Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 1:Der Essays erster Teil - Jorge Luis Borges - E-Book

Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 1:Der Essays erster Teil E-Book

Jorge Luis Borges

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Beschreibung

"Diese Essays sind größtenteils Zeugnisse der Borgesschen Vorliebe, auf hinterlistige Art ein von der eigenen traditionellen Würde bereits angekränkeltes philosophisches Rätsel um eine dubiose Ansicht zu bereichern. Sie weisen Borges als einen Meister paradoxer Denkfähigkeit und ironischer Anspielungen aus."
Iso Camartín

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Über das Buch

"Diese Essays sind größtenteils Zeugnisse der Borgesschen Vorliebe, auf hinterlistige Art ein von der eigenen traditionellen Würde bereits angekränkeltes philosophisches Rätsel um eine dubiose Ansicht zu bereichern. Sie weisen Borges als einen Meister paradoxer Denkfähigkeit und ironischer Anspielungen aus."

Iso Camartín

Jorge Luis Borges

Der Essays erster Teil

Evaristo Carriego

Diskussionen

Übersetzt von Karl August Horst, Curt Meyer-Clason, Melanie Walz und Gisbert Haefs

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Evaristo Carriego

Vorwort1

Erklärung1

I  Palermo, Buenos Aires1

II  Evaristo Carriego – eine Vita1

III  Ketzermessen1

IV  Das Lied des Viertels1

V  Ein mögliches Résumé1

VI  Ergänzungen1

VII  Die Aufschriften der Karren1

VIII  Reitergeschichten1

IX  Der Dolch1

X  Vorwort zu einer Ausgabe sämtlicher Gedichte von Evaristo Carriego1

XI  Geschichte des Tango2

XII  Zwei Briefe1

Diskussionen

Vorwort2

Die Gaucho-Dichtung2

Die vorletzte Fassung der Wirklichkeit

Die abergläubische Ethik des Lesers

Der andere Whitman

Eine Rechtfertigung der Kabbala

Eine Rechtfertigung des falschen Basilides

Die Realitätsforderung

Filme3

Die Erzählkunst und die Magie

Paul Groussac

Die Dauer der Hölle

Die Homerübersetzungen

Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte

Bemerkungen über Walt Whitman

Inkarnationen der Schildkröte

Rechtfertigung von Bouvard et Pécuchet

Flaubert und sein beispielhaftes Schicksal

Der argentinische Schriftsteller und die Tradition

Notizen

H.G. Wells2

Edward Kasner and James Newman2

Gerald Heard2

Gilbert Waterhouse2

Leslie D. Weatherhead2

M. Davidson2

Über die Synchronisation3

Dr. Jekyll und Edward Hyde, verwandelt3

Anhang

Editorische Notiz

Anmerkungen

Übersetzer:

1Gisbert Haefs

2Curt Meyer-Clason und Gisbert Haefs

3Melanie Walz

alle anderen Übersetzungen Karl August Horst und Gisbert Haefs

Evaristo Carriego

(1930)

Vorwort

… a mode of truth, not of truth coherent and central, but angular and splintered.

De Quincey, Writings, XI, 68

Jahrelang habe ich geglaubt, ich sei in einem Vorort von Buenos Aires aufgewachsen, einem Vorort mit streunenden Straßen und offenkundigen Sonnenuntergängen. Tatsächlich wuchs ich in einem Garten auf, hinter einem Lanzengitter, und in einer Bibliothek von unzähligen englischen Büchern. Das Palermo des Messers und der Gitarre (versichert man mir) befand sich gleich um die Ecke, aber die, die meine Morgen bevölkerten und meinen Nächten ersprießliches Grauen schenkten, waren Stevensons blinder Bukanier, der unter den Hufen der Pferde starb, und der Verräter, der seinen Freund im Mond zurückließ, und der Zeitreisende, der aus der Zukunft eine welke Blume mitbrachte, und der Dschinn, der jahrhundertelang in Salomons Krug eingekerkert war, und der verschleierte Prophet von Khorassan, der hinter Geschmeide und Seide die Lepra verbarg.

Was geschah während dessen auf der anderen Seite des Lanzengitters? Welche heimischen und heftigen Schicksale erfüllten sich einige Schritte entfernt von mir, in der schäbigen Ladenschänke oder auf dem unsicheren Brachland? Wie war jenes Palermo, oder wie hätte es sein sollen, um schön zu sein?

Auf diese Fragen möchte dies Buch, das weniger dokumentarisch als erfinderisch ist, antworten.

Buenos Aires, Januar 1955

J.L.B.

Erklärung

Ich glaube, daß der Name Evaristo Carriego bald zur ecclesia visibilis unserer Literatur gehört, deren fromme Institutionen – Deklamationskurse, Anthologien, nationale Literaturgeschichten – definitiv mit ihm zu rechnen haben. Ich glaube außerdem, daß er der echteren, geheimen ecclesia invisibilis zugehören wird, der verstreuten Gemeinschaft der Gerechten, und daß diese wichtigere Mitgliedschaft nicht auf dem geringfügigen tränenreichen Teil seines Werkes beruhen wird. Ich habe versucht, diese Vermutungen zu begründen.

Außerdem habe ich – vielleicht mit ungebührlicher Vorliebe – die Wirklichkeit betrachtet, die er imitieren wollte. Ich wollte gern mit Definitionen, nicht mit Hypothesen arbeiten: freiwilliges Risiko, denn ich glaube, die Calle Honduras zu erwähnen und sich der zufälligen Resonanz dieses Namens hinzugeben, ist als Methode weniger fehlbar – und bequemer – als weitschweifiges Definieren. Wer bonairensische Themen liebt, sollte deshalb nicht ungeduldig werden. Für ihn habe ich die Kapitel des Anhangs beigefügt.

Ich habe das überaus hilfreiche Buch von Gabriel verwendet und die Studien von Melián Lafinur und Oyuela. Mit Dankbarkeit will ich auch diese Namen nennen: Julio Carriego, Félix Lima, Dr. Marcelino del Mazo, José Olave, Nicolás Paredes, Vicente Rossi.

Buenos Aires, 1930

J.L.B.

I

Palermo, Buenos Aires

Der Nachweis des Alters von Palermo ist Paul Groussac zu verdanken. Verzeichnet ist es in den Anales de la Biblioteca, in einer Anmerkung auf Seite 360 des vierten Bandes; die Belege oder Dokumente wurden sehr viel später in Nummer 242 von ›Nosotros‹ veröffentlicht. Sie berichten uns von einem Sizilianer namens Domínguez (Domenico) aus Palermo, Italien, der seinem Namen den seiner Heimatstadt anhängte, vielleicht um einen nicht hispanisierbaren Namensteil zu behalten, »und er wurde gerade zwanzig Jahre und ist vermählt mit der Tochter eines Conquistadors«. Dieser Domínguez Palermo also, der zwischen 1605 und 1614 die Stadt mit Fleisch versorgte, besaß in der Nähe des Maldonado einen Corral, wo er wilde Rinder hegte und schlachtete. Diese Rinder sind ge- und vergessen, aber uns bleibt die genaue Erwähnung einer »scheckigen Mauleselin auf dem Gut von Palermo, wo diese Stadt endet«. Ich sehe sie absurd deutlich und winzig auf dem Grunde der Zeit und will keine Details hinzuerfinden. Es genügt, nur sie zu sehen: Der buntscheckige immerwährende Stil der Wirklichkeit, mit seiner Interpunktion von Ironien, von Überraschungen, von Vorkehrungen, die ebenso seltsam sind wie die Überraschungen, läßt sich nur im Roman wiedergeben, der hier unangemessen wäre. Zum Glück ist der üppige Stil der Wirklichkeit nicht der einzige; es gibt auch den des Erinnerns, dessen Wesen nicht die Verästelung von Fakten, sondern das Überdauern isolierter Züge ist. Diese Poesie ist die unserer Ignoranz gemäße, und eine andere will ich nicht suchen.

