Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 12: Der gemeinsamen Werke zweiter Teil - Jorge Luis Borges - E-Book

Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 12: Der gemeinsamen Werke zweiter Teil E-Book

Jorge Luis Borges

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Beschreibung

Der Autor H. Bustos Domecq ist weltberühmt, dabei existiert er gar nicht: Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, beide in Buenos Aires geboren und beide ebendort gestorben, haben ihn erfunden und unter seinem Namen eines der witzigsten Bücher der modernen Weltliteratur geschaffen. Brillant nutzen die Autoren in "Die Chroniken von Bustos Domecq" die Form abgeschmackter Klatschkolumnen; und in den "Neuen Geschichten" liefern sie den schlagenden Beweis, wie ein schlechter Schriftsteller auch den besten Plot ruinieren kann. Mit diesem Band ist die Werkausgabe des großen Schrifstellers aus Argentinien abgeschlossen.

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Über das Buch

Der Autor H. Bustos Domecq ist weltberühmt, dabei existiert er gar nicht: Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, beide in Buenos Aires geboren und beide ebendort gestorben, haben ihn erfunden und unter seinem Namen eines der witzigsten Bücher der modernen Weltliteratur geschaffen. Brillant nutzen die Autoren in "Die Chroniken von Bustos Domecq" die Form abgeschmackter Klatschkolumnen; und in den "Neuen Geschichten" liefern sie den schlagenden Beweis, wie ein schlechter Schriftsteller auch den besten Plot ruinieren kann. Mit diesem Band ist die Werkausgabe des großen Schrifstellers aus Argentinien abgeschlossen.

Jorge Luis Borges

Adolfo Bioy Casares

Der gemeinsamen Werke zweiter Teil

Chroniken von Bustos Domecq

Neue Geschichten von Bustos Domecq

Übersetzt von Gisbert Haefs

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Chroniken von Bustos Domecq (1967)

Vorwort

Hommage für César Paladión

Ein Nachmittag mit Ramón Bonavena

Auf der Suche nach dem Absoluten

Naturalismus à la mode

Katalog und Analyse der verschiedenen Werke von Loomis

Eine abstrakte Kunst

Der Gremialist

Das Welttheater

Eine Kunst blüht auf

Gradus ad parnassum

Das selektive Auge

Abwesendes richtet keinen Schaden an

Vilaseco mit den vielen Facetten

Unser großer Maler Tafas

Garderobe I

Garderobe II

Ein völlig neuer Blickwinkel

Esse est percipi

Die Müßigen

Die Unsterblichen

Ein positiver Beitrag

Neue Geschichten von Bustos Domecq (1977)

Freundschaft bis zum Tod

Jenseits von Gut und Böse

Das Fest des Ungeheuers

Der Sohn seines Freundes

Zwielicht und Pomp

Die Formen des Ruhms

Der größte Gegner der Zensur

Erlösung durch das Werk

Zur Klärung der Verantwortlichkeit

Anhang

Editorische Notiz

Anmerkungen

Chroniken von Bustos Domecq

Vorwort

So nehme ich denn abermals, auf inständiges Bitten des chronischen Freundes und schätzbaren Schriftstellers hin, die eigentümlichen Risiken und Unerfreulichkeiten auf mich, die den Prologisten hartnäckig belauern. Natürlich entgehen sie nicht meiner Lupe. Wie dem Homeriden kommt es uns zu, zwischen zwei einander gegenüberliegenden Fährnissen zu navigieren. Charybdis: Die Aufmerksamkeit willensschwacher und schlapper Leser mit der Fata Morgana von Attraktionen aufpeitschen, die der corpus des Büchleins bald darböte. Skylla: Unsere Brillanz dämpfen, um nicht das nachfolgende Material zu verfinstern oder gar d’anéantir. Wie der prächtige Königstiger Bengalens seine Pranke zähmt, um nicht mit einem Tatzenhieb die Gesichtszüge seines bebenden Dompteurs zu tilgen, so wollen wir die dem genre innewohnenden Anforderungen beherzigen, ohne uns jedoch des kritischen Skalpells gänzlich zu begeben. Seien wir Freunde der Wahrheit, doch mehr noch Freunde Platons.

Solcherlei Skrupel, wird der Leser zweifellos einwenden, sind stets chimärisch. Niemand dächte auch nur im Traume daran, die herbe Eleganz, den tiefen Florettstich, die panoramische Kosmovision des großen Schriftstellers mit der gutmütigen, zwanglosen, ein wenig en pantoufles einherkommenden Prosa des durchaus ehrenwerten Mannes zu vergleichen, der sich zwischen Siesta und Siesta seiner verdienstvollen Chroniken entledigt, welche gesättigt sind vom Staub und Überdruß der Provinz.

Das bloße Gerücht, ein Athener, ein Bonairenser – dessen umjubelten Namen zu offenbaren mir der gute Geschmack untersagt – schlösse bereits die Vorstudien zu einem Roman ab, dessen Titel, wenn ich es mir nicht noch anders überlege, Die Montenegros lauten wird, reichte dazu aus, daß unser »Fieses Vieh«1, nachdem er sich zuvor an Erzählungen versucht hatte, flink und flugs zur Kritik überlief. Erkennen wir an: Es hat sich ausgezahlt, daß er sich in einem lichten Moment auf den ihm zukommenden Platz begab. Wenn wir zahlreiche unvermeidliche Schönheitsfehler übersehen, können wir feststellen, daß das kleine darstellerische Werk, dessen Prolog zu verfassen uns heute zukommt, ausreichende Qualitäten aufweist. Die rohe Materie liefert dem Leser jenes Interesse, welches der Stil ihm nimmer einzuflößen vermöchte.

