben, Tabakrauch bereithalten; er las die Todesmeldungen der Journalisten, die sie zwischen der Ausgelassenheit eines Gelages und dem Lächeln einer Tänzerin niedergeschrieben hatten, hörte die Taler klingen, die der Polizeipräfekt den Bootsführern für seinen Kopf auszahlte. Tot war er 50 Francs wert, lebend war er nichts weiter als ein talentvoller junger Mann ohne Protektion, ohne Freunde, ohne Strohsack als Lager, ohne Bedeutung, eine wahre soziale Null, ohne Nutzen für den Staat, der sich um ihn nicht scherte. Ein Tod am hellichten Tag erschien ihm würdelos, er beschloß in der Nacht zu sterben, um dieser Gesellschaft, die die Größe seines Lebens nicht zu schätzen wußte, einen unkenntlichen Leichnam zu hinterlassen.

Er setzte also seinen Weg fort und wandte sich, schlendernd wie ein Müßiggänger, der die Zeit totschlagen will, zum Quai Voltaire. Als er die Stufen, in die die Brücke ausläuft, hinabstieg, wurde seine Aufmerksamkeit an der Ecke des Quais von alten Büchern angezogen, die auf der Brüstung ausgebreitet waren; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte einige davon erhandelt. Er mußte wieder lächeln, steckte die Hände philosophierend in die Hosentaschen und nahm wieder die unbekümmerte, von kalter Verachtung durchdrungene Haltung an, als er zu seiner Überraschung in seiner Tasche einige Geldstücke auf eine wahrhaft phantastische Art klingen hörte. Ein Hoffnungsschimmer erhellte sein Gesicht, glitt von den Lippen über Wangen und Stirn und ließ seine Augen vor Freude strahlen. Doch dieser Funke Glück glich dem Aufglimmen eines Stück Papiers, das die Flamme bereits verzehrt hat; und so wie dieser in schwarzer Asche verlischt, verdüsterte sich das Antlitz des Unbekannten wieder, als er die Hand hastig aus der Tasche zog und drei große Sous erblickte.

»Ach, lieber Monsieur, la carità! La carità! Catarina! Nur einen kleinen Sou für Brot!«

Ein kleiner Schornsteinfeger mit aufgedunsenem schwarzen Gesicht, rußigbraunem Körper und zerlumpten Kleidern, streckte die Hand aus, um ihm das letzte Geld abzubetteln.

Zwei Schritte von dem kleinen Savoyarden entfernt, stand ein armer, demütiger Alter, hinfällig, bedürftig und elend, in eine zerschlissene Tapisserie gehüllt, der ihn mit dumpfer eindringlicher Stimme bat: »Monsieur, geben Sie mir, was Sie wollen, ich werde für Sie beten...« Aber als der junge Mann den Alten angeblickt hatte, verstummte dieser und verlangte nichts mehr. Es mochte ihm aus diesem düstern Gesicht wohl eine noch härtere Not als die seine entgegenstarren.

»La carità! La carità!«

Der Unbekannte warf dem Knaben und dem armen Alten sein Geld hin, verließ den Uferweg und ging zu den Häusern hinüber, da ihm der quälende Anblick der Seine unerträglich geworden war.

»Wir werden Gott um die Erhaltung Ihrer Tage bitten«, riefen ihm die beiden Bettler nach.

An der Auslage eines Kunsthändlers sah der junge Mann, der den Lebenden schon fast nicht mehr angehörte, eine junge Frau aus einer glänzenden Equipage steigen. Hingerissen blickte er auf die reizende Erscheinung, deren zartes Gesicht sich von dem Atlas ihres eleganten Hutes harmonisch abhob. Die schlanke Gestalt, die anmutigen Bewegungen entzückten ihn. Das Kleid wurde beim Aussteigen aus dem Wagen leicht zurückgeschlagen und ließ ein wohlgeformtes Bein sehen, das ein weißer Strumpf fein umspannte. Die junge Frau betrat den Laden und ließ sich Alben, Sammlungen von Lithographien vorlegen und kaufte für mehrere Goldstücke, die auf dem Ladentisch funkelten und klangen. Der junge Mann, der an der Türschwelle scheinbar damit beschäftigt war, die Gravüren in der Auslage zu betrachten, sandte der schönen Unbekannten die glühendsten Blicke, zu denen ein Mann fähig ist, sie hingegen blickte nur einmal unbekümmert zu ihm hin, wie man zufällig irgendeinen Passanten ansieht.

