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Jorge Luis Borges folgen, auf seinem Weg durch die Weltliteratur - die Essaybände "Vorworte" und "Inquisitionen" machen es möglich: von Cervantes zu Franz Kafka, von Oscar Wilde zu Paul Valéry, von Herman Melville zu Emanuel Swedenborg. Um Traum, Zeit und Sprache kreisen seine Gedanken, und jedem Autor vermag er noch eine unerwartete Perspektive abzugewinnen.
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Seitenzahl: 589
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Über das Buch
Jorge Luis Borges folgen, auf seinem Weg durch die Weltliteratur - die Essaybände "Vorworte" und "Inquisitionen" machen es möglich: von Cervantes zu Franz Kafka, von Oscar Wilde zu Paul Valéry, von Herman Melville zu Emanuel Swedenborg. Um Traum, Zeit und Sprache kreisen seine Gedanken, und jedem Autor vermag er noch eine unerwartete Perspektive abzugewinnen.
Jorge Luis Borges
Der Essays dritter Teil
Inquisitionen
Vorworte
Übersetzt von Karl August Horst und Gisbert Haefs
Carl Hanser Verlag
Inhalt
Inquisitionen
Die Mauer und die Bücher
Die Sphäre Pascals
Coleridges Blume
Coleridges Traum
Die Zeit und J. W Dunne
Die Schöpfung und P. H. Gosse
Doktor Américo Castros Besorgnisse
Unser armer Individualismus
Quevedo
Magische Einschübe im Quijote
Nathaniel Hawthorne
Valéry als Symbol
Das Rätsel Edward Fitzgerald
Über Oscar Wilde
Über Chesterton
Der frühe Wells
Der Biathanatos
Pascal
Die analytische Sprache von John Wilkins
Kafka und seine Vorläufer
Vom Bücherkult
Die Nachtigall von Keats
Der Rätselspiegel
Zwei Bücher
Anmerkung zum 23. August 1944
Über den Vathek von William Beckford
Über The Purple Land
Von Jemand zu Niemand
Formen einer Legende
Von der Allegorie zum Roman*
Anmerkung zu (gen) Bernard Shaw
Geschichte der Echos eines Namens
Die Schamhaftigkeit der Geschichte
Neue Widerlegung der Zeit
Über die Klassiker*
Epilog*
Prólogos / Vorworte
Vorwort der Vorworte*
Prosa und Lyrik von Almafuerte*
Hilario Ascásubi: Paulino Lucero. Aniceto el Gallo. Santos Vega*
Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung*
Ray Bradbury: Mars-Chroniken*
Estanislao del Campo: Fausto*
Thomas Carlyle: Sartor Resartus*
Thomas Carlyle: Über Helden. Ralph Waldo Emerson: Repräsentative Männer*
Evaristo Carriego: Gedichte*
Miguel de Cervantes: Exemplarische Novellen*
Wilkie Collins: Der Monddiamant*
Santiago Dabove: Der Tod und seine Tracht*
Macedonio Fernández (Auswahl)*
El gaucho*
Alberto Gerchunoff: Rückkehr zu Don Quijote*
Edward Gibbon: Aus Geschichte und Autobiographie*
Roberto Godel: Geburt des Feuers*
Carlos M. Grünberg: Dichtung des Judenviertels*
Francis Bret Harte: Kalifornische Skizzen*
Pedro Henríquez Ureña: Das kritische Werk*
José Hernández: Martín Fierro*
Henry James: The Abasement of the Northmores*
Franz Kafka: Die Verwandlung*
Nora Lange: Die Straße am Abend*
Lewis Carroll: Werke*
El matrero*
Herman Melville: Bartleby*
Francisco de Quevedo: Prosa und Gedichte*
Attilio Rossi: Buenos Aires, in Tusche*
Domingo F. Sarmiento: Erinnerungen an die Provinz*
Domingo F. Sarmiento: Facundo*
Marcel Schwob: Der Kinderkreuzzug*
William Shakespeare: Macbeth*
William Shand: Gärung*
Olaf Stapledon: Der Sternenmacher*
Emanuel Swedenborg: Mystische Werke*
Paul Valéry: Le Cimetière Marin*
Marla Esther Vázquez: Die Namen des Todes*
Walt Whitman: Grashalme*
Anhang
Editorische Notiz
Anmerkungen
* übersetzt von Gisbert Haefs, alle anderen Übersetzungen von Karl August Horst und Gisbert Haefs
Inquisitionen
Für Margot Guerrero
Die Mauer und die Bücher
»He, whose long wall the wand’ring Tartar bounds …«
Dunciad, II, 76
Ich las vor einigen Tagen, daß der Mann, der den Bau der nahezu unendlichen Chinesischen Mauer anordnete, jener erste Kaiser war, Schih Huang Ti, der ebenso alle Bücher verbrennen ließ, die vor ihm da waren. Daß die beiden weitreichenden Operationen – die zweieinhalb- bis dreitausend Kilometer aus Stein zur Abwehr der Barbaren, die rücksichtslose Beseitigung der Geschichte, das heißt der Vergangenheit – von einer Person ausgingen und irgendwie deren Attribute waren, befriedigte mich auf unerklärliche Weise und beunruhigte mich zugleich. Die Gründe dieser Gefühlsregung zu erforschen, ist Aufgabe dieser Notiz.
Geschichtlich betrachtet ist an den beiden Maßnahmen nichts Geheimnisvolles. Zur Zeit der Kriege Hannibals brachte Schih Huang Ti, König von Tsin, die Sechs Königreiche unter seine Herrschaft und merzte das Feudalsystem aus; er errichtete die Mauer, weil die Mauern Verteidigungsanlagen waren; er verbrannte die Bücher, weil die Opposition sich auf sie berief, um die alten Kaiser zu rühmen. Bücher verbrennen und Befestigungen bauen ist allgemein Aufgabe von Herrschern; das einzig Merkwürdige an Schih Huang Ti ist das Ausmaß seines Wirkens. Zu dieser Ansicht neigen einige Sinologen, ich glaube aber, daß die Tatsachen, die ich berichtet habe, ein wenig mehr sind als eine Übertreibung oder Hyperbel von Allerweltsverfügungen. Einen Obsthain oder einen Garten einzäunen ist gewöhnlich; nicht aber die Einzäunung eines Kaiserreichs. Auch ist es kein kleines Stück sich vorzunehmen, daß die traditionsgebundenste aller Rassen auf die Erinnerung an ihre Vergangenheit, die mythische wie die faktische, verzichte. Dreitausend Jahre Chronologie besaßen die Chinesen (und im Laufe dieser Jahre den Gelben Kaiser, Tschuang-Tsu, Konfuzius und Laotse), als Schih Huang Ti befahl, daß die Geschichte bei ihm beginne.
Schih Huang Ti hatte seine Mutter wegen Ausschweifung verbannt; in seinem harten Urteil erblickten die Orthodoxen nichts anderes als Pietätlosigkeit; vielleicht wollte Schih Huang Ti die kanonischen Bücher ausmerzen, weil diese ihn anklagten; vielleicht wollte Schih Huang Ti die gesamte Vergangenheit auslöschen, um eine einzige Erinnerung auszulöschen: die an die Schmach seiner Mutter. (Nicht anders ließ in Judäa ein König sämtliche Kinder töten, um eines zu töten.) Diese Mutmaßung ist bedenkenswert, doch verrät sie uns nichts über die Mauer, über die andere Seite des Mythos. Schih Huang Ti, den Geschichtsschreibern zufolge, untersagte die Erwähnung des Todes und suchte nach dem Elixier der Unsterblichkeit und schloß sich in einem symbolhaften Palast ein, der aus so vielen Gemächern bestand, wie das Jahr Tage hat; diese Daten suggerieren, daß die Mauer im Raum und der Brand in der Zeit magische Schranken waren, die den Tod aufhalten sollten. Alle Dinge wollen in ihrem Sein beharren, schrieb Baruch Spinoza; vielleicht glaubten der Kaiser und seine Magier, daß die Unsterblichkeit uns innewohnt, und daß der Verfall nicht in einen geschlossenen Kreis eindringen kann. Vielleicht wollte der Kaiser den Anfang der Zeit wiedererschaffen und nannte sich der Erste, um wirklich erster zu sein, und nannte sich Huang Ti, um irgendwie Huang Ti zu sein, der sagenhafte Kaiser, der die Schrift und den Kompaß erfand. Dieser gab dem Buch der Riten zufolge den Dingen ihren echten Namen; gleicherweise rühmte sich Schih Huang Ti in erhaltenen Inschriften, daß alle Dinge unter seiner Herrschaft den Namen erhalten hätten, der ihnen zukomme. Er träumte von der Begründung einer unsterblichen Dynastie; er ordnete an, daß seine Erben sich Zweiter Kaiser, Dritter Kaiser, Vierter Kaiser nennen sollten, und so bis ins Unendliche … Ich habe von einem magischen Vorsatz gesprochen; man könnte auch annehmen, daß die Errichtung der Mauer und die Verbrennung der Bücher keine gleichzeitigen Handlungen waren. Das gäbe uns (je nach der Reihenfolge, für die wir uns entschieden) das Bild eines Königs, der mit dem Zerstören begann und sich dann mit dem Erhalten beschied, oder das eines enttäuschten Königs, der zerstörte, was er anfangs verteidigte. Beide Mutmaßungen sind dramatisch, entbehren jedoch, soviel ich weiß, der geschichtlichen Grundlage. Herbert Allen Giles berichtet, daß Personen, die Bücher versteckten, mit einem glühenden Eisen gezeichnet und dazu verurteilt wurden, bis zum Tage ihres Todes die maßlose Mauer zu bauen. Diese Mitteilung ermöglicht oder erlaubt eine andere Auslegung. Vielleicht war die Mauer eine Metapher, vielleicht verurteilte Schih Huang Ti die Verehrer der Vergangenheit zu einem Werk, das ebenso weit, so schwerfällig und so nutzlos war wie die Vergangenheit. Vielleicht war die Mauer eine Herausforderung, und Schih Huang Ti dachte: »Die Menschen lieben die Vergangenheit, und gegen diese Liebe vermag ich nichts, so wenig wie meine Henker, aber vielleicht wird es einmal einen Menschen geben, der so fühlt wie ich, und dieser wird meine Mauer zerstören, wie ich die Bücher zerstört habe, und dieser wird mein Andenken austilgen und wird mein Schatten und mein Spiegel sein und es nicht wissen.« Vielleicht ummauerte Schih Huang Ti das Reich, weil er wußte, daß das Reich zerstörbar war, und er zerstörte die Bücher auf Grund der Einsicht, daß es heilige Bücher seien oder Bücher, die lehren, was auch das gesamte All lehrt oder das Bewußtsein jedes Menschen. Vielleicht sind die Verbrennung der Bibliotheken und die Errichtung der Mauer Maßnahmen, die einander insgeheim aufheben.
Die trutzige Mauer, die in diesem Augenblick und in jedem Augenblick über Länder, die ich nicht sehen werde, ihr Schattensystem erstreckt, ist der Schatten eines Cäsaren, der anordnete, daß die ehrerbietigste unter allen Nationen ihre Vergangenheit verbrenne; wahrscheinlich berührt uns der Gedanke als solcher, abgesehen von den Mutmaßungen, die er erlaubt. (Seine Kraft mag in dem Gegensatz zwischen Errichten und Zerstören, in ihrem ungeheuren Ausmaß beruhen.) Indem wir diesen Fall verallgemeinern, könnten wir den Schluß ziehen, daß alle Formen ihre Kraft in sich selber tragen und nicht in einem mutmaßlichen »Inhalt«. Das stände in Einklang mit der These Benedetto Croces; schon Pater betonte im Jahre 1877, daß alle Künste den Zustand der Musik erstreben, die nichts als Form ist. Die Musik, die Zustände des Glücks, die Mythologie, die von der Zeit gewirkten Gesichter, gewisse Dämmerungen und gewisse Orte wollen uns etwas sagen oder haben uns etwas gesagt, was wir nicht hätten verlieren dürfen, oder schicken sich an, uns etwas zu sagen; dieses Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt, ist vielleicht der ästhetische Vorgang.
Buenos Aires, 1950
Die Sphäre Pascals
Vielleicht ist die Universalgeschichte die Geschichte einiger weniger Metaphern. Ein Kapitel dieser Geschichte zu skizzieren, ist das Ziel dieser Notiz.
Sechs Jahrhunderte vor der christlichen Ära geißelte der Rhapsode Xenophanes von Kolophon, überdrüssig der homerischen Verse, die er landauf landab in den Städten zu rezitieren pflegte, die Dichter, die den Göttern anthropomorphe Wesenszüge nachsagten, und schlug den Griechen einen einzigen Gott vor, der eine ewige Kugel war. In Platons Timaios steht zu lesen, daß die Kugel die vollkommenste und einheitlichste Figur ist, weil alle Punkte ihrer Oberfläche vom Mittelpunkt gleich weit entfernt sind; Olof Gigon (Ursprung der griechischen Philosophie, 183) nimmt an, Xenophanes sei von einer Analogie ausgegangen; der Gott war kugelförmig, weil diese Form die beste oder die am wenigsten schlechte ist, um die Gottheit vorzustellen. Parmenides griff vierzig Jahre später das Bild wieder auf (»das Sein ist gleich der Masse einer vollkommen abgerundeten Kugel, deren Kraft gleichbleibend ist, vom Zentrum in jede Richtung«). Calogero und Mondolfo meinen, ihm habe eine unendliche oder unendlich wachsende Kugel vorgeschwebt, und die Worte, die ich wiedergegeben habe, seien dynamisch aufzufassen (Albertelli: Gli Eleati, 148). Parmenides lehrte in Italien; wenige Jahre nach seinem Tod heckte der Sizilianer Empedokles von Agrigent eine aufwendige Kosmogonie aus; es gibt in ihr eine Phase, in welcher die Teilchen von Erde, Wasser, Luft und Feuer eine Kugel ohne Ende ergeben, »den runden Sphairos, der in seiner kreisförmigen Einsamkeit frohlockt«.
Die Universalgeschichte nahm ihren Verlauf, die allzumenschlichen Götter, die Xenophanes attackiert hatte, wurden herabgemindert zu poetischen Fiktionen oder zu Dämonen, doch hieß es, daß ein Gott, Hermes Trismegistos, eine unterschiedliche Menge Bücher diktiert habe (42 nach Clemens von Alexandria, 20000 nach Iamblichos, 36525 nach den Priestern des mit Hermes gleichbedeutenden Thot), auf deren Seiten alle Dinge verzeichnet standen. Fragmente dieser illusorischen Bibliothek, die vom dritten Jahrhundert an kompiliert oder ersonnen wurden, bilden das sogenannte Corpus Hermeticum; in einem dieser Fragmente oder im Asklepios, der gleichfalls Trismegistos zugeschrieben wurde, entdeckte der französische Theologe Alain de Lille – Alanus ab Insulis – gegen Ende des 12. Jahrhunderts die nachstehende Formel, die künftige Jahrhunderte nicht vergessen würden: »Gott ist eine intelligible Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis nirgendwo ist.« Die Vorsokratiker sprachen von einer Kugel ohne Ende, Albertelli (wie zuvor Aristoteles) meint, so reden heiße, eine contradictio in adjecto begehen, weil Subjekt und Prädikat einander aufheben; das mag stimmen, aber die Formel der hermetischen Bücher läßt uns diese Sphäre nahezu schauen. Im 13. Jahrhundert tauchte das Bild im allegorischen Roman de la Rose wieder auf, in dem es Platon zugeschrieben wird, und in der Enzyklopädie Speculum Triplex; im 16. Jahrhundert verwies das letzte Kapitel im letzten Buch des Pantagruel auf »jene geistige Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis nirgendwo ist, die wir Gott nennen«. Für den mittelalterlichen Geist war der Sinn klar: Gott ist in jedem seiner Geschöpfe, aber keines beschränkt Ihn. »Der Himmel und aller Himmel Himmel fassen dich nicht«, sagte Salomon (1 Könige 8:27); die geometrische Kugelmetapher mußte wie eine Glossierung dieser Worte anmuten.
Dantes Gedicht hat die ptolemäische Astronomie bewahrt, die vierzehnhundert Jahre lang die Vorstellung der Menschen beherrschte. Die Erde nimmt den Mittelpunkt des Universums ein. Sie ist eine unbewegliche Kugel; um sie kreisen neun konzentrische Sphären. Die ersten sieben sind die Planetenhimmel (Himmel des Mondes, des Merkur, der Venus, der Sonne, des Mars, des Jupiter, des Saturn); die achte ist der Fixsternhimmel; die neunte der Kristallhimmel, auch Primum Mobile genannt. Diesen umgibt das Empyreum, das aus Licht geschaffen ist. Dieser ganze schwerfällige Apparat hohler, transparenter und kreisender Sphären (ein bestimmtes System kam auf deren fünfundfünfzig) war schließlich zu einer geistigen Notwendigkeit geworden; De hypothesibus motuum coelestium commentariolus ist der schüchterne Titel, den Kopernikus, der Aristotelesleugner, dem Manuskript gab, das unsere Vision des Kosmos verwandelt hat. Für einen Mann, für Giordano Bruno, war die Zertrümmerung der Sterngewölbe eine Befreiung. Er verkündete in der Cena delle ceneri, daß die Welt die unendliche Wirkung einer unendlichen Ursache und daß die Gottheit nahe ist, »denn sie ist mehr in uns, als wir selber in uns sind«. Er suchte Worte, um den Menschen den kopernikanischen Raum zu erklären, und prägte auf einer berühmten Seite den Satz: »Wir können mit Gewißheit behaupten, daß das Universum ganz Mittelpunkt ist, oder daß der Mittelpunkt des Universums überall und der Umkreis nirgendwo ist« (De la causa, principio de uno, V).
Dies wurde frohlockend niedergeschrieben im Jahre 1584, noch immer im Licht der Renaissance; siebzig Jahre später war von dieser Inbrunst kein Widerschein mehr übrig, und die Menschen fühlten sich verloren in Zeit und Raum. In der Zeit, weil, sofern die Zukunft und die Vergangenheit unendlich sind, es ein Wann nicht wirklich geben kann; im Raum, weil, sofern alles vom Unendlichen und Infinitesimalen gleich weit entfernt ist, es ebensowenig ein Wo geben kann. Keiner befindet sich an einem bestimmten Tag, an einem bestimmten Ort; keiner kennt den Umfang seines Gesichts. In der Renaissance glaubte die Menschheit, das Mannesalter erreicht zu haben, und dies erklärte sie durch den Mund Brunos, Campanellas, Bacons. Im 17. Jahrhundert entmutigte sie ein Gefühl von Alter; zu ihrer Rechtfertigung grub sie den Glauben an einen langsamen und schicksalhaften Niedergang aller Geschöpfe aus, den Adam durch seine Sünde verschuldet habe. (Im fünften Kapitel der Genesis heißt es, daß »Methusalems ganzes Alter neunhundertneunundsiebzig Jahre war«, im sechsten, daß es »in jener Zeit auf der Erde Riesen gab«.) Das erste Anniversarium der Elegie »Anatomy of the World« von John Donne beklagte das ach so kurze Leben und die winzige Gestalt der Menschen seiner Zeit, die wie die Feen und Pygmäen sind; Milton fürchtete der Biographie von Johnson zufolge, daß die epische Gattung auf Erden schon nicht mehr möglich sei; Glanvill war der Ansicht, daß Adam, »Medaille Gottes«, sich einer teleskopischen und einer mikroskopischen Schau erfreute; Robert South schrieb den berühmten Satz: »Ein Aristoteles war nicht mehr als Adams Schlacke, und Athen die Überreste des Paradieses.« In diesem verzagten Jahrhundert wurde der absolute Raum, der die Hexameter des Lukrez inspiriert hatte, der absolute Raum, der für Bruno eine Befreiung gewesen war, ein Labyrinth und ein Abgrund für Pascal. Dieser verabscheute das Universum und hätte gern Gott angebetet, aber Gott war für ihn weniger wirklich als das verabscheute Universum. Er bejammerte das Schweigen des Firmaments, er verglich unser Leben mit dem von Schiffbrüchigen auf einer öden Insel. Er empfand die unaufhörliche Last der physischen Welt, er empfand Schwindel, Furcht und Einsamkeit und drückte sie mit anderen Worten aus: »Die Natur ist eine unendliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis nirgendwo ist.« So publiziert Brunschvicq den Text, dagegen läßt die kritische Ausgabe von Tourneur (Paris, 1941), die die Tilgungen und Schwankungen des Manuskripts verzeichnet, erkennen, daß Pascal zuerst »effroyable« geschrieben hatte: »Eine furchtbare Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis nirgendwo ist.«
Vielleicht ist die Universalgeschichte die Geschichte der unterschiedlichen Betonung einiger weniger Metaphern.
Buenos Aires, 1951
Coleridges Blume
Um 1938 schrieb Paul Valéry: »Die Literaturgeschichte sollte nicht die Geschichte der Autoren sein und der Zufälle ihrer Karrieren oder der Karriere ihrer Werke, sondern die Geschichte des Geistes als Literaturproduzent oder -konsument. Diese Geschichte könnte ohne die Erwähnung eines einzigen Schriftstellers auskommen.« Es war nicht das erste Mal, daß der Geist diesen Gedanken formulierte; ein anderer seiner Sekretäre hatte 1844 im Dorf Concord notiert: »Man könnte sagen, eine einzige Person habe alle Bücher der Welt verfaßt; sie sind in ihrem Wesen derart einheitlich, daß sie unleugbar das Werk eines einzigen allwissenden Gentleman sind« (Emerson, Essays, 2, VIII). Zwanzig Jahre vorher hatte Shelley verkündet, alle Gedichte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seien Episoden oder Fragmente eines einzigen unendlichen Gedichts, erarbeitet von allen Dichtern der Welt (A Defence of Poetry, 1821).
Diese Betrachtungen (die selbstverständlich im Pantheismus enthalten sind) würden ein endloses Streitgespräch erlauben; ich zitiere sie hier, um ein bescheidenes Vorhaben auszuführen: die Entwicklungsgeschichte einer Idee in den unterschiedlichen Texten dreier Autoren. Der erste Text ist eine Notiz von Coleridge; ich weiß nicht, ob er sie Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts niedergeschrieben hat. Sie lautet wörtlich:
»Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, daß er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand – was dann?«
Ich weiß nicht, was mein Leser von dieser Vorstellung halten wird; ich finde sie vollkommen. Sie als Basis für weitere glückliche Erfindungen zu benutzen, erscheint zunächst unmöglich; sie hat die Unversehrbarkeit und Geschlossenheit eines terminus ad quem, einer Zielmarke. Natürlich ist sie das; wie bei allem anderen gibt es im Bereich der Literatur keinen Akt, der nicht Krönung einer unendlichen Reihe von Ursachen und Ursprung einer unendlichen Reihe von Wirkungen wäre. Hinter Coleridges Erfindung steht die bekannte und uralte Erfindung der Generationen von Verliebten, die als Unterpfand der Liebe eine Blume erbaten.
Der zweite Text, den ich anführen will, ist ein Roman, den Wells 1887 entwarf und sieben Jahre später umschrieb, im Sommer 1894. Die erste Fassung hatten den Titel The Chronic Argonauts (in diesem verworfenen Titel hat »chronic« den etymologischen Wert von »zeitlich«); der endgültige Titel lautete The Time Machine. Wells setzt in diesem Roman eine uralte literarische Tradition fort und reformiert sie: die Voraussicht künftiger Ereignisse. Jesaja sieht die Verwüstung Babylons und die Wiederherstellung Israels; Aeneas das kriegerische Geschick seiner Nachkommen, der Römer; die Prophetin der Edda Saemundi die Wiederkehr der Götter, die nach der zyklischen Schlacht, in der unsere Erde untergehen wird, im Gras einer neuen Wiese die Schachfiguren entdecken, mit denen sie vordem gespielt haben … Im Unterschied zu solchen prophetischen Betrachtern reist der Protagonist von Wells physisch in die Zukunft. Erschöpft, staubbedeckt und mißhandelt kehrt er zurück; er kehrt zurück von einer fernen Menschheit, die sich in miteinander verfeindete Spezies gespalten hat (die müßigen eloi, die in zerfallenen Palästen und verwilderten Gärten hausen, und die unterirdischen und nachtgesichtigen morlocks, die sich von ersteren ernähren); er kehrt zurück mit weiß gewordenen Schläfen und bringt aus der Zukunft eine verwelkte Blume mit. Das ist die zweite Version von Coleridges Bild. Unglaublicher als eine himmlische Blume oder eine Traumblume ist die künftige Blume, die widerspruchsvolle Blume, deren Atome heute noch an anderen Orten sind und sich nicht zusammengeschlossen haben.
Die dritte Version, die ich kommentieren will, die ausgefeilteste, ist die Erfindung eines Schriftstellers, der weit komplexer ist als Wells, wiewohl weniger begabt mit jenen erfreulichen Eigenschaften, die man klassisch zu nennen pflegt. Ich spreche von dem Verfasser der Ambassadors, dem tristen und labyrinthischen Henry James. Dieser hinterließ bei seinem Tod einen unvollendeten Roman phantastischer Natur, The Sense of the Past, der eine Variante oder Erweiterung von The Time Machine ist.1 Der Protagonist von Wells benutzt für seine Reise in die Zukunft ein unvorstellbares Fahrzeug, das sich in der Zeit voran und zurück bewegt wie gewöhnliche Fahrzeuge im Raum; der von James begibt sich zurück in die Vergangenheit, ins 18. Jahrhundert, kraft seiner innigen Einfühlung in dieses Zeitalter. (Beide Verfahren sind unmöglich, aber das von James ist weniger willkürlich.) In The Sense of the Past ist das Bindeglied zwischen dem Realen und dem Vorgestellten (zwischen Gegenwart und Vergangenheit) keine Blume wie in den vorausgehenden Fiktionen; es ist ein Porträt aus dem 18. Jahrhundert, das mysteriöserweise den Protagonisten darstellt. Vom Bild fasziniert gelingt es ihm, sich an den Zeitpunkt zu versetzen, an dem es gemalt wurde. Unter den Personen, denen er begegnet, ist zwangsläufig der Maler; dieser malt ihn mit Furcht und Widerstreben, da er etwas Unheimliches und Anomales in diesen künftigen Gesichtszügen wahrnimmt … James erschafft so einen unvergleichlichen regressus in infinitum, indem sein Held, Ralph Pendrel, sich ins 18. Jahrhundert versetzt. Die Ursache ist später als die Wirkung, das Motiv der Reise ist eine der Folgen der Reise.
Wells kannte den Text von Coleridge wahrscheinlich nicht; Henry James kannte und bewunderte den Text von Wells. Selbstverständlich sind solche Tatsachen ohne Bedeutung, wenn die Lehre gilt, daß alle Autoren ein einziger Autor seien.2 Aber man braucht gar nicht so weit zu gehen; der Pantheist, der behauptet, die Pluralität der Autoren sei illusorisch, findet unerwartete Unterstützung beim Klassizisten, demzufolge diese Pluralität kaum ins Gewicht fällt. Für klassische Geister ist die Literatur das Wesentliche, nicht die Individuen. George Moore und James Joyce haben in ihre Werke Seiten und Sätze von anderen eingeschaltet; Oscar Wilde pflegte Plots zu verschenken, damit andere sie ausführten; beide Verhaltensweisen, wenn auch an der Oberfläche widersprüchlich, können die gleiche Auffassung von Kunst belegen. Eine ökumenische, unpersönliche Auffassung … Ein anderer Zeuge für die tiefe Einheit des Worts, ein anderer Leugner der Begrenztheit des Subjekts, ist der berühmte Ben Jonson, der sich bei Abfassung seines literarischen Testaments und der zustimmenden oder ablehnenden Urteile, die seine Zeitgenossen ihm wert waren, mit der Zusammenstellung von Fragmenten aus Senecas, Quintilians, Justus Lipsius, Vives, Erasmus, Machiavelli, Bacon und den beiden Scaliger begnügte.
Eine letzte Bemerkung. Angenommen, jemand kopiert einen Schriftsteller Wort für Wort, so tut er es unpersönlich, so tut er es, weil er diesen Schriftsteller mit der Literatur verwechselt, so tut er es, weil er argwöhnt, daß von ihm auch nur in einem Jota abzuweichen soviel bedeute wie von der Vernunft und der Orthodoxie abzuweichen. Viele Jahre lang glaubte ich, die nahezu unendliche Literatur sei in einem einzigen Menschen versammelt. Dieser Mensch war Carlyle, war Johannes Becher, war Whitman, war Rafael Cansinos-Assens, war De Quincey.
__________
1 Ich habe The Sense of the Past nicht gelesen, kenne aber die eingehende Analyse von Stephen Spender in dessen Werk The Destructive Element (S, 105-110). James war mit Wells befreundet; über ihr Verhältnis kann man dessen weitläufiges Experiment in Autobiography konsultieren.
2 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts sagte der Epigrammatiker des Pantheismus, Angelus Silesius:Die Heiligen alle sind ein Heiliger allein.Doch muß ein jeder Christ derselbe Christus sein.(Cherubinischer Wandersmann, V. 7 und 9.)
Coleridges Traum
Das lyrische Fragment Kubla Khan (rund fünfzig gereimte und unregelmäßige Verse von erlesener Prosodie) wurde von dem englischen Dichter Samuel Taylor Coleridge geträumt, an einem Tag im Sommer 1797. Coleridge schreibt, daß er sich auf ein Gut am Rande des Exmoor zurückgezogen hatte; eine Unpäßlichkeit nötigte ihn, ein Schlafmittel zu nehmen; der Schlaf überkam ihn kurz nach der Lektüre einer Stelle von Purchas, der von der Erbauung eines Palastes durch Kublai Khan berichtet, jenen Kaiser, dessen Ruf im Abendland Marco Polo begründet hat. In Coleridges Traum begann der beiläufig gelesene Text zu keimen und vielfältig aufzublühen; der Schläfer erfuhr eine Reihe visueller Bilder und, ganz einfach, Wörter, die sie manifestierten; nach ein paar Stunden erwachte er mit der Gewißheit, ein Gedicht von etwa dreihundert Versen geschaffen oder empfangen zu haben. Er erinnerte sich ihrer mit einzigartiger Deutlichkeit und konnte das Fragment niederschreiben, das in seinen Werken überdauert. Ein unvermuteter Besuch unterbrach ihn, und danach war es ihm unmöglich, sich an den Rest zu erinnern. »Ich entdeckte«, erzählt Coleridge, »zu meiner nicht geringen Überraschung und Betrübnis, daß, mochte ich auch auf unbestimmte Art den allgemeinen Umriß der Vision behalten haben, alles übrige, abgesehen von acht bis zehn einzelnen Zeilen, entschwunden war wie die Bilder an der Oberfläche eines Flusses, in den man einen Stein wirft, aber ach, ohne daß jene sich späterhin wieder einfanden.« Swinburne empfand das erhaltene Fragment als das höchste Beispiel englischer Sprachmusik; jemand, der imstande sei, es zu analysieren, könnte auch (die Metapher stammt von John Keats) einen Regenbogen zerlegen. Übertragungen oder Résumés von Gedichten, deren Haupttugend die Musik ist, sind vergeblich und können verhängnisvoll sein; begnügen wir uns zunächst mit der Tatsache, daß Coleridge in einem Traum eine Seite von unbestreitbarem Glanz geschenkt wurde.
Der Fall, wiewohl außergewöhnlich, ist nicht einzig. In der psychologischen Studie The World of Dream hat Havelock Ellis ihn mit dem des Geigers und Komponisten Giuseppe Tartini verglichen, der träumte, daß der Teufel (sein Diener) auf der Geige eine wunderbare Sonate spielte; nachdem er aufgewacht war, leitete der Träumer aus seiner unvollkommenen Erinnerung den Trillo del Diavolo ab. Ein anderes klassisches Beispiel unbewußter Hirntätigkeit ist das von Robert Louis Stevenson, dem ein Traum (wie er selber in seinem Chapter on Dreams berichtet hat) den Plot von Olalla eingab und ein anderer, 1884, den von Jekyll and Hyde. Tartini wollte im Wachen die Musik eines Traums nachspielen; Stevenson bezog aus dem Traum Themen, das heißt allgemeine Formen; der wörtlichen Inspiration Coleridges steht jene näher, die Beda Venerabilis dem Caedmon zuschreibt (Historia ecclesiastica gentis Anglorum, IV, 24). Der Fall ereignete sich gegen Ende des 7. Jahrhunderts im missionarischen und kämpferischen England der angelsächsischen Königreiche. Caedmon war ein grober Hirte und nicht mehr jung; in einer Nacht stahl er sich von einem Festmahl fort, weil er damit rechnete, daß man ihm die Harfe reichen würde, und er wußte, daß er nicht singen konnte. Er legte sich im Stall nieder, bei den Pferden, und im Traum rief ihn jemand beim Namen und befahl ihm zu singen. Caedmon antwortete, er könne nicht, aber der andere sagte: »Sing den Anfang der Schöpfung.« Daraufhin sagte Caedmon Verse, die er nie gehört hatte. Er vergaß sie beim Aufwachen nicht und konnte sie vor den Mönchen des nahen Klosters Hild wiederholen. Lesen lernte er nicht, aber die Mönche erklärten ihm Stellen aus der Heiligen Schrift, und er »käute sie wieder wie ein reines Tier und verwandelte sie in Verse von größter Lieblichkeit und sang so die Erschaffung der Welt und des Menschen und die ganze Geschichte der Genesis und den Auszug der Kinder Israels und ihren Einzug ins Gelobte Land und viele andere Dinge der Schrift, und die Menschwerdung, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn und die Ausgießung des Heiligen Geistes und die Lehrtätigkeit der Apostel, und auch den Schrecken des Jüngsten Gerichts, das Grauen der Höllenstrafen, die Wonnen des Himmels und die Gnaden und Richtersprüche Gottes«. Er war der erste heilige Dichter des englischen Volkes; »niemand kam ihm gleich«, sagt Beda, »weil er nicht von den Menschen lernte, sondern von Gott«. Jahre später weissagte er die Stunde seines Todes und erwartete sie schlafend. Hoffen wir, daß er seinem Engel wiederbegegnet ist.
Auf den ersten Blick läuft der Traum Coleridges Gefahr, minder erstaunlich zu wirken als der seines Vorgängers. Kubla Khan ist eine großartige Dichtung, und die neun Zeilen des von Caedmon geträumten Hymnus zeichnen sich durch kaum etwas anderes aus als ihre Traumherkunft, aber Coleridge war bereits ein Dichter, während Caedmon eine Berufung geoffenbart wurde. Es gibt aber eine weitere Tatsache, die das Wunder des Traums, in dem Kubla Khan hervorgebracht wurde, bis zur Unergründlichkeit vergrößert. Wenn diese Tatsache zutrifft, dann ist die Geschichte vom Traum Coleridges um Jahrhunderte älter als Coleridge und hat ihr Ende noch nicht erreicht.
Der Dichter träumte im Jahr 1797 (andere sagen im Jahr 1798) und veröffentlichte die Mitteilung seines Traums im Jahr 1816 als Glosse oder Rechtfertigung des unvollendeten Gedichts. Zwanzig Jahre danach erschien in Paris als Fragment die erste abendländische Fassung einer jener Universalgeschichten, an denen die persische Literatur so reich ist, die Geschichtensammlung von Rashid-ed-Din, die aus dem 14. Jahrhundert stammt. Auf einer Seite ist zu lesen: »Im Osten von Shang-tu errichtete Kublaí Khan einen Palast nach einem Plan, den er in einem Traum geschaut und im Gedächtnis behalten hatte.« Der das schrieb, war der Wesir von Ghazan Mahmud, einem Nachkommen Kublaís.
Ein mongolischer Kaiser träumt im 13. Jahrhundert einen Palast und erbaut ihn nach dem Vorbild seiner Schau; im 18. Jahrhundert träumt ein englischer Dichter, der nicht wissen konnte, daß dieses Bauwerk sich aus einem Traum herleitete, ein Gedicht über den Palast. Verglichen mit dieser Symmetrie, die mit den Seelen schlafender Menschen arbeitet und Kontinente und Jahrhunderte umfaßt, sind, wie mir scheint, die Levitationen, Auferstehungen und Erscheinungen der Erbauungsbücher nichts oder sehr wenig.
Welche Erklärung sollen wir vorziehen? Wer das Übernatürliche von vornherein ausschließt (ich versuche immer, diesem Gremium anzugehören), wird behaupten, die Geschichte von den beiden Träumen sei ein Zusammentreffen, eine vom Zufall entworfene Zeichnung, so wie die Umrisse von Löwe oder Pferd, die manchmal Wolken ergeben. Andere werden argumentieren, daß der Dichter irgendwie vom Palasttraum des Kaisers wußte und dann behauptete, er habe das Gedicht geträumt, um eine glänzende Fiktion zu erschaffen, die gleichzeitig das Unvollständig-Rhapsodische der Verse mildern oder rechtfertigen sollte.3 Diese Vermutung ist wahrscheinlich, aber sie nötigt uns, willkürlich einen von den Sinologen bisher nicht identifizierten Text zu postulieren, in dem Coleridge vor 1816 den Traum von Kublaí hätte lesen können.4 Verlockender sind die Hypothesen, die über das Rationale hinausgehen. So könnte man beispielsweise annehmen, daß die Seele des Kaisers, nachdem der Palast zerstört war, in die Seele Coleridges eindrang, damit dieser ihn wiederaufbaue in Worten, dauerhafter als Marmor und Metalle.
Der erste Traum fügte der Wirklichkeit einen Palast hinzu; der zweite, der sich fünf Jahrhunderte später ereignete, ein Gedicht (oder den Anfang eines Gedichts), das von dem Palast angeregt war; die Ähnlichkeit der Träume deutet auf einen Plan; die ungeheure Zeitspanne verrät einen übermenschlichen Urheber. Das Vorhaben dieses Unsterblichen oder Langlebigen ergründen zu wollen, wäre vielleicht nicht minder kühn als unnütz, doch darf man vermuten, daß er mit ihm nicht zu Ende kam. 1691 stellte Pater Gerbillon von der Gesellschaft Jesu fest, daß von Kublaí Khans Palast nur Trümmer übrig waren; von dem Gedicht wissen wir, daß knapp fünfzig Verse gerettet werden konnten. Derlei Tatsachen lassen die Vermutung zu, daß die Folge der Träume und der Arbeiten ihr Ende noch nicht erreicht hat. Dem ersten Träumer wurde in der Nacht die Schau des Palastes geschenkt, und er erbaute ihn; dem zweiten, der von dem Traum des Früheren nicht wußte, das Gedicht über den Palast. Wenn es bei dem Schema bleibt, wird vielleicht jemand in einer Nacht, von der wir durch Jahrhunderte getrennt sind, den gleichen Traum träumen und nicht ahnen, daß andere ihn geträumt haben, und er wird ihm die Form von Marmor oder Musik geben. Vielleicht wird die Traumreihe nie zu Ende sein, vielleicht ist der Schlüssel zu ihr im letzten Traum.
Nachdem ich das Voranstehende geschrieben habe, sehe ich eine andere Erklärung oder glaube sie zu sehen. Vielleicht ist ein Archetyp, der den Menschen noch nicht offenbart wurde, ein ewiger Gegenstand (um Whiteheads Nomenklatur zu verwenden) auf dem Wege, allmählich in unsere Welt einzutreten; seine erste Manifestation war der Palast, die zweite das Gedicht. Wer sie verglichen hätte, der hätte gesehen, daß sie im wesentlichen gleich waren.
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3 Anfang des 19. oder Ende des 18. Jahrhunderts war für Leser klassischen Geschmacks Kubla Khan viel unerhörter als heute. 1884 konnte Coleridges erster Biograph, Traill, noch schreiben: »Das extravagante Traumgedicht Kubla Khan ist wenig mehr als eine psychologische Kuriosität.«
4Siehe John Livingston Lowes: The Road to Xanadu, 1927, S. 358, 585.
Die Zeit und J. W. Dunne
In Nummer 63 von ›Sur‹ (Dezember 1939) habe ich eine Vorgeschichte, eine erste rudimentäre Geschichte des regressus ad infinitum veröffentlicht. Nicht alle Auslassungen dieser Skizze waren ungewollt: Absichtlich unterließ ich es, J. W. Dunne zu erwähnen, der aus dem unendlichen regressus eine ganz erstaunliche Lehre vom Subjekt und von der Zeit abgeleitet hat. Die Erörterung (die bloße Darstellung) seiner These hätte den Rahmen jener Notiz gesprengt. Ihre Kompliziertheit erforderte einen selbständigen Artikel: den ich nun versuchen will. Zur Niederschrift regt mich an die Beschäftigung mit dem letzten Buch von Dunne – Nothing Dies (1940, Faber and Faber) –, das die Argumente der drei vorangehenden wiederholt oder zusammenfaßt.
Besser gesagt, das einzige Argument. An seinem Mechanismus ist nichts Neues; beinahe skandalös und unerhört sind die Folgerungen des Autors. Bevor ich sie erläutere, will ich einige frühere Inkarnationen der Prämissen anführen.
Das siebte der vielen philosophischen Systeme Indiens, die Paul Deussen aufzählt5, verneint, daß das Ich unmittelbar Gegenstand des Erkennens sein könne, »weil, sofern unsere Seele erkennbar wäre, eine zweite Seele zum Erkennen der ersten erforderlich wäre, eine dritte zum Erkennen der zweiten«. Die Inder haben keinen Sinn für Geschichte (das heißt, sie ziehen perverserweise die Untersuchung der Ideen der von Namen und Lebensdaten der Philosophen vor), aber wir wissen, daß diese radikale Verneinung der Introspektion an die achthundert Jahre alt ist. Um 1843 wird sie von Schopenhauer wiederentdeckt. »Das Erkennende selbst kann, eben als solches, nicht erkannt werden: sonst wäre es das Erkannte eines andern Erkennenden«, betont er immer wieder (Die Welt als Wille und Vorstellung, 2.Bd., Kap. 19). Herbart spielte ebenfalls mit dieser ontologischen Multiplikation. Schon vor seinem zwanzigsten Lebensjahr hatte er die Überlegung angestellt, daß das Ich unter allen Umständen unendlich ist, da die Tatsache des Sicherkennens ein anderes Ich erfordert, das sich selber erkennt, und dieses Ich ein weiteres Ich (Deussen: Die neuere Philosophie, 1920, S. 367). Mit Anekdoten, Parabeln, ironischen Seitenhieben und Diagrammen ausgeschmückt, ist es dieses Argument, das Dunnes Abhandlungen zugrunde liegt.
Dieser stellt die Überlegung an (An Experiment with Time, Kap. XXII), daß ein Bewußtseinssubjekt nicht nur dessen bewußt ist, was es wahrnimmt, sondern auch eines Subjekts A, das beobachtet, und folglich eines weiteren Subjekts B, dem A bewußt ist, und folglich eines Subjekts C, dem B bewußt ist … Er bemerkt dazu, ein wenig geheimnisvoll, daß diese unzähligen inneren Subjekte in die drei Dimensionen des Raums nicht eingehen, wohl aber in die nicht minder unzähligen Dimensionen der Zeit. Bevor ich diese Erklärung erkläre, lade ich meinen Leser ein, mit mir noch einmal durchzudenken, was dieser Absatz sagt.
Huxley als braver Nachfolger der britischen Nominalisten behauptet, daß zwischen der Tatsache, daß ich einen Schmerz empfinde, und der Tatsache, daß ich weiß, daß ich ihn empfinde, nur ein sprachlicher Unterschied besteht, und er spottet über die reinen Metaphysiker, die bei jeder Empfindung zwischen dem »empfindenden Subjekt, dem empfindungserregenden Objekt und jener beherrschenden Persönlichkeit, dem Ich« unterscheiden (Essays, Bd. VI, S. 87). Gustav Spiller (The Mind of Man, 1902) räumt ein, daß das Schmerzbewußtsein und der Schmerz zwei unterschiedliche Tatsachen sind, hält sie jedoch für so begreifbar wie die gleichzeitige Wahrnehmung einer Stimme und eines Gesichts. Seine Ansicht scheint mir zutreffend. Was das Bewußtsein des Bewußtseins angeht, auf das sich Dunne beruft, um jedes Individuum mit einer schwindelerregenden und nebulösen Hierarchie von Subjekten auszustatten, neige ich eher zu dem Verdacht, daß es sich um sukzessive (oder imaginäre) Zustände des ursprünglichen Subjekts handelt. »Wenn der Geist«, sagte Leibniz, »sein Denken wiederdenken müßte, so brauchte er nur ein Gefühl wahrzunehmen, um daran zu denken, und dann an sein Darandenken zu denken und dann an sein Denken des Darandenkens, und so ins Unendliche« (Nouveaux essais sur l’entendement humain, lib. II, cap. 1).
Die von Dunne geschaffene Methode, die uns unmittelbar eine unendliche Zahl von Zeiten liefert, ist weniger überzeugend, aber geistvoller. Wie Juan de Mena in seinem Labyrintho6, wie Uspenski im Tertium Organum, postuliert er, daß die Zukunft mit allen ihren Wechselfällen und Einzelheiten schon existiert. Der präexistenten Zukunft entgegen (oder von der präexistenten Zukunft her, wie Bradley lieber annimmt) fließt der absolute Strom der kosmischen Zeit oder fließen die sterblichen Ströme unseres Lebens. Diese Ortsveränderung, dieses Fließen erfordert wie alle Bewegungen eine bestimmte Zeit; damit hätten wir eine zweite Zeit, in der die erste verstreichen kann; eine dritte, in der die zweite verstreichen kann, und so ins Unendliche …7 So sieht der von Dunne vorgeschlagene Mechanismus aus. In diesen hypothetischen oder illusorischen Zeiten sind auf unendliche Weise die nicht wahrnehmbaren Subjekte untergebracht, die der andere regressus vervielfacht.
Ich weiß nicht, was mein Leser hiervon halten mag. Ich gebe nicht vor zu wissen, was die Zeit ist (nicht einmal ob sie »etwas« ist), aber mir scheint, daß der Ablauf der Zeit und die Zeit ein einziges Mysterium sind und nicht deren zwei. Dunne verfällt, glaube ich, in einen ähnlichen Irrtum wie jene unaufmerksamen Dichter, die (beispielsweise) vom Mond sagen, er zeigt seine rote Scheibe, und die damit ein ungeteiltes visuelles Bild ersetzen durch ein Subjekt, ein Verb und ein ergänzendes Objekt, das nichts anderes ist als das nämliche Subjekt, nur ein wenig maskiert … Dunne ist ein illustres Opfer jener schlechten intellektuellen Angewohnheit, die Bergson denunzierte: die Zeit als eine vierte Dimension des Raums aufzufassen. Er postuliert, daß die Zukunft schon existiert und daß wir uns auf sie zubewegen müssen, aber dieses Postulat reicht hin, um die Zeit in Raum zu verwandeln und einer zweiten Zeit zu bedürfen (die ebenfalls räumlich aufgefaßt wird, als Linie oder Fluß) und danach einer dritten und einer millionsten. In keinem seiner vier Bücher läßt Dunne von der Behauptung, daß es »unendliche Zeitdimensionen«8 gibt, aber diese Dimensionen sind räumlich. Die eigentliche Zeit ist für Dunne der unerreichbare Schlußpunkt einer unendlichen Reihe.
Welche Gründe gibt es für das Postulat, daß die Zukunft bereits existiert? Dunne führt zwei Gründe an: der eine sind die prophetischen Träume; der andere ist die relative Einfachheit, die er mit dieser Hypothese in den unentwirrbaren Diagrammen zuwege bringt, die für seinen Stil typisch sind. Auch will er den Problemen einer fortdauernden Schöpfung ausweichen …
Die Theologen definieren die Ewigkeit als den gleichzeitigen und geistesklaren Besitz sämtlicher Augenblicke der Zeit und erklären sie zu einem der Attribute Gottes. Dunne nimmt verblüffenderweise an, daß die Ewigkeit bereits unser ist und daß die Träume jeder Nacht dies bekräftigen. Unmittelbare Vergangenheit und unmittelbare Zukunft fließen ihm zufolge in ihnen zusammen. Im Wachen durchlaufen wir mit gleichförmiger Geschwindigkeit die sukzessive Zeit; im Traum bemächtigen wir uns einer Zone, die ungeheuer weit sein kann. Träumen heißt die Eindrücke dieser Schau koordinieren und aus ihnen eine Geschichte weben oder eine Geschichtenfolge. Wir sehen das Bild einer Sphinx und das einer Apotheke und erfinden eine Apotheke, die sich in eine Sphinx verwandelt. Dem Menschen, den wir morgen kennenlernen werden, leihen wir den Mund eines Gesichts, das uns in der vorangehenden Nacht angeblickt hat … (Schopenhauer schrieb bereits, daß unser Leben und unser Träumen Blätter desselben Buches seien und daß sie in der richtigen Reihenfolge lesen leben, sie durchblättern träumen sei.)
Dunne versichert, daß wir im Tode lernen werden, mit der Ewigkeit richtig umzugehen. Wir werden alle Augenblicke unseres Lebens wiedererlangen und sie kombinieren, wie es uns gefällt. Gott und unsere Freunde und Shakespeare werden unsere Mitarbeiter sein.
Angesichts einer so glänzenden These ist die eine oder andere Pfuscherei, die der Autor begangen haben mag, völlig unbedeutend.
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5Nachvedische Philosophie der Inder, S. 318.
6 Dieses Gedicht aus dem 15. Jahrhundert enthält eine Vision von »drei sehr großen Rädern«: das erste, unbeweglich, ist die Vergangenheit; das zweite, das sich dreht, die Gegenwart; das dritte, unbeweglich, die Zukunft.
7 Ein halbes Jahrhundert bevor Dunne »die absurde Vermutung einer zweiten Zeit, in welcher, rasch oder langsam, die erste fließt«, vorbrachte, wurde sie von Schopenhauer entdeckt und verworfen, und zwar in einer handschriftlichen Notiz, die er seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung beigefügt hat. Sie steht auf Seite 829 im zweiten Band der historisch-kritischen Ausgabe von Otto Weiß.
8 Der Satz ist verräterisch. In Kap. XXI des Buches An Experiment with Time spricht er von einer Zeit, die senkrecht zu einer anderen steht.
Die Schöpfung und P. H. Gosse
»The man without a Navel yet lives in me« (Der Mann ohne Nabel lebt noch in mir fort), schreibt launig Sir Thomas Browne (Religio medici, 1642) um zu bedeuten, daß er als Abkömmling Adams in Sünde empfangen wurde. Im ersten Kapitel des Ulysses erinnert Joyce ebenfalls an den makellosen straffen Bauch der mutterlosen Frau: »Heva, naked Eve. She had no navel.« Das Motiv mag (ich weiß es wohl) grotesk oder nebensächlich anmuten, aber der Zoologe Philip Henry Gosse hat es mit dem Zentralproblem der Metaphysik verknüpft: dem Problem der Zeit. Diese Verknüpfung geschah 1857; achtzig Jahre Vergessen sind vielleicht der Neuheit gleichzusetzen.
Zwei Stellen der Heiligen Schrift (Römer, 5; 1. Korinther, 15) stellen den Menschen, Adam, in dem alle Menschen sterben, dem letzten Adam gegenüber, der Jesus ist.9 Diese Gegenüberstellung muß, wenn sie nicht rein blasphemisch sein soll, auf einer gewissen rätselhaften Gleichheit beruhen, die sich in Mythen und Symmetrie ausdrückt. Die Legenda Aurea sagt, daß das Holz des Kreuzes von jenem verbotenen Baum genommen ist, der im Paradiese steht; die Theologen, daß Adam durch den Vater und den Sohn genau in dem Alter erschaffen wurde, in dem der Sohn starb: mit dreiunddreißig Jahren. Diese sinnlose Präzision muß auf die Kosmogonie von Gosse eingewirkt haben.
Dieser veröffentlichte sie in dem Buch Omphalos (London, 1857), dessen Untertitel lautet: »Versuch, den geologischen Knoten aufzulösen«. Vergebens habe ich in den Bibliotheken nach diesem Buch geforscht; bei der Abfassung dieser Notiz werde ich mich an die Résumés von Edmund Gosse (Father and Son, 1907) und H. G. Wells (All Aboard for Ararat, 1940) halten. Wells bringt Erläuterungen, auf die ich in diesen knappen Zeilen nicht eingehen kann, die aber, wie ich glaube, mit dem Denken von Gosse vereinbar sind.
In dem Kapitel seiner Logik, das vom Gesetz der Kausalität handelt, sagt John Stuart Mill, der Zustand der Welt sei in jedem Augenblick eine Folge seines Zustandes im Moment davor, und einer unendlichen Intelligenz müßte die vollkommene Erkenntnis eines einzigen Moments genügen, um die Geschichte des Universums zu kennen, die abgelaufene wie die zukünftige. (Er sagt auch – o Louis Auguste Blanqui, o Nietzsche, o Pythagoras! –, daß die Wiederholung irgendeines Zustandes die Wiederholung aller anderen mit sich bringen und aus der Weltgeschichte einen Kreislauf machen würde.) In dieser gemäßigten Fassung eines phantastischen Einfalls von Laplace – dieser hatte sich vorgestellt, daß der gegenwärtige Zustand der Welt zumindest theoretisch auf eine Formel zurückgeführt werden kann, aus der irgend jemand die gesamte Zukunft und die gesamte Vergangenheit zu deduzieren imstande sein müßte – schließt Mill die Möglichkeit eines künftigen Eingriffs von außen nicht aus, wodurch die Kausalkette unterbrochen würde. Er versichert, daß der Zustand q notgedrungen den Zustand r hervorbringen wird, der Zustand r den Zustand s, der Zustand s den Zustand t; doch räumt er ein, daß vor Eintritt des Zustandes t möglicherweise eine göttliche Katastrophe – sagen wir die consummatio mundi – den Planeten vernichtet haben mag. Die Zukunft ist unvermeidlich, präzise; aber es mag sein, daß sie nicht zustande kommt. Gott lauert in den Intervallen.
1857 beunruhigte ein Zwiespalt die Menschen. Das Buch Genesis sprach im Hinblick auf die göttliche Weltschöpfung von sechs Tagen – sechs unmißverständlichen hebräischen Tagen, von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang; die Paläontologen forderten unbarmherzig riesige Zeitmengen. Vergebens wiederholte De Quincey, daß die Heilige Schrift nicht die Aufgabe hat, die Menschen in irgendeiner Wissenschaft zu unterrichten, da ja die Wissenschaften an sich schon ein riesiger Apparat zur Entwicklung und Einübung des menschlichen Intellekts sind … Wie sollte man Gott mit den Fossilien, wie Sir Charles Lyell mit Moses versöhnen? Gosse erteilte, gestärkt durch das Gebet, eine verblüffende Antwort.
Mill stellt sich eine kausale, unendliche Zeit vor, die durch einen künftigen Akt Gottes unterbrochen werden kann; Gosse eine streng kausale unendliche Zeit, die durch einen vergangenen Akt unterbrochen worden ist: die Schöpfung. Der Zustand n wird notgedrungen den Zustand v hervorbringen, bevor jedoch v eintritt, kann das Jüngste Gericht stattfinden; der Zustand n setzt den Zustand c voraus, aber c hat nicht stattgefunden, weil die Welt in f oder in d erschaffen wurde. Der erste Augenblick der Zeit fällt mit dem Augenblick der Schöpfung zusammen, lehrt der heilige Augustin; aber dieser erste Augenblick bedingt nicht nur eine unendliche Zukunft, sondern auch eine unendliche Vergangenheit. Eine hypothetische Vergangenheit natürlich, aber minutiös und fatal. Adam erscheint, und seine Zähne und sein Skelett zählen dreiunddreißig Jahre; Adam erscheint (schreibt Edmund Gosse) und hat einen Nabel, obwohl keine Nabelschnur ihn je mit einer Mutter verbunden hat. Das Vernunftprinzip verlangt, daß es keine Wirkung ohne Ursache gebe; diese Ursachen fordern andere Ursachen, die sich regressiv vervielfältigen10; alle hinterlassen konkrete Spuren, doch haben wirklich nur die existiert, die in die Zeit nach der Schöpfung fallen. Es gibt Skelette von Glyptodonten in der Ebene von Luján, aber Glyptodonten hat es nie gegeben. So lautet die geistvolle (und vor allem unglaubliche) These, die Philip Henry Gosse der Religion und der Wissenschaft vorschlug.
Beide verwarfen sie. Die Journalisten machten daraus die Lehre, daß Gott Fossilien in der Erde versteckt habe, um den Glauben der Geologen auf die Probe zu stellen; Charles Kingsley leugnete, daß der Herr »eine überflüssige und weitläufige Lüge in die Felsen« eingraviert habe. Umsonst legte Gosse die metaphysische Wurzel seiner These dar: die Unbegreiflichkeit eines Zeitaugenblicks ohne einen anderen, der ihm vorausgeht, und ohne einen anderen, der auf ihn folgt, und so ins Unendliche. Ich weiß nicht, ob er den alten Spruch kannte, der auf den Anfangsseiten der talmudischen Anthologie von Rafael Cansinos-Asséns steht: »Es war erst die erste Nacht, aber eine Reihe von Jahrhunderten war ihr vorausgegangen.«
Zwei Vorzüge möchte ich für die vergessene These von Gosse vorbringen: der erste ist ihre ein wenig monströse Eleganz, der zweite ihre unwillkürliche reductio ad absurdum einer Schöpfung aus dem Nichts, ihr indirekter Beweis, daß die Welt ewig ist, getreu dem Glauben Vedantas und Heraklits, Spinozas und der Atomisten … Bertrand Russell hat diese Anschauung aktualisiert. Im neunten Kapitel des Buches The Analysis of Mind (London, 1921) nimmt er an, daß die Welt erst vor ein paar Minuten geschaffen wurde, ausgestattet mit einer Menschheit, die sich einer illusorischen Vergangenheit »erinnert«.
Buenos Aires, 1941
Nachtrag: 1802 formulierte Chateaubriand (Génie du Christianisme I, 4, 5), von ästhetischen Gründen ausgehend, eine These, die sich mit der von Gosse deckt. Er verwarf die alberne und lachhafte Vorstellung von einem ersten Schöpfungstag, der mit Vogeljungen, Larven, Welpen und Samen bevölkert sein soll. »Sans une vieillesse originaire, la nature dans son innocence eût été moins belle qu’elle ne l’est aujourd’hui dans sa corruption«, schrieb er. [Ohne ein ursprünglich gegebenes Alter wäre die Natur in ihrer Unschuld weniger schön gewesen, als sie es heute in ihrer Verderbtheit ist.]
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9 In der religiösen Dichtung ist diese Verbindung geläufig. Das vielleicht stärkste Beispiel ist die vorletzte Strophe des Hymn to God, my God, in my Sickness, March 23, 1630, den John Donne verfaßte:
We think that Paradise and Calvary,
Christ’s Cross, and Adam’s tree, stood in one place,
Look Lord, and find both Adams met in me;
As the first Adam’s sweat surrounds my face
May the last Adam’s blood my soul embrace.
10 Vgl. Spencer, Facts and Comments, S. 148-151, 1902.
Doktor Américo Castros Besorgnisse11
Das Wort »Problem« kann eine tückische petitio principii sein. Spricht man vom »jüdischen Problem«, so postuliert man, daß die Juden ein Problem seien; man prophezeit (oder empfiehlt) damit die Verfolgungen, Plünderungen, Kugeln, Gemeuchel, Vergewaltigung und die Lektüre der Prosa von Doktor Rosenberg. Eine weitere Schattenseite der falschen Probleme ist es, Lösungen vorzuschlagen, die ebenfalls falsch sind. Plinius (Naturalis Historia, liber VIII) begnügt sich nicht mit der Feststellung, daß die Drachen im Sommer Elefanten anfallen: Er erkühnt sich zu der Hypothese, daß sie es deshalb tun, um sich am Blut der Elefanten, das bekanntlich sehr kalt ist, satt zu trinken. So begnügt sich auch Doktor Castro (La peculiaridad lingüistica etc.) nicht mit der Feststellung eines »linguistischen Wirrwarrs in Buenos Aires«: Er erkühnt sich zur Hypothese des »lunfardismo« und der »gauchophilen Mystik«.
Um seine erste These – Verderb der spanischen Sprache am Plata – zu beweisen, greift der Doktor zu einem Verfahren, das wir, sofern wir nicht an seiner Intelligenz zweifeln wollen, sophistisch, sofern wir nicht an seiner Redlichkeit zweifeln wollen, naiv nennen müssen. Er türmt Bruchstücke aus Pacheco, Vacarezza, Lima, Last Reason, Contursi, Enrique González Tuñón, Palermo, Llanderas und Malfatti auf, schreibt sie mit kindischem Ernst ab und stellt sie dann urbi et orbi als Beispiele unserer verkommenen Sprache vor. Es kommt ihm nicht der Verdacht, daß derlei Übungen (»Con una feca con chele / y una ensaimada / vos te venís pal Centro / de gran bacán«) Karikaturen sind; er erklärt sie zu »Symptomen einer tiefgreifenden Sprachveränderung«, deren entfernte Ursache »die bekannten Umstände sind, die aus den Ländern am Plata Gebiete machten, zu denen der Pulsschlag des spanischen Imperiums nur noch schwach gelangte«. Mit gleichem Recht könnte man behaupten, daß in Madrid das Spanische spurlos verschwunden sei, wie es die von Rafael Salillas wiedergegebenen Strophen beweisen (El delincuente español: su lenguaje, 1896):
El minche de esta rumi
dicen no tenela bales;
los he dicaito yo,
los tenela muy juncales …
El chibel barba del breje
menjindé a los burós:
apincharé ararajay
y menda la pirabó.
Ihrem wuchtigen Dunkel gegenüber ist diese arme Lunfardo-Strophe fast durchsichtig:
El bacán le acanaló
el escracho a la minushia;
despues espirajushió
por temor a la canushia.12
Auf S. 139 kündigt uns Doktor Castro ein weiteres Buch über das Problem der Sprache von Buenos Aires an; auf S. 87 brüstet er sich mit der Entzifferung eines ländlichen Dialogs in Lynch, »bei dem sich die Teilnehmer der barbarischsten Ausdrucksmittel bedienen, die nur jemand versteht, der wie wir mit den rioplatensischen Argotformen vertraut ist«. Den Argotformen: ce pluriel est bien singulier. Außer dem Lunfardo (einem bescheidenen Gefängnisidiom, das mit dem üppigen Caló der Spanier zu vergleichen niemandem einfällt) gibt es in diesem Land keine Argotformen. Wir leiden nicht an Dialekten, sondern an Dialektforschungsinstituten. Diese Vereinigungen leben davon, daß sie die aufeinanderfolgenden Kauderwelsche, die sie erfinden, wieder verwerfen. Sie haben das Gauchesco improvisiert, aufgrund von Hernández; das Cocoliche aufgrund eines Clowns, der im Zirkus Podestá arbeitete; das Vesre aufgrund von Viertkläßlern. Auf diesen Schutt stützen sie sich; dergleichen Kostbarkeiten verdanken wir ihnen und werden wir ihnen künftig verdanken.
Nicht weniger falsch sind »die schwerwiegenden Probleme, die in Buenos Aires die Sprache bereitet«. Ich habe Katalonien bereist, Alicante, Andalusien, Kastilien; ich habe ein paar Jahre in Valldemosa gelebt und ein Jahr in Madrid; ich habe an diese Orte die angenehmsten Erinnerungen; nie habe ich festgestellt, daß die Spanier besser sprächen als wir. (Sie sprechen allerdings lauter, mit dem Nachdruck von Leuten, denen der Zweifel fremd ist.) Doktor Castro schreibt uns Archaismus zu. Seine Methode ist bemerkenswert: Er entdeckt, daß die gebildetsten Leute in San Mamed de Puga, Provinz Orense, diese oder jene Bedeutung dieses oder jenes Worts vergessen haben; worauf er stracks beschließt, daß die Argentinier sie ebenfalls vergessen müssen … Tatsächlich leidet die spanische Sprache an etlichen Unvollkommenheiten (eintönige Vorherrschaft der Vokale, allzu feste Wortgestalt, die Unfähigkeit, zusammengesetzte Wörter zu bilden), nicht jedoch an der Unvollkommenheit, die ihre plumpen Verteidiger an ihr befehden: Schwierigkeit. Das Spanische ist sehr leicht. Nur die Spanier halten es für schwierig: vielleicht weil die Reize des Katalanischen, des Asturischen, des Mallorquín, des Galicischen, des Baskischen und des Valencianischen sie verwirren; vielleicht wegen irriger Eitelkeit; vielleicht wegen einer gewissen sprachlichen Ungeschliffenheit (sie verwechseln Akkusativ und Dativ, sagen »le mató« statt »lo mató«, können im allgemeinen »Atlántico« und »Madrid« nicht aussprechen, sind der Ansicht, ein Buch könne einen mißklingenden Titel vertragen wie: La peculiaridad linguística rioplatense y su sentido histórico).
Doktor Castro verfällt in diesem Buch auf jeder Seite in abergläubische Vorstellungen und Klischees. Er verschmäht López und verehrt Ricardo Rojas; er leugnet die Tangos und verweist respektvoll auf die Jácaras; er hält Rosas für einen Caudillo von Montoneros, nach Art eines Ramirez oder Artigas, und nennt ihn komischerweise »Groß-Zentaur«. (Mit besserem Stil und klarerem Urteil entschied sich Groussac für die Definition: »Nachhutmilizionär«.) Er ächtet – mit vollem Recht, versteht sich – das Wort »cachada«, findet sich aber ab mit »tomadura de pelo«, was nicht ersichtlich logischer noch schöner ist. Er attackiert amerikanische Idiotismen, weil ihm die spanischen Idiotismen besser gefallen. Er will nicht, daß wir »de arriba« sagen; wir sollen sagen »de gorra« … Dieser Untersuchungsrichter der »linguistischen Zustände in Buenos Aires« vermerkt ernsthaft, daß wir Porteños zur Languste »acridio« sagen; dieser unbegreifliche Leser von Carlos de la Púa und von Yacaré verrät uns, daß »taita« im Vorstadtdialekt soviel wie »Vater« bedeutet.
In diesem Buch widerspricht die Form durchaus nicht dem Inhalt. An manchen Stellen ist der Stil kommerziell: »Die Bibliotheken Mexikos besaßen Bücher von hoher Qualität« (S. 49); »Der Zoll trieb die Preise phantastisch in die Höhe« (S. 52). An anderen Stellen schließt der durchweg triviale Gedankengang einen pittoresken Seitensprung nicht aus: »Das einzig Mögliche kommt jetzt herauf: der Tyrann, in dem sich die ziellose Energie der Masse verdichtet, die er nicht kanalisieren kann, weil er kein Führer ist, sondern ein zermalmender Block, ein orthopädisches Gerät, das auf mechanische, bestialische Art die ausgebrochene Herde in den Pferch treibt« (S. 71/72). An einer anderen Stelle trachtet der Erforscher von Vacarezza nach dem mot juste: »Es sind dieselben Gründe, derentwegen die herrliche Grammatik von A. Alonso und P. Henríquez Ureña torpediert wird« (S. 31).
Die Compadritos von Last Reason ergehen sich in Metaphern, die vom Umgang mit Pferden abgeleitet sind; Doktor Castro, versierter im Danebengreifen, verquickt Radiotechnik und Fußball: »Denken und Kunst in Buenos Aires sind empfangsstarke Antennen für alles, was in der Welt tüchtig und strebsam ist; diese intensive Aufnahmefähigkeit wird sich binnen kurzem in schöpferische Kraft verwandeln, sofern das Schicksal diesen verheißungsvollen Vorzeichen nicht einen anderen Kurs vorschreibt. Die Lyrik, der Roman und der Essay haben hier mehr als einmal wunderbare Tore geschossen. Die Wissenschaft und das philosophische Denken zählen unter ihren Vertretern Namen von höchstem Rang« (S. 9).
Fehlerhafte und minimale Bildung ergänzt Doktor Castro, indem er sich unermüdlich der Lobhudelei, der gereimten Prosa und des Terrorismus befleißigt.
PS: Ich lese auf S. 136: »Sich allen Ernstes, ohne Ironie, auf die Schreibweise eines Ascásubi, Del Campo oder Hernández einzulassen, ist ein bedenkliches Unterfangen.« Ich zitiere die letzten Strophen des Martín Fierro:
Cruz y Fierro de una estancia
Una tropilla se arriaron,
Por delante se la echaron
Como criollos entendidos
Y pronto, sin ser sentidos,
Por la frontera cruzaron.
Y cuando la habían pasao
Una madrugada clara,
Le dijo Cruz que mirara
Las últimas poblaciones;
Y a Fierro dos lagrimones
Le rodaron por la cara.
Y siguiendo el fiel del rumbo,
Se entraron en el desierto,
No sé si los habrán muerto
En alguna correría
Pero espero que algún día
Sabré de ellos algo cierto.
Y ya con estas noticias
Mi relación acabé,
Por ser ciertas las conté,
Todas las desgracias dichas:
Es un telar de desdichas
Cada gaucho que usté ve.
Pero ponga su esperanza
En el Dios que lo formó,
Y aquí me despido yo
Que he relatao a mi modo
Males que conocen todos
Pero que naides contó.
»Allen Ernstes, ohne Ironie« frage ich: Wer ist mundartlicher: der Sänger der kristallklaren Strophen, die ich zitiert habe, oder der wirre Verfasser von orthopädischen Geräten, die Herden in den Pferch treiben, von literarischen Gattungen, die Fußball spielen, und von torpedierten Grammatiken?
Auf S. 122 hat Doktor Castro ein paar Schriftsteller aufgezählt, deren Stil korrekt ist; obwohl er in diesem Katalog meinen Namen aufführt, halte ich mich nicht für völlig unfähig, über Stilfragen zu sprechen.
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11La peculiaridad lingüística rioplatense y su sentido histórico (Losada, Buenos Aires, 1941).
12 Sie steht im Argot-Wörterbuch von Luis Villamayor: El lenguaje del bajo fondo (Buenos Aires, 1915). Castro kennt dieses Wörterbuch nicht, vielleicht weil Arturo Costa Alvarez in einem wichtigen Buch, El castellano en la Argentina (La Plata, 1928), darauf hinweist. Überflüssig zu bemerken, daß kein Mensch »minushia«, »canushia«, »espirajushiar« sagt.
Unser armer Individualismus
Die Illusionen des Patriotismus sind grenzenlos. Im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung verspottete Plutarch die Leute, die behaupteten, der Mond von Athen sei besser als der Mond von Korinth; Milton bemerkte im 17. Jahrhundert, Gott pflege sich zuallererst Seinen Engländern zu offenbaren; Fichte erklärte Anfang des ig. Jahrhunderts, Charakter zu haben und deutsch zu sein sei offensichtlich dasselbe. Hierzulande wimmelt es von Nationalisten; bewegt sind sie, nach ihren Worten, von dem achtbaren oder unschuldigen Vorsatz, das Beste im argentinischen Wesen zu pflegen. Allerdings kennen sie die Argentinier nicht; in der Polemik definieren sie sie am liebsten durch irgendwelche äußeren Umstände; die spanischen Konquistadoren (beispielsweise), oder eine imaginäre katholische Tradition, oder den »angelsächsischen Imperialismus«.
Im Unterschied zu den Nordamerikanern und fast allen Europäern identifiziert sich der Argentinier nicht mit dem Staat. Das mag an dem Umstand liegen, daß in diesem Land die Regierungen gewöhnlich miserabel sind, oder an der allgemeinen Tatsache, daß der Staat eine unbegreifliche Abstraktion ist13; der Argentinier ist zweifellos ein Individuum, kein Bürger. Aphorismen wie der von Hegel: »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee« klingen ihm wie finstere Scherze. Die Filme, die in Hollywood gedreht werden, erheischen immer wieder unsere Bewunderung für einen Mann (meistens einen Reporter), der die Freundschaft eines Verbrechers sucht, um ihn dann der Polizei auszuliefern; der Argentinier, für den die Freundschaft eine Passion und die Polizei eine »maffia« ist, empfindet diesen »Helden« als einen unbegreiflichen Lumpen. Er teilt mit Don Quijote das Gefühl, »daß jeder bei seinen eigenen Sünden bleiben soll«, und »daß es nicht recht ist, wenn anständige Menschen sich zum Henker anderer Menschen machen, die ihnen nichts getan haben« (Don Quijote I, XXII). Mehr als einmal hat mich angesichts der eitlen Symmetrien des spanischen Stils der Argwohn beschlichen, daß wir von Spanien heillos verschieden seien; diese beiden Zeilen im Quijote haben mich hinlänglich überzeugt, daß ich im Irrtum bin; sie sind wie das stille und diskrete Symbol unserer Verwandtschaft. Das bestätigt aufs tiefste eine Nacht der argentinischen Literatur: jene verzweifelte Nacht, in der ein Sergeant der Landpolizei schrie, er werde es nicht dulden, daß man einen tapferen Kerl töte, und sich zum Kampf gegen die eigenen Soldaten stellte, an die Seite des Deserteurs Martín Fierro.
Für den Europäer ist die Welt ein Kosmos, in dem jeder mit der Funktion, die er versieht, innerlich übereinstimmt; für den Argentinier ist sie ein Chaos. Der Europäer und der Nordamerikaner sind der Ansicht, daß ein Buch, das irgendeinen Preis erhält, gut sein muß; der Argentinier gibt die Möglichkeit zu, daß es vielleicht nicht schlecht ist, trotz des Preises. Im allgemeinen mißtraut der Argentinier den Umständen. Mag sein, er kennt die Sage nicht, die behauptet, daß die Menschheit immer sechsunddreißig Gerechte einschließt – die Lamed Wufniks –, die einander nicht kennen, aber insgeheim das Universum aufrechterhalten; wenn er diese Sage hört, wird er nicht darüber verwundert sein, daß diese Verdienstvollen unbekannt und namenlos sind … Sein volkstümlicher Held ist der einzelne Mann, der gegen ein Aufgebot kämpft, sei es im gegenwärtigen Augenblick (Fierro, Moreira, Hormiga Negra), sei es in der Zukunft oder in der Vergangenheit (Segundo Sombra). Andere Literaturen verzeichnen ähnliche Taten nicht. Betrachten wir beispielsweise zwei große europäische Schriftsteller: Kipling und Franz Kafka. Auf den ersten Blick haben beide nichts gemeinsam, aber das Thema des einen ist die Verteidigung der Ordnung, irgendeiner Ordnung (der Straße in Kim, der Brücke in »The Bridge-Builders«, der römischen Mauer in Puck of Pook’s Hill); das des anderen ist die unerträgliche und tragische Einsamkeit des Menschen, der keinen, auch nicht den bescheidensten Platz in der Ordnung der Welt hat.
Man mag sagen, die Züge, die ich hervorgehoben habe, seien bloß negativ oder anarchisch; man mag hinzufügen, sie seien politisch unverwertbar. Ich wage, das Gegenteil zu unterstellen. Das dringendste Problem unserer Zeit (das mit prophetischem Scharfblick bereits der nahezu vergessene Spencer denunziert hat) ist die ständig zunehmende Einmischung des Staates in die Handlungen des Individuums; im Kampf gegen dieses Übel, dessen Namen Kommunismus und Nazismus sind, könnte der argentinische Individualismus, bisher vielleicht nutzlos oder schädlich, Rechtfertigung und Auftrag finden.
Ohne Hoffnung und mit Nostalgie denke ich an die abstrakte Möglichkeit einer Partei, die den Argentiniern irgendwie verwandt wäre; einer Partei, die uns (sagen wir) ein striktes Minimum von Regierung verspräche.
Der Nationalismus will uns mit der Vision eines unendlich lästigen Staats betören; diese Utopie, wenn sie auf Erden Wirklichkeit würde, hätte die providentielle Tugend, daß alle ihre Antithese herbeisehnen und schließlich auch realisieren würden.
Buenos Aires, 1946
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13 Der Staat ist unpersönlich: der Argentinier erfaßt nur eine persönliche Beziehung. Deshalb ist für ihn die Entwendung öffentlicher Gelder kein Verbrechen. Ich stelle eine Tatsache fest; weder verteidige noch entschuldige ich sie.
Quevedo