In dieser unserer chaotischen Zeit entbehrt die negative Kritik allem Anschein nach jeder Rechtsgültigkeit; es ist vor allem angezeigt, unter Hintanstellung unseres Wohlgefallens (oder Mißfallens) die nationalen, bodenständigen Werte hochzuhalten, die, wenn auch vielleicht vorübergehend, an der Tagesordnung sind. Andererseits wurde jedoch in diesem Falle der Prolog, dem ich meine Signatur leihe, von einem jener Kameraden erbeten2, an die uns die Gewohnheit bindet. Befassen wir uns also mit dem Inhalt. Aus der ihm von seinem Weimar-am-Gestade dargebotenen Perspektive hat unser Trödlergoethe3 ein wahrhaft enzyklopädisches Register gezogen, darin jede moderne Note die ihr gemäße Schwingung findet. Wer immer da wünschen mag, die Romankunst, die Lyrik, die Objektkunst, die Architektur, die Skulptur, das Theater und die verschiedensten audiovisuellen Methoden, die unsere Zeit kennzeichnen, in ihrer ganzen Tiefe auszuloten, wird sich widerwillig mit diesem unentbehrlichen Vademecum abfinden müssen, einem wahren Ariadnefaden, der den Leser zum Minotaurus führt.

Nun mag sich ein Chor von Stimmen erheben, das Fehlen einer überragenden Figur zu beklagen, die in eleganter Synthese den Skeptiker und den sportsman, den Hohen Priester der Künste und den Hengst des Alkoven in sich vereinigt, doch wollen wir diese Auslassung der natürlichen Bescheidenheit des Kunsthandwerkers, der seine Grenzen kennt, zuweisen, und nicht dem allerbegründetsten Neid.

Beim unwirschen Überfliegen der Seiten dieses verdienstvollen opusculum schreckt uns jählings eine beiläufige Erwähnung aus unserer Ermattung auf: die von Lambkin Formento. Ein inspirierter Argwohn quält uns. Gibt es solch eine Persönlichkeit, faßbar in Fleisch und Blut? Handelt es sich nicht vielleicht um einen Verwandten oder möglicherweise ein Echo jenes Lambkin, der eine Marionette der Phantasie war und seinen hehren Namen einer Satire von Belloc lieh? Solcherlei Nebulositäten mindern die möglichen Werte eines informativen Allerleis, das – wohlverstanden! – keinen Anspruch darauf erheben kann, mehr denn schlichte und einfache Redlichkeit zu bergen.

Nicht minder unverzeihlich ist die Leichtfertigkeit, mit der sich der Autor über den Begriff des Gremialismus hermacht, indem er jene Bagatelle in sechs schnöden Bänden aufgreift, die der zügellosen Schreibmaschine von Doktor Baralt entquoll. Er macht sich zum Spielball der Sirenen dieses Advokaten, hält sich bei bloßen kombinatorischen Utopien auf und vernachlässigt den authentischen Gremialismus, welcher ein kraftvoller Pfeiler der gegenwärtigen Ordnung und der gesichertesten Zukunft ist.

Insgesamt: eine unseres nachsichtigen Schulterklopfens nicht unwürdige Leistung.

Buenos Aires, 4. Juli 1966

Gervasio Montenegro

__________

1 Kosename von H. Bustos Domecq im intimen Kreis. (Anmerkung von H. Bustos Domecq)

2 Dieses Wort ist irreführend. Frischen Sie Ihr Gedächtnis auf, Don Montenegro. Ich habe Sie um nichts gebeten; Sie waren es, der mit seinem Skript ex abrupto in der Druckerei auftauchte. (Anmerkung von H. Bustos Domecq)

3 Nach vielfältigen Erklärungen seitens des Doktors Montenegro will ich mich nicht länger auf diesen Punkt versteifen und nehme Abstand von dem aufgegebenen Telegramm, das Doktor Baralt auf meine Bitte hin aufsetzte. (Anmerkung von H. Bustos Domecq)

Every absurdity has now a champion.

Oliver Goldsmith, 1764

Every dream is a prophecy: every jest is an earnest in the womb of Time.

Father Keegan, 1904

Jenen drei großen Vergessenen: Picasso, Joyce, Le Corbusier.

Hommage für César Paladión

Die Vielseitigkeit von César Paladións Werk zu rühmen, die unermüdliche Gastlichkeit seines Geistes zu preisen, das sind, wer wollte es bezweifeln, Gemeinplätze der zeitgenössischen Kritik; es ist jedoch angebracht, nicht zu vergessen, daß auch Gemeinplätze stets Wahrheit bergen. Unausweichlich ist ferner der Verweis auf Goethe, und es ist sogar angedeutet worden, solch ein Verweis ergebe sich aus der physischen Ähnlichkeit der beiden großen Schriftsteller und dem mehr oder minder zufälligen Umstand, daß ihnen, um es so auszudrücken, ein Egmont gemein ist. Goethe sagte, sein Geist sei allen Winden offen; Paladión verzichtete auf diese Behauptung, zumal sie in seinem Egmont nicht erscheint, doch bezeugen die elf proteischen Bände, die er hinterlassen hat, daß er sich eine solche Aussage mit vollem Recht hätte zu eigen machen können. Beide, Goethe und unser Paladión, wiesen jene Gesundheit und Robustheit auf, welche die beste Grundlage für die Errichtung eines genialischen Werks sind. Treffliche Kunstwerker sind sie; ihre Hände lenken den Pflug und unterfertigen das Tagwerk!

Pinsel, Radiernadel, Wischer und Kamera haben Paladións Konterfei verbreitet; wir, die ihn persönlich kannten, schmähen vielleicht zu Unrecht derlei verschwenderische Ikonographie, die nicht immer jene Autorität und Ehrenhaftigkeit zu vermitteln vermag, welche der Meister ausstrahlte, einem steten und ruhigen Lichte gleich, das nicht blendet.

Im Jahre 1909 übte César Paladión zu Genf das Amt des Konsuls der Argentinischen Republik aus; dort veröffentlichte er sein erstes Buch, Die verlassenen Parks. Die heute von den Bibliophilen umkämpfte Edition wurde vom Verfasser mit eifrigster Hingabe korrigiert; nichtsdestoweniger entstellen sie die frevelhaftesten Druckfehler, da der calvinistische Setzer ein vollendeter ignoramus war, was die Sprache von Sancho Panza betrifft. Naschhafte Liebhaber der petite histoire mögen die Erwähnung einer reichlich unerfreulichen Episode begrüßen, an die sich längst keiner mehr erinnert und deren einziges Verdienst es ist, die gleichsam skandalöse Originalität des paladiontischen Stilbegriffs nahezu handgreiflich zu offenbaren. Im Herbst des Jahres 1910 verglich ein recht gewichtiger Kritiker Die verlassenen Parks mit dem gleichnamigen Werk von Julio Herrera y Reissig und verstieg sich zu der Schlußfolgerung, Paladión habe – risum teneatis – ein Plagiat begangen. Weitläufige Auszüge aus beiden Werken, parallel gesetzt und veröffentlicht, rechtfertigen seiner Meinung nach die unerhörte Bezichtigung. Diese verhallte jedoch im Leeren; weder nahmen sich die Leser ihrer an, noch ließ Paladión sich zu einer Replik herab. Der Pamphletist, an dessen Namen ich mich nicht zu erinnern wünsche, erkannte alsbald seinen Fehler und weihte sich ewigem Schweigen. Seine staunenswerte kritische Blindheit war allzu ersichtlich geworden!