Zum Inventar von Palermo gehören das bescheidene Gut und der obszöne Schlachthof; in den Nächten fehlte ebensowenig die eine oder andere holländische Schmugglerbarkasse, auf den Untiefen liegend vor dem schwankenden Schilf. Diese fast unbewegliche Vorgeschichte zu erwecken liefe darauf hinaus, sinnlos eine Chronik winziger Vorgänge zu erstellen: die Etappen des achtlosen jahrhundertelangen Vorrückens von Buenos Aires gegen Palermo, damals irgendwelche vagen Ländereien im Hinterland, oft überschwemmt. Am direktesten wäre es, gemäß den Verfahrensweisen des Kinos eine kontinuierliche Reihe vereinzelter Gestalten aufzubieten: eine Koppel Maultiere für den Weinbau, die wilden mit verbundenen Köpfen; ein ruhiges weites Gewässer, auf dem einige Weidenblätter treiben; ein einsamer armer Teufel, schwindelerregend hoch auf Stelzen, wie er durch eine reißende Überflutung watet; das offene Land, wo sich nichts tut; die festgebackenen Hufspuren einer Herde auf dem Weg zu den Schlachtpferchen der Nordstadt; ein Bauer (vor frühem Morgenhimmel), der vom erschöpften Pferd steigt und ihm den dicken Hals aufschlitzt; Rauch, der sich in der Luft auflöst. Und so bis zur Gründung durch Don Juan Manuel: Palermos längst mythologischer Vater, nicht bloß historisch wie jener Domínguez-Domenico von Groussac. Die Gründung war ein Gewaltakt. Damals gab es schon hübsche Landhäuser mit Patina, auf dem Weg nach Barracas. Aber Rosas wollte bauen, wollte, daß das Haus sein Kind sei, von fremden Schicksalen weder durchtränkt noch geprüft. Tausende Wagenladungen schwarzer Erde wurden herbeigeschafft von den »Luzernefeldern von Rosas« (später Belgrano), um den lehmigen Boden zu ebnen und aufzubessern, bis Palermos ungebärdiger Schlamm und die undankbare Scholle sich seinem Willen fügten.

Gegen 1840 war Palermo Kommandantur der Republik geworden, Hof des Diktators und Fluchwort der Unitarier. Ich berichte die Geschichte nicht ausführlich, um nicht alles andere zu beeinträchtigen. Es soll genügen, einiges aufzuzählen – »dieses große gekälkte Haus, genannt sein Palast« (Hudson, Far Away and Long Ago, S. 108), die Orangenhaine, das Bassin mit Ziegelwänden und Eisengeländer, wo sich das Boot des Restaurators jener so kärglichen Navigation ergötzte, die Schiaffino kommentierte: »Die Ausfahrt zu Wasser bei geringern Tiefgang kann nicht besonders ersprießlich gewesen sein, und ob der sehr kurzen Strecke entsprach alles einer Art Ponyreiten. Aber Rosas war gelassen; wenn er den Blick hob, sah er die vom Himmel umrissenen Silhouetten der Posten, die beim Geländer Wache hielten und den Horizont mit spähendem Adlerauge musterten.« Zum Rand hin zerfranste dieser Hof schon: das geduckte Feldlager aus primitiven Adobeziegeln für die Division Hernández und die Hütten voll von dem Streit und der Leidenschaft der dunkelhäutigen Truppen, die Quartiere von Palermo. Wie man sieht, war das Viertel schon immer eine Spielkarte mit zwei Farben, eine Münze mit zwei Seiten.

Zwölf Jahre währte dieses hitzige Palermo, ewig in Unruhe durch die fordernde Anwesenheit eines korpulenten blonden Mannes, der über die gefegten Wege wanderte, in blauer Uniformhose mit roter Biese und grellroter Weste und sehr breitkrempigem Hut, und der immer einen langen Rohrstock trug und bog, wie ein leichtes luftiges Zepter. Dieser furchtsame Mann verließ Palermo eines Abends, um einen simplen Ausfall zu befehligen, die von vornherein verlorene Schlacht bei Caseros; in Palermo zog der neue Rosas ein, Justo José, mit dem Körperbau eines Wildstiers und dem seidenen grellroten Mazorca-Schmuckband um den Hut und der prunkvollen Generalsuniform. Er hielt Einzug und, wenn Ascásubis Pamphlete uns nicht irreführen:

en la entrada de Palermo

ordenó poner colgados

a dos hombres infelices,

que después de afusilados

los suspendió en los ombuses,

hasta que de allí a pedazos

se cayeron de podridos …

beim Einmarsch in Palermo

ließ er aufhängen

zwei Unglückselige,

die er hatte erschießen lassen

und dann in die Ombu-Bäume hängte,

bis sie dort verwest

stückchenweise herabfielen …

Danach befaßt Ascásubi sich mit der verlotterten Truppe aus Entre Ríos im Großen Heer:

Entre tanto en los barriales

de Palermo amontonaos

cuasi todos sin camisa,

estaban sus Entre-rianos

(como él dice) miserables,

comiendo terneros flacos

y vendiendo las cacharpas …

Inzwischen waren da, in den Lehmkuhlen

Palermos zusammengedrängt,

fast alle ohne Hemd,

seine (wie er sagt) erbärmlichen

Entre-Rios-Männer,

aßen dürre Stierkälber

und versetzten ihre Habe …

Tausende Tage, von denen die Erinnerung nichts weiß, trübe Zonen aus Zeit, wucherten und verwitterten danach, bis wir über einzelne Gründungen – das Gefängnis anno 77, das Nordhospital anno 82, das Rivadavia-Hospital anno 87 – am Vorabend der neunziger Jahre zu dem Palermo gelangen, in dem die Carriegos ein Haus kauften. Über dieses Palermo von 1889 möchte ich schreiben. Ich will rückhaltlos sagen, was ich weiß, ohne etwas auszulassen, denn das Leben ist schamhaft wie ein Verbrechen, und wir wissen nicht, was Gott daran wichtig erscheinen mag. Außerdem sind fast immer die Einzelumstände das, was uns anrührt.4 Ich schreibe alles, auf das Risiko hin, offenkundige Wahrheiten zu schreiben, die aber morgen die Sorglosigkeit verkramen wird, armseligste Form des Geheimnisses und seine Vorderseite.5

Jenseits der Verzweigung der Westbahn, die ins Innere Amerikas führte, fläzte sich zwischen Versteigerungswimpeln das Viertel, nicht nur auf dem ursprünglichen Feld, sondern auch auf dem zerstückelten Rest von Landgütern, brutal parzelliert, um später von Schankläden, Kohlenhandlungen, Hinterhöfen, Mietskasernen, Barbierstuben und Holzlagern mit Füßen getreten zu werden. Mancher erdrosselte Garten im Viertel, mit trübsinnigen Palmen zwischen Steinen und Eisenzeug, ist das degenerierte und verstümmelte Überbleibsel eines großen Landsitzes.

Palermo war unbekümmerte Armut. Der Feigenkaktus verdunkelte die Lehmmauer; die kleinen Balkone, die nicht höher hinaus wollten, ragten in immergleiche Tage; das verlorene Horn des Vorarbeiters erkundete die Abenddämmerung. Auf den schlichten Häusern fand sich nicht selten eine gemauerte Vase, dürr gekrönt von Kakteen: unheimliche Pflanze, die im allumfassenden Schlummer der anderen einer Albtraumzone zu entsprechen scheint, tatsächlich aber sehr geduldig ist und auf den undankbarsten Böden und in öder Luft gedeiht; und achtlos hält man sie für eine Zier. Es gab auch Glückhaftes: die Rabatten im Patio, der protzende Gang des compadre, das Säulengeländer mit Himmelssegmenten.

Der von Grünspan gestreifte Hengst und sein Garibaldi deprimierten die alten Hoftore noch nicht. (Dieses Leid ist weit verbreitet: es gibt keine Plaza mehr, die nicht an irgendeiner grobschlächtigen Bronze litte.) Der Botanische Garten, stumme Baumwerft, Heimat aller Alleen der Hauptstadt, lag Ecke an Ecke mit der verwahrlosten Lehmplaza; anders der Zoologische Garten, der damals las fieras [die Raubtiere] genannt wurde und weiter im Norden lag. Heute (Karamel- und Tigerduft) befindet er sich da, wo vor hundert Jahren die Quartiere von Palermo randalierten. Nur einige wenige Straßen – Serrano, Canning, Coronel – hatten widerborstige Pflaster sowie auch glatte Fahrspuren für die Kutschen, imposant wie eine Parade, und für die lärmigen Ausflugswagen. Die Calle Godoy Cruz wand sich unter dem Scheppern der Linie 64, des hilfreichen Vehikels, das sich mit dem weiland machtvollen Schatten von Don Juan Manuel in die Gründung von Palermo teilt. Die schiefe Schirmmütze und das Milonga-Horn des Kutschers lösten Bewunderung und Nachäfferei im Viertel aus, aber der Schaffner – berufsmäßiger Bezweifler der Rechtschaffenheit – war eine befehdete Einrichtung, und es gab manch einen compadre, der sich den Fahrschein in den Hosenbund stopfte und empört immer wieder sagte, wenn man ihn sehen wolle, brauche man ihn ja nur da herauszuholen.

Ich suche noblere Realitäten. Nahe der Grenze zu Balvanera, gen Osten, wimmelte es von großen Häusern mit säuberlich aufgereihten Patios, gelbe oder braune Häuser mit bogenförmigen Türen – der Bogen wiederholte sich spektakulär im zaguán vor dem Patio – hinter feinen schmiedeeisernen Windfängen. Wenn die unleidlichen Oktobernächte Stühle und Leute auf den Gehsteig trieben und die ausgehöhlten Häuser sich bis zur Rückwand durchschauen ließen und in den Patios gelbes Licht glomm, war die Straße vertraulich und leichtlebig und die hohlen Häuser wie aufgereihte Laternen. Dieser Eindruck von Irrealität und Heiterkeit läßt sich für mich besser wiedergeben durch eine Geschichte oder ein Symbol, das schon immer mit mir gewesen zu sein scheint. Es ist ein Fetzen aus einer Erzählung, die ich in einer Ladenschänke hörte, und die gleichzeitig trivial und verwickelt ist. Ich gebe sie wieder, ohne mich ihrer weitergehend zu versichern. Der Held dieser schäbigen Odyssee war der ewige criollo auf der Flucht vor der Justiz, diesmal verraten von einem verlogenen, widerwärtigen Subjekt, das aber die Gitarre beherrschte wie kein zweiter. Die Geschichte, das bewahrte Stückchen der Geschichte, berichtet, wie der Held aus dem Gefängnis ausbrach, wie er in einer einzigen Nacht Rache nehmen mußte, wie er vergebens den Verräter suchte, wie ihm, als er im Mondlicht durch die Straßen irrte, der kraftlose Wind einen Hauch von Gitarre zutrug, wie er dieser Spur durch die Labyrinthe und Wechselfälle des Windes folgte, wie er in Buenos Aires um Ecken bog, wie er die entlegene Türschwelle erreichte, auf der der Verräter die Gitarre zupfte, wie er sich durch die Zuhörer drängte und ihn mit dem Messer durchbohrte, wie er kopflos aufsprang und floh, den Verräter und seine geschwätzige Gitarre tot und verstummt zurückließ.

Nach Westen zu lag das gringo-Elend des Viertels, seine Nacktheit. Der Begriff las orillas [»die Ufer«, Rand, Stadtrand] paßt mit übernatürlicher Genauigkeit auf diese dünnen Landstreifen, wo die Erde die Unbestimmtheit des Meers annimmt, und scheint ein würdiger Kommentar zu Shakespeares Feststellung zu sein: »Im Boden gibt es Blasen, wie im Wasser.« Gen Westen gab es staubige Gassen, zum Abend hin immer ärmlicher; es gab Stellen, an denen ein Schwellenschuppen der Bahn, eine Agavensenke oder eine fast geheime Brise verdrossen die Pampa eröffnete. Oder es gab eines jener gedrungenen Häuser ohne Putz, mit niedrigem Fenster, mit Gitter – dahinter bisweilen eine gelbe Schilfmatte mit Bildern –, wie sie die Einsamkeit von Buenos Aires ohne sichtbare menschliche Beteiligung zu erstellen scheint. Dann: der Maldonado, ein ausgedörrter gelber Graben, der sich ziellos vom Chacarita-Friedhof hierher verlief und durch ein erstaunliches Wunder vom Tod durch Verdursten überging in die ungeheure Ausdehnung wilder Überschwemmungen, die die hinfälligen Hüttensiedlungen des Stadtrands wegspülten. Etwa fünfzig Jahre jenseits dieses irregulären Grabens oder Todes begann der Himmel: ein Himmel aus Gewieher und Mähnen und sanfter Weide, ein Rösserhimmel, die happy hunting-grounds der Muße für emeritierte Reittiere der Polizei. Etwa am Maldonado lichtete sich das einheimische Gelichter und wurde durch kalabresisches ersetzt, Leute, mit denen sich keiner anlegen wollte, weil ihr Groll ein gefährlich gutes Gedächtnis hatte und ihre Dolchstöße langfristig tückisch waren. Hier wurde Palermo trübe, denn die Schienen der Pazifik-Bahn säumten den Bach und luden jene Trauer ab, die versklavten und großartigen Dingen eigen ist: den Schranken so hoch wie die Deichseln abgestellter Karren, den geraden Dämmen und Bahnsteigen. Ein Grenzland emsigen Dampfes, ein Grenzland jäh rangierender Waggons schloß diese Seite ab; dahinter wuchs oder schwand der Bach. Heute kerkert man ihn ein: Diese fast unendliche Flanke von Einsamkeit, die sich bis vor kurzem hinter der Spielkneipe und Confiserie La paloma verbarg, soll jetzt abgelöst werden von einer öden Straße mit Ziegelpflaster. Vom Maldonado wird nichts bleiben als unsere Erinnerung, erhaben und allein, und der beste argentinische Schwank und die beiden nach dem Bach benannten Tangos – der eine ursprünglich, völlig unbekümmert, bloße Tanzvorgabe, Anlaß, ganz in den Tanzschritten aufzugehen; der andere ein schmerzliches Tangolied im Boca-Stil – und manches dümmliche Klischee, das dem Wesentlichen nicht gerecht werden kann, dem Eindruck von Weite und einem abwegigen andersartigen Leben in der Phantasie jener, die es nicht gelebt haben. Wenn ich darüber nachdenke, glaube ich nicht, daß das Maldonado-Viertel sich von anderen sehr armen Örtlichkeiten unterschied, aber die Vorstellung von seinem Pöbel, wie er in verrotteten Bordellen über die Stränge schlägt, bedroht von Überschwemmung und Ende, beherrschte die Phantasie der Leute. So ist in dem hübschen Schwank, den ich erwähnte, der Bach keine notdürftige Hintergrundkulisse: Er ist ein Protagonist, viel wichtiger als der Schwarze Nava und die Dirne Dominga und der Títere. (Puente Alsina, mit seiner noch nicht vernarbten Messerstecher-Vergangenheit und seiner Erinnerung an die große vaterländische Erhebung von 1880, hat in der Mythologie von Buenos Aires Maldonado verdrängt. Was die Realität angeht, so läßt sich leicht feststellen, daß die ärmsten Viertel meistens die zaghaftesten sind, und daß in ihnen furchtsame Anständigkeit gedeiht.) Vom Bach segelten die hochbordigen Staubstürme los, die den Tag verfinsterten, und der überfallartige Pampero-Wind, der alle nach Süden blickenden Türen rüttelte, Distelbäusche durch den Bogengang zum Patio blies, und die verheerende Heuschreckenwolke, die die Leute mit Geschrei zu vertreiben suchten6, und die Einsamkeit und der Regen. Diese Randgegend roch nach Staub.

Zum schwärzlichen Wasser des Flusses hin, zum Wald hin versteifte sich das Viertel. Die ersten Gebäude dieses Landstreifens waren die Schlachthöfe der Nordstadt; sie umfaßten an die achtzehn Blocks zwischen den künftigen Straßen Anchorena, Las Heras, Austria und Beruti, und heute bleibt von diesem Viertel nur eine Wortreliquie, der Begriff la Tablada [Schlachtviehtrift, -markt], den ich von einem Karrenfahrer hörte, der nichts von der uralten Berechtigung wußte. Ich habe den Leser dazu angehalten, sich diesen viele Häuserblocks weiten Bereich vorzustellen, und wenn die Pferche auch um 1870 verschwanden, ist doch die Vorstellung eines Corral typisch für die Gegend, die immer von Land- und Bauerngütern durchsetzt war – der Friedhof, das Rivadavia-Hospital, das Gefängnis, der Markt, das städtische Holzdepot, die heutige Wollwäscherei, das Brauhaus, die Villa Hale – und umgeben von der Ärmlichkeit der vom Schicksal Gebeutelten. Die Villa findet aus zwei Gründen Erwähnung: wegen der Birnen, die die jungen Strolche des Viertels dort auf heimlichen Raubzügen erbeuteten, und wegen des Gespenstes, das an der Seite zur Calle Agüero hin erschien, den unmöglichen Kopf an den Arm eines Leuchters gelehnt. Denn zu den echten Gefahren eines hochmütigen, messerfertigen Pöbels kamen auch noch die phantastischen einer vogelfreien Mythologie: die Witwe und das absonderliche Blechschwein, schäbig wie der Schlamm, waren die meistgefürchteten Geschöpfe dieser Sumpflandreligion. Hier im Norden hatte man vorher Müll verbrannt: Es ist ganz natürlich, daß dort in der Luft Seelenabfälle schwebten. Noch immer gibt es dort armselige Ecken, die nur deshalb nicht zusammenbrechen, weil die toten compadritos sie nach wie vor stützen.

Wenn man die Calle de Chavango (später Las Heras) hinabging, war die letzte Kneipe am Weg La Primera Luz [das erste Licht, Morgenlicht], ein Name, der, trotz der Anspielung auf die Frühaufsteher der Stammkundschaft, mit Recht an verrammelte, leblose Sackgassen denken läßt, in denen man endlich, nach mühsamem Umherirren, das menschliche Licht einer Ladenschänke erblickt. Zwischen den Mauern des rötlichen Nordfriedhofs und denen der Strafanstalt reckte sich aus dem Staub allmählich eine flache, zusammengestückelte Vorstadt ohne Verputz, mit dem notorischen Beinamen Feuerland. Uralter Schutt, Ecken von Aggression oder Einsamkeit, verstohlene Männer, die einander durch Pfiffe rufen und jäh in der seitlichen Gossennacht verschwinden, bestimmten den Ortscharakter. Das Viertel war Endstation und letzte Ecke. Eine Unterwelt zu Pferde, Gauner mit breitkrempigen Hüten tief über den Augen und bäuerischen Pluderhosen, führte aus Trägheit oder zwanghaft einen Krieg individueller Zweikämpfe mit der Polizei. Die Klinge der Vorstadtraufbolde war nicht sehr lang – die Tapferen leisteten sich den Luxus der Kürze –, aber besser temperiert als die vom Staat angeschaffte Machete, das heißt in den meisten Fällen teurer und aus schäbigerem Material. Der Arm, der sie führte, war begieriger zu töten und kannte sich besser aus in den jähen Wendungen des Handgemenges. Nur dank des Reims hat ein Stückchen jener Wucht vierzigjährigen Verschleiß überlebt:

Hágase a un lao, se lo ruego,

que soy de la Tierra ’el Juego.7

Machen Sie Platz, bitte sehr,

ich bin nämlich aus »Feuerland«.

Nicht nur von Kämpfen – auch von Gitarren war dieses Grenzland voll.

Indem ich diese wiederbeschafften Fakten niederschreibe, zieht mich mit offenkundiger Willkür der dankenswerte Vers aus den Homethoughts an: »Here and here did England help me«, den Browning schrieb, als er an eine Opfertat auf hoher See dachte und an das hochbordige Schiff, gedrechselt wie ein Läufer im Schachspiel, auf dem Nelson fiel, und der, sobald ich ihn wiederhole – wobei ich auch den Namen der Heimat übertrage, denn für Browning war der seines England nicht minder unmittelbar –, mir als Symbol für einsame Nächte dient, für verzückte und endlose Wanderungen durch die Unendlichkeit der Viertel. Denn Buenos Aires ist tief, und niemals, in Enttäuschung oder Schmerz, habe ich mich seinen Straßen ergeben, ohne unerhofften Trost zu finden, sei es durch das Gefühl der Unwirklichkeit, sei es durch Gitarren aus einem Patio, sei es durch die Berührung mit fremden Leben. »Here and here did England help me«, hier und hier kam Buenos Aires mir zu Hilfe. Dies ist einer der Gründe, aus denen ich beschloß, dieses erste Kapitel abzufassen.

__________

4»Das Anrührende steckt fast immer in den Details der geringfügigen Einzelumstände«, stellt Gibbon fest in einer der letzten Anmerkungen zum fünfzigsten Kapitel seines Decline and Fall.

5Ich behaupte – ohne zimperliche Scheu vor (oder wetterwendische Neigung zu) Paradoxien –, daß nur die jungen Länder eine Vergangenheit haben; das heißt, eine autobiographische Erinnerung an sie; das heißt, sie haben eine lebendige Geschichte. Wenn Zeit Abfolge ist, müssen wir einräumen, daß dort, wo eine größere Dichte von Vorgängen existiert, mehr Zeit vergeht, und daß der üppigste Zeitstrom auf dieser unbedeutenden Seite der Welt fließt. Die Eroberung und Kolonisierung dieser Reiche – vier furchtsame Schanzwerke aus Lehm, errichtet an der Küste und bewacht vom schwebenden Horizont, jenem Bogen, der Indio-Überfälle auf sie abschoß – waren derart flüchtig durchgeführt, daß einer meiner Großväter noch 1872 die letzte große Schlacht gegen die Indios befehligen konnte und so, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Eroberungswerk des 16. Jahrhunderts vollendete. Aber wozu längst vergangene Schicksale anführen? In Granada, im Schatten von Türmen, die hundertmal älter sind als unsere Feigenkakteen, habe ich das leichte Strömen der Zeit nicht verspürt, wohl aber an der Ecke von Pampa und Triunvirato: heute ein fader Ort mit Industrieziegeln, vor drei Jahren noch voll qualmender Ziegelbrennereien, vor fünf Jahren voll wimmelnder Fohlenherden. Die Zeit – europäisches Gefühl von Menschen zahlreicher Tage, auch ein wenig ihre Rechtfertigung und Krönung – ist in unseren Republiken in sorgloserem Umlauf. Widerwillig verspüren es die Jungen. Hier sind wir Zeitgenossen der Zeit, wir sind ihre Geschwister.

6 Heuschrecken zu töten war etwas für Ketzer, denn sie trugen das Zeichen des Kreuzes: als Mal, daß der Herr sie ausgesandt und speziell zugeteilt hatte.

7 Taullard, 233.

II

Evaristo Carriego – eine Vita

Daß einer bei einem anderen Erinnerungen wecken möchte, die allenfalls einem dritten gehörten, ist ein offensichtliches Paradoxon. Dieses Paradoxon unbekümmert durchzuführen, ist die naive Absicht jeder Biographie. Ich glaube auch, daß die Tatsache, Carriego gekannt zu haben, in diesem besonderen Fall die Schwierigkeit des Vorhabens keineswegs entzerrt. Ich habe Erinnerungen an Carriego: Erinnerungen von Erinnerungen an andere Erinnerungen, deren ursprünglich geringfügige Abweichungen bei jedem neuen Versuch des Erinnerns undurchschaubar gewachsen sein dürften. Sie bewahren, das weiß ich, jenen eigentümlichen Geschmack, den ich Carriego nenne und der es uns erlaubt, in einer Menge ein Gesicht zu identifizieren. Es läßt sich jedoch nicht leugnen, daß dieses flüchtige mnemonische Archiv – Intonation, seine Art zu gehen, zu ruhen, die Augen einzusetzen – von all meinen Kenntnissen über ihn am wenigsten schriftlich mitteilbar ist. Übermittelt wird diese Erinnerung allein durch das Wort Carriego, das den gemeinsamen Besitz des präzisen Bildes verlangt, welches ich mitteilen will. Es gibt ein weiteres Paradoxon. Ich schrieb, daß für jene, die ihn kannten, die Erwähnung des Namens Evaristo Carriego ausreicht, um ihn sich vorzustellen; ich füge hinzu, daß jegliche Beschreibung sie zufriedenstellen kann, wenn sie nur nicht allzu grob gegen das längst erschaffene Bild verstößt, das sie erwarten. Ich führe nun die Beschreibung von Giusti an, aus der Nummer 219 von ›Nosotros‹: »Hagerer Poet mit kleinen stochernden Augen, immer schwarz gekleidet, der in der Vorstadt lebte.« Die Andeutung des Todes, enthalten in diesem »immer schwarz gekleidet« und im Adjektiv, fehlte keineswegs in dem überaus lebendigen Gesicht, das die Linien des Schädels durchscheinen ließ. Das Leben, das dringlichste Leben, war in den Augen. An sie erinnerte mit Recht auch der Nachruf von Marcelo del Mazo. »Diese einzigartige Wirkung seiner Augen, mit so wenig Licht und so überreich an Ausdruck«, schrieb er.

Carriego war aus Entre Rios, aus Paraná. Sein Großvater war Doktor Evaristo Carriego, Autor jenes Buchs aus bräunlichem Papier in steifem Einband, das völlig zutreffend Páginas olvidadas [Vergessene Seiten] (Santa Fé, 1895) heißt und das mein Leser, wenn er gewohnheitsmäßig die staubigen Fegefeuer alter Bücher in der Calle Lavalle durchstöbert, irgendwann einmal in Händen gehalten haben wird. Gehalten und fortgelegt, denn die in diesem Buch niedergeschriebene Leidenschaft betrifft nur Einzelumstände. Es handelt sich um eine Summe heftig parteiischer Seiten, auf denen alles der politischen Aktion untergeordnet ist, von hausbackenen Latinismen bis zu Macaulay oder dem Plutarch von Garnier. Seine Tapferkeit ist eine der Seele: Als die Legislative von Paraná beschloß, Urquiza zu Lebzeiten eine Statue zu errichten, protestierte Dr. Carriego als einziger Abgeordneter, mit einer schönen wiewohl nutzlosen Rede. Der Ahnherr Carriego ist hier denkwürdig nicht nur wegen seines möglichen polemischen Erbes, sondern auch wegen der literarischen Tradition, auf die der Enkel später zurückkommen sollte, um die ersten schwächlichen Dinge zu kritzeln, die eine Vorbedingung für Gültiges sind.

Die Carriegos lebten seit vielen Generationen in Entre Ríos. Die entrerianische Ausprägung des criollismo, der uruguayischen verwandt, vereint Dekoratives und Grausames, wie bei den Jaguaren. Sie ist kämpferisch, ihr Symbol ist die Montonero-Lanze der Erhebungen. Sie ist sanft: Eine schwüle und sterbliche Sanftheit, eine Sanftheit ohne Scham, kennzeichnet noch die kriegerischsten Seiten von Leguizamón, Elias Regules und Silva Valdés. Sie ist ernst: Uruguay, wo der Charakter, auf den ich mich beziehe, deutlicher ist, hat nicht ein einziges fröhliches Stückchen, nichts Glückliches geschrieben seit den 1400 hispanokolonialen Epigrammen, die Acuña de Figueroa vorlegte. Beim Versemachen schwankt Uruguay zwischen dem Aquarell und dem Verbrechen; sein Thema ist nicht die Hinnahme des Schicksals wie bei Martín Fierro, sondern die Erhitzbarkeit durch Zuckerrohrschnaps oder Banner, beide möglichst süß. Zu diesem Lebensgefühl trägt die Aufwallung bei, die wir nicht begreifen, der Baum; eine Grausamkeit, die wir nicht verkörpern, der Indio. Die Ernsthaftigkeit scheint sich aus einer eher panischen Strenge abzuleiten: Sombra, als Porteño, kannte die geraden Wege der Ebene, das Gewühl der Herden und ein gelegentliches Messerduell; als Uruguayer hätte er auch den Kavallerieangriff der Revolten gekannt, die Herden harter Männer, den Schmuggel … Carriego kannte dank seiner Tradition diesen romantischen criollismo und vermengte ihn mit dem verdrossenen criollismo der Vorstädte.

Den offensichtlichen Gründen für seinen criollismo – Herkunft aus der Provinz und Leben am Rand von Buenos Aires – müssen wir einen paradoxen Grund hinzufügen: daß er ein wenig italienisches Blut besaß, ausgedrückt im Mutternamen Giorello. Ich schreibe das ohne Boshaftigkeit; der criollismo des vollkommenen criollo ist Schicksal, der des Mischlings eine Entscheidung, eine als Vorzug beschlossene Lebensführung. Die Verehrung des ethnisch Englischen, wie sie sich beim »inspired Eurasian journalist« Kipling findet – ist sie nicht ein weiterer Beweis (wenn die Physiognomie nicht ausreichte) für sein eingeschwärztes Blut?

Carriego pflegte zu prahlen: »Es reicht mir nicht, Ausländer zu verabscheuen; ich verleumde sie auch«, aber das heitere Ungestüm dieser Erklärung erweist ihre Unwahrheit. Im sicheren Besitz seiner Enthaltsamkeit und der Tatsache, daß er hier zu Hause ist, betrachtet der criollo den Ausländer wie einen jüngeren Bruder, dessen Glück, ja sogar dessen Apotheose ihn amüsiert. Es ist allgemein bekannt, daß der Italiener in dieser Republik alles erreichen kann, außer von denen, die er verdrängt hat, wirklich ernstgenommen zu werden. Diese auf tiefer Bosheit beruhende Gutmütigkeit ist die den Landeskindern vorbehaltene Revanche.

Die Spanier waren ein weiteres Lieblingsobjekt seiner Aversion. Die landläufige Definition des Spaniers – der Fanatiker, der das Autodafé durch ein Wörterbuch der Gallizismen ersetzt hat, der Diener im Dschungel der Flederwische – war auch die von Carriego. Es ist müßig anzumerken, daß diese Einstellung oder dieses Vorurteil ihn nicht an einigen hispanischen Freundschaften hinderte, etwa der mit Doktor Severiano Lorente, der sich in die müßige, üppige Zeit Spaniens (die weitläufige muselmanische Zeit, die das Buch von Tausendundeiner Nacht zeugte) zu hüllen schien und im Royal Keller immer bis zum Morgengrauen vor seinem halben Liter saß.

Carriego glaubte, seinem armen Viertel gegenüber eine Verpflichtung zu haben: eine Verpflichtung, die der kläffende Stil jener Tage in einen Groll verwandelte, den er jedoch als Stärke empfand. Arm zu sein impliziert einen weit unmittelbareren Besitz der Realität, eine größere Intensität des ersten herben Geschmacks der Dinge: ein Wissen, das den Reichen zu fehlen scheint, als ob alles gefiltert zu ihnen käme. So viel glaubte Evaristo Carriego seiner Umgebung zu schulden, daß er sich an zwei verschiedenen Stellen seines Werks dafür entschuldigt, Verse an eine Frau zu schreiben, als ob die Betrachtung der bitteren Armseligkeit der Gegend die einzig zulässige lyrische Nutzung seines Schicksals sei.

Die Fakten seines Lebens, wiewohl unendlich und unzählbar, lassen sich anscheinend leicht anführen, und sehr hilfreich zählt Gabriel sie in seinem Buch von 1921 auf. Darin teilt er uns vertraulich mit, daß unser Evaristo Carriego am 7. Mai 1883 geboren wurde, daß seine Schulbildung mit der Tertia endete, daß er die Redaktion der Tageszeitung ›La Protesta‹ frequentierte, daß er am 13. Oktober 1912 starb, und liefert weitere präzise und blinde Notizen, die demjenigen, der sie empfängt, sorglos die räuberische Arbeit des Erzählens auferlegen, nämlich: Berichte wieder zu Bildern zu machen. Ich glaube, daß die chronologische Abfolge auf Carriego nicht angewendet werden kann, einen Mann, dessen Leben Gespräch und Umherschweifen war. Ihn aufzuzählen, der Abfolge seiner Tage nachzugehen, scheint mir unmöglich; besser, seine Ewigkeit, seine Wiederholungen zu suchen. Nur eine zeitlose, liebevoll verweilende Beschreibung kann ihn uns zurückgeben.

In literarischer Hinsicht ignorierten seine Verdammungsurteile und seine Lobpreisungen den Zweifel. Er war sehr gehässig: Die mit vollstem Recht berühmten Namen schmähte er mit jenem offensichtlichen Widersinn, der gewöhnlich nichts anderes ist als Höflichkeit gegenüber dem eigenen Zirkel, getreuer Glaube daran, daß die versammelte Runde vollkommen ist und durch niemandes Hinzutreten zu verbessern. Das ästhetische Vermögen des Wortes offenbarte sich bei ihm, wie bei fast allen Argentiniern, durch die Trübsal und die Verzückungen eines Almafuerte: ein Hang, den persönliche Freundschaft später bekräftigte. Der Quijote war seine Lieblingslektüre. Mit dem Martín Fierro muß er so verfahren sein, wie es zu seiner Zeit üblich war: mit Leidenschaft einige heimliche Lektüren als Junge, Lesefreude ohne Urteil. Er mochte auch die verleumdeten Schurkenbiographien, die Eduardo Gutiérrez verfaßt hat, von der halbromantischen über Moreira bis zur enttäuschend realistischen über Hormiga Negra, den guapo aus San Nicolás (»del Arroyo y no me arollo!« [etwa: »Vom Arroyo, und ich mach nicht schlapp!«]). Frankreich, als Land damals hiesiger Begeisterung anempfohlen, hatte für ihn seine Vertretung subdelegiert an Georges d’Esparbès, irgendeinen Roman von Victor Hugo und die Romane von Dumas. Seine Konversation pflegte auch solche militanten Vorlieben öffentlich zu machen. Der erotische Tod des Caudillo Ramírez, durch Lanzenstöße vom Pferd geworfen und enthauptet, als er »sein Mädel« verteidigte, und der von Juan Moreira, den es von den heißen Spielen des Bordells zu den Bajonetten und Kugeln der Polizei verschlug, wurden von ihm immer wieder erzählt. Auch die Gesellschaftschronik seiner Zeit verschmähte er nicht: Die Messerstechereien beim Tanzfest und an der Straßenecke, die Berichte über Waffengänge, deren Mannhaftigkeit den einschließt, der sie erzählt. »Seine Konversation« – sollte Giusti später schreiben – »beschwor die Patios der Vorstadtgegend, die quengelnden Leierkästen, die Tänze, die Totenwachen, die Schurken, die Stätten der Ausschweifung, das Material der Zuchthäuser und Hospitäler. Wir Leute aus dem Zentrum hörten ihm verzaubert zu, als ob er uns Märchen aus einem fernen Land erzählte.« Er wußte, daß er zerbrechlich und sterblich war, aber die Meilen roter Häuser Palermos stärkten ihm den Rücken.

Er schrieb wenig, was bedeutet, daß er seine Entwürfe mündlich machte. In der durchschweiften Nacht der Straße, auf der Plattform der Straßenbahn, bei der späten Rückkehr nach Hause wob er Verse. Am nächsten Tag – meistens nach dem Mittagessen, in einer von Trägheit marmorierten Stunde ohne Verpflichtungen – schliff er sie auf dem Papier. Weder erschöpfte er die Nacht, noch zelebrierte er je den trostlosen Ritus, früh aufzustehen, um zu schreiben. Bevor er ein neues Werk in Druck gab, prüfte er dessen direkte Wirkung, indem er es den Freunden vorlas oder aufsagte. Einer von ihnen, der immer wieder erwähnt wird, ist Carlos de Soussens.

»Die Nacht, in der Soussens mich entdeckte«, war eines der wiederkehrenden Daten in Carriegos Konversation. Er mochte und schmähte ihn aus den gleichen Gründen. Ihm gefiel, daß er Franzose war und teilhatte am Prestige von Dumas père, Verlaine und Napoleon; ihn störte die dazugehörende Tatsache, daß er Ausländer war, ohne Tote in Amerika. Außerdem war der pendelnde Soussens Franzose eher durch Annäherung: Er war, wie er selbst es umschrieb und wie Carriego es in einem Vers wiederholte, »Caballero de Friburgo«, ein Franzose, der noch nicht ganz Franzose und nicht mehr ganz Schweizer war. Ihm gefiel, abstrakt, daß er ein völlig freier Bohème war; ihn störte – bis hin zu pädagogischen Erörterungen und Tadel – sein kompliziertes Lotterleben, seine Trunksucht, seine regelmäßige Unzuverlässigkeit und sein Wirrwarr. Dieses Mißfallen zeigt, daß der eigentliche Evaristo Carriego der der biederen criollo-Tradition war, nicht der Nachtmensch von Los inmortales.

Aber Carriegos echtester Freund war Marcelo del Mazo, der für ihn die fast perplexe Bewunderung empfand, die der instinktive Künstler oft im homme de lettres hervorruft. Del Mazo, als Schriftsteller zu Unrecht vergessen, pflegte in der Kunst die gleiche reizbare Höflichkeit wie im alltäglichen Umgang, und sein Lieblingsthema waren die Tugenden oder die Schwächen des Bösen. 1910 veröffentlichte er Los vencidos (Zweite Folge), ein verkanntes Buch, das einige potentiell ruhmreiche Seiten enthält, wie die Schmähschrift gegen ältere Leute – weniger wüst, aber besser beobachtet als die von Swift (Travels into Several Remote Nations, III, 10) – und die mit dem Titel La última. Weitere Autoren im Freundeskreis von Carriego waren Jorge Borges, Gustavo Caraballo, Félix Lima, Juan Más y Pi, Álvaro Melián Lafinur, Evar Méndez, Antonio Monteavaro, Florencio Sánchez, Emilio Suárez Malimano, Soiza Reilly.

Ich komme nun zu seinen Vorstadtfreundschaften, an denen er überreich war. Die wichtigste war die des Caudillo Paredes, damals der Boß von Palermo. Diese Freundschaft suchte Evaristo Carriego mit vierzehn Jahren. Seine Loyalität hatte er noch zu vergeben, erkundigte sich nach dem Namen des Caudillos der Gegend, man nannte ihm ihn, er suchte ihn auf, bahnte sich seinen Weg zwischen den stämmigen Prätorianern mit hohen Schlapphüten und sagte ihm, er sei Evaristo Carriego, aus der Calle Honduras. Das geschah auf dem Markt an der Plaza Güemes; der Junge rührte sich bis zum Morgengrauen nicht mehr von der Stelle, in bestem Einvernehmen mit Schurken, duzte sich – Wacholderschnaps schafft Zutrauen – mit Mördern. Denn damals wurden Wahlen mit Axthieben geregelt, und die nördlichen und südlichen Teile der Hauptstadt brachten in direkter Beziehung zu ihrer criollo-Bevölkerung und ihrem Elend das elemento electoral hervor, das die Hiebe austeilte. Dieses elemento operierte auch in der Provinz: Die Caudillos der Viertel gingen dort hin, wo sie von der Partei gebraucht wurden, und nahmen ihre Männer mit. Auge und Messer – nationale Zutaten zu Papier und langläufigen Revolvern – gaben ihre unbeeinflußte Stimme ab. Die Anwendung des Gesetzes Sáenz Peña löste 1912 diese Milizen auf. Aber das spielt hier keine Rolle; die schlaflose Nacht, von der ich berichtet habe, trägt sich 1897 zu, und Paredes herrscht. Paredes ist der prahlerische criollo, im vollen Besitz seiner Realität: die Brust gebläht von Männlichkeit; herrisches Auftreten; widerborstige schwarze Mähne; prunkvoller Schnurrbart; für gewöhnlich ernste Stimme, die absichtlich weibisch und schleppend wird, wenn es um eine Herausforderung geht; gespreizter Gang; geschickter Umgang mit der angemessenen heroischen Anekdote, der Zote, der flinken Spielkarte, dem Messer und der Gitarre; unendliche Selbstsicherheit. Er ist auch gut zu Pferde, denn er ist in einem früheren Palermo aufgewachsen, nicht dem der Karren, sondern dem der Distanz und der Landhäuser. Er ist der große Mann der homerischen Bratengelage und des unermüdlichen contrapunto. Ich sagte contrapunto; dreißig Jahre nach dieser übervollen Nacht sollte er mir einige Dezimen widmen, und ich werde nie ihre unerhörte Treffsicherheit vergessen, auch nicht die freundschaftliche Widmung: »Und Sie, Kamerad Borges, / begrüß ich von ganzem Herzen«. Er kabbelte sich mit dem Gesetz, aber jeder Ganove, der ihn aushebeln wollte, wurde, um die Disziplin aufrechtzuerhalten, gebändigt: nicht mit dem Messer wie ein Gleichrangiger, sondern mit der Peitsche des Herrn oder mit der flachen Hand. Wie die Toten und die Städte arbeiten auch die Freunde an jedem Menschen, und in El alma del suburbio gibt es eine Zeile: »pues ya una vez lo hizo ca … er de un hachazo« [etwa: »denn ich habe ihn schon einmal besch … lagen mit einem Axthieb«], in der die Stimme von Paredes widerzuhallen scheint, jenes müde, verdrossene Grollen von criollo-Verwünschungen. Durch Nicolás Paredes lernte Evaristo Carriego die Messerhelden des Bezirks kennen, die Blüte des Sumpfs. Einige Zeit unterhielt er mit ihnen eine ungleiche Freundschaft, eine professionelle criollo-Freundschaft mit heftigen Gefühlen in der Ladenschänke und treulichen Gaucho-Schwüren und »Du kennst mich doch, che, Bruder« und dem ganzen sonstigen Zubehör. Asche dieses Umgangs sind einige Strophen in Lunfardo, denen Carriego seine Unterschrift vorenthielt und von denen ich zwei Serien zusammengestellt habe: eine, in der er Félix Lima für die Übersendung seines Buchs mit Klatschchroniken, Con los nueve, dankt; eine zweite, deren Titel eine Verhöhnung von Dies irae zu sein scheint, Día de bronca [Tag des Zoffs], veröffentlicht über dem Pseudonym El Barretero [Der Hauer] in der Kriminalzeitschrift ›L.C.‹ Im Anhang zu diesem zweiten Kapitel gebe ich einige wieder.

Über Liebschaften weiß man bei ihm nichts. Seine Brüder erinnern sich an eine Frau in Trauerkleidung, die immer auf dem Trottoir wartete und alle greifbaren Jungen losschickte, ihn zu suchen. Sie haben ihn ihretwegen verspottet, aber nie ihren Namen aus ihm herausgeholt.

Ich komme zur Frage seiner Krankheit, die ich für überaus wichtig halte. Allgemein ist man überzeugt davon, daß ihn die Tuberkulose aufzehrte: eine Meinung, die von seiner Familie dementiert wird, vielleicht aufgrund des zweifachen Aberglaubens, daß diese Krankheit ehrverletzend sei und daß sie sich vererbe. Alle außer seinen Verwandten behaupten, er sei an Schwindsucht gestorben. Drei Überlegungen stützen diese in seinem Freundeskreis verbreitete Ansicht: die inspirierte Sprunghaftigkeit und der Schwung von Carriegos Konversation, mögliches Ergebnis eines Fieberzustands; das obsessiv wiederholte Bild des Blutspuckens; das dringende Verlangen nach Applaus. Er wußte, daß er todgeweiht war und keine andere Unsterblichkeit hatte als die seiner geschriebenen Worte; daher die Besorgnis um Ruhm. Im Café setzte er seine Verse durch, brachte das Gespräch auf Dinge, die an jene angrenzten, die er bedichtet hatte, setzte durch indifferentes Lob oder totalen Verriß jene Kollegen herab, die über gefährliche Fähigkeiten verfügten; er sagte, wie aus Versehen, »mein Talent«. Außerdem hatte er einen Sophismus erarbeitet oder aufgetrieben, dessen Orakel zufolge die gesamte zeitgenössische Dichtung an Rhetorik zugrunde gehen würde, außer der seinen, die als Dokument Bestand haben werde – als ob ein Hang zur Rhetorik nicht ebenfalls Dokument einer Epoche wäre. »Er hatte Gründe im Übermaß«, schreibt del Mazo, »selbst die allgemeine Aufmerksamkeit auf sein Werk zu lenken. Er begriff, daß die allmähliche Kanonisierung zu Lebzeiten nur wenigen Greisen zuteil wird, und da er wußte, daß er keine Bücherberge hervorbringen würde, öffnete er den Sinn seiner Umgebung für die Schönheit und Tiefe seiner Verse.« Dieses Verfahren bedeutet keineswegs Eitelkeit: Es war der mechanische Teil des Ruhms, eine Verpflichtung der gleichen Art wie die Korrektur von Fahnen. Die Vorahnung des unausweichlich nahenden Todes trieb ihn an. Carriego begehrt die großmütige künftige Zeit der anderen, die Zuneigung von Abwesenden. Wegen dieser abstrakten Konversation mit den Seelen kam er dazu, auf Liebe und ahnungslose Freundschaft zu verzichten, und beschränkte sich darauf, sein eigener Trommler und Apostel zu sein.

Ich möchte hier eine Geschichte anführen. Eine blutüberströmte Frau, Italienerin, die vor den Schlägen ihres Mannes floh, drang eines Abends in den Patio der Carriegos ein. Empört ging Carriego auf die Straße und sagte die vier harten Worte, die nötig waren. Der Mann (ein Kantinenwirt aus der Nachbarschaft) nahm sie ohne Widerrede hin, bewahrte aber gegen ihn einen Groll. Da Carriego wußte, daß Ruhm, auch abfälliger, zu den lebenswichtigen Dingen gehört, veröffentlichte er in ›Ultima Hora‹ einen kurzen Artikel voll prächtiger Mißbilligung über die Brutalität dieses Ausländers. Das unmittelbare Ergebnis: Der Mann, hierdurch öffentlich als Rauhbein gerühmt, legte unter dem schmeichlerischen Gejohle der Nachbarn seine Übellaunigkeit ab; die Geprügelte wanderte einige Tage lang lächelnd umher; die Calle Honduras hielt sich für wirklicher, da sie sich gedruckt las. Wer derart in anderen jene heimliche Gier nach Ruhm zum Vorschein bringen konnte, muß selbst auch an ihr gelitten haben.

Das Überdauern in der Erinnerung der anderen knechtete ihn. Als irgendeine eherne Feder endgültig befand, Almafuerte, Lugones und Enrique Banchs stellten bereits das Triumvirat – oder war es der Dreispitz oder der Dreierrat? – der argentinischen Dichtung dar, betrieb Carriego in den Cafés die Absetzung von Lugones, um selbst in diese Dreifaltigkeit aufgenommen werden zu können.

Die Varianten wurden geringer: Seine Tage wurden ein einziger Tag. Bis zu seinem Tod lebte er in der Calle Honduras Nr. 84, heute 3784. Unfehlbar stellte er sich sonntags in unserem Haus ein, bei der Rückkehr von der Pferderennbahn. Beim Überdenken seiner wiederkehrenden Lebensumstände – das fade Erwachen zu Hause, der Spaß am Herumalbern mit Kindern, das große Glas mit uruguayischem Kirschschnaps oder Orangenlikör in der nahen Ladenschänke Ecke Charcas und Malabia, die Sessionen in der Bar Ecke Venezuela und Perú, die Wortgefechts-Freundschaften, die italienischen Porteño-Essen im Lokal La Cortada, die Zelebrierung der Verse von Gutiérrez Nájera und Almafuerte, seine Mannestaten im Haus mit dem Torbogen, der errötet war wie ein Mädchen, das Pflücken eines überstehenden Geißblatts an einer Gartenwand, die Vertrautheit mit der Nacht und die Liebe zu ihr – sehe ich in eben dieser Trivialität eine Art Umfassung und Zirkel. Es sind überaus kommune Akte, aber die grundlegende Bedeutung von kommun ist, daß etwas von allen geteilt wird. Ich weiß, daß seine von mir aufgezählten wiederkehrenden Verrichtungen uns Carriego näherbringen. Sie wiederholen ihn unendlich in uns, als ob Carriego verstreut in unseren Schicksalen überdauerte, als ob jeder von uns einige Sekunden lang Carriego wäre. Ich glaube, daß es buchstäblich so ist, und daß diese momentanen Identitäten (nicht Wiederholungen!), die den vermeintlichen Ablauf der Zeit aufheben, die Ewigkeit beweisen.

Aus einem Buch auf die Neigungen seines Verfassers zu schließen, scheint eine allzu einfache Gewohnheit zu sein, vor allem wenn wir vergessen, daß er nicht immer das schreibt, woran ihm liegt, sondern das, was ihm die wenigste Mühe bereitet und wovon er annimmt, daß man es von ihm erwartet. Diese undeutlichen, gewohnten Bilder vom Reiter in der Ebene, die der Hintergrund jedes argentinischen Bewußtseins sind, konnten bei Carriego nicht fehlen. In dieser Welt hätte er gern gelebt. Es waren jedoch andere beiläufige Umstände (zunächst vom Zufall des Wohnsitzes bestimmt, später vom Versuch des Abenteuers, zuletzt von Zuneigung), die sein Andenken ausmachen sollten: der Patio als Anlaß zur Heiterkeit, Rose der Tage, das schlichte Johannisfeuer, das sich wie ein Hund mitten auf der Straße suhlt, der Pfosten vor der Kohlenhandlung, ihr Block dichter Finsternis, die vielen Scheiter, die Eisentür der Mietskaserne, die Männer an der rosa Straßenecke. All diese Dinge künden von ihm und spielen auf ihn an. Ich hoffe, daß Carriego es so verstanden hat, fröhlich und ergeben, in einer seiner letzten durchschweiften Nächte; ich stelle mir vor, daß der Mensch dem Tod gegenüber porös ist und daß das Bevorstehen des Todes ihn mit Überdruß und Licht zu masern pflegt, mit wunderbarer Wachsamkeit und Vorahnungen.

III

Ketzermessen

Vor einer Erörterung dieses Buches sollte man noch einmal festhalten, daß jeder Schriftsteller mit einer naiven physischen Vorstellung dessen beginnt, was Kunst ist. Ein Buch ist für ihn kein Ausdruck, auch keine Verkettung von Expressionen, sondern ganz buchstäblich ein Volumen, ein Prisma mit sechs rechteckigen Seiten, hergestellt aus feinen Papierbögen, und es muß enthalten ein Vorsatzblatt, ein Titelblatt, ein Motto in Kleinkursiv, ein Vorwort in Großkursiv, neun oder zehn mit Versalien beginnende Kapitel, ein Inhaltsverzeichnis, ein Ex-Libris mit kleiner Sanduhr und lateinischem Wahlspruch, eine erschöpfende Errata-Liste, einige leere Blätter, ein halbzeiliges Impressum und die Angabe der Auflage: Elemente, die bekanntlich die Kunst des Schreibens ausmachen. Einige Stilisten (gewöhnlich die aus der unnachahmlichen Vergangenheit) bieten außerdem ein Vorwort des Herausgebers, ein zweifelhaftes Porträt, eine handschriftliche Signatur, einen Text mit Varianten, einen feisten kritischen Apparat, einige vom Herausgeber eingebrachte Verweise, ein Literaturverzeichnis und etlichen Leerraum, aber derlei ist natürlich nicht für die Masse … Diese Verwechslung von Büttenpapier mit Stil, von Shakespeare mit Jacob Peuser erfreut sich unbekümmerter Verbreitung und überdauert (kaum verhüllt) bei den Rhetorikern, für deren gedankenlos akustische Seelen ein Gedicht ein Prunkstück aus Akzenten, Reimen, Elisionen, Diphthongierungen und sonstiger phonetischer Fauna ist. Ich schreibe diese jammervollen Charakteristiken eines jeden ersten Buchs nieder, um die ungewöhnlichen Tugenden des Bandes hervorzuheben, mit dem ich mich hier befasse.

Es wäre natürlich lachhaft zu leugnen, daß Misas herejes ein Lehrlingswerk ist. Damit will ich nicht Untüchtigkeit definieren, sondern zwei Gepflogenheiten: die beinahe physische Lust an bestimmten Wörtern – gewöhnlich sind es Wörter von Glanz und Wucht – und die schlichte, ehrgeizige Entschlossenheit, zum x-ten Mal ewige Vorgänge zu definieren. Niemand beginnt mit dem Verseschmieden, ohne eine Definition der Nacht, des Unwetters, der Fleischeslust, des Mondes in Angriff zu nehmen: Dinge, die keiner Definition bedürfen, da sie bereits einen Namen besitzen, das heißt, allen gegenwärtig sind. Carriego verfällt diesen beiden Praktiken.

Auch vom Vorwurf der Verworrenheit kann man ihn nicht freisprechen. Der Unterschied zwischen den unzugänglichen Wortbergen von Kompositionen – genauer: Dekompositionen – wie Las últimas etapas und der Rechtschaffenheit seiner guten späten Seiten in La canción del barrio