Für ihn war es ein Abschied von der Liebe, von den Frauen! Aber dieser letzte, inbrünstige Hilferuf glitt unverstanden ab, rührte das Herz dieser leichtfertigen Frau nicht, ließ sie nicht erröten, nicht die Augen niederschlagen. Was war es für sie? Ein Zeichen der Bewunderung mehr, ein Verlangen, das sie eingeflößt hatte und das ihr am Abend die schmeichelnden Worte eingab: ›Ich habe heute ,gut' ausgesehen.‹ Der junge Mann schritt rasch zu einem anderen Fenster und drehte sich nicht mehr um, als die Unbekannte ihren Wagen bestieg. Die Pferde zogen an, und diese letzte Vision des Luxus und der Schönheit schwand dahin, wie sein Leben dahinschwinden sollte. Melancholischen Schrittes ging er an den Geschäften vorbei und sah sich ohne großes Interesse die ausgelegten Waren an. Als die Läden aufhörten, betrachtete er den Louvre, das Institut, die Türme von Notre-Dame und vom Justizpalast und den Pont-des-Arts. Diese Bauwerke schienen traurig auszusehen unter dem grauen Widerschein des Himmels, durch den hie und da ein heller Strahl drang, der Paris bedrohlich wirken ließ, denn diese Stadt unterhegt wie eine hübsche Frau unerklärlichen Anwandlungen von Schönheit und Häßlichkeit. So schien sich die Natur selbst verschworen zu haben, den Todheischenden in schmerzliche Ekstase zu tauchen.

Jener unheilvollen Macht ausgeliefert, deren zersetzende Wirkung mit dem Strom unserer Nerven den ganzen Organismus durchdringt, war es ihm, als ob sein Körper sich allmählich einem Schwebezustand näherte. Unter dem Ansturm dieser Todespein schwankte er gleich einer aufgepeitschten Welle und nahm Gebäude und Menschen wie durch einen Nebel wahr, in dem alles wogte und verschwamm. Er wollte sich dem Druck entziehen, den diese Auflehnung seiner physischen Natur auf seine Seele ausübte, und ging auf einen Antiquitätenladen zu, wo er seine Sinne abzulenken oder beim Handeln um Kunstgegenstände die Nacht zu erwarten beabsichtigte. Er tat dies sozusagen, um sich Mut zu machen und eine Herzstärkung zu sich zu nehmen, wie die Verbrecher, die auf ihrem Gang zum Schafott ihrer Kraft nicht trauen. Doch das Bewußtsein seines nahen Todes lieh dem jungen Mann für einen Augenblick die Sicherheit einer Herzogin, die zwei Liebhaber hat, und so trat er unbefangen, mit dem starren Lächeln eines Trunkenen, in den Laden des Antiquitätenhändlers. War er denn nicht trunken vom Leben oder vielmehr vom Tode? Bald befiel ihn wieder der Schwindel, und die Gegenstände erschienen ihm in seltsamen Farben oder verschoben sich leicht, als wären sie belebt, was höchstwahrscheinlich dem unregelmäßigen Kreisen seines Blutes zuzuschreiben war, das bald kaskadengleich brauste, bald matt und träg wie laues Wasser dahinfloß.

Er erklärte einfach, die Lagerräume besichtigen zu wollen, um dort etwaige Kuriositäten ausfindig zu machen, die ihm zusagten. Ein frischer, pausbäckiger Bursche mit rotem Haarschopf, auf dem eine Ottermütze saß, übertrug die Aufsicht des Ladens einer alten Bäuerin, einer Art weiblichen Calibans, die gerade einen Ofen säuberte, ein Wunderwerk des genialen Bernard Palissy; dann sagte er mit sorgloser Miene zu dem Fremden: »Schauen Sie sich nur um, Monsieur! Hier unten sind nur ganz gewöhnliche Sachen. Wenn Sie sich aber die Mühe machen wollen, mit in die erste Etage hinaufzusteigen, kann ich Ihnen sehr schöne Mumien aus Kairo zeigen, mehrere inkrustierte Töpferarbeiten und ein paar Ebenholzschnitzereien, ›echte Renaissance‹ kürzlich erst eingetroffen und einfach wundervoll.«

In seiner entsetzlichen Lage empfand der Unbekannte dieses Ciceronengeschwätz, diese dummen Kaufmannsphrasen wie die albernen Scherze, mit denen beschränkte Geister einen Mann von Genie peinigen. Aber er trug sein Kreuz bis zum bitteren Ende, hörte seinem Führer mit halbem Ohre zu und antwortete mit Gesten und vereinzelten Worten. Doch nach und nach wußte er sich das Recht zu erobern, in Schweigen zu verharren, und konnte sich bedenkenlos seinen letzten grauenvollen Betrachtungen überlassen. Er war Poet, und unvermutet fand seine Seele hier Nahrung in Hülle und Fülle vor: er sollte die Gebeine aus zwanzig Welten im voraus zu sehen bekommen.

Auf den ersten Blick boten ihm die Lagerräume ein wirres Bild, auf dem sich Weltliches und Heiliges durcheinanderhäufte. Ausgestopfte Krokodile, Affen, Riesenschlangen grinsten Kirchenfenster an, es schien, als wollten sie ihre Zähne in Büsten schlagen, nach Lackarbeiten haschen oder an Kronleuchtern emporklettern. Eine Sèvresvase mit dem Bild Napoleons von Madame Jaquotot stand neben einer dem Sesostris geweihten Sphinx. Die Anfänge der Welt und die Begebenheiten von gestern fanden sich auf eine grotesk friedliche Art miteinander verbunden. Ein Bratenwender lag auf einer Monstranz, ein republikanischer Säbel auf einer mittelalterlichen Hakenbüchse. Madame Dubarry,g von Latour in Pastell gemalt, nackt, in einer Wolke mit einem Stern auf dem Kopf, schien lüstern einen türkischen Tschibuk zu betrachten, als wollte sie den Zweck der sich ihr entgegenschlängelnden Spiralen ergründen. Werkzeuge des Todes, Dolche, seltsame Pistolen, Geheimwaffen, Rüstungen, lagen in buntem Durcheinander neben den Gerätschaften des Lebens: Porzellanschüsseln, Meißener Tellern, hauchdünnen chinesischen Tassen, antiken Salznäpfen, Konfektschalen aus adligem Familienbesitz. Ein Schiff aus Elfenbein wogte mit geschwellten Segeln auf dem Rücken einer reglosen Schildkröte.

Eine Luftpumpe stieß dem Kaiser Augustus, der es erhaben kaltblütig hinzunehmen schien, ein Auge aus. Gefühllos wie zu ihren Lebzeiten schauten französische Schöffen und holländische Bürgermeister bleich und kalt von ihren Porträts auf dieses Chaos von antikem Kleinkram hernieder. Alle Länder der Erde schienen Überbleibsel ihrer Wissenschaften, eine Probe ihrer Kunst hierhergesandt zu haben. Es war eine Art philosophischen Kehrichthaufens, auf dem nichts fehlte, von der Friedenspfeife des Wilden bis zum grün-goldenen Pantoffel aus dem Serail, vom Krummschwert des Mauren bis zum Götzenbild der Tataren. Ja sogar der Tabaksbeutel des Soldaten, der Kelch des Priesters und die Federn von einem Thron waren da zu finden. Überdies wurde diese monströse Szenerie von tausendfach wechselnden bizarren Lichtreflexen beherrscht, die dem Wirrwarr der Farbtöne und dem schroffen Kontrast von Hell und Dunkel entsprangen. Das Ohr vermeinte, erstickte Schreie zu vernehmen, der Geist, unvollendete Dramen zu erfassen, das Auge, einen verborgenen Lichtschein zu erspähen. Hartnäckiger Staub hatte seinen leichten Schleier über alle Gegenstände gebreitet, deren zahlreiche Kanten und Rundungen die malerischsten Wirkungen hervorriefen.

Der Fremde verglich diese drei mit den Produkten der Zivilisation, den Zeugnissen der verschiedensten Kulte, mit Gottheiten, Meisterwerken, königlichen Insignien, mit Ausschweifung, Vernunft und Tollheit vollgepfropften Räume zunächst einem Spiegel aus zahlreichen Facetten, deren jede eine Welt zeigt. Nach dem ersten verworrenen Eindruck wollte er einzelne Gegenstände auswählen und genießerisch betrachten; doch nach dem vielen Sehen, Denken und Träumen befiel ihn ein heftiges Fieber, das wohl von dem in seinen Eingeweiden nagenden Hunger herrühren mochte. Der Anblick so vieler Pfänder, die von versunkenen Nationen und dahingegangenen Leben der Menschen zeugten, betäubte vollends die Sinne des jungen Mannes; der Wunsch, der ihn in den Laden getrieben hatte, war erhört worden: er verließ die Wirklichkeit, stieg allmählich zu einer Traumwelt empor, gelangte in den Zauberpalast der Ekstase, wo ihm das Universum bruchstückhaft und in Feuer getaucht erschien, so wie einst vor den Augen des heiligen Johannes auf Patmos die Zukunft flammend vorüberzog.

Unzählige Gestalten, schmerzbewegte, liebliche und schreckliche, finstere und leuchtende, ferne und nahe, erhoben sich in Scharen, in Myriaden, in Generationen. Vor einer von schwarzen Bändern umwickelten Mumie wuchs starr und geheimnisumwoben Ägypten aus dem Sand; dann die Pharaonen, die um ihrer Grabmäler willen ganze Völker in den Tod trieben; dann Moses, die Hebräer und die Wüste, eine feierliche, uralte Welt. Eine Marmorstatue, auf einem Säulentorso sitzend, frisch, anmutig und von strahlender Weiße, ließ die wollüstigen Mythen Griechenlands und Ioniens vor ihm erstehen. Und wen hätte es nicht gleich ihm entzückt, auf dem feinen roten Ton einer etruskischen Vase ein junges braunhäutiges Mädchen vor dem Gott Priapus tanzen zu sehen, den es mit heiterer Miene grüßte?

Gegenüber liebkoste zärtlich eine römische Königin ihre Chimära. Dort lebten all die Launen des kaiserlichen Roms wieder auf, das Bad, das Lager, die Toilette einer träumerisch trägen Julia, die ihren Tibull erwartet. Mit der Macht arabischer Talismane weckte der Kopf Ciceros die Erinnerung an das freie Rom in ihm und ließ die Seiten des Titus Livius vor ihm abrollen. Der junge Mann las ›Senatus Populusque romanus‹; wie nebelhafte Traumgestalten zogen der Konsul, die Liktoren, die purpurgesäumten Togen, die Kämpfe des Forums, das erzürnte Volk langsam an ihm vorbei. Schließlich übertönte das christliche Rom diese Bilder. Ein Gemälde öffnete die himmlischen Gefilde, er erblickte die Jungfrau Maria inmitten von Engeln auf einer goldenen Wolke, den Glanz der Sonne überstrahlend, wie sie, die wiedererstandene Eva, gütig lächelnd die Klagen der Unglücklichen anhört. Wie er ein Mosaikbild berührte, das aus der verschiedenfarbigen Lava des Vesuv und des Ätna zusammengesetzt war, flog seine Seele in das warme, heißblütige Italien. Er wohnte den Orgien der Borgia bei, durchstreifte die Abruzzen, warb um die Liebe italienischer Frauen, entbrannte in Leidenschaft für ihr weißes Antlitz mit den schwarzen Mandelaugen. Er schauderte, nächtliche Erfüllung wurde von der kalten Klinge des Ehemanns jäh unterbrochen, als er einen mittelalterlichen Dolch gewahrte, dessen Griff fein ziseliert war und auf dem Rostflecke an Blut gemahnten. Indien und seine Religionen wurden lebendig in einem chinesischen Götzen, angetan mit Gold und Seide, einem spitzen Hut, mit geschwungenen Rauten, rundum mit Glöckchen behängt.

Daneben strömte eine Binsenmatte, hübsch wie die Bajadere, die sich einstmals darauf zusammengerollt haben mochte, noch den herben Duft des Sandel aus. Ein chinesisches Ungeheuer mit verdrehten Augen, verzerrtem Mund, verrenkten Gliedern bot der Seele neuen Reiz in der Findigkeit eines Volkes, das, des einförmig Schönen überdrüssig, unerschöpfliche Freuden in der Fruchtbarkeit des Häßlichen findet. Ein Salznapf aus den Werkstätten des Benvenuto Cellini versetzte ihn mitten in die Renaissance, in die Zeit, da Kunst und Handwerk blühten, da Fürsten sich an Folterungen ergötzten und Konzile in den Armen von Kurtisanen liegend den einfachen Priestern Keuschheit vorschrieben. Auf einer Kamee sah er die Siege Alexanders; die Massaker Pizarros auf einer Luntenschloßmuskete; auf einem Helm die wilden, hitzigen, grausamen Religionskriege. Dann tauchten aus einer prächtig damaszierten, blankgeputzten mailändischen Rüstung, unter deren Visier noch die Augen eines Paladins zu funkeln schienen, die heitern Bilder der Ritterzeit empor.

Dieses Meer von Hausrat, Erfindungen, Moden, Kunstwerken und Bruchstücken bildete für ihn ein endloses Poem. Formen, Farben, Gedanken, alles lebte wieder auf, doch kein Ganzes bot sich der Seele dar. Der Dichter mußte die Skizzen des großen Malers ergänzen, auf dessen ungeheurer Palette die zahllosen Erzeugnisse menschlichen Lebens in verschwenderischer Fülle achtlos zusammengeworfen waren. Nachdem der junge Mann die Welt geschaut, Länder, Zeitalter, Herrscherepochen an sich hatte vorüberziehen lassen, wandte er sich einzelnen Schicksalen zu. Er versetzte sich in neue Gestalten, wobei er sich an Einzelheiten orientierte und das Leben der Völker, als zu niederdrückend für einen einzelnen Menschen, beiseite ließ.