Die Zeit von 1911 bis 1919 war gekennzeichnet durch eine nahezu übermenschliche Fruchtbarkeit; in schneller Folge erscheinen: Das seltsame Buch, der Erziehungsroman Émile, Egmont, Die Thebanerinnen (zweiter Teil), Der Hund der Baskervilles, Von den Apenninen zu den Anden, Onkel Toms Hütte, Die Provinz Buenos Aires bis zur Klärung der Frage nach der Hauptstadt der Republik, Fabiola, die Georgica (in der Übersetzung von Ochoa) und De divinatione (auf Lateinisch). Der Tod ereilt ihn mitten im Werke; nach dem Zeugnis seiner engen Vertrauten hatte er bereits große Teile des Lukas-Evangeliums vollendet, eines Werks von biblischem Zuschnitt, von dem nicht einmal ein Entwurf auf uns gekommen ist, und dessen Lektüre überaus interessant gewesen wäre.4

Paladións Methode ist Gegenstand so vieler kritischer Monographien und Dissertationen geworden, daß eine weitere Zusammenfassung fast überflüssig ist. Wir wollen uns damit begnügen, sie in groben Zügen zu umreißen. Der Schlüssel wurde, ein für allemal, von Farrel du Bosc in seiner Abhandlung Die Linie Paladión–Pound–Eliot (Wwe. Charles Bouret, Paris, 1937) aufgezeigt. Wie Farrel du Bosc mit Entschiedenheit erklärt hat, indem er Myriam Allen de Ford zitierte, handelt es sich um eine Ausweitung von Einheiten. Vor und nach unserem Paladión war die literarische Einheit, die die Autoren aus dem allgemeinen Erbe empfingen, das Wort oder im äußersten Fall der abgeschlossene Satz. Die Flickschustereien der Byzantiner oder der mittelalterlichen Mönche erweitern das ästhetische Feld nur unwesentlich, indem sie ganze Verse übernehmen. In unserer Epoche leitet ein langes Fragment der Odyssee einen der cantos von Pound ein, und bekanntlich vereint das Werk von T. S. Eliot Zeilen von Goldsmith, Baudelaire und Verlaine. Paladión dagegen war schon 1909 weiter vorgedrungen. Er annektierte gewissermaßen ein komplettes opus, Die verlassenen Parks, von Herrera y Reissig. Eine von Maurice Abramowicz in Umlauf gebrachte Vertraulichkeit zeigt uns die feinfühligen Skrupel und die unerbittliche Strenge, mit denen Paladión stets an die schwierige Aufgabe der poetischen Schöpfung ging: Er zog Die Dämmerung der Gärten von Lugones den Verlassenen Parks vor, doch hielt er sich keineswegs für unwürdig, sich ihrer zu bemächtigen; er erkannte im Gegenteil an, daß Herreras Buch im Bereich seiner damaligen Fähigkeiten lag, da er sich auf dessen Seiten vollständig ausgedrückt fand. Paladión belehnte das Buch mit seinem Namen und gab es in Druck, ohne auch nur ein Komma zu streichen oder hinzuzufügen, ein Gesetz, dem er immer treu blieb. Wir stehen hier vor der bedeutendsten literarischen Errungenschaft unseres Jahrhunderts: den Verlassenen Parks von Paladión. Nichts könnte weiter entfernt sein vom gleichnamigen Buch Herreras, der kein vorheriges Buch wiederholte. Seit jenem Augenblick widmet sich Paladión der bis dahin von niemandem erfüllten Aufgabe, in der Tiefe seiner Seele Bücher zu suchen und zu veröffentlichen, die ihm Ausdruck verleihen würden, ohne den längst unüberschaubaren bibliographischen corpus weiter aufzublähen oder der allzu erschwinglichen Eitelkeit zu verfallen, eine einzige Zeile zu schreiben. Oh, unvergängliche Bescheidenheit eines Mannes, der angesichts des ihm von den Bibliotheken des Ostens und des Westens dargebotenen Banketts auf die Göttliche Komödie und die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht verzichtet und sich menschlich und leutselig zu den Thebanerinnen (zweiter Teil) herabläßt!

Paladións geistige Entwicklung ist nicht völlig aufgehellt; so hat zum Beispiel niemand die mysteriöse Brücke zu erklären vermocht, die sich von den Thebanerinnen etcetera zum Hund der Baskervilles schwingt. Was uns betrifft, so wollen wir uns durchaus erkühnen, die Hypothese aufzustellen, daß es sich hierbei um eine normale Bahn handelt, einem großen Schriftsteller angemessen, der die romantische Erregtheit überwindet, um sich späterhin mit der edlen Heiterkeit der Klassik zu krönen.

Halten wir fest, daß Paladión – abgesehen von einigen Erinnerungen aus der Schulzeit – die toten Sprachen nicht beherrschte. Mit einer Schüchternheit, die uns heute ans Herz rührt, veröffentlichte er 1918 die Georgica in der spanischen Übersetzung von Ochoa; ein Jahr später, seiner geistigen Größe längst bewußt, gab er De divinatione auf Latein in Druck. Und welch ein Latein! Das Latein Ciceros!

Nach Meinung einiger Kritiker bedeutet es eine Apostasie, einen Abfall von den klassischen Idealen, nach den Texten von Cicero und Vergil ein Evangelium zu veröffentlichen; wir ziehen es hingegen vor, in diesem letzten Schritt, den er nicht mehr tat, eine geistige Erneuerung zu sehen. Deutlich gesprochen: den geheimnisvollen und lichten Weg, der vom Heidentum zum Glauben führt.

Jedermann weiß, daß Paladión die Veröffentlichung seiner Bücher mit seinen eigenen Mitteln bestreiten mußte, und daß die kleinen Auflagen niemals die Zahl von drei- oder vierhundert Exemplaren überstiegen. Sie sind allesamt vergriffen, und jene Leser, denen ein freigebiger Zufall den Hund der Baskervilles in die Hände gelegt hat, trachten, gefesselt ob des überaus persönlichen Stils, danach, Onkel Toms Hütte zu genießen, ein Buch, das so gut wie introuvable ist. Aus diesem Grund zollen wir der Initiative einer Gruppe von Abgeordneten der unterschiedlichsten Richtungen Beifall, welche die offizielle Herausgabe der Sämtlichen Werke des originellsten und vielseitigsten unserer litterati betreibt.

__________

4 In einem kühnen Ansatz, der ihn uns in seiner ganzen Größe zeigt, scheint Paladión die Übersetzung von Scio de San Miguel gewählt zu haben.

Ein Nachmittag mit Ramón Bonavena

Jede Statistik, jede rein deskriptive oder informative Arbeit beruht auf der großartigen und vielleicht unsinnigen Hoffnung, in der weitläufigen Zukunft könnten Menschen wie wir, nur hellsichtiger, mit Hilfe der von uns hinterlassenen Daten zu einer glücklichen Schlußfolgerung oder einer bemerkenswerten Generalisierung gelangen. Wer die sechs Bände von Nord-Nordwest von Ramón Bonavena überflogen hat, mag mehr denn einmal die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit in der Zukunft verspürt haben, durch die das vom Meister dargereichte Werk gekrönt und vervollkommnet werde. Beeilen wir uns festzustellen, daß diese Überlegungen einer persönlichen und von Bonavena zweifellos nicht autorisierten Reaktion entspringen. Bei der einzigen Gelegenheit, da ich mit ihm sprach, verwarf er jeden Gedanken an eine ästhetische oder wissenschaftliche Transzendenz des Werks, dem er sein Leben geweiht hatte. Erinnern wir uns nach all den Jahren an jenen Nachmittag.

Gegen 1936 arbeitete ich bereits für die literarische Beilage von Última Hora. Der Herausgeber, ein Mann, dessen wache Neugier das Phänomen Literatur durchaus einschloß, trug mir an einem typischen Sonntag im Winter auf, ein Gespräch mit dem längst bekannten, wenn auch noch nicht berühmten Romancier in der Zurückgezogenheit seines Hauses in Ezpeleta zu führen.

Das Haus existiert noch; es bestand damals aus einem einzigen Geschoß, wenn es auch auf dem Dach in rührender Vorsorge für ein weiteres Stockwerk zwei winzige Balkone mit Geländer aufwies. Bonavena persönlich öffnete uns die Tür. Die getönte Brille, die auf der am weitesten verbreiteten seiner Photographien zu sehen ist und vermutlich von ihm wegen eines vorübergehenden Leidens getragen wurde, zierte damals noch nicht dieses Antlitz weiter weicher Wangen, zwischen denen die Gesichtszüge sich verloren. Noch nach so vielen Jahren glaube ich, mich an einen Leinenkittel und türkische Pantoffeln zu erinnern.

Seine natürliche Höflichkeit vermochte eine gewisse Zurückhaltung kaum zu verhehlen; während ich sie zu Beginn auf Bescheidenheit zurückführte, begriff ich doch bald, daß der Mann seiner sehr sicher war und furchtlos die Stunde der allumfassenden Wandlung erwartete. Völlig seiner anspruchsvollen und fast unendlichen Arbeit hingegeben, geizte er mit seiner Zeit, und wenig oder nichts bedeutete ihm die publicity, die ich ihm bot.

In seinem Arbeitszimmer – es hatte etwas vom Wartezimmer eines dörflichen Zahnarztes, mit seinen pastellenen Seestücken und seinen Hirten und Hunden aus Porzellan – gab es nur wenige Bücher, und die meisten waren Nachschlagewerke verschiedener Disziplinen und Bereiche. Natürlich überraschte mich das starke Vergrößerungsglas ebensowenig wie der Zimmermannszollstock, den ich auf dem grünen Filz des Tisches entdeckte. Kaffee und Tabak förderten das Gespräch.

»Natürlich habe ich Ihr Werk wieder und wieder gelesen. Ich glaube jedoch, um dem gewöhnlichen Leser, dem Massenmenschen, auf eine Ebene relativen Begreifens zu helfen, sollten Sie zusammenfassend und in groben Zügen die Entstehung von Nord-Nordwest umreißen, vom ersten Entwurf bis zur gewaltigen Schöpfung. Ich beschwöre Sie: ab ovo, ab ovo!«

Das bis dahin nahezu ausdruckslose und graue Antlitz erhellte sich. Alsbald sollte die Springflut treffender Wörter einsetzen.

»Zu Beginn gingen meine Pläne nicht über das Gebiet der Literatur, ja nicht einmal über den Realismus hinaus. Mein Bestreben – sicher keineswegs außergewöhnlich – war es, einen bodenständigen Roman zu verfassen, schlicht, mit menschlichen Personen und dem üblichen Protest gegen den Großgrundbesitz. Ich dachte an Ezpeleta, mein Dorf. Ästhetizismus war mir gleichgültig. Ich wollte ein ehrliches Zeugnis über einen begrenzten Ausschnitt der örtlichen Gesellschaft ablegen. Die ersten Schwierigkeiten, die mich hemmten, waren vielleicht bedeutungslos. Die Namen der Personen, zum Beispiel. Sie so zu nennen, wie sie in Wirklichkeit heißen, hätte bedeutet, mich Verleumdungsklagen auszusetzen. Doktor Garmendia, dessen Kanzlei an der Straßenecke liegt, hat mir versichert – als wolle er es gar nicht erst darauf ankommen lassen –, der durchschnittliche Bewohner von Ezpeleta sei streitsüchtig. Also konnte ich meine Zuflucht nur noch zur Erfindung von Namen nehmen, aber damit hätte ich der Phantasie Tür und Tor geöffnet. Ich habe mich für Großbuchstaben, gefolgt von Pünktchen, entschieden, eine Lösung, die mir noch immer gefällt. Je tiefer ich in meinen Gegenstand eindrang, desto deutlicher wurde mir, daß die Hauptschwierigkeit nicht in den Namen der Personen lag; sie war psychischer Natur. Wie soll ich mich in den Kopf meines Nachbarn versetzen? Wie erraten, was andere denken, ohne auf Realismus zu verzichten? Die Antwort war klar, aber anfangs wollte ich nichts von ihr wissen. Ich habe mich daraufhin der Möglichkeit zugewandt, einen Roman über Haustiere zu schreiben. Aber wie soll man die Vorgänge im Gehirn eines Hundes erfassen, eine Welt, die weniger vom Sehen als vom Geruch bestimmt ist? Verwirrt habe ich mich auf mich selbst zurückgezogen und überlegt, daß meine letzte Zuflucht die Autobiographie sei. Aber auch dort tat sich ein Labyrinth auf. Wer bin ich? Der Heutige, schwindelerregend, der Gestrige, vergessen, der Morgige, unvorhersehbar? Was wäre denn noch unfaßbarer als die Seele? Wenn ich wache, um zu schreiben, verändert mich die Wacht; überlasse ich mich dem automatischen Schreiben, so überlasse ich mich dem Zufall. Ich weiß nicht, ob Sie sich an jenen Fall erinnern, den, glaube ich, Cicero anführt, von einer Frau, die auf der Suche nach einer Weissagung zu einem Tempel geht und, ohne sich dessen bewußt zu sein, einige Wörter sagt, die die erhoffte Antwort enthalten. Hier in Ezpeleta ist mir etwa Ähnliches widerfahren. Ich bin meine Notizen durchgegangen, weniger, um eine Lösung zu suchen, als vielmehr, um etwas zu tun. In den Notizen war der Schlüssel, den ich gesucht hatte. Er war in den Wörtern ›ein begrenzter Ausschnitt‹. Als ich sie schrieb, hatte ich lediglich eine geläufige, übliche Metapher verwendet; als ich sie wieder las, hat mich eine Art Offenbarung geblendet. ›Ein begrenzter Ausschnitt‹ … Welcher Ausschnitt könnte begrenzter sein als die Ecke des Kieferntisches, an dem ich arbeitete? Also habe ich beschlossen, mich an diese Ecke zu halten, an das, was die Ecke der Beobachtung bieten mag. Mit diesem Zimmermannszollstock – den Sie a piacere untersuchen dürfen – habe ich das Bein des betreffenden Tisches gemessen und festgestellt, daß er sich einen Meter fünfzehn über den Boden erhebt, eine Höhe, die ich für angemessen halte. Unbegrenzt weiter aufwärts hätte es mich in die Decke, auf die Dachterrasse und sehr bald in die Astronomie verschlagen; abwärts wäre ich in den Keller und ins subtropische Flachland gelangt, oder gar in den Erdball selbst. Die ausgesuchte Tischecke wies außerdem interessante Phänomene auf. Den Kupferaschenbecher, den Bleistift mit einer blauen und einer roten Spitze, und so weiter.«

Hier konnte ich mich nicht länger zurückhalten und unterbrach ihn: »Ich weiß, ich weiß. Sie sprechen vom zweiten und dritten Kapitel. Über den Aschenbecher wissen wir alles: die Zeichnung des Kupfers, das spezifische Gewicht, den Durchmesser, die verschiedenen Relationen zwischen Durchmesser, Bleistift und Tisch, die Umrisse des Hundes, den Fabrikpreis, den Verkaufspreis und viele andere genaue und sachdienliche Daten. Und was soll ich über den Bleistift – Goldfaber 873 – sagen? Mit Hilfe Ihrer Gabe der Synthese haben Sie ihn auf neunundzwanzig Oktavseiten, die auch der unersättlichsten Neugier nichts mehr zu wünschen übriglassen, zusammengefaßt.«

Bonavena errötete nicht. Ohne Hast und ohne Rast nahm er den Faden wieder auf.

»Ich sehe, daß die Saat nicht neben die Furche gefallen ist. Sie sind ja durchtränkt von meinem Werk. Zur Belohnung, wenn Sie so wollen, will ich Ihnen einen mündlichen Anhang liefern. Er bezieht sich nicht auf das Werk selbst, sondern auf die Skrupel seines Verfassers. Als die Herkules-Aufgabe erfüllt war, alle Gegenstände, die gewöhnlich die nord-nordwestliche Ecke des Schreibtisches einnehmen, aufzuführen, ein Unterfangen, mit dem ich auf zweihundertelf Seiten fertig wurde, fragte ich mich, ob es wohl erlaubt sei, den stock zu erneuern, id est, willkürlich andere Gegenstände einzuführen, sie im Magnetfeld abzusetzen und mich umgehend daranzumachen, sie zu beschreiben. Solche Gegenstände, die unvermeidlich meinem beschreiberischen Anliegen gemäß ausgesucht und von anderen Örtlichkeiten des Zimmers oder gar des Hauses herbeigeschafft werden müßten, würden niemals die Natürlichkeit, die Spontaneität der ersten Serie erreichen. Trotz allem wären sie, sobald sie erst einmal die Tischecke einnähmen, Teil der Wirklichkeit und hätten Anspruch auf eine entsprechende Behandlung. Ein furchtbares Duell zwischen Ethik und Ästhetik! Dieser gordische Knoten wurde dadurch gelöst, daß der Austräger der Bäckerei auftauchte, ein vertrauenswürdiger, wenn auch zurückgebliebener Junge. Zanichelli, so der Name des Zurückgebliebenen, wurde, wie man so schön sagt, mein deus ex machina. Gerade sein Schwachsinn machte ihn besonders geeignet für meine Zwecke. Mit furchtsamer Neugier, wie einer, der eine Entweihung verübt, habe ich ihn angewiesen, etwas, irgend etwas, auf die nunmehr leere Tischecke zu legen. Er hat den Radiergummi, einen Bleistifthalter und wieder den Aschenbecher genommen.«

»Die berühmte Serie Beta!« brach es aus mir hervor. »Jetzt begreife ich die rätselhafte Wiederkehr des Aschenbechers, die sich mit fast denselben Wörtern vollzieht, abgesehen von einigen Verweisen auf den Bleistifthalter und den Radiergummi. Mehr als nur ein oberflächlicher Kritiker hat geglaubt, da eine Verwirrung zu entdecken …«

Bonavena richtete sich auf. »In meinem Werk gibt es keine Verwirrungen«, erklärte er mit berechtigter Feierlichkeit. »Die Verweise auf Bleistifthalter und Radiergummi sind ein mehr als ausreichendes Indiz. Einem Leser wie Ihnen brauche ich die späteren Ablagerungen nicht eingehend darzulegen. Ich will nur sagen, ich schloß die Augen, der Schwachsinnige legte einen Gegenstand oder mehrere zurecht, und dann ans Werk! Theoretisch ist mein Buch unendlich, in der Praxis bestehe ich auf meinem Recht auf Entspannung – nennen Sie es eine Marschpause – nach Vollendung der Seite 941 des fünften Bandes5. Übrigens feiert der Deskriptionismus Triumphe. In Belgien zelebriert man das Erscheinen der ersten Lieferung von Aquarium, einer Arbeit, in der ich allerdings mehr als nur eine Heterodoxie entdeckt zu haben glaube. In Burma, Brasilien und Burzaco treten neue aktive Gruppen in Erscheinung.«

Undeutlich spürte ich, daß die Begegnung sich ihrem Ende zuneigte. Zur Vorbereitung des Abschieds sagte ich:

»Meister, ehe ich Sie verlasse, möchte ich eine letzte Gunst erbitten. Könnte ich vielleicht einen der Gegenstände sehen, die das Werk verzeichnet?«

»Nein«, sagte Bonavena. »Sie werden keinen sehen. Bevor die nächstfolgende ihren Platz einnahm, wurde jede Anordnung sorgfältigst fotografiert. Auf diese Weise erhielt ich eine prachtvolle Serie von Negativen. Ihre Vernichtung am 26. Oktober 1934 war mir wahrhaft schmerzlich. Noch mehr schmerzte es mich, die Originalobjekte zu vernichten.«

Ich war völlig verblüfft.

»Wie?« stammelte ich schließlich. »Sie haben es gewagt, den schwarzen Schachläufer aus Ypsilon und den Hammerstiel aus Gamma zu vernichten?«

Bonavena musterte mich traurig.

»Das Opfer war notwendig«, erklärte er. »Das Werk muß, wie der erwachsene Sohn, selbständig werden. Die Aufbewahrung der Originale hätte das Werk unerträglichen Konfrontationen ausgesetzt. Die Kritik wäre der Versuchung erlegen, es nach seiner größeren oder minderen Naturtreue zu beurteilen. Wir wären dem schieren Scientifizismus verfallen. Ihnen ist wohl klar, daß ich meinem Werk jeglichen wissenschaftlichen Wert abspreche.«

Ich beeilte mich, ihn zu beruhigen:

»Natürlich, selbstverständlich. Nord-Nordwest ist eine ästhetische Schöpfung …«

»Noch ein Irrtum«, befand Bonavena. »Ich spreche meinem Werk jeglichen ästhetischen Wert ab. Es nimmt, um es so zu formulieren, eine eigene Ebene ein. Die von ihm bewirkten Gefühle, die Tränen, der Beifall, die Grimassen lassen mich kalt. Ich hatte weder vor zu belehren noch zu rühren noch zu unterhalten. Das Werk liegt jenseits von alledem. Es erstrebt das Demütigste und das Höchste: einen Platz im Universum.«

Der zwischen die Schultern gekeilte massige Kopf bewegte sich nicht. Die Augen sahen mich bereits nicht mehr. Ich begriff, daß meine Besuchszeit abgelaufen war. So leise wie möglich verließ ich ihn. The rest is silence.

__________

5 Bekanntlich erschien 1939 postum ein sechster Band.

Auf der Suche nach dem Absoluten

Mag es uns auch schmerzlich sein, so muß man doch zugeben, daß der Rio de la Plata die Augen fest auf Europa gerichtet hält und die authentischen einheimischen Werte verschmäht oder ignoriert. Der Fall Nierenstein Souza läßt in diesem Zusammenhang keinen Zweifel übrig. Fernández Saldaña unterschlägt den Namen in seinem Uruguayischen Biographischen Lexikon; selbst Monteiro Novato beschränkt sich auf die Jahreszahlen 1897-1935 und die Aufzählung der bekanntesten Arbeiten: Die panische Ebene (1897), Abende aus Topaz (1908), Werke und Theorien bei Stuart Merrill (1912), eine gelehrte Monographie, der das Lob mehr als nur eines der Universität von Columbia angeschlossenen Professors zuteil wurde, Symbolismen in »Die Suche nach dem Absoluten« von Balzac (1914) und der ehrgeizige historische Roman Die Fehde der Gomensoros (1919), ein Werk, das der Autor in articulo mortis verwarf. In Novatos lakonischen Anmerkungen wird man nicht einmal den kleinsten Hinweis auf die franco-belgischen Abendgesellschaften finden, an denen Nierenstein Souza im Paris des fin de siècle teilnahm, wenn auch vielleicht nur als stummer Beobachter; kein Hinweis auch auf die postume Miszellensammlung Bricà-Brac, die um 1942 von einer Freundesgruppe unter Führung von H. B. D. veröffentlicht wurde. Ebenso wenig findet sich der geringste Versuch, die gewichtigen, wenn auch nicht immer treuen Übersetzungen von Catulle Mendés, Ephraim Mikhael, Franz Werfel und Humbert Wolfe zu würdigen.

Wie man sieht, war seine Bildung weitreichend. Das familiäre Jiddisch hatte ihm die Türen der teutonischen Literatur geöffnet; der Geistliche Planes lehrte ihn ohne Tränen das Lateinische; Französisch sog er mit der Kultur auf, und Englisch war ein Erbe seines Onkels, des Geschäftsführers der Pökelei Young in Mercedes. Er erriet das Niederländische und erahnte die lingua franca der Grenzgebiete.

Als die zweite Auflage der Fehde der Gomensoros bereits im Druck war, zog sich Nierenstein nach Fray Bentos zurück, wo er sich im alten Haus seiner Familie, das ihm die Medeiros vermieteten, völlig der überaus sorgsamen Abfassung eines Hauptwerks widmen konnte, dessen Manuskripte verlorengingen und dessen Titel unbekannt ist. Im heißen Sommer des Jahres 1935 zerschnitt dort die Schere der Atropos die beflissene Arbeit und das nahezu mönchische Leben des Dichters.

Sechs Jahre später bürdete mir der Leiter von Última Hora, ein Mann, dessen wache Neugier das Phänomen Literatur durchaus einschloß, die halb detektivische, halb pietätvolle Mission auf, in situ die Überbleibsel dieses großen Werks zu untersuchen. Der Kassierer der Zeitung bewilligte mir, nach einigem verständlichen Zögern, die Mittel für die Schiffsreise auf dem »perlfarbenen« Río Uruguay. In Fray Bentos sollte die Gastfreundschaft eines befreundeten Apothekers, des Doktors Zhivago, für das Weitere Sorge tragen. Dieser Ausflug, meine erste Reise ins Ausland, erfüllte mich – wozu es verschweigen? – mit der üblichen Unrast. Wenn mich auch das Studium der Weltkarte sehr besorgt machte, so beruhigten mich doch nicht wenig die von einem Reisenden vorgebrachten Versicherungen, die Bewohner von Uruguay seien unserer Sprache mächtig.

An einem 29. Dezember landete ich im Bruderland; am Morgen des 30. machte ich, in der Gesellschaft von Zhivago und im Hotel Capurro, meine erste Bekanntschaft mit dem uruguayischen Milchkaffee. Ein Notar nahm als Dritter an unserem Dialog teil und – ein Witz führt zum nächsten – erzählte mir die in den fröhlichen Zirkeln unserer geliebten Calle Corrientes nicht unbekannte Geschichte vom Handelsreisenden und dem Schaf. Wir traten auf die glühendheiße Straße hinaus; ein Gefährt wäre überflüssig gewesen, und nach einer halben Stunde, in der wir den merklichen Fortschritt der Stadt bewundert hatten, erreichten wir die Heimstatt des Dichters.

Der Eigentümer, Don Nicasio Medeiro, bedachte uns bei Kirschlikör und einigen Käsebroten mit der immer neuen und munteren Anekdote von der alten Jungfer und dem Papagei. Er versicherte uns, Gott sei Dank sei die Hütte von einem Trottel ausgebessert worden, die Bibliothek des verstorbenen Nierenstein sei jedoch unberührt, da zur Zeit die Mittel für weitere Ausbesserungen fehlten. Tatsächlich entdeckten wir in Holzregalen die gewichtige Reihe von Büchern, auf dem Arbeitstisch ein Tintenfaß, über dem eine Büste von Balzac meditierte, und an den Wänden einige Familienbilder sowie die mit einem Autogramm versehene Fotografie von George Moore. Ich schlüpfte in meine Brille und unterzog die verstaubten Bände einer sachlichen Untersuchung. Wie zu erwarten fanden sich dort die gelben Rücken des Mercure de France, dessen große Zeit vergangen war; die erlesensten symbolistischen Werke der Jahrhundertwende sowie einige Bände der Burton-Übersetzung von Tausendundeine Nacht, das Heptameron der Königin Margarethe, der Conde Lucanor, das Buch von Kalila und Dimna und Grimms Märchen. Auch Aesops Fabeln, von Nierenstein eigenhändig mit Anmerkungen versehen, entgingen nicht meiner Aufmerksamkeit.

Medeiro erlaubte mir, die Schubladen des Arbeitstisches zu untersuchen. Dieser Arbeit widmete ich zwei Nachmittage. Ich will nicht viele Worte über die Manuskripte machen, die ich transkribierte, da ja die Edition Probeta sie endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Das ländliche Idyll von Golosa und Polichinelle, die Wechselfälle von Moscarda und die Leiden des Doktor Ox auf der Suche nach dem Stein der Weisen sind längst und hinfort unveräußerlicher Bestandteil des lebendigsten corpus der rioplatensischen Literatur, wenn auch irgendein Aristarch Einwände gegen die Pretiosität des Stils und die Überfülle der Akrostichen und Abschweifungen erhoben hat. Diese kleinen, kurzen Werke können jedoch trotz aller Tugenden, die die überaus anspruchsvolle Kritik der Illustrierten Marcha ihnen zusprach, nicht das magnum opus darstellen, dem unsere Wißbegier galt.

Auf der letzten Seite ich weiß nicht welchen Buchs von Mallarmé stieß ich auf diese Randbemerkung von Nierenstein Souza:

»Es ist seltsam, daß Mallarmé, der sich so sehr nach dem Absoluten verzehrte, es im Unsichersten und Wechselhaftesten gesucht haben soll: in den Wörtern. Es ist allgemein bekannt, daß ihre Bedeutungen sich wandeln und daß die kostbarste Vokabel morgen trivial oder verwerflich sein kann.«

Ebenso konnte ich die drei aufeinander folgenden Fassungen des gleichen Alexandriners transkribieren. Als ersten Entwurf hatte Nierenstein geschrieben:

»Nur dem Gedächtnis leben und alles vergessen.«

In Die Brisen von Fray Bentos – in einer kaum mehr denn hausinternen Auflage erschienen – bevorzugte er die folgende Vision:

»Es hortet die Erinn’rung Stoff für das Vergessen.«

Der endgültige Text, der in der Anthologie von sechs lateinamerikanischen Dichtern erscheinen sollte, lautet:

»Depots errichtet das Gedächtnis dem Vergessen.«

Ein weiteres hilfreiches Beispiel liefert uns dieser Elfsilbler:

»Wir überdauern einzig im Verlor’nen.«

Im gedruckten Text wurde daraus:

»Im Fließen eingebettet überdauern.«

Auch der unaufmerksamste aller Leser wird bemerken, daß in beiden Fällen der veröffentlichte Text weniger gut ist als der Entwurf. Das Problem beschäftigte mich, es verging jedoch einige Zeit, ehe ich des Pudels Kern zu knacken vermochte.

Ein wenig enttäuscht machte ich mich auf die Heimfahrt. Was würde die Leitung von Última Hora sagen, die ja die Reise finanziert hatte? Die allzu anhängliche Gesellschaft von NN aus Fray Bentos, der meine Kabine teilte und mir einen unaufhörlichen Schwall größtenteils gemeiner und sogar schockierender Geschichten aufdrängte, trug sicherlich nicht dazu bei, mein Gemüt wieder aufzuheitern. Ich wollte an den Fall Nierenstein denken, aber der unermüdliche causeur gönnte mir nicht die kleinste Pause. Bis zum Morgengrauen beschränkte ich mich auf einige Kopfbewegungen, die zwischen Seekrankheit, Müdigkeit und Verdruß schwankten.

Die reaktionären Anfechter des modernen Unterbewußtseins werden nicht glauben mögen, daß mir die Lösung des Rätsels beim Erklimmen der Zolltreppe des Süd-Docks kam. Ich beglückwünschte NN wegen seines außergewöhnlichen Gedächtnisses und fragte ihn plötzlich:

»Woher nehmen Sie so viele Geschichten?«

Seine Antwort bestätigte meinen jähen Verdacht. Er sagte mir, alle oder fast alle habe Nierenstein ihm erzählt, und die übrigen habe er von Nicasio Medeiro, der ein großer Freund und Gesprächspartner des Verstorbenen gewesen sei. Er setzte hinzu, besonders nett an den Geschichten sei, daß Nierenstein sie miserabel erzählt habe und daß die Leute der Gegend sie verbessert hätten. Plötzlich war mir alles klar: der Eifer des Dichters, zu einer absoluten Literatur zu gelangen, seine skeptische Bemerkung über die Vergänglichkeit der Wörter, die fortschreitende Verschlechterung der Verse von einem Text zum nächsten und der zwiespältige Charakter der Bibliothek, die sowohl die erlesenen Kostbarkeiten des Symbolismus als auch Sammlungen von Erzählungen barg. Diese Geschichte sollte uns nicht verblüffen; Nierenstein nahm jene Tradition wieder auf, die sich seit Homer und bis zu den Küchenmägden und den Clubs darin gefällt, Ereignisse zu erfinden und von ihnen zu vernehmen. Er erzählte seine Erfindungen schlecht, denn er wußte, daß die Zeit sie aufpolieren würde, wenn sie der Mühe wert waren, wie die Zeit es schon mit der Odyssee und Tausendundeiner Nacht getan hatte. Wie die Literatur in ihren Anfängen beschränkte Nierenstein sich auf das Mündliche, denn er wußte sehr wohl, daß die Jahre schließlich alles niederschreiben würden.

Naturalismus à la mode

Nicht ohne eine gewisse Erleichterung stellen wir fest, daß die Polemik zwischen Deskriptionismus und Deskriptivismus nicht länger das Hauptthema der literarischen Beilagen und sonstiger Bulletins ist. Niemand darf füglich ignorieren – nach den tiefschürfenden Lektionen von Cipriano Cross (S. J.) –, daß erstere der obengenannten Vokabeln ihre angemessenste Anwendung im Bereich des Romans findet, wogegen die zweite sich auf eine ganze Reihe verschiedener Gebiete zu beschränken hat, zu denen natürlich auch die Lyrik, die darstellenden Künste und die Kritik zählen. Trotz allem dauert jedoch die Verwirrung an, und zur Empörung aller Wahrheitsliebenden wirft man Tag für Tag die Namen Bonavena und Urbas in einen Topf. Vielleicht in der Absicht, uns in unsinniger Weise zu erbauen, begehen andere eine weitere lächerliche Paarung: Hilario Lambkin – César Paladión. Wir wollen gern zugeben, daß solcherlei Verwirrungen auf gewissen äußerlichen Parallelen und terminologischen Ähnlichkeiten beruhen; trotz allem wird jedoch für den geeichten Leser eine Seite von Bonavena immer … eine Seite von Bonavena, und ein Produkt von Urbas immer … ein Produkt von Urbas sein. Männer der Feder, Fremdlinge fürwahr, haben die Behauptung abgesondert, es gebe eine deskriptivistische argentinische Schule; ohne eine andere Autorität als jene, die der ständige Dialog mit den Fackelträgern der angeblichen Schule unserer Bescheidenheit verleiht, halten wir hier fest, daß es sich nicht um eine organisierte Bewegung, noch weniger um einen geselligen Kreis handelt, sondern vielmehr um individuelle, konvergierende Initiativen.

Wir wollen zum Kern vorstoßen. Der erste Name, der uns auf der Schwelle dieser erregenden kleinen deskriptivistischen Welt die Hand reicht, ist, Sie werden es erraten haben, der von Lambkin Formento.

Das Schicksal von Hilario Lambkin Formento ist einigermaßen seltsam. In der Redaktion, zu der er seine Arbeiten brachte, die im allgemeinen kurz und für den durchschnittlichen Leser nicht sonderlich interessant waren, ordnete man ihn als objektiven Kritiker ein, das heißt als Menschen, der bei der Erfüllung seiner Aufgabe als Glossator jedes Lob und jeden Tadel ausspart. Seine »Notizchen«, die sich oft genug auf clichés des Umschlags oder Einbands der analysierten Bücher beschränkten, drangen mit der Zeit dazu vor, Format, Abmessung (in Zentimetern), spezifisches Gewicht, Typographie, Qualität der Druckfarbe sowie Porosität und Geruch des Papiers eingehend festzustellen. Von 1924 bis 1929 war Lambkin Formento, ohne dabei Lorbeeren nach Disteln anzuhäufen, Mitarbeiter der letzten Seiten der Annalen von Buenos Aires. Im November des letztgenannten Jahres gab er diese Tätigkeiten auf, um sich nun völlig einer kritischen Studie der Göttlichen Komödie zu widmen. Der Tod überraschte ihn sieben Jahre später, als er bereits jene drei Bände in Druck gegeben hatte, die der Sockel seines Ruhmes sein sollten – und sind –, und deren Titel Hölle, Fegefeuer und Paradies lauten. Nicht einmal die Öffentlichkeit, geschweige denn seine Kollegen nahmen es zur Kenntnis. Ein durch die Initialen H. B. D. geadelter Ordnungsruf war notwendig, um Buenos Aires, das sich die aufgeschreckten Lider rieb, aus seinem dogmatischen Schlummer zu wecken.

Nach der unendlich wahrscheinlichen Hypothese von H. B. D. hatte Lambkin Formento in der Laube des Chacabuco-Parks jene Kostbarkeit der Bibliographie des 17. Jahrhunderts durchgeblättert, Reisen kundiger Mannen. Dem vierten Buch ist folgendes zu entnehmen: