1,99 €
Die "Gesammelten Werke von Balzac: Romane, Erzählungen & Essays" präsentieren das literarische Genie von Honoré de Balzac, der die komplexen Facetten der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts durch eine Vielzahl von Charakteren und Geschichten beleuchtet. Diese illustrierte Ausgabe kombiniert prägnante Prosa mit realistischer Analyse, wodurch der Leser in die vielschichtige Welt der "Komödie humaine" eintauchen kann. Balzacs unverwechselbarer Stil, geprägt von einem tiefen psychologischen Einblick und einer meisterhaften Erzählstruktur, wird durch die hochwertigen Illustrationen ergänzt, die den Text visuell bereichern und kontextualisieren. Honoré de Balzac (1799-1850) gilt als einer der Wegbereiter des Realismus in der Literatur. Sein aufmerksames Studium der sozialen und politischen Verhältnisse des französischen Lebens und sein eigenes bewegtes Leben als Schriftsteller prägten seinen Schreibstil maßgeblich. Balzac zog Inspiration aus seinem Umfeld, das von wirtschaftlichen Umwälzungen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt war, und nutzte seine Erfahrungen, um eine umfassende und oft kritische Bestandsaufnahme seiner Zeit zu schaffen. Diese Ausgabe ist ein unverzichtbares Werk für jeden Literaturinteressierten, der ein tiefgehendes Verständnis der französischen Kultur und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erlangen möchte. Die thematische Vielfalt, die von sozialen Dramen bis hin zu philosophischen Reflexionen reicht, macht das Buch zu einem faszinierenden Leseerlebnis. Leser werden aufgefordert, sich auf diese literarische Reise zu begeben und die zeitlosen Themen von Ambition, Liebe und menschlicher Schwäche zu erkunden. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Die Autorenbiografie hebt persönliche Meilensteine und literarische Einflüsse hervor, die das gesamte Schaffen prägen. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Diese illustrierte Ausgabe Gesammelte Werke von Balzac: Romane, Erzählungen & Essays bietet einen breit angelegten Einblick in das Schaffen Honoré de Balzacs. Sie vereint Romane in vollständiger Länge, eine repräsentative Auswahl an Erzählungen und Novellen, grundlegende essayistische Texte sowie eine biografische Skizze. Ziel ist es, die Vielgestaltigkeit der Comédie humaine in einem kohärenten Leseraum sichtbar zu machen, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Stücke zu mindern. Die beigefügten Abbildungen begleiten die Lektüre, veranschaulichen Milieus und Atmosphären und öffnen zusätzliche Zugänge zu Balzacs Welt aus Stadt, Provinz und Salon. So entsteht ein Panorama, das sowohl Überblick als auch Vertiefung ermöglicht.
Honoré de Balzac (1799–1850) entwarf mit der Comédie humaine einen umfassenden literarischen Kosmos, in dem sich die französische Gesellschaft seiner Zeit spiegelt. Charakteristisch sind wiederkehrende Figuren und ineinandergreifende Schauplätze: Begegnungen, Anspielungen und Querverbindungen schaffen eine lebendige Topografie der Restauration und Julimonarchie. Dieses Prinzip der Vernetzung prägt auch die vorliegende Sammlung. Sie zeigt, wie aus Einzeltexten ein Gesamtorganismus entsteht, der Biografien, Institutionen und Leidenschaften zusammenführt. Dabei verzichtet die Edition auf kommentierende Vereinheitlichung und lässt die Texte in ihrer je eigenen Tonlage sprechen: analytisch, satirisch, sentimental, phantastisch oder historisch.
Der Romanbereich eröffnet das Zentrum von Balzacs Werk. Hier stehen prägende Titel wie Das Chagrinleder, Louis Lambert, Der Landarzt, Eugénie Grandet, Vater Goriot, Die Lilie im Tal, Die alte Jungfer, Verlorene Illusionen, Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang, Glanz und Elend der Kurtisanen, Der Dorfpfarrer, Die Frau von dreißig Jahren, Junggesellenwirtschaft, Kehrseite der Geschichte unserer Zeit sowie Lebensbilder: Band 1 & 2. Zusammengenommen entfalten sie private Schicksale und öffentliche Sphären, zeichnen das Gefüge von Familie, Geld, Recht und Ruhm und erkunden, wie Ambitionen, Gefühle und soziale Kräfte einander antreiben. Jeder Roman behauptet sich als Ganzes und fügt sich doch in das größere Bild.
Ein zentraler Schwerpunkt liegt auf den Pariser Szenen von Aufstieg und Austausch, in denen Literatur, Geld und Macht aufeinandertreffen. Verlorene Illusionen verknüpft die Welt des Drucks, der Presse und der Bühne mit der Ökonomie des Kredits; Glanz und Elend der Kurtisanen führt das gesellschaftliche Wechselspiel von Einfluss, Begehren und Information fort. Ergänzend zeigen Das Haus Nucingen und Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang die Mechanik von Vermögen, Vertrauen und Öffentlichkeit. Ohne Handlungsverläufe vorwegzunehmen, macht diese Gruppe sichtbar, wie Balzac ökonomische Logik, mediale Dynamiken und persönliche Entscheidungen in einer beweglichen sozialen Geographie verschaltet.
Gegenpol und Resonanzraum sind die Provinz- und Landlebensszenen. Der Landarzt und Der Dorfpfarrer rücken Gemeinsinn, Erziehung, Glauben und Fürsorge in den Blick und fragen, wie moralische Ordnungen im Alltag entstehen. In Eugénie Grandet, Die alte Jungfer, Die Frau von dreißig Jahren und Die Lilie im Tal werden familiäre Konstellationen, Heiratsstrategien und innere Konflikte mit großer psychologischer Genauigkeit ausgearbeitet. Szenen aus dem Landleben: Band 1 & 2 rahmen diese Perspektiven und zeigen, dass Balzacs Provinz keine Idylle ist, sondern ein Labor sozialer Kräfte: verbindlich, kontrollierend, produktiv – und stets mit der Hauptstadt verschaltet.
Neben dem dokumentarischen, realistischen Zugriff kultiviert Balzac ein metaphysisches und phantastisches Register. Das Chagrinleder verbindet eine wunderhafte Prämisse mit scharfer Milieustudie und stellt die Frage nach Wunsch, Wille und Lebensenergie. Louis Lambert ist ein introspektiver Roman über Geist, Begabung und Erkenntnis. Seraphita erweitert die spirituelle Dimension und sucht, religiöse Erfahrung in erzählerische Formen zu übersetzen. Diese Texte zeigen, wie souverän Balzac zwischen empirischer Beobachtung und spekulativer Idee wechselt – nicht als Gegensatz, sondern als komplementäre Methode, um das Unsichtbare im Sichtbaren anschaulich zu machen.
Die Erzählungen dieser Edition belegen Balzacs Meisterschaft der Verdichtung. Frühwerke wie Der Ball von Sceaux, Sarrasine, Vendetta, El Verdugo, Die Börse, Die Grenadiere oder Oberst Chabert entfalten in knapper Form große Motive: Ehre und Identität, Familienband und Rache, Kunst und Begehren, Pflicht und Gewissen. Spätere Stücke wie Facino Cane, Die Messe der Gottlosen, Die Entmündigung, Das Haus Nucingen und weitere zeigen die ganze Bandbreite vom intimen Kammerspiel bis zur gesellschaftlichen Miniatur. Wiederkehrende Personen, Orte und Themen knüpfen die Erzählungen an den Roman-Kosmos, ohne ihre narrative Eigenlogik zu beschneiden.
Ein eigener Strang gilt den historischen und politischen Stoffen. Katharina von Medici verbindet Porträt, Intrige und Zeitdiagnose; Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft erkundet die Schichtungen von Erinnerung, Gewalt und Loyalität. Beiträge wie Die Königstreuen, Der Auftrag oder Eine dunkle Geschichte öffnen zusätzliche Perspektiven auf Konflikte, in denen private Motive mit Staatsinteressen kollidieren. Balzac zeigt Geschichte nicht als bloße Kulisse, sondern als Triebwerk sozialer Rollen und persönlicher Entscheidungen. Die Verdichtung auf exemplarische Szenen erlaubt ihm, das Allgemeine im singulären Detail anschaulich zu machen – ohne die Komplexität zu vereinfachen.
Mit den drei Bänden der dreißig tolldreisten Geschichten schlägt die Sammlung einen Bogen ins burleske, sprachspielerische Fach. Hier parodiert Balzac in archaisierendem Ton Sitten, Gelüste und Machtspiele, greift volkstümliche Traditionen auf und treibt sie ins Groteske. Die beigegebene Tolldreiste Geschichten (Freie verkürzte Nachdichtung von Bierbaum/Riba) markiert die Wirkungsgeschichte im Deutschen und zeigt, wie diese Stücke in anderer Sprachgestalt neu zu klingen beginnen. Der komische Überschuss wirkt dabei nicht als bloßer Gegensatz zum Realismus, sondern als dessen Spiegel: Er macht Muster sichtbar, die der ernste Ton verdeckt.
Die Novellen Adieu und Lebewohl geben dem Moment des Abschieds eine dichte, vielfach gebrochene Form: Erinnerung, Verlust und Hoffnung werden in präzise arrangierten Szenen verhandelt. Kleine Leiden des Ehestandes, als Folge von Skizzen und Miniaturen, seziert mit Gelassenheit und Ironie die kleinen Mechaniken des Zusammenlebens. Zwischen lakonischer Beobachtung und pointierter Zuspitzung verbinden sich hier Erzählung und Analyse. Diese kürzeren Formen dienen Balzac als Labor für Techniken, die in den großen Romanen ausgreifen: Leitmotive, motivische Spiegelungen, Charaktertypologien und eine Ökonomie der Details, die Bedeutungen mit wenigen Strichen etabliert.
Die Abhandlung Physiologie der Ehe (1829) und die Physiologie des Alltagslebens zeigen Balzac als Analytiker der Sitten. Unter dem damals beliebten Schlagwort der „Physiologie“ kartiert er mit Humor und Schärfe Routinen, Rituale und Rollen, die das gesellschaftliche Leben strukturieren. Anekdote, Fallbeobachtung und typologische Ordnung greifen ineinander, um Verhaltensmuster sichtbar zu machen, ohne sie moralisch zu verengen. Diese essayistischen Texte sind keine Nebengleise, sondern methodische Schlüsseldokumente: Sie erklären, wie Balzac wahrnimmt, auswählt und ordnet – und warum seine Fiktionen eine so eigentümliche Mischung aus Genauigkeit, Energie und Weitblick besitzen.
Stilistisch verbindet Balzac detailgenaue Beschreibung, psychologischen Tiefgang und dramaturgische Ökonomie. Wiederkehrende Figuren und motivische Refrains erzeugen Kontinuität; Perspektivwechsel und Milieuregister schaffen Komplexität. Geld, Ruhm, Liebe, Arbeit, Glaube und Recht erscheinen nicht vereinzelt, sondern als Kräftefeld. Die beigefügte Biografie umreißt Leben und Arbeitsweise des Autors und verankert die Texte in ihrem Entstehungskontext. Zusammen ergibt sich ein offenes System, das bis heute lesbar bleibt: weil es nicht Lösungen predigt, sondern Möglichkeiten ausstellt. Diese Ausgabe lädt ein, Wege zu wählen – quer, chronologisch oder motivisch – und das Netz der Comédie humaine eigenständig zu erkunden.
Honoré de Balzac (1799–1850) gilt als Schlüsselfigur des französischen Realismus und als unermüdlicher Chronist der Gesellschaft seiner Zeit. Mit einer Mischung aus detailreicher Beobachtung, ökonomischem Denken und psychologischer Schärfe entwarf er ein weitverzweigtes Panorama, das Stände, Milieus und Lebensläufe verbindet. Seine Bücher erkunden Macht, Geld, Begehren und soziale Mobilität vom Provinznest bis zur Pariser Börse. Ob Roman, Erzählung, Novelle oder Essay: Balzac nutzte jede Form, um das moderne Leben in seinen Ursachen und Folgen sichtbar zu machen. Seine Figuren kehren wieder, entwickeln sich, vernetzen die Texte und begründen eine neuartige epische Kontinuität.
Ausbildung zunächst in juristischer Richtung, arbeitete Balzac in Pariser Kanzleien, bevor er sich entschloss, hauptberuflich zu schreiben. Diese Nähe zu Akten, Verträgen und Geschäftsgepflogenheiten prägte seine Darstellung von Eigentum, Kredit und Schuld ebenso wie sein Interesse an der Presse. Literarisch war er von der Romantik und vom historischen Erzählen beeinflusst, zugleich strebte er nach nüchterner, systematischer Beobachtung. Ausflüge in Philosophie und Mystik, sichtbar in Louis Lambert und Seraphita, ergänzen den realistischen Kern. Programmatik und Alltagsstudien verband er in Essays wie der Physiologie der Ehe sowie der Physiologie des Alltagslebens, die soziale Mechanismen und Verhaltensökonomien beleuchten.
Seinen frühen Durchbruch als Prosaschriftsteller flankierten kurze Formen, in denen Motive und Methoden erprobt wurden. 1830 erschienen Der Ball von Sceaux, Sarrasine, Vendetta sowie Novellen wie Adieu und Lebewohl. Kurz darauf folgten El Verdugo, Die Börse, Die Grenadiere und Oberst Chabert. In diesen Erzählungen lotet Balzac Identität, Rang, Ehre, Gewalt und das Spiel der Masken aus, häufig an Wendepunkten zwischen Provinz und Hauptstadt. Die pointierte Konstruktion, juristische Präzision und soziale Topografie sind bereits ausgeprägt, die Wiederkehr von Figuren vorsichtig vorbereitet. Zugleich schärfte er seine Sprache zwischen pathetischer Geste und beobachtendem, oft ironischem Ton.
Mit Romanen begann Balzac das großräumige Gesellschaftspanorama zu entfalten. Das Chagrinleder verknüpft Phantastik mit Erfahrungsanalyse und fragt nach der Kostenbilanz des Begehrens. Der Landarzt und Der Dorfpfarrer zeichnen ländliche Milieus und führen reformerische, seelsorgerische Ideen vor. Eugénie Grandet und Vater Goriot bieten exemplarische Studien über Geldmacht, Erbschaft, Affekt und die Wechselkurse der Beziehungen. Die Lilie im Tal verbindet intime Empfindung mit sozialer Geometrie. Louis Lambert ergänzt dies um die Grenze zwischen Genie und Vision. Diese Werke etablierten den Ton, die Themen und die personellen Netze, die seine umfangreichere Gesellschaftschronik tragen sollten.
In den großen Pariser Zyklen vertiefte Balzac die Analyse von Öffentlichkeit, Kredit und Karriere. Verlorene Illusionen verfolgt die Verwandlung durch Journalismus, Literaturmarkt und Druckereiwesen; Glanz und Elend der Kurtisanen beleuchtet Netzwerke aus Lust, Politik und Kapital. Das Haus Nucingen und Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang zeigen Finanzarchitektur, Spekulation und Firmenruin als dramatische Kräfte. Bereits Oberst Chabert und Die Börse verbinden Recht, Kriegserbe und Geldverkehr. Wiederkehrende Figuren verknüpfen Lebensläufe, wodurch individuelle Entscheidungen strukturelle Ursachen sichtbar machen. Balzac entwickelt so ein Labor der Moderne, in dem Sprache, Kredit und Ruhm ebenso wirken wie Zins, Skandal und Presse.
Vielgestaltig blieb sein Spätwerk, das psychologische, soziale und historische Linien bündelt. Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan, Eine Evatochter und Die falsche Geliebte kreisen um Geschlechterpolitik und Reputation. Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft und Katharina von Medici öffnen historische Perspektiven. Tante Lisbeth und Die Kleinbürger sezieren Verwandtschaft, Ressentiment und städtisches Aufstiegsbegehren. Kleine Leiden des Ehestandes, Junggesellenwirtschaft, Kehrseite der Geschichte unserer Zeit sowie Lebensbilder und Szenen aus dem Landleben fokussieren Alltagsrituale und moralische Ökonomien. Die dreißig tolldreisten Geschichten zeigen komische, grobkomische Register; spätere freie Nachdichtungen wie Tolldreiste Geschichten bezeugen die Wirkungsgeschichte.
In den letzten Jahren arbeitete Balzac unter enormem Tempo, plante, überarbeitete und verknüpfte Texte, bis Gesundheit und Kräfte nachließen. Er starb 1850, doch sein Werk wuchs in späteren Ausgaben zu einem zusammenhängenden System, dessen Figurenarchiv und soziale Kartografie Maßstäbe setzten. Sein Einfluss reicht von realistischen und naturalistischen Romanen bis zu modernen Serien- und Weltentwürfen; Techniken des Wiedererscheinens, der Motivverkettung und der ökonomischen Analyse bleiben wegweisend. Die in dieser Sammlung vereinten Romane, Erzählungen, Novellen und Essays zeigen die Spannweite eines Autors, der die Dynamik seiner Epoche erzählerisch entschlüsselte und bis heute intensiv gelesen wird.
Honoré de Balzac (1799–1850) schrieb den Großteil seiner Comédie humaine zwischen der Restauration und der Revolution von 1848. Die in dieser Sammlung versammelten Romane, Erzählungen, Novellen und Essays entstanden überwiegend von 1829 bis Mitte der 1840er Jahre und spiegeln die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche Frankreichs. Balzac verstand sein Projekt als umfassende „Geschichte der Sitten“, die durch wiederkehrende Figuren und ineinandergreifende Milieus Paris und die Provinz verbindet. Von frühen fantastischen und philosophischen Arbeiten bis zu groß angelegten Gesellschaftspanoramen zeichnet die Auswahl die Entstehung eines realistischen Erzählens nach, das zugleich von romantischen und historischen Impulsen durchdrungen bleibt.
Die politischen Rahmenbedingungen reichen vom Nachhall der Revolution und des Empire über die Bourbonenrestauration (1814/1815–1830) bis zur Julimonarchie Louis-Philippes (1830–1848) und den Erschütterungen von 1848. Balzac verlegte viele Handlungen bewusst in die Restauration, um Loyalitäten, Karrieren und Ressentiments jener Übergangszeit sichtbar zu machen. Texte mit revolutionärem oder frühneuzeitlichem Sujet – etwa eine Episode aus der Schreckensherrschaft oder die Studien zu Katharina von Medici – verbinden historische Rückblicke mit Diagnosen der Gegenwart. Andere Erzählungen thematisieren die Spätwirkungen napoleonischer Kriege im Zivilleben, das Verhältnis von alter Elite und aufstrebender Bourgeoisie sowie die fragilen Kompromisse der Julimonarchie.
Die rasche gesellschaftliche Mobilität der Jahrzehnte nach 1815 ist ein Leitmotiv. Balzac beobachtet, wie Besitz, Kredit und strategische Heiraten die alte Rangordnung verschieben. Das Faubourg Saint‑Germain, in dem der traditionalistische Adel seine Rituale pflegt, kollidiert mit den Kreisen von Bankiers, Börsianern und Spekulanten, die den Ton der neuen Zeit angeben. Romane wie Eugénie Grandet oder Cäsar Birotteaus Größe und Niedergang beleuchten provinzielles Kapital, Pariser Geschäftsformen und die Macht der Notare. In Glanz und Elend der Kurtisanen oder Das Haus Nucingen verknüpfen sich Geldflüsse, Salonpolitik und Prestigeökonomie zu einer präzisen Soziologie des Status.
Paris erscheint als Hauptfigur der Moderne, noch vor den großen Umbauten des Zweiten Kaiserreichs. Balzac kartiert Quartiere, Straßen und Häuser als soziale Koordinaten: der studentische Süden, Händler- und Börsengegenden, das aristokratische Westufer. Vater Goriot und Verlorene Illusionen zeigen, wie Mietshäuser, Pensionen und Hinterzimmer Karrierewege strukturieren. Zugleich bleibt die Spannung zwischen Provinz und Metropole zentral: Ehrgeiz, Talente und Werte werden auf den Weg nach Paris hin geprüft und oft transformiert. Diese Geografie ist nicht nur Kulisse, sondern Mechanismus, der Takt und Moral der Figuren formt und die Verflechtung von Öffentlichkeit und Privatheit sichtbar macht.
Die Provinz ist Gegenwelt und Spiegel. Szenen aus dem Landleben, Der Landarzt, Der Dorfpfarrer oder Eugénie Grandet führen in Orte, in denen Besitzverhältnisse, Heiratsstrategien, kirchliche Autorität und kommunale Netzwerke eng ineinandergreifen. Balzac zeichnet dichte Mikrogesellschaften mit eigenen Ehrenkodizes, deren Regelwerke in Konflikt mit Pariser Lebensformen geraten. Notare, Bürgermeister, Kuraten und Reeder bilden hier Knoten der Macht. Die Verlangsamung der Zeit, die Bedeutung von Gerüchten und die Sichtbarkeit von Nachbarschaften geben der Provinz eine besondere Dramaturgie. Aus diesen lokalen Logiken gewinnt Balzac Maßstäbe, um das Tempo, die Anonymität und die Härte der Hauptstadt zu befragen.
Die ökonomische Moderne tritt als Ordnung des Kredits hervor. Wechsel, Hypotheken und der Kreislauf der Schulden sind Handlungsmotoren und Charakterprüfungen. Börsenplätze, Pariser Bankhäuser und spekulative Immobiliengeschäfte beleuchten die Verwundbarkeit von Karrieren. Cäsar Birotteau verfolgt die Dynamik von Aufstieg, Überdehnung und Insolvenz in einem Umfeld unvollkommener Regulierung. Erzählungen wie Die Börse oder Das Haus Nucingen zeigen, wie Buchhaltung, Insiderwissen und gesellschaftliche Allianzen Gewinne erzeugen. Balzac reagierte damit auf reale Kreditexpansionen der 1830er und auf Krisenerscheinungen der 1840er Jahre; sein Interesse gilt weniger Zahlen als den sozialen Mechanismen, die Vertrauen und Macht verteilen.
Recht und Verwaltung bilden das Skelett dieser Welt. Der Code civil ordnet Ehe, Erbschaft und Eigentum; Notare, Richter, Anwälte und Gerichtsvollzieher geben den Takt vor. In Oberst Chabert rückt die Frage rechtlicher Identität und Anerkennung in den Blick, während Die Entmündigung die Eingriffe des Zivilrechts in das Leben der Familien beleuchtet. Balzac zeigt Akten, Gutachten und Protokolle als Quellen sozialer Realität. Die Institutionen sind nicht abstrakt, sondern bewohnt von Charakteren mit Interessen, Loyalitäten und Erinnerungen. So werden Gerichts- und Amtszimmer zu Bühnen, auf denen die legitime Ordnung mit den Grauzonen des Alltags verhandelt wird.
Die Ehe erscheint als Vertrag, Bühne und Konfliktfeld. Unter dem Regime des Zivilrechts bestimmen Mitgift, Gütertrennung und Vormundschaft die Handlungsspielräume von Frauen und Männern. Die Physiologie der Ehe und Kleine Leiden des Ehestandes analysieren, oft satirisch, die alltäglichen Mechanismen dieser Institution. Romane wie Die Frau von dreißig Jahren verknüpfen individuelle Erfahrung mit sozialen Normen. Zyklen wie Junggesellenwirtschaft beleuchten die Gegenfigur: männliches Alleinstehen als Strategie in Erbschafts- und Besitzfragen. Balzac schildert weibliche Einflusszonen zwischen Salon, Familie und Ökonomie ebenso wie männliche Karrieren, die auf Bündnisse gründen; Gefühl und Kalkül halten einander in produktiver Spannung.
Die literarische Öffentlichkeit wandelte sich in Balzacs Hauptschaffenszeit grundlegend. Günstige Massenpresse, Leihbibliotheken und das Feuilleton eröffneten neue Märkte; gleichzeitig verschärften Gesetze von 1835 den Druck auf Journalisten und Verleger. Balzac publizierte Romane sowohl in Zeitschriften als auch in Buchausgaben und passte seine Erzählrhythmen teilweise an die Serialisierung an. Verlorene Illusionen liefert eine berühmte Anatomie des Verlags- und Pressewesens, der Honorare, Rezensionen und literarischen Cliquen. Diese Produktionsbedingungen prägten die Rezeption: Figuren und Milieus wanderten von der Zeitschriftenseite auf den Salontisch, wodurch soziale Typen rasch Verbreitung fanden und Debatten über Moral und Geschmack befeuerten.
Intellektuell bewegt sich Balzac zwischen Romantik und aufkommendem Realismus. Sein programmatischer Vorzug besteht im Versuch, menschliche Gesellschaft wie eine Naturordnung zu beschreiben. Im berühmten Vorwort von 1842 skizziert er die Comédie humaine als Taxonomie sozialer „Arten“, beeinflusst unter anderem von zeitgenössischer Naturkunde. Diese Klassifikation trägt die zyklische Anlage der Szenen: privates, provinzielles, Pariser, politisches, militärisches und ländliches Leben. Die Dreißig tolldreisten Geschichten zeigen parallel eine spielerische Rückwendung zu älteren Sprach- und Erzähltraditionen. Beobachtung, Wiedererkennung und Vergleich ersetzen das einzelne Schicksal als alleinigen Träger der Bedeutung; Detailrealismus gewinnt Strukturkraft, ohne poetische oder historische Energien zu negieren.
Neben sozialer Psychologie interessiert Balzac die Grenze zwischen Wissenschaft und Übersinnlichem. Strömungen wie Mesmerismus, somnambule Experimente und der Einfluss Emanuel Swedenborgs liefern Vokabular und Motive für Louis Lambert und Seraphita. Das Fantastische markiert dabei weniger Flucht als Prüfstand: Es testet die Reichweite rationaler Erklärungen in einer Gesellschaft, die technische Neuerungen adaptiert, aber metaphysische Fragen nicht loswird. Diese Texte stehen neben streng beobachteten Milieus und zeigen, dass Balzacs Moderne aus konkurrierenden Wissensformen besteht. Naturphilosophie, Theologie und empirische Untersuchung überkreuzen sich, ohne einheitliche Synthese zu bilden, und prägen die Ambivalenz seiner Gesamtdarstellung.
Religiöse Motive treten häufig als soziale Praxis auf. Die Restaurationszeit sah eine katholische Erneuerung, die Liturgie, Bildung und Armenpflege neu gewichtete. In Der Dorfpfarrer erscheinen Seelsorge, Beichte und karitative Werke als Kräfte, die lokale Gemeinschaften formen. Die Messe der Gottlosen stellt Glaubenserfahrung neben Skepsis und Gewöhnung. Kehrseite der Geschichte unserer Zeit richtet den Blick auf diskrete Hilfsnetzwerke jenseits öffentlicher Aufmerksamkeit. Balzac interessiert sich weniger für Dogmen als für die Wirkung religiöser Institutionen auf Verhalten, Ehre und Versöhnung. Geistliche, Stifterinnen und fromme Bruderschaften wirken in denselben Räumen wie Notare und Händler und bilden fragile Moralsysteme.
Die Nachwirkungen der napoleonischen Kriege erscheinen in Biografien, die zwischen Heroismus und Vergessen pendeln. Veteranen, Witwen und verarmte Familien kämpfen mit Lücken in Anerkennung und Versorgung. Oberst Chabert kondensiert diesen Konflikt exemplarisch, ohne ihn auf ein individuelles Schicksal zu reduzieren. Militärische Erzählungen thematisieren das Heer als soziale Schule, in der Disziplin, Kameradschaft und Karriereversprechen entstanden, die nach 1815 politisch entwertet wurden. In Balzacs Gegenwart wird militärisches Kapital oft in zivilen Feldern mobilisiert – durch Kontakte, Habitus oder symbolisches Prestige –, bleibt jedoch verletzlich gegenüber juristischen, finanziellen und moralischen Prüfungen.
Balzacs Verfahren der wiederkehrenden Figuren schafft ein Netzwerk, das Erzählräume miteinander verknüpft. Ein Nebencharakter aus einer Erzählung wird zum Protagonisten eines Romans; Bankiers, Schriftsteller, Magistrate und Kurtisanen begegnen einander in wechselnden Konstellationen. Glanz und Elend der Kurtisanen oder Die Geheimnisse der Fürstin von Cadignan zeigen, wie Salons, intime Beziehungen und politische Intrigen sich über Jahre verschränken. Das Haus Nucingen macht sichtbar, wie Finanzmacht soziale Netze steuert. Späte Werke wie Tante Lisbeth verdichten das Zusammenspiel von Familienökonomie und gesellschaftlichem Ehrgeiz. Dieses System erzeugt historische Tiefendimension: Entscheidungen erscheinen als Knoten in langfristigen sozialen Dynamiken, nicht als isolierte Wendungen.
Durch historische Rückblenden reflektiert Balzac über Legitimität und Gewalt. Die Studien zu Katharina von Medici verhandeln frühneuzeitliche Machttechniken und religiöse Konflikte mit Blick auf moderne Staatsbildung. Eine Episode aus der Zeit der Schreckensherrschaft beobachtet Formen politischer Loyalität in Extremsituationen. Sarrasine verbindet die Kunstwelt mit Fragen von Identität und Repräsentation. Diese Texte ergänzen die Gegenwartspanoramen, indem sie zeigen, dass die Moderne sich aus älteren Strukturen speist. Das Historische liefert keine Antiquität, sondern Vergleichsmaßstäbe für die Gegenwart: Hofetikette, Hofintrige und Revolutionsjustiz erscheinen als Vorläufer jener diskreten Kräfte, die die Julimonarchie prägten.
Zeitgenössisch stießen Balzacs Werke auf breite Aufmerksamkeit und Widerspruch; sein Ringen mit Verlegern und Schulden ist gut dokumentiert und spiegelt die Kommerzialisierung des Literaturbetriebs. Mehrere Texte erschienen postum oder unvollendet, darunter Die Kleinbürger (1856). Spätere Generationen lasen die Comédie humaine als Grundtext des Realismus. Friedrich Engels lobte Balzacs gesellschaftliche Treffsicherheit trotz politischer Differenzen; Georg Lukács sah in ihm einen Meister des historischen Romans der bürgerlichen Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert analysierte Roland Barthes Sarrasine strukturalistisch. Zahlreiche Theater-, Film- und Fernsehbearbeitungen machten Motive und Figuren populär und verschoben Akzente der Interpretation je nach Medium und Epoche.
Diese illustrierte Gesamtschau zeigt Balzacs Projekt als Kommentar zur Entstehung der modernen Gesellschaft. Durch die Ordnung der Szenen – Privates, Provinz, Paris, Politik, Militär, Land – entsteht eine soziale Anatomie, die Geld, Recht, Geschlecht, Religion und Wissen zusammenliest. Einzeltexte wie Das Chagrinleder, Verlorene Illusionen oder Vater Goriot markieren Knotenpunkte in diesem Geflecht. Die Ausgabe eröffnet zudem historische Perspektiven auf die Lektürepraxis des 19. Jahrhunderts, in der Bild und Text kooperierten. Spätere Deutungen haben Schwerpunkte verschoben, doch der Kern bleibt: diese Werke protokollieren Kräfte, die die Moderne formten, und fordern zur erneuten Prüfung ihrer Mechanismen auf.
Ein junger Mann erlangt ein wundersames Stück Leder, das Wünsche erfüllt, jedoch jedes Begehren mit einem sichtbaren Schwinden der eigenen Lebenskraft bezahlt. Zwischen Pariser Vergnügungen, Ehrgeiz und Entsagung entspinnt sich eine Parabel über Verlangen, Selbstverzehrung und die Grenzen des Willens. Der Ton schwankt zwischen fantastischer Moralstudie und greller Gesellschaftssatire.
Porträt eines in sich gekehrten Denkers, dessen Schuljahre und geistige Experimente in eine radikale Suche nach dem Absoluten münden. Die Erzählung kontrastiert spekulative Philosophie und soziale Zwänge und fragt, was Genie der Gesellschaft schuldet. Kontemplativ, mystisch und introspektiv.
In einer Provinzstadt kollidieren die stille Hingabe einer jungen Frau und die kalte Habsucht eines patriarchalen Geizhalses. Die Handlung entfaltet, wie Geld, Erbe und soziale Berechnung intime Gefühle formen – oder ersticken. Nüchterne, präzise Realistik mit leiser Tragik.
In einer Pariser Pension opfert ein alternder Vater alles für die gesellschaftlichen Ambitionen seiner Töchter, während ein junger Aufsteiger die Mechanik von Macht und Beziehungen erlernt. Familienbande, Prestige und Geld verschränken sich zu einer schonungslosen Anatomie urbaner Sitten. Dicht, erbarmungslos und exemplarisch für Balzacs Großstadtpanoramen.
Eine Beichte der leidenschaftlichen, zugleich züchtig gezügelten Liebe eines jungen Mannes zu einer verheirateten Frau in ländlicher Umgebung. Innere Läuterung und unerfülltes Begehren spiegeln sich in Naturbildern und feinpsychologischer Beobachtung. Elegisch, empfindsam und von moralischen Konflikten durchzogen.
Die Hoffnungen und Kränkungen einer unverheirateten Frau geraten in einer provinziellen Intrige zu einer bitteren Komödie der Ressentiments. Kleingeist, soziale Enge und das unbarmherzige Gerede strukturieren Schicksale. Ironisch, präzise und mit feinem Gespür für verletzte Eitelkeiten.
Der Weg eines talentierten Provinzlers in die Pariser Welt der Presse, Literatur und später der Halbwelt entblößt ein System aus Korruption, Eitelkeit und Abhängigkeiten. Freundschaft, Ehrgeiz und die Macht charismatischer Figuren treiben Aufstiegsträume und Abstürze voran. Panoramatisch, gesellschaftskritisch und dramaturgisch eng verflochten.
Das Porträt eines ehrbaren Parfümeurs, dessen kühne Spekulationen in der Kreditwirtschaft seinen gesellschaftlichen Glanz ins Wanken bringen. Reputation, Schulden und bürgerliche Tugenden werden als fragile Währungen sichtbar. Lehrreich, spannungsreich und zugleich voller Mitgefühl für bürgerliche Anständigkeit.
Auf dem Land versuchen ein Arzt und ein Pfarrer, durch moralische Autorität, Fürsorge und soziale Organisation Verwundete und Verirrte zu heilen. Armut, Schuld und Gemeinschaft bilden den Hintergrund einer paternalistischen, aber ernsthaften Reformidee. Programmatiche, empathische Studien über Heilung – der Körper, die Seele und das soziale Gefüge.
In Episoden entfaltet sich die Lebensbahn einer Frau, deren Ehe, Mutterschaft und Beziehungen die Möglichkeiten und Widersprüche weiblicher Selbstbestimmung im 19. Jahrhundert ausloten. Illusionen weichen Erfahrung, doch Würde und Klugheit stiften neue Horizonte. Nüchtern, analytisch und psychologisch sensibel.
Skizzen von Männerhaushalten, in denen Geselligkeit, Improvisation und ökonomische Kniffe den Alltag strukturieren. Aus kleinen Routinen werden komische Verwicklungen und Charakterstudien. Leicht satirisch, lebensnah und mit Sinn für die Maskeraden der Häuslichkeit.
Hinter der sichtbaren Politik agieren diskret tätige Kreise der Nächstenliebe, die Elend lindern und soziale Kälte durch stille Taten durchbrechen. Die Erzählung konfrontiert öffentliche Schlagzeilen mit verborgener Moral und persönlicher Läuterung. Leise, ernst und von einer Ethik der Barmherzigkeit getragen