Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 5: Der Erzählungen erster Teil - Jorge Luis Borges - E-Book

Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band 5: Der Erzählungen erster Teil E-Book

Jorge Luis Borges

0,0

Beschreibung

Inhalt: Universalgeschichte der Niedertracht; Fiktionen; Das Aleph. Phantastisch und historisch, barock, bizarr, jedoch von einer unerhörten Genauigkeit der Beobachtung und der Sprache: Borges' Erzählungen gehören zu den Hauptwerken der Weltliteratur.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 561

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Universalgeschichte der Niedertracht; Fiktionen; Das Aleph. Phantastisch und historisch, barock, bizarr, jedoch von einer unerhörten Genauigkeit der Beobachtung und der Sprache: Borges' Erzählungen gehören zu den Hauptwerken der Weltliteratur.

Jorge Luis Borges

Der Erzählungen erster Teil

Universalgeschichte der Niedertracht

Fiktionen

Das Aleph

Übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Universalgeschichte der Niedertracht

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur Auflage von 1954

Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell

Der unwahrscheinliche Hochstapler Tom Castro

Die Witwe Tsching, Seeräuberin

Der Schandtatenmakler Monk Eastman

Der uneigennützige Mörder Bill Harrigan

Der unhöfliche Zeremonienmeister Kotsuké no Suké

Der maskierte Färber Hakim von Merv

Mann von Esquina Rosada

Etcetera

Ein Theologe im Tod

Die Kammer der Standbilder

Geschichte von den zweien, die träumten

Der übergangene Hexenmeister

Der Tintenspiegel

Ein Doppelgänger Mohammeds

Fiktionen

Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (1941)

Vorwort

Tlön, Uqbar, Orbis Tertius

Pierre Menard, Autor des Quijote

Die kreisförmigen Ruinen

Die Lotterie in Babylon

Untersuchung des Werks von Herbert Quain

Die Bibliothek von Babel

Der Garten der Pfade, die sich verzweigen

Kunststücke (1944)

Vorwort

Das unerbittliche Gedächtnis

Die Narbe

Thema vom Verräter und vom Helden

Der Tod und der Kompaß

Das geheime Wunder

Drei Fassungen von Judas

Das Ende

Die Phönix-Sekte

Der Süden

Das Aleph

Der Unsterbliche

Der Tote

Die Theologen

Geschichte vom Krieger und der Gefangenen

Biographie von Tadeo Isidoro Cruz (1829-1874)

Emma Zunz

Das Haus des Asterion

Der andere Tod

Deutsches Requiem

Averroes auf der Suche

Der Zahir

Die Inschrift des Gottes

Ibn Hakkan al-Bokhari, gestorben in seinem Labyrinth

Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe

Die Wartezeit

Der Mann auf der Schwelle

Das Aleph

Epilog

Anhang

Editorische Notiz

Anmerkungen

Die Übersetzungen stammen von Karl August Horst und Gisbert Haefs, mit Ausnahme von »Der Tod und der Kompaß« in Fiktionen, übersetzt von Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs.

Universalgeschichte der Niedertracht (1934)

Vorwort zur ersten Auflage

Die Übungsstücke in erzählender Prosa, aus denen sich dieses Buch zusammensetzt, wurden in den Jahren 1933 und 1934 ausgeführt. Sie verdanken, glaube ich, ihre Entstehung meiner erneuerten Lesebekanntschaft mit Stevenson und Chesterton, wohl auch den ersten Filmen von Sternberg und vielleicht einer gewissen Biographie von Evaristo Carriego. Sie mißbrauchen einige Verfahrensweisen: ungleichartige Aufzählungen, jähen Handlungsschnitt, Zurückführung eines ganzen Menschenlebens auf zwei oder drei Szenen (diese veranschaulichende Absicht liegt auch der Erzählung ›Mann von Esquina Rosada‹ zugrunde). Sie sind nicht psychologisch und wollen es auch nicht sein.

Was die Beispiele von Magie angeht, die den Band abschließen, so beschränkt sich mein Anteil an ihnen auf den des Übersetzers und Lesers. Manchmal neige ich zu der Überzeugung, daß die guten Leser noch geheimnisvollere und seltenere Vögel sind als die guten Autoren. Niemand wird mir bestreiten wollen, daß die Partien, die Valéry seinem Plusquamperfekt Edmond Teste zugeschrieben hat, ersichtlich weniger wert sind als die seiner Gattin und seiner Freunde.

Lesen ist jedenfalls eine Tätigkeit, die dem Schreiben den Vortritt läßt: sie ist entsagender, höflicher, intellektueller.

Buenos Aires, 27. Mai 1935

J.L.B.

Vorwort zur Auflage von 1954

»Barock« möchte ich jenen Stil nennen, der seine Möglichkeiten ausschöpft (oder ausschöpfen will), und der hart an die Karikatur seiner selbst grenzt. Vergebens trachtete Andrew Lang gegen 1880 die Odyssee von Pope aufzubessern; das Werk war schon die Parodie seiner selbst, und seine Überspanntheit konnte der parodierende Autor nicht überbieten. »Baroco« (Barock) ist die Bezeichnung für einen der Modi des Syllogismus; das achtzehnte Jahrhundert wandte den Begriff auf bestimmte Verirrungen in der Architektur und Malerei des siebzehnten Jahrhunderts an; ich möchte behaupten, daß das Endstadium jeder Kunst barock ist, wenn diese ihre Mittel und Möglichkeiten zur Schau stellt und verschleudert. Der Barockismus ist intellektuell, und Bernard Shaw hat erklärt, daß jede intellektuelle Arbeit humoristisch ist. Dieser Humorismus ist unbeabsichtigt im Werk von Baltasar Gracián, beabsichtigt oder bewußt in Kauf genommen im Werk von John Donne.

Schon der exzessive Titel der vorliegenden Sammlung macht deren barocken Charakter kund. Die Texte im einzelnen abzuschwächen hätte soviel geheißen wie sie zu zerstören; deshalb berufe ich mich in diesem Falle lieber auf das Wort: »Quod scripsi scripsi« (Johannes, 19, 22) und lasse sie nach zwanzig Jahren unverändert wiedererscheinen. Sie sind das unverantwortliche Spiel eines Zaghaften, der sich nicht dazu aufraffen konnte, Erzählungen zu schreiben, und der sich einen Zeitvertreib daraus machte, die Geschichten anderer zurechtzustutzen und zu verdrehen (in einigen Fällen ohne jegliche ästhetische Rechtfertigung). Von diesen Übungen zweideutigen Charakters ging er dann zu der mühsamen Komposition einer direkten Erzählung – ›Mann von Esquina Rosada‹ – über, die er mit dem Namen eines Urahns, Francisco Bustos, unterzeichnete, und der ein einzigartiger und ein wenig mysteriöser Erfolg beschieden war.

Im Text dieser Erzählung, die im Tonfall an die Stadtrandsprache anklingt, wird man den Einschub einiger Wörter der Hochsprache bemerken: »vísceras« (Eingeweide), »conversiones« (Tanzfiguren) usw. Ich habe das getan, weil der erzählende Compadre sich um eine gewählte Redeweise bemüht, oder (dieser Grund schließt den ersten aus, trifft aber vielleicht das Richtige) weil die Compadres Einzelmenschen sind und nicht immer so sprechen wie Der Compadre, der eine platonische Figur ist.

Die Weisen des Großen Fahrzeugs lehren, daß der wesentliche Inhalt des Universums die Leere ist. Sie sind vollauf im Recht, soweit es jenen minimalen Teil des Universums betrifft, der dieses Buch ist. Es wimmelt darin von Richtstätten und Piraten, und das Wort Niedertracht schlägt Lärm im Titel, aber hinter dem ganzen Aufruhr steht nichts. Das Ganze ist nichts weiter als Schein, als eine Oberfläche aus Bildern; vielleicht macht es gerade deshalb Vergnügen. Der Mensch, der es abfaßte, war ausreichend unglücklich, aber er unterhielt sich damit beim Schreiben; möge ein Widerschein dieser Freude bis zum Leser dringen.

In den Schlußabschnitt ›Etcetera‹ wurden drei neue Stücke aufgenommen.

J.L.B.

I inscribe this book to S.D.: English, innumerable and an Angel. Also: I offer her that kernel of myself that I have saved, somehow – the central heart that deals not in words, traffics not with dreams and is untouched by time, by joy, by adversities.

Der gräßliche Erlöser Lazarus Morell

Die entlegene Ursache

Im Jahre 1517 bewies der Padre Bartolomé de las Casas großes Erbarmen mit den Indios, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälten; er schlug dem Kaiser Karl V. vor, Neger einzuführen, die sich in den Marterhöllen der Goldgruben auf den Antillen abquälen sollten. Dieser wunderlichen Nuance eines Menschenfreundes verdanken wir eine Unmenge von Tatsachen: die Blues von Handy, den Erfolg, den in Paris der uruguayische Maler und Doktor Don Pedro Figari errang, die schöne wildwüchsige Prosa des gleichfalls uruguayischen Don Vicente Rossi, die mythologische Größe Abraham Lincolns, die fünfhunderttausend Toten im Sezessionskrieg, die dreitausenddreihundert Millionen, die an Militärpensionen ausgezahlt wurden, das Denkmal des Phantasiehelden Falucho, die Aufnahme des Verbs »lynchen« in die dreizehnte Ausgabe des Wörterbuches der Akademie, den stürmischen Film Halleluja, den von Soller vorgetragenen Bajonettangriff an der Spitze seiner Pardos y Morenos im Cerrito, die Anmut eines gewissen Fräulein Soundso, den Neger, den Martin Fierro ermordete, die klägliche Rumba El Manisero, den verhafteten und eingelochten Napoleonismus des Toussaint Louverture, Kreuz und Schlange auf Haiti, das Blut der von der Machete des papaloi geschlachteten Ziegen, die Habanera, Mutter des Tango, den Candombe.

Außerdem: die schuldhafte und großartige Existenz des gräßlichen Erlösers Lazarus Morell.

Der Ort

Der Vater der Wasser, der Mississippi, der längste Fluß der Welt, war die würdige Bühne für diesen unvergleichlichen Schurken. (Álvarez de Pineda entdeckte ihn; sein erster Erforscher war der Capitán Hernando de Soto, ehemals Conquistador von Peru, der in die monatelange Haft des Inka Atahualpa Abwechslung brachte, indem er ihn das Schachspiel lehrte. Er starb, und sie gaben ihm als Grab seine Fluten.)

Der Mississippi ist ein breitbrüstiger Fluß; er ist ein grenzenloser und dunkler Bruder des Paraná, des Uruguay, des Amazonas und des Orinoko. Er ist ein Fluß mit mulattenfarbenen Wassern; mehr als vierhundert Millionen Tonnen Schlamm, die von ihm abgeladen werden, beleidigen jährlich den Golf von Mexiko. So viel ehrwürdiger und uralter Unrat hat mit der Zeit ein Delta geschaffen, wo auf den Schwemmresten eines ständig in Auflösung begriffenen Kontinents die gigantischen Sumpfzypressen wachsen, und wo Labyrinthe von Lehm, toten Fischen und Schilfdickichten die Grenzen und den Frieden seines stinkenden Reichs immer weiter ausdehnen. An seinem Oberlauf, in der Höhe von Arkansas und Ohio, breiten sich ebenfalls flache Ländereien aus. Sie sind von einem gelbfarbenen Stamm schmächtiger Menschen bewohnt, die zum Fieber neigen und ihre gierigen Blicke auf Steine und Eisen heften, weil es bei ihnen nichts anderes gibt als Sand, Holz und trübes Wasser.

Die Menschen

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (die Zeit, die uns interessiert) wurden die ausgedehnten Baumwollpflanzungen an seinen Ufern von Negern bebaut, die von Sonnenaufgang bis -untergang schufteten. Sie schliefen in Holzhütten auf der nackten Erde. Mit Ausnahme des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind waren die verwandtschaftlichen Beziehungen konventionell und wirr. Namen hatten sie zwar, aber auf Zunamen konnten sie verzichten. Sie konnten nicht lesen. Ihre weiche Falsettstimme sang ein Englisch mit schleppenden Vokalen. Sie arbeiteten in Reihen, gebückt unter der Peitsche des Aufsehers. Sie flüchteten, und vollbärtige Männer sprangen auf schöne Pferde und hetzten sie mit starken Bluthunden.

Einem Bodensatz animalischer Hoffnungen und afrikanischer Ängste hatten sie die Worte der Schrift hinzugefügt: Folglich war ihr Glaube der an Christus. Sie sangen tief aus der Kehle und zu Haufen geschart Go down, Moses. Der Mississippi wurde ihnen zum großartigen Abbild des schäbigen Jordan.

Die Eigentümer dieser werktätigen Erde und dieser Negerhaufen waren müßige und gierige Herren mit Mähne; sie wohnten in geräumigen Häusern, die auf den Fluß hinaussahen, immer mit einem pseudogriechischen Portikus aus hellem Fichtenholz. Ein guter Sklave kostete sie an die tausend Dollar und hielt nicht lange. Einige begingen die Undankbarkeit, krank zu werden und zu sterben. Aus diesen unsicheren Kantonisten galt es maximalen Profit herauszuholen. Deshalb hielt man sie auf den Feldern vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl; deshalb zog man aus den Gütern eine jährliche Ernte von Baumwolle oder Tabak oder Zuckerrohr. Die Erde, müde und mürbe von dieser ungeduldigen Bestellung, war nach wenigen Jahren erschöpft: Die verwilderte und verschlammte Wüste drang in die Pflanzungen ein. In den verlassenen Hütten, in den Vorstädten, im dichten Röhricht und in den elenden Schlammlöchern hausten die poor whites, das weiße Pack. Sie waren Fischer, umherziehende Jäger oder Viehdiebe. Von den Negern pflegten sie Brocken gestohlener Nahrung zu erbetteln und bewahrten in ihrer Erniedrigung einen letzten Stolz: den auf ihr Blut ohne Makel, ohne Beimischung. Lazarus Morell war einer von ihnen.

Der Mann

Die Daguerreotypien von Morell, wie sie die amerikanischen Zeitschriften zu veröffentlichen pflegen, sind nicht authentisch. Daß es von einem so denkwürdigen und berüchtigten Mann keine echten Abbilder gibt, kann kein Zufall sein. Die Annahme ist wahrscheinlich, daß sich Morell der geschwärzten Platte verweigerte; hauptsächlich, um keine überflüssigen Spuren zu hinterlassen, nebenbei, um sein Geheimnis zu nähren … Dennoch wissen wir, daß er als junger Mann nicht gerade anmutig war, und daß seine allzu eng zusammenstehenden Augen und die strichschmalen Lippen nicht für ihn einnahmen. Die Jahre verliehen ihm dann jene eigene Herrscherwürde, wie sie die ergrauten Halunken und die vom Glück begünstigten und straffreien Verbrecher an sich haben. Er war ein alteingesessener Kavalier aus dem Süden, trotz seiner elenden Kindheit und seines schändlichen Lebens. Er war nicht unbewandert in der Heiligen Schrift und predigte mit seltener Überzeugungskraft. »Ich habe Lazarus Morell auf der Kanzel erlebt«, vermerkt der Eigentümer eines Spielsalons in Baton Rouge, Louisiana, »ich habe seine erbaulichen Worte gehört, und ich habe Tränen in seine Augen treten sehen. Ich wußte, daß er vor Gott ein Ehebrecher, ein Negerdieb und ein Mörder war, und dennoch haben meine Augen geweint.«

Ein weiteres treffendes Zeugnis für diese heiligen Ergießungen liefert uns Morell selber: »Ich schlug die Bibel aufs Geratewohl auf, stieß beim Apostel Paulus auf eine passende Stelle und predigte darüber eine Stunde und zwanzig Minuten. Crenshaw und die Kameraden ließen die Zeit auch nicht ungenutzt, denn sie stahlen sämtliche Pferde der Zuhörerschaft. Wir verkauften sie im Staat Arkansas, außer einem sehr feurigen Rotschimmel, den ich mir für meinen persönlichen Gebrauch vorbehielt. Crenshaw gefiel er auch, aber ich brachte ihn zu der Einsicht, daß er für ihn nicht tauge.«

Die Methode

Die Pferde, die in einem Staat geraubt und in einem anderen verkauft wurden, stellten in der Verbrecherlaufbahn Morells höchstens eine Abschweifung dar; doch bildete sich hier schon die Methode heraus, die ihm heute seinen wohlverdienten Platz in einer Universalgeschichte der Niedertracht sichert. Diese Methode steht einzig da, nicht nur wegen der Umstände sui generis, die sie bestimmten, sondern auch wegen der erforderlichen Verworfenheit, wegen des fatalen Ausnutzens von Hoffnungen, wegen der schrittweisen Durchführung, die der gräßlichen Entwicklung eines Albtraumes gleicht. Al Capone und Bugs Moran arbeiten mit ansehnlichem Kapital und mit dienstbaren Maschinengewehren in einer großen Stadt, aber ihr Geschäft ist vulgär. Sie streiten sich um ein Monopol, das ist alles … An Zahl waren es schließlich tausend Männer, über die Morell gebot, Männer, die alle den Schwur geleistet hatten. Zweihundert bildeten den Hohen Rat, und dieser gab die Befehle, die die übrigen achthundert ausführten. Das Risiko fiel auf die unteren Grade. Wenn sie rebellierten, wurden sie dem Gericht übergeben oder in die reißende Strömung mächtiger Flüsse geschleudert, mit einem sicheren Stein an den Füßen. Häufig waren es Mulatten. Ihre ruchlose Aufgabe war folgende:

Sie durchkämmten – geziert mit der Eintagspracht von Ringen, die Respekt einflößen sollten – die ausgedehnten Pflanzungen des Südens. Sie wählten einen unglücklichen Neger und boten ihm die Freiheit. Sie sagten ihm, er solle seinem Patron weglaufen und sich von ihnen ein zweites Mal verkaufen lassen, auf einem entfernten Gut. Sie würden ihm dann einen Anteil an seinem Verkaufspreis geben und ihm zu einem weiteren Ausbruch verhelfen. Daraufhin würden sie ihn in einen freien Staat bringen. Geld und Freiheit, klingende Silberdollars samt der Freiheit: welche größere Versuchung konnten sie ihm bereiten? Der Sklave wagte seine erste Flucht.

Der natürliche Weg war der Fluß. Ein Kanu, der Kielraum eines Dampfers, ein Nachen, ein großes Floß, wie ein ganzer Himmel, mit einem Hüttchen auf dem Vorderdeck oder mit hohen Segeltuchzelten; auf den Ort kam es nicht an, sondern darauf, daß man sich unterwegs wußte, sicher auf dem unermüdlichen Fluß … Sie verkauften ihn auf einer anderen Pflanzung. Er floh ein zweites Mal, ins Röhricht oder in die Steinschluchten. Dann erzählten ihm seine schrecklichen Wohltäter (denen er schon zu mißtrauen begann) dunkel etwas von Unkosten und erklärten, sie müßten ihn ein letztes Mal verkaufen. Nach seiner Rückkehr würden sie ihm die Anteile aus beiden Verkäufen und die Freiheit geben. Der Mann ließ sich verkaufen, arbeitete eine Zeitlang und trotzte bei einer letzten Flucht der Gefahr der Bluthunde und der Peitschenhiebe. Er kam in Blut und Schweiß wieder, verzweifelt und schlafbedürftig.

Die Freiheit am Ende

Man muß die juristische Seite dieser Vorgänge bedenken. Der Neger wurde von den Häschern Morells nicht verkauft, ehe sein ursprünglicher Herr seine Flucht angezeigt und dem Finder eine Belohnung ausgesetzt hatte. Jedermann konnte ihn jetzt festnehmen, so daß Weiterverkauf nur ein Vertrauensbruch, kein Diebstahl war. Bei den Zivilgerichten vorstellig zu werden war eine unnütze Ausgabe, da für Schäden nie Ersatz geleistet wurde.

All das war so beruhigend wie möglich, aber nicht für immer. Der Neger konnte reden; der Neger, aus schierer Dankbarkeit oder Verzagtheit, war imstande zu reden. Ein paar Kruken Roggenwhisky im Bordell von Cairo, Illinois, wo dieser Sohn einer Hündin, der als Sklave zur Welt gekommen war, die schweren Silberstücke, die ihm zu geben sie keinen Anlaß hatten, vergeuden würde, und schon würde er das Geheimnis ausschwitzen. In diesen Jahren agitierte im Norden eine Partei für die Abschaffung der Sklaverei, ein Haufen gefährlicher Narren, die das Eigentum leugneten, die Befreiung der Neger predigten und sie zur Flucht anstachelten. Morell wollte sich nicht mit diesen Anarchisten verwechseln lassen. Er war kein Yankee, er war ein Weißer aus dem Süden, Sohn und Enkel von Weißen, und er wartete auf den Tag, da er sich von den Geschäften zurückziehen und ein Herr sein und seine meilenweiten Baumwollfelder und seine Reihen gebückter Sklaven besitzen würde. Bei seiner Erfahrung hatte er für überflüssige Risiken nichts übrig.

Der Flüchtling erwartete die Freiheit. Daraufhin übermittelten Lazarus Morells schattenhafte Mulatten einander einen Befehl, vielleicht nur einen Wink, und erlösten ihn vom Sehen, Hören, Tasten, von Tag, Niedertracht, Zeit, seinen Wohltätern, dem Erbarmen, der Luft, den Hunden, dem Weltall, der Hoffnung, dem Schweiß und seinem eigenen Ich. Eine Kugel, ein tiefer Messerstich oder ein Schlag, und die Schildkröten und die Barben des Mississippi empfingen die letzte Nachricht.

Die Katastrophe

Solange vertrauenswürdige Männer der Sache dienten, mußte der Handel blühen. Zu Beginn des Jahres 1834 hatte Morell bereits an die siebzig Neger »emanzipiert«, und weitere schickten sich an, diesen glücklichen Vorgängern zu folgen. Das Operationsgebiet war größer geworden, und neue Mitglieder mußten zugelassen werden. Unter denen, die den Schwur leisteten, war ein junger Bursche, Virgil Stewart aus Arkansas, der bald durch seine Grausamkeit hervorstach. Dieser Bursche war der Neffe eines Grundherren, der viele Sklaven verloren hatte. Im August 1834 brach er seinen Schwur und zeigte Morell und die anderen an. Morells Haus in New Orleans wurde von der Justiz umstellt. Durch Unachtsamkeit oder Bestechung konnte Morell entkommen.

Drei Tage vergingen. Morell hielt sich während dieser Zeit in einem alten Haus, mit Innenhöfen voller Schlingpflanzen und Statuen, in der Rue de Toulouse versteckt. Vermutlich nahm er wenig zu sich und wanderte barfuß durch die großen dunklen Gemächer, wobei er nachdenklich Zigarren rauchte. Durch einen Sklaven des Hauses ließ er zwei Briefe in die Stadt Natchez und einen nach Red River übermitteln. Am vierten Tag betraten drei Männer das Haus und besprachen sich mit ihm bis zum Hellwerden. Am fünften Tag stand Morell bei Einbruch der Abenddämmerung auf, verlangte nach einem Rasiermesser und schabte sich sorgfältig den Bart. Er kleidete sich an und ging aus. Langsam und gelassen durchschlenderte er die Vorstädte im Norden. Erst als er auf freiem Feld war und die flachen Ufer des Mississippi abwanderte, schritt er rascher aus.

Sein Plan war von trunkener Verwegenheit. Er wollte aus den letzten Menschen, die ihm jetzt noch Achtung schuldig waren, Nutzen ziehen: aus den versklavten Negern des Südens. Diese hatten ihre Kameraden flüchten und nie zurückkommen sehen. Folglich glaubten sie an deren Freiheit. Morell plante einen Gesamtaufstand der Neger, die Einnahme und Plünderung von New Orleans und die Besetzung seines Territoriums. Morell, durch Verrat gestürzt und fast zerschmettert, sann auf eine kontinentale Entgegnung: eine Entgegnung, die das Verbrecherische bis zur Erlösung und zur geschichtlichen Tat emporsteigern sollte. In dieser Absicht begab er sich nach Natchez, wo sein Einfluß am größten war. Ich gebe seinen Bericht von dieser Reise wieder:

»Ich ging vier Tage, ehe ich zu einem Pferd kam. Am fünften machte ich halt an einem dünnen Flußlauf, um mich voß Wasser zu trinken und Rast zu halten. Ich saß auf einem Baumstamm und schaute auf den Weg zurück, den ich in den letzten Stunden gegangen war, als ich einen Reiter daherkommen sah auf einem dunklen Pferd von gutem Schlag. Sobald ich ihn sah, beschloß ich, ihm das Pferd abzunehmen. Ich trat ihm entgegen, zielte auf ihn mit einem schönen Revolver und gab ihm den Befehl, abzusitzen. Er folgte dem Befehl, ich nahm die Zügel in die Linke, deutete auf den dünnen Flußlauf und befahl ihm, vorauszugehen. Er ging an die zweihundert Schritte und blieb dann stehen. Ich befahl ihm, sich auszuziehen. Er sagte zu mir: ›Da Sie entschlossen sind, mich zu töten, lassen Sie mich beten, bevor ich sterbe.‹ Ich antwortete ihm, ich hätte keine Zeit, mir seine Gebete anzuhören. Er fiel auf die Knie, und ich jagte ihm eine Kugel ins Genick. Ich trennte ihm mit einem Schnitt den Bauch auf, riß die Eingeweide heraus und versenkte ihn in dem Flüßchen. Dann durchsuchte ich die Taschen seiner Kleider und fand vierhundert Dollar, außerdem siebenunddreißig Cents und eine Menge Papiere, mit deren Untersuchung ich mich nicht weiter aufhielt. Seine Stiefel waren neu und glänzend, sie paßten mir gut. Meine eigenen, die schon sehr abgenutzt waren, versenkte ich im Flußlauf.

So kam ich zu dem Pferd, das ich brauchte, um in Natchez einzureiten.«

Die Unterbrechung

Morell, Negerhaufen anführend, die davon träumten, ihn an den Galgen zu bringen – Morell, von Negerheeren gehenkt, die er anzuführen träumte – leider muß ich bekennen, daß sich die Geschichte des Mississippi diese prächtigen Gelegenheiten entgehen ließ. Wider jede poetische Gerechtigkeit (oder dichterische Symmetrie) wurde nicht einmal der Fluß, der seine Verbrechen sah, sein Grab. Am 2. Januar 1835 starb Lazarus Morell an einer Lungenentzündung im Krankenhaus von Natchez, wo er unter dem Namen Silas Buckley um Aufnahme gebeten hatte. Ein Kamerad im Gemeinschaftssaal erkannte ihn. Am 2. und am 4. wollten sich die Sklaven auf gewissen Plantagen erheben, doch wurden sie niedergeworfen, ohne größeres Blutvergießen.

Der unwahrscheinliche Hochstapler Tom Castro

Diesen Namen gebe ich ihm, weil er unter diesem Namen in Straßen und Häusern von Talcahuano, von Santiago de Chile und von Valparaíso um das Jahr 1850 bekannt war, und es gehört sich, daß er ihn wiederum annimmt, heute, da er in diese Lande zurückkehrt – sei es auch nur als bloßes Gespenst und samstägliche Zerstreuung.1 Das Geburtsregister von Wapping nennt ihn Arthur Orton und verzeichnet ihn unter dem 7. Juni 1834. Wir wissen, daß er der Sohn eines Fleischers war, daß er in seiner Kindheit mit dem schäbigen Elend der Armeleuteviertel von London bekannt wurde, und daß er den Lockruf des Meeres vernahm. Der Fall ist nicht ungewöhnlich. Run away to sea, zur See ausreißen, ist der traditionelle englische Bruch mit der elterlichen Autorität, die heroische Initiation. Die Geographie rät dazu, aber auch die Heilige Schrift (Psalmen, 107): »Die mit Schiffen auf dem Meer fuhren und trieben ihren Handel in großen Wassern; die des Herrn Werke erfahren haben und seine Wunder im Meer.« Orton entfloh seiner kläglichen Vorstadt aus rußigem Backsteinrot und stach an Bord eines Schiffes in See und betrachtete mit der üblichen Enttäuschung das Kreuz des Südens und desertierte im Hafen von Valparaiso. Er war ein Mensch von ruhiger Blödheit. Logischerweise hätte er verhungern können (und müssen), aber seine wirre Freundlichkeit, sein ewiges Lächeln und seine unendliche Sanftmut gewannen ihm die Gunst einer gewissen Familie Castro, deren Namen er annahm. Von dieser südamerikanischen Episode hat sich keine Spur erhalten, aber seine Dankbarkeit verfiel nicht, denn im Jahr 1861 taucht er in Australien wieder auf, noch immer unter diesem Namen: Tom Castro. In Sydney lernte er einen gewissen Bogle kennen, einen Negerdiener. Bogle hatte, ohne schön zu sein, jenes gewichtige und monumentale Auftreten, jene Festigkeit eines Werks der Ingenieurkunst, wie sie der männliche Neger annimmt, wenn er Jahre, Fleisch und Autorität ansetzt. Er hatte eine weitere Veranlagung, die bestimmte ethnographische Handbücher seiner Rasse abgesprochen haben: den genialen Einfall. Den Beweis dafür werden wir später sehen. Er war ein zahmer und gesitteter Mann, dessen alte afrikanische Gelüste durch allzuviel Calvinismus vermindert waren. Abgesehen von den Heimsuchungen des Gottes (die wir später schildern werden) war er vollkommen normal, ohne andere Defekte als eine schamhafte, aber überwältigende Furcht, die ihn vor Straßenkreuzungen stocken ließ, wo er von Osten, von Westen, von Süden und Norden das gewalttätige Fahrzeug fürchtete, das seinem Leben ein Ende setzen würde.

Orton erblickte ihn eines Abends an einer heruntergekommenen Straßenecke in Sydney, wie er sich Mut machte, den imaginären Tod zu umgehen. Nachdem er ihn lange Zeit betrachtet hatte, bot er ihm den Arm, und beide überquerten tief erstaunt die harmlose Straße. Von diesem Augenblick eines bereits verstrichenen Spätnachmittags an kam es zur Begründung einer Schirmherrschaft des unsicheren und kolossalen Negers über den dicken Tolpatsch aus Wapping. Im September 1865 lasen beide in einer Lokalzeitung einen verzweifelten Aufruf.

Der über alles geliebte Tote

In den späten Apriltagen des Jahres 1854 (während Orton die überschwengliche Gastfreundschaft Chiles, die weitherzig ist wie seine Patios, herausforderte) sank auf den Wassern des Atlantik der Dampfer Mermaid, von Rio de Janeiro kommend, mit Kurs auf Liverpool. Unter denen, die umkamen, befand sich Roger Charles Tichborne, in Frankreich aufgewachsener englischer Offizier, Alleinerbe einer der ersten katholischen Familien Englands. So unglaublich die Tatsache erscheinen mag, aber der Tod dieses französisch angehauchten Jünglings, der sein Englisch mit dem elegantesten Pariser Akzent sprach und jenes unvergleichliche Neidgefühl erweckte, wie es nur französische Intelligenz, Anmut und Pedanterie hervorrufen, war ein folgenschweres Ereignis für das Schicksal Ortons, der ihn nie mit Augen gesehen hatte. Lady Tichborne, Rogers von Entsetzen erfüllte Mutter, weigerte sich, an seinen Tod zu glauben und erließ in den meistverbreiteten Blättern verzweifelte Aufrufe. Einer dieser Aufrufe fiel in die sammetweichen grabdunklen Hände des Negers Bogle, der einen genialen Plan ausheckte.

Die Vorzüge der Ungleichheit

Tichborne war ein schlanker junger Gentleman von sehniger Gestalt, mit scharfgeschnittenen Zügen, bräunlicher Gesichtsfarbe, schwarzem glattem Haar, lebhaften Augen und einer geradezu belästigend gestochenen Ausdrucksweise; Orton war ein aufgeschwemmter Fettsack, schmerbäuchig, mit Gesichtszügen von grenzenloser Verschwommenheit, einer leicht speckigen Gesichtshaut, geringeltem kastanienbraunem Haar, schläfrigen Augen und einer abwesenden oder wirren Konversation. Bogle hatte den Einfall, es sei Ortons Pflicht, das erste nach Europa auslaufende Schiff zu besteigen und Lady Tichbornes Hoffnung zu erfüllen, indem er sich als ihr Sohn ausgab. Der Plan war von einer wahnsinnigen Genialität. Ich wähle ein naheliegendes Beispiel. Wenn im Jahr 1914 ein Hochstapler darauf verfallen wäre, sich als der deutsche Kaiser auszugeben, wäre das erste, was er sich zugelegt hätte, der aufgezwirbelte Schnurrbart, der gelähmte Arm, das autoritäre Stirnrunzeln, der graue Umhang, die erlauchte hochdekorierte Brust und der hohe Helm gewesen. Bogle war scharfsinniger: Er hätte einen bartlosen Kaiser ohne militärische Auszeichnungen und Ehrenadler und mit einem linken Arm von unzweifelhaft heiler Beschaffenheit präsentiert. Führen wir den Vergleich nicht weiter aus; wir wissen jedenfalls, daß er einen schwabbeligen Tichborne mit dem liebenswürdigen Lächeln eines Schwachkopfs, kastanienbraunem Haar und einer unverbesserlichen Unkenntnis der französischen Sprache vorführte. Bogle wußte, daß ein vollkommenes Faksimile des heißersehnten Roger Charles Tichborne unmöglich zu beschaffen war. Er wußte auch, daß alle erreichbaren Ähnlichkeiten gewisse unvermeidliche Unterschiede nur um so stärker hervorheben würden. So verzichtete er auf jede Ähnlichkeit. Er ahnte voraus, daß die ungeheure Albernheit des Ansinnens ein überzeugender Beweis dafür sein würde, daß es sich nicht um einen Betrug handelte, bei dem man nie auf derart flagrante Art die einfachsten Überzeugungsmerkmale außer acht gelassen hätte. Auch darf man nicht die allmächtige Kollaboration der Zeit vergessen; vierzehn Jahre der südlichen Hemisphäre und der Wechselfälle können einen Menschen verändern.

Ein weiteres grundlegendes Motiv: Die wiederkehrenden unsinnigen Aufrufe von Lady Tichborne bewiesen, daß sie ganz sicher war, Roger Charles sei nicht gestorben, daß sie willens war, ihn wiederzuerkennen.

Die Begegnung

Tom Castro, immer zuvorkommend, schrieb an Lady Tichborne. Um seine Identität zu erhärten, berief er sich auf das einschlägige Erkennungsmal – zwei Leberflecke nahe der linken Brustwarze – sowie auf jenes zwar betrübliche, aber doch so denkwürdige Erlebnis aus seiner Kindheit, als ihn ein Bienenschwarm überfallen hatte. Die Mitteilung war knapp und sah Tom Castro und Bogle insofern ähnlich, als sie auf orthographische Skrupel verzichtete. In der stattlichen Öde eines Pariser Hotels las die Dame den Brief und las ihn immer wieder unter seligen Tränen; binnen weniger Tage fand sie auch die Erinnerungen, um die ihr Sohn sie bat.

Am 16. Januar 1867 meldete sich Roger Charles Tichborne in ebendem Hotel an. Ihm voran schritt sein respektvoller Diener, Ebenezer Bogle. Es war ein sonnendurchfluteter Wintertag; die müden Augen Lady Tichbornes waren tränenverschleiert. Der Neger öffnete die Fenster weit. Das Licht diente als Maske: Die Mutter erkannte den verlorenen Sohn wieder und schloß ihn in die Arme. Jetzt, da sie ihn in Fleisch und Blut wieder hatte, bedurfte sie nicht mehr des Tagebuchs und der Briefe, die er ihr aus Brasilien geschickt hatte: bloße vergötterte Reflexe, die ihre Einsamkeit in vierzehn düsteren Jahren genährt hatten. Sie gab sie ihm voll Stolz zurück: Kein einziger Brief fehlte.

Bogle lächelte mit größter Diskretion: Endlich hatte er alles, um das friedliche Gespenst von Roger Charles zu dokumentieren.

Ad maiorem Dei gloriam

Dieses glückselige Wiedererkennen – das einer Tradition der klassischen Tragödie gerecht zu werden scheint – sollte diese Geschichte krönen, indem es drei Glückseligkeiten sicher oder zumindest wahrscheinlich machte: die der leiblichen Mutter, die des apokryphen und duldsamen Sohnes, die des Anstifters, dessen Lohn die providentielle Verklärung seiner Kunstfertigkeit darstellte. Das Schicksal (so nennen wir das unendliche, nie aufhörende Zusammenwirken von Tausenden und Abertausenden untereinander verflochtenen Ursachen) hatte es anders beschlossen. Lady Tichborne starb im Jahr 1870; ihre Verwandten erhoben Anklage gegen Arthur Orton wegen Erbschleicherei. Zwar arm an Tränen und Einsamkeit, aber nicht an Begehrlichkeit, glaubten sie keinen Augenblick an den fetten und fast analphabetischen Verlorenen Sohn, der aus Australien so ungelegen wieder aufgetaucht war. Orton rechnete auf die Unterstützung der zahllosen Gläubiger, die beschlossen hatten, er sei Tichborne, damit er sie bezahlen konnte.

Ebenso rechnete er auf die Freundschaft des Rechtsanwalts der Familie, Edward Hopkins, sowie auf die des Antiquars Francis J. Baigent. Doch war das immer noch nicht ausreichend. Bogle war der Meinung, um die Partie zu gewinnen, sei die Gunst einer starken Strömung im Volk unumgänglich nötig. Er verlangte nach seinem Zylinder und dem ehrbaren Regenschirm und begab sich auf die sittsamen Straßen von London, um eine Inspiration zu suchen. Es ging auf den Abend zu; Bogle wanderte umher, bis ein honiggelber Mond sich im rechteckigen Wasser der öffentlichen Brunnen verdoppelte. Der Gott suchte ihn heim. Bogle winkte eine Droschke heran und ließ sich zur Wohnung des Antiquars Baigent fahren. Dieser schickte an die ›Times‹ einen langen Brief, in dem er versicherte, der angebliche Tichborne sei ein unverschämter Betrüger. Den Brief unterzeichnete Pater Goudron von der Societas Jesu. Weitere gleichfalls papistische Denunzierungen folgten. Die Wirkung war durchschlagend: Die guten Leute begriffen sofort, daß Sir Roger Charles die Zielscheibe eines abscheulichen Komplotts der Jesuiten war.

Der Wagen

Hundertundneunzig Tage dauerte der Prozeß. An die hundert Zeugen versicherten an Eides Statt, daß der Angeklagte Tichborne sei – unter ihnen vier Waffenkameraden des sechsten Dragonerregiments. Seine Anhänger wiederholten unaufhörlich, er sei kein Betrüger, denn wäre er einer, hätte er gewiß nicht versäumt, die Jugendbildnisse seines Modells zu retuschieren. Überdies hatte Lady Tichborne ihn wiedererkannt, und es ist klar, daß eine Mutter sich nicht täuscht. Alles ging soweit gut – oder mehr oder weniger gut –, bis eine frühere Geliebte Ortons vor den Schranken erschien, um auszusagen. Bogle brachte dieses perfide Manöver der »Verwandten« nicht aus der Fassung; er verlangte nach Zylinder und Regenschirm und begab sich, um eine dritte Erleuchtung flehend, auf die sittsamen Straßen von London. Kurz bevor er Primrose Hill erreichte, holte ihn der schreckliche Wagen ein, der ihn aus der Tiefe der Jahre verfolgte. Bogle sah ihn kommen, stieß einen Schrei aus, fand jedoch keine Rettung. Er wurde mit Wucht auf die Steine geschleudert. Die schlenkernden Hufe des Kleppers spalteten ihm den Schädel.

Das Gespenst

Tom Castro war das Gespenst Tichbornes, aber ein armes Gespenst, behaust von Bogles Genie. Als man ihm sagte, dieser sei tot, brach er zusammen. Er fuhr fort zu lügen, aber mit nur geringer Begeisterung und mit unsinnigen Widersprüchen. Das Ende war leicht vorauszusehen.

Am 27. Februar 1874 wurde Arthur Orton (alias Tom Castro) zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Gefängnis machte er sich beliebt; er konnte eben nicht anders. Seine musterhafte Aufführung trug ihm einen Straferlaß von vier Jahren ein. Als ihn diese letzte gastliche Stätte – das Gefängnis – im Stich ließ, durchzog er die Dörfer und Landstädte des Vereinigten Königreichs und hielt kleine Vorträge, in denen er entweder seine Unschuld beteuerte oder seine Schuld bekannte. Seine Bescheidenheit und sein Verlangen, es allen recht zu machen, waren so eingewurzelt, daß er an vielen Abenden mit der Verteidigung anfing und mit dem Geständnis aufhörte, wie es der Neigung des Publikums jeweils entsprach.

Am 2. April 1898 starb er.

__________

1Diese Metapher hilft mir, den Leser daran zu erinnern, daß diese ruchlosen Biographien zuerst in der Samstagsbeilage eines Abendblattes erschienen.

Die Witwe Tsching, Seeräuberin

Das Wort »Korsarinnen« läuft Gefahr, eine etwas unbehagliche Erinnerung zu wecken: die an eine schon verblaßte Operette, mit ihren Aufzügen unverkennbarer Dienstmädchen, die sich als choreographische Piratinnen auf offensichtlich pappenen Meeren tummelten. Gleichwohl hat es Korsarinnen gegeben: Frauen, die sich im Matrosenhandwerk auskannten, die viehische Besatzungen zu regieren und hochbordige Schiffe zu jagen und zu plündern verstanden. Eine von ihnen war Mary Read, die einmal erklärte, daß der Piratenberuf nicht für jedermann tauge und daß man, um ihn würdig auszuüben, ein beherzter Mann sein müsse, wie sie. In den rauhen Anfängen ihrer Laufbahn, als sie noch nicht Kapitänin war, wurde einer ihrer Liebhaber von einem Raufbold an Bord beschimpft. Mary forderte ihn zum Duell und schlug sich mit ihm zweihändig, wie es auf den Inseln des Karibischen Meeres seit alters her der Brauch ist: die eindringliche, unsichere Reiterpistole in der Linken, den treuen Säbel in der Rechten. Die Pistole versagte, aber der Degen hielt sich wacker … Um das Jahr 1720 unterbrach ein spanischer Galgen die riskante Laufbahn Mary Reads, und zwar in Santiago de la Vega (Jamaica).

Eine andere Piratin dieser Meere war Anne Bonney, eine prachtvolle Irin mit hohen Brüsten und flammendem Haar, die mehr als einmal beim Entern von Schiffen ihr Leben einsetzte. Sie war eine Waffengefährtin von Mary Read und am Ende ihre Galgengefährtin. Ihr Liebhaber, der Kapitän John Rackam, hatte bei dieser Verrichtung ebenfalls seinen Hals in der Schlinge. Anne bedachte ihn verächtlich mit der bitterbösen Variante jener Anschuldigung, die Aixa gegen Boabdil erhob: »Wenn du dich geschlagen hättest wie ein Mann, würden sie dich nicht henken wie einen Hund.«

Mehr Glück und längeres Leben hatte eine Piratin, die in den Gewässern Asiens operierte, vom Gelben Meer bis zu den Flüssen an der Grenze von Annam. Ich spreche von der kriegerischen Witwe Tsching.

Die Lehrjahre

Um das Jahr 1797 gründeten die Aktionäre der zahlreichen Piratengeschwader dieses Meeres ein Konsortium und ernannten zum Admiral einen gewissen Tsching, einen redlichen und bewährten Mann. Dieser verfuhr bei der Plünderung der Küsten derart streng und mustergültig, daß die entsetzten Bewohner mit Geschenken und Tränen kaiserliche Hilfe erflehten. Ihr klägliches Bittgesuch blieb nicht ungehört: Sie erhielten Befehl, ihre Dörfer in Brand zu stecken, ihr Fischerhandwerk zu vergessen, landeinwärts zu ziehen und eine unbekannte Wissenschaft mit Namen Ackerbau zu erlernen. Sie taten dies, und die geprellten Eindringlinge fanden nur noch verödete Küsten. Sie mußten sich infolgedessen auf Schiffsüberfälle umstellen: ein Raubgeschäft, das noch schädigender war als das vorhergehende, da es den Handel ernstlich beeinträchtigte. Die kaiserliche Regierung handelte unverzüglich: Sie wies die ehemaligen Fischer an, Pflug und Joch aufzugeben und Ruder und Netze wieder instand zu setzen. Die Fischer empörten sich, worauf sich die Behörden zu einer anderen Verfahrensweise entschlossen: Sie ernannten den Admiral Tsching zum Kaiserlichen Hofstallmeister. Dieser wollte die Bestechung annehmen. Die Aktionäre erfuhren es noch rechtzeitig, und ihre tugendhafte Entrüstung fand Ausdruck in einem Teller giftiger Raupen, mit Reis gekocht. Die Leckerei war fatal: Der ehemalige Admiral und jetzige Kaiserliche Hofstallmeister übergab seine Seele den Gottheiten des Meeres. Die Witwe, durch diesen doppelten Verrat verwandelt, versammelte die Piraten, erklärte ihnen den verwickelten Fall und beschwor sie, die trügerische Milde des Kaisers und den undankbaren Dienst an Aktionären, die zur Giftmischerei neigten, abzuschütteln. Sie schlug ihnen vor, auf eigene Rechnung zu kapern und einen neuen Admiral zu wählen. Die Wahl fiel auf sie. Sie war eine sehnige Frau mit schläfrigen Augen und kariösem Lächeln. Das schwarzgefärbte und geölte Haar hatte mehr Glanz als die Augen.

Ihren ruhigen Befehlen folgend, schnellten die Schiffe der Gefahr und der hohen See entgegen.

Das Kommando

Dreizehn Jahre methodischen Abenteuers folgten. Aus sechs Geschwadern bestand die Flotte, unter verschiedenfarbigen Flaggen: rot, gelb, grün, schwarz, violett, sowie die mit dem Schlangenzeichen, die das Schiff der Kapitänin führte. Die Anführer nannten sich: Vogel und Stein, Zuchtrute des Morgenwassers, Mannschaftsjuwel, Fischreiche Woge und Hohe Sonne. Das Reglement, das die Witwe Tsching eigenhändig verfaßte, ist von unbeugsamer Strenge, und sein gerader und lakonischer Stil ist bar jener hinfälligen rhetorischen Blüten, die dem chinesischen Amtsstil eine geradezu lächerliche Hoheit verleihen, wofür wir später ein paar beunruhigende Beispiele anführen werden. Ich gebe hier einige Artikel wieder:

»Alle von Bord feindlicher Schiffe übernommenen Güter sollen in ein Lager geschafft und dort registriert werden. Der fünfte Teil dessen, was jeder einzelne Pirat beibringt, wird ihm später ausgehändigt; der Rest soll im Lager verbleiben. Die Verletzung dieser Anordnung ist der Tod.

Dem Piraten, der ohne ausdrückliche Erlaubnis seinen Posten verläßt, sollen zur Strafe die Ohren öffentlich durchbohrt werden. Der Rückfall in dieses Vergehen ist der Tod.

Der Verkehr mit den in den Dörfern geraubten Frauen ist an Deck verboten; er soll sich auf den Kielraum beschränken, jedoch nie ohne Erlaubnis des Ladungsmeisters. Die Verletzung dieser Anordnung ist der Tod.«

Berichten Gefangener zufolge bestand die Kost der Piraten in der Hauptsache aus Zwieback, dicken gemästeten Ratten und gekochtem Reis; an Kampftagen pflegten sie Pulver in ihren Alkohol zu mischen. Karten und falsche Würfel, das Glas und das rechteckige Spielbrett des Fan Tan, die Visionen verheißende Opiumpfeife und das Lämpchen waren ihr Zeitvertreib. Zwei Degen, die gleichzeitig geführt wurden, waren ihre bevorzugten Waffen. Bevor sie ein Schiff enterten, rieben sie sich die Backenknochen und den Körper mit einem Absud von Knoblauch ein: zuverlässiger Talisman gegen die Kränkungen der Feuermäuler.

Die Mannschaft fuhr mit ihren Frauen; der Kapitän jedoch mit seinem Harem, der fünf oder sechs Häupter zählte und bei Siegen aufgefrischt zu werden pflegte.

Es spricht Kia-King, der junge Kaiser

Um die Mitte des Jahres 1809 wurde ein kaiserliches Edikt erlassen, von dem ich den ersten und den letzten Teil wiedergebe. Viele übten Kritik an seinem Stil:

»Männer, unselig und schadenstiftend, Männer, die das Brot mit Füßen treten, Männer, die das Gezeter der Steuereinnehmer und der Waisen mißachten, Männer, in deren Unterkleidern der Phönix und der Drache abgebildet sind, Männer, die die Wahrheit der gedruckten Bücher leugnen, Männer, die in fließenden Tränen den Nordstern spiegeln lassen, belästigen das Glück unserer Flüsse und das alte Vertrauen in unsere Meere. Auf halbwracken und fährlichen Barken trotzen sie Tag und Nacht dem Sturm. Nicht in wohlwollender Absicht tun sie dies: Sie sind nicht und waren nie die echten Freunde des Schiffers. Weit davon entfernt, ihm ihren Beistand zu leihen, greifen sie ihn vielmehr mit grimmigster Wucht an und überantworten ihn dem Ruin, der Verstümmelung oder dem Tod. Sie verletzen damit die natürlichen Gesetze des Weltalls, so daß die Flüsse über die Ufer treten, das Küstenland ertrinkt, die Kinder sich gegen ihre Eltern kehren und die Urgesetze von Feuchte und Dürre verstört sind …

… Darum beauftrage ich dich mit der Züchtigung, Admiral Kwo-lang. Sei eingedenk, daß die Milde ein kaiserliches Attribut ist und daß es Anmaßung seitens eines Untertanen wäre, nach ihr zu trachten. Sei grausam, sei gerecht, sei gehorsam, sei siegreich.«

Der beiläufige Hinweis auf die halbwracken Barken war natürlich falsch. Sein Zweck war, den Mut der Expedition Kwo-langs zu heben. Neunzig Tage später maßen sich die Streitkräfte der Witwe Tsching mit denen des Reiches der Mitte. Fast tausend Schiffe kämpften von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ein gemischter Chor von Glocken, Trommeln, Kanonenschüssen, Flüchen, Gongs und Prophezeiungen begleitete das Gefecht. Die Streitmacht des Reichs wurde zersprengt. Weder die untersagte Gnade noch die empfohlene Grausamkeit fanden Gelegenheit zur Anwendung. Kwolang vollzog einen Ritus, den unsere geschlagenen Generäle zu unterlassen belieben: den Selbstmord.

Die angstverstörten Ufer

Dann segelten die sechshundert Kriegsdschunken und die vierzigtausend siegreichen Piraten der hochfahrenden Witwe die Mündung des Si-Kiang hinauf, wobei sie backbords und steuerbords eine Vielzahl von Bränden, schrecklichen Feiern und Waisen schufen. Es wurden ganze Dörfer dem Boden gleichgemacht. In einem einzigen überstieg die Zahl der Gefangenen tausend. Einhundertzwanzig Frauen, die den wirren Schutz der nahen Schilfdickichte und Reisfelder aufgesucht hatten, verriet das nicht zu beschwichtigende Weinen eines Kindes; sie wurden später in Macao verkauft. Wenn auch aus der Ferne, kamen die jammervollen Tränen und die Trauer dieser Verwüstung Kia-King, dem Sohn des Himmels, zu Ohren. Gewisse Geschichtsschreiber behaupten, daß sie ihn weniger schmerzten als die Niederlage seiner Strafexpedition. Fest steht, daß er eine zweite ausrüstete, starrend von Standarten, Matrosen, Soldaten, Kriegsgerät, Vorräten, Wahrsagern und Astrologen. Das Kommando fiel diesmal Ting-Kwei zu. Diese schwerfällige Masse von Schiffen wälzte sich das Delta des Si-Kiang hinauf und sperrte dem Piratengeschwader die Durchfahrt. Die Witwe rüstete sich zur Schlacht. Sie wußte, daß es ein schwerer, bitterschwerer, fast verzweifelter Kampf sein würde; Nächte und Monde des Plünderns und der Muße hatten ihre Männer erschlaffen lassen. Es kam nie zur Schlacht. Gelassen stieg die Sonne empor, gelassen senkte sie sich wieder über dem schauernden Röhricht. Die Männer und die Waffen hielten Wache. Die Mittage waren übermächtig, die Ruhestunden endlos.

Der Drache und die Füchsin

Doch stiegen allabendlich träge Schwärme luftig schwebender Drachen von den Schiffen des kaiserlichen Geschwaders auf und sanken anmutig auf das Wasser und auf die feindlichen Decks herab. Es waren hauchdünne Gebilde aus Papier und Rohr, Kometen ähnlich, und ihre versilberte oder rote Oberfläche wies immer die gleichen Schriftzeichen auf. Die Witwe untersuchte besorgt diese regelmäßig auftauchenden Meteore und las auf ihnen die langwierige und verworrene Fabel von einem Drachen, der allezeit eine Füchsin beschirmt hatte, trotz ihrer großen Undankbarkeit und ihrer beständigen Freveltaten. Der Mond am Himmel wurde schmal, und die Gebilde aus Papier und Rohr zogen jeden Abend mit der gleichen Geschichte auf, die sich kaum merklich abwandelte. Die Witwe wurde betrübt und nachdenklich. Als der Mond voll war, am Himmel und in dem rötlichen Wasser, schien die Geschichte ihrem Ende zuzugehen. Niemand konnte voraussagen, ob eine schrankenlose Vergebung oder eine schrankenlose Vergeltung auf die Füchsin niedergehen würde; aber das unvermeidliche Ende nahte. Die Witwe begriff. Sie warf ihre beiden Degen in den Fluß, kniete sich in ein Boot und gab Befehl, sie zu dem Schiff des kaiserlichen Kommandanten zu bringen.

Es war die Dämmerstunde des Abends: Der Himmel war voller Drachen, diesmal von gelber Farbe. Die Witwe murmelte einen Satz: »Die Füchsin sucht die Schwinge des Drachen«, sagte sie, als sie an Bord stieg.

Die Apotheose

Die Chronisten berichten, die Füchsin habe Verzeihung erlangt und ihr zähes Alter dem Opiumschmuggel gewidmet. Sie hörte auf, Die Witwe zu sein; sie legte sich einen Namen bei, der übersetzt lautet: Leuchtglanz der wahrhaftigen Unterweisung.

»Von jenem Tag an«, heißt es bei einem Geschichtsschreiber, »kamen die Barken wieder zu ihrem Frieden. Die vier Meere und die zahllosen Flüsse waren sichere und glückhafte Wege.

Die Bauern konnten die Schwerter verkaufen und Ochsen dafür einhandeln, um ihre Äcker zu bestellen. Sie brachten Opfer dar, sprachen huldigende Gebete auf den Gipfeln der Berge und hatten am Tag singend ihre Lust hinter Wandschirmen.«

Der Schandtatenmakler Monk Eastman

Die aus diesem Amerika

Scharf umrissen von blaßblauen Wänden oder einem hohen Himmel tanzen zwei Compadritos, eingegossen in schwarzes Tuch, auf Weiberschuhen einen äußerst ernsten Tanz, den Tanz der gleichen Messer, bis von einem Ohr die Nelke abspringt, weil das Messer in einen Menschen gefahren ist, der mit seinem waagerechten Tod den Tanz ohne Musik beschließt. Resigniert stülpt sich der andere den Schlapphut auf und verbringt seine alten Tage damit, von diesem so lauteren Zweikampf zu erzählen. Dies ist die detaillierte Gesamtgeschichte unserer Schurken. Die Geschichte der streitbaren Männer von New York ist schwindelerregender und gröber.

Die aus dem anderen

Die Geschichte der Banden von New York (ans Licht gebracht von Herbert Asbury im Jahre 1928 in einem prächtig ausgestatteten Band von 400 Seiten Oktav) ist verworren und grausam wie barbarische Kosmogonien und hat viel von deren gigantischer Geistlosigkeit: unterirdische Gewölbe ehemaliger Bierbrauereien, geeignet als Mietskasernen für Neger, ein rachitisches New York von drei Stockwerken Höhe, Räuberbanden wie die Swamp Angels (Sumpfengel), die zwischen Kloakenlabyrinthen marodierten; Räuberbanden wie die Daybreak Boys (Tagesanbruch-Jungs), die frühreife Mörder von zehn und elf Jahren aufnahmen; einzelgängerische und tolldreiste Riesenkerle wie die Plug Uglies (Fiese Rowdies), die das unwahrscheinliche Gelächter des Nächsten mit der steifen, mit Wolle ausgestopften Melone und dem vom Wind der Vorstadt geblähten, weitfaltigen Hemd hervorriefen, aber in der rechten Hand einen Knüppel und die gründliche Pistole hatten; Räuberbanden wie die Dead Rabbits (Tote Kaninchen), die unter einem gepfählten Kaninchen als Feldzeichen die Schlacht aufnahmen; Männer wie Johnny Dolan, der Dandy, der berühmt war durch die eingeölte Tolle auf seiner Stirn, durch die Spazierstöcke mit Affenkopf und die sinnreiche Vorrichtung aus Kupfer, die er über den Daumen zu ziehen pflegte, um die Augen des Gegners auszuquetschen; Männer wie Kit Burns, der imstande war, mit einem einzigen Biß eine lebende Ratte zu köpfen; Männer wie Blind Danny Lyons, ein blonder Junge mit riesigen toten Augen, Zuhälter dreier Huren, die stolz für ihn auf den Strich gingen; Reihen von Häusern mit roter Laterne, so das Haus jener sieben Schwestern aus New England, die, was am Weihnachtsabend einkam, für mildtätige Zwecke spendeten; Kampfplätze für ausgehungerte Ratten und Hunde; chinesische Spielhöllen; Frauen wie die mehrfache Witwe Red Norah, Geliebte und Trophäe aller Männer, die der Bande der Gophers vorstand; Frauen wie Lizzie the Dove, die Trauerkleider anzog, als Danny Lyons hingerichtet wurde, und der Gentle Maggie, die ihr die alte Leidenschaft für den toten Blinden streitig machte, die Gurgel durchschnitt; Aufstände, wie der einer wildbewegten Woche des Jahres 1863, wobei sie hundert Gebäude in Brand steckten und sich um ein Haar der Stadt bemächtigt hätten; Straßenkämpfe, bei denen der einzelne wie in einem Meer unterging, weil sie ihn zu Tode trampelten; Diebe und Pferdevergifter wie Yoske Nigger – aus alldem webt sich diese chaotische Geschichte zusammen. Ihr berühmtester Held ist Edward Delaney, alias William Delaney, alias Joseph Marvin, alias Joseph Morris, alias Monk Eastman, Anführer von zwölfhundert Männern.

Der Held

Diese Stufenleiter fingierter Namen (verwirrend wie ein Spiel mit Masken, bei dem man nie weiß, welche welche ist) unterschlägt seinen eigentlichen Namen – wenn wir so weit gehen, so etwas für menschenmöglich zu halten. Fest steht, daß im standesamtlichen Register von Williamsburg, Brooklyn, der Name Edward Ostermann lautet, der später zu Eastman amerikanisiert wurde. Befremdlich ist die Tatsache, daß dieser wüste Schurke hebräischer Abkunft war. Er war der Sohn eines jener Gastwirte, die an ihrem Lokal das Zeichen für koscher anbringen, und wo Männer mit Rabbinerbärten das ausgeblutete, dreimal gereinigte Fleisch von nach ritueller Vorschrift abgestochenen Kälbern ohne Gefährdung zu sich nehmen können. Im Alter von neunzehn Jahren, gegen 1892, eröffnete er mit Hilfe seines Vaters eine Vogelhandlung. Die Lebensweise der Tiere aufzuspüren, ihre kleinen Beschlüsse und ihre unerforschliche Unschuld zu beobachten, war eine Leidenschaft, die ihm bis ans Ende blieb. In späteren Glanzepochen, als er verächtlich die Sandblattzigarren der schmierigen Sachems von Tammany zurückwies oder die besten Bordelle besuchte in einem Automobil, das wie der natürliche Sohn einer Gondel aussah, machte er ein zweites, aber falsches Geschäft auf, das hundert edle Katzen und mehr als vierhundert Tauben beherbergte – die jedoch für niemanden käuflich waren. Er liebte jedes Tier und pflegte zu Fuß ihr Gehege zu durchwandern, auf dem Arm eine beglückte Katze, mit andern, die ihm eifersüchtig nachstrichen.

Er war ein niederschmetternder und riesenhafter Mann. Der Nacken war gedrungen wie bei einem Stier, die Brust unbezwinglich, die Arme streitbar und lang, das Nasenbein gebrochen, das Gesicht, obwohl von Narben gezeichnet, nicht so bedeutend wie der Körper, die Beine gekrümmt wie die eines Reiters oder Seemanns. Auf ein Hemd konnte er ebenso leicht verzichten wie auf einen Rock, nicht jedoch auf ein schmieriges Hütchen, das auf seinem zyklopischen Schädel thronte. Die Menschen pflegen sein Andenken. Äußerlich ist der konventionelle Filmgangster eine Kopie von ihm, nicht von dem grobschlächtigen und aufgeschwemmten Capone. Von Wolheim wird gesagt, sie hätten ihn für Hollywood engagiert, weil seine Züge unmittelbar auf die des unvergessenen Monk Eastman anspielten … Dieser pflegte sein Räuberimperium mit einer blaugefiederten Taube auf der Schulter zu durchstreifen, wie ein Stier mit einem Finken auf dem Rücken.

Um das Jahr 1894 gab es in der Stadt New York eine Überfülle öffentlicher Tanzsalons. Eastman war beauftragt, in einem von ihnen für Ordnung zu sorgen. Die Legende berichtet, daß der Impresario ihn nicht annehmen wollte, und daß Monk seine Tauglichkeit unter Beweis stellte, indem er mit Getöse das Riesenpaar, das den Posten bisher versehen hatte, demolierte. So hielt er die Stellung bis 1899, gefürchtet und allein.

Für jeden Krakeeler, den er zum Schweigen brachte, schnitzte er mit dem Messer eine Kerbe in den derben Knüppel. Eines Abends fesselte eine spiegelnde Glatze, die sich über einen Bierkrug neigte, seine Aufmerksamkeit, und er zerschmetterte sie mit einem Hieb. »Mir fehlte eine Marke an Fünfzig!« rief er hinterher aus.

Die Herrschaft

Von 1899 an war Eastman nicht nur berühmt. Er war der Wahlkampf-Caudillo einer wichtigen Zone und bezog stattliche Einkünfte von den Häusern mit roter Laterne, den Spielhöllen, den Straßendirnen und den Räubern dieses schäbigen Lehens. Die Komitees holten seinen Rat ein, wenn größere Raubzüge zu organisieren waren, aber auch Einzelverbrecher wandten sich an ihn. Dies waren seine Honorare: 15 Dollar ein abgerissenes Ohr, 19 ein gebrochenes Bein, 25 ein Beinschuß, 25 ein Messerstich, 100 das komplette Geschäft. Manchmal führte Eastman, um nicht aus der Übung zu kommen, einen Auftrag persönlich durch.

Eine Grenzfrage (heikel und mißliebig wie jene anderen, die das internationale Recht auf die lange Bank schiebt) brachte ihn in Gegensatz zu Paul Kelly, dem berühmten Hauptmann einer anderen Bande. Mit Kugelwechseln und Spähtruppgefechten hatte man eine Grenze festgelegt. Eastman überschritt sie eines Morgens und wurde von fünf Männern angegriffen. Mit seinen schwindelerregenden Affenarmen und mit dem Knüppel brachte er drei zur Strecke, aber sie jagten ihm zwei Kugeln in den Unterleib und ließen ihn für tot liegen. Eastman drückte die frische Wunde mit Daumen und Zeigefinger zusammen und taumelte wie ein Betrunkener zum nächsten Hospital. Das Leben, das hohe Fieber und der Tod machten ihn sich mehrere Wochen lang streitig, aber seine Lippen erniedrigten sich nicht dazu, irgendeinen anzugeben. Als er wieder draußen war, herrschte offener Krieg und blühte in ständigen Gefechten bis zum 19. August 1903.

Die Schlacht von Rivington

An die hundert Helden, die sich kaum von den Photographien, die in den Handbüchern verbleichen, unterschieden, an die hundert von Tabak- und Alkoholdunst durchdrungene Helden, an die hundert Helden in Strohhüten mit farbigem Band, an die hundert Helden, mehr oder weniger an Geschlechtskrankheiten, Zahnfäule, Erkrankungen der Atemwege oder der Nieren leidend, an die hundert Helden, so unbedeutend oder strahlend wie die von Troja und Junín, lieferten sich diese düstere Waffentat im Schatten der Pfeilerbogen der Hochbahn. Ursache war der Tribut, den Kellys Pistolenmänner dem Impresario einer Spielhölle, einem Kumpan Monk Eastmans, abverlangten. Einer der Pistolenmänner wurde getötet, und die anschließende Schießerei wuchs sich zu einer Schlacht ungezählter Revolver aus. Aus der Deckung der hohen Pfeiler schossen Männer mit rasiertem Kinn stillschweigend; sie bildeten das Zentrum eines aufgewühlten Horizonts von Mietdroschken, befrachtet mit kampfdurstigen Reserven und Colt-Artillerie in den Fäusten. Was empfanden die Hauptpersonen dieser Schlacht? Erstens (glaube ich) standen sie unter dem brutalen Eindruck, daß der irrsinnige Lärm von hundert Revolvern sie im nächsten Augenblick zunichte machen würde; zweitens (glaube ich) unter dem Eindruck der nicht minder irrigen Sicherheit, daß, wenn die erste Salve sie nicht niederstreckte, sie unverwundbar seien. Soviel ist sicher, daß sie mit Inbrunst kämpften, hinter dem Schanzwerk aus Eisen und Nacht. Zweimal mischte sich die Polizei ein, und zweimal schlugen sie sie zurück. Im ersten Morgengrauen erlosch der Kampf, als sei er obszön oder gespenstisch. Unter den hohen Bogen aus Eisengerüsten blieben sieben Schwerverwundete liegen, vier Leichen und eine tote Taube.

Knistern im Gebälk

Die Gemeindepolitiker, in deren Diensten Monk Eastman stand, leugneten vor der Öffentlichkeit stets ab, daß derartige Banden existierten oder erklärten, es handle sich um bloße Freizeitvereine. Die indiskrete Schlacht von Rivington alarmierte sie. Sie beorderten die beiden Hauptleute zu sich, um ihnen die Notwendigkeit eines Waffenstillstandes zu bedeuten. Kelly (der sehr wohl wußte, daß die Politiker mehr als alle Colts der Welt geeignet waren, die Polizeiaktion versanden zu lassen) sagte auf der Stelle Ja; Eastman (mit der Überheblichkeit seines gewaltigen rohen Körpers) dürstete nach mehr Detonationen und Gefechten. Er weigerte sich zunächst, und man mußte ihm mit Gefängnis drohen. Schließlich hielten die beiden berühmten Verbrecher in einer Bar eine Konferenz ab, jeder mit einer Sandblattzigarre im Mund, die Rechte am Revolver und umringt vom Schwarm wachsamer Pistolenschützen. Sie kamen zu einer amerikanischen Entscheidung: den Ausgang des Streits einem Box-Match zu überlassen. Kelly war ein außerordentlich gewandter Boxer. Das Duell fand in einem Schuppen statt und war haarsträubend. Hundertvierzig Zuschauer nahmen daran teil, darunter Kerle mit verknautschter Mütze und Weiber mit verwegen aufgetürmter Frisur. Es währte zwei Stunden, und beide waren am Schluß völlig ausgepumpt. In der Woche darauf knatterten wieder die Schießereien. Monk wurde verhaftet – zum x-ten Male –, seine Schirmherren sagten sich erleichtert von ihm los; der Richter prophezeite ihm in aller Ehrlichkeit zehn Jahre Gefängnis.

Eastman gegen Deutschland

Als der noch immer verblüffte Monk aus Sing-Sing entlassen wurde, hatten sich die zwölfhundert Räuber seines Kommandos in alle Winde zerstreut. Er konnte sie nicht wieder zusammenkriegen und beschied sich damit, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Am 8. September 1917 verursachte er auf offener Straße einen Tumult. Am 9. beschloß er, an einem anderen Tumult teilzunehmen, und meldete sich zu einem Infanterieregiment.

Wir kennen ein paar Einzelheiten seines Feldzugs. Wir wissen, daß er die Festnahme von Gefangenen leidenschaftlich mißbilligte, und daß er einmal (mit dem nackten Gewehrkolben) diese beklagenswerte Praktik unterband. Wir wissen, daß es ihm glückte, aus dem Lazarett auszubrechen und in den Schützengraben zurückzukehren. Wir wissen, daß er sich in den Kämpfen bei Montfaucon auszeichnete. Wir wissen, daß er später die Ansicht äußerte, gewisse Tänzchen in der Bowery seien wilder als der ganze europäische Krieg.

Das mysteriöse logische Ende

Am 25. Dezember 1920 kam der Körper Monk Eastmans in einer der Straßen der New Yorker City zum Vorschein. Er hatte fünf Kugeln abbekommen. In glücklicher Unkenntnis des Todes umstrich ihn einigermaßen verdutzt eine Katze gewöhnlichster Sorte.

Der uneigennützige Mörder Bill Harrigan

Das Bild der Landflächen Arizonas vor jedem anderen Bild: das Bild der Landflächen Arizonas und New Mexicos, Landflächen mit einem berühmten Untergrund von Gold und Silber, schwindelerregende und luftige Landflächen, Landflächen der monumentalen Hochebene und der zarten Farben, Landflächen mit dem weißen Schimmer von Gebein, das die Vögel abgeschält haben. Auf diesen Landflächen ein anderes Bild, das Bild von Billy the Kid: der Reiter, verwachsen mit seinem Pferd, der junge Bursche mit den harten Pistolenschüssen, die die Wüste betäuben, der Entsender unsichtbarer Kugeln, die auf Distanz töten, wie ein Zauber.

Die von Metallen geäderte Wüste, dürr und gleißend. Der fast knabenhafte Jüngling, der, als er mit einundzwanzig Jahren starb, der irdischen Gerechtigkeit einundzwanzig Menschenleben schuldig war – »Mexikaner nicht eingerechnet«.

Der Larvenzustand

Um das Jahr 1859 wurde der Mann, der zu Schrecken und Ruhm Billy the Kid werden sollte, im Souterrain einer New Yorker Mietskaserne geboren. Es heißt, daß der erschöpfte Schoß einer Irin ihn gebar, doch wuchs er unter Negern auf. In diesem Durcheinander von Negerschweiß und Kraushaar genoß er das Vorrecht, das Sommersprossen und ein rötlicher Schopf verleihen. Er praktizierte den Hochmut, ein Weißer zu sein; im übrigen war er ausgemergelt, ungebärdig und niederträchtig. Mit zwölf Jahren war er in der Bande der Swamp Angels (Sumpfengel) tätig, Gottheiten, die zwischen den Kloaken ihr Wesen trieben. In Nächten, wenn der Nebel brandig roch, tauchten sie aus diesem stinkenden Labyrinth auf, folgten dem Kurs irgendeines deutschen Matrosen, legten ihn mit einem Schlag auf den Kopf um, zogen ihn bis auf die Unterwäsche aus und verfügten sich daraufhin wieder zu dem anderen Unrat. Ihr Anführer war ein ergrauter Neger, Gas Houser Jonas, der auch als Vergifter von Pferden einen Namen hatte.

Zuweilen kippte aus der Dachluke eines buckligen Hauses dicht am Wasser eine Frau über dem Kopf eines Passanten einen Aschenkasten aus. Der Mann zappelte und rang nach Luft. Sogleich umschwärmten ihn die Sumpfengel, zerrten ihn in eine Kellermündung und raubten ihn aus.

So stand es um die Lehrjahre Bill Harrigans, des künftigen Billy the Kid. Er verschmähte nicht die Darbietungen der Bühne; es machte ihm Spaß (wohl ohne die leiseste Vorahnung, daß es Symbole und Lettern seines Schicksals waren), Cowboy-Melodramen beizuwohnen.

Go West!

Wenn die überfüllten Theater der Bowery (deren Besucher bei der geringsten Unpünktlichkeit des Vorhangziehers »Hoch mit dem Lappen!« brüllten) von diesen Reiter- und Pistolenstücken wimmelten, so ist die Ursache dafür ganz einfach die, daß Amerika damals dem Zug nach dem Westen erlag. Jenseits der Sonnenuntergänge war das Gold von Nevada und Kalifornien, war die Axt, die die Zedern fällte, war das gewaltige babylonische Haupt des Bison, der Sombrero und das vielzahlige Lager von Brigham Young, die Zeremonien und der Zorn des Roten Mannes, die klare Luft der Wüsten, die spröde Grassteppe, die Erde in ihrer Urgestalt, deren Nähe die Herzen höher schlagen läßt, wie die Nähe des Meeres. Der Westen rief. Ein anhaltendes taktmäßiges Geräusch erfüllte jene Jahre: Es waren die Schritte von Tausenden amerikanischer Männer, die den Westen in Besitz nahmen. In diesem voranrückenden Zug befand sich um das Jahr 1872 auch der immer geschmeidige Bill Harrigan, der aus einer rechteckigen Zelle Reißaus genommen hatte.

Vernichtung eines Mexikaners

Die Geschichte (die in ihrem Fortschreiten ähnlich wie gewisse Filmregisseure mit zusammenhanglosen Bildern arbeitet) versetzt uns jetzt in eine verrufene Kneipe, die in der allgewaltigen Wüste verloren wie auf hoher See liegt. Die Zeit: eine rauhe Nacht des Jahres 1873; der genaue Ort: der Llano Estacado (New Mexico). Die Erde ist fast übernatürlich glatt, der Himmel jedoch, mit abgestuften Wolkenschichten, mit Sturm- und Mondfetzen, ist voll bröckelnder Brunnen und Gebirgsmassen. Am Boden liegt der Schädel einer Kuh; Gebell und Augenfunkeln von Kojoten im Finstern, edle Pferde und das schräge Licht der Kneipe. Drinnen, mit den Ellenbogen auf die einzige Theke gestützt, trinken müde und stämmige Männer einen aufrührerischen Alkohol und prahlen mit großen Silbermünzen, die mit einem Adler und einer Schlange geprägt sind. Ein Betrunkener singt unbekümmert. Einige sprechen ein Idiom mit vielen S-Lauten; es muß Spanisch sein, da man die Männer, die es sprechen, verachtet. Bill Harrigan, die rötliche Ratte aus der Mietskaserne, ist unter den Trinkenden. Er hat ein paar Schnäpse geschluckt und will sich noch einen geben lassen, vielleicht, weil er keinen Cent mehr in der Tasche hat. Er ist ganz erschlagen vom Anblick der Männer dieser Wüste. Er sieht sie in ihrer Furchtbarkeit, ihrem Ungestüm, ihrem Glück, er sieht sie abscheulich geschickt im Umgang mit störrischen Rindern und hohen Pferden. Plötzlich tritt lautlose Stille ein, von der nur das sinnlose Gegröle des Betrunkenen nichts weiß. Ein mehr als stattlicher Mexikaner mit dem Gesicht einer alten Indiofrau ist hereingekommen. Er protzt mit einem ausladenden Sombrero und zwei Pistolen an seinen Seiten. In hartem Englisch wünscht er allen Gringos, Söhnen von Hündinnen, die da trinken, einen guten Abend. Keiner nimmt die Herausforderung an. Bill fragt, wer das sei, und man flüstert ihm ängstlich zu, der Dago – der Diego – sei Belisario Villagrán aus Chihuahua. Gleich darauf erfolgt eine Detonation. Aus der Deckung hinter der Sperrkette hochgewachsener Männer hat Bill auf den Eindringling gefeuert. Das Glas fällt aus Villagráns Faust; dann fällt der ganze Mann. Der braucht keine weitere Kugel. Ohne den prächtigen Toten eines Blickes zu würdigen, nimmt Bill den Schwatz von vorher wieder auf: »Wirklich?« sagt er.2 »Also, ich bin Bill Harrigan aus New York.« Der Betrunkene singt nach wie vor, bedeutungslos.

Der abschließende Höhepunkt ist leicht zu erraten. Bill nimmt Händedrücken und Schmeichelworte entgegen, Hurrarufe und Whiskies. Einer bemerkt, daß sein Revolver noch kein Zeichen hat und schlägt ihm vor, er solle eines hineinritzen, um den Tod Villagráns zu vermerken. Billy the Kid nimmt zwar das Schnappmesser des Betreffenden entgegen, aber er sagt: »Es lohnt sich nicht, Mexikaner zu notieren.« Das genügt wohl noch nicht. In dieser Nacht breitet Bill seine Decke neben der Leiche aus und schläft bis zum Morgengrauen – aus Angabe.

Tote, jawohl!

Aus dieser glücklichen Detonation (im Alter von vierzehn Jahren) wurde Billy the Kid geboren, der Held, und es starb der verstohlene Bill Harrigan. Das Bürschchen aus der Kloake und der Kopfschlägerei stieg zu einem Mann von der Grenze auf. Er wurde ein Reiter; er lernte gerade zu Pferde sitzen, nach der Art von Wyoming und Texas, nicht mit zurückgelehntem Oberkörper, nach der Art von Oregon und Kalifornien. Nie glich er voll und ganz seiner Legende, doch kam er ihr näher. Etwas von dem New Yorker Strolch lebte in dem Cowboy fort; er übertrug auf die Mexikaner den Haß, den ihm vordem die Neger eingeflößt hatten; aber die letzten Worte, die er sprach, waren Worte (Schimpfworte) auf Spanisch. Er erlernte die schweifende Kunst der Herdentreiber. Er erlernte die andere, schwierige Kunst, Männern zu befehlen. Beide Künste verhalfen ihm dazu, daß ein guter Viehräuber aus ihm wurde. Zuweilen rissen ihn die Gitarren und Bordelle Mexikos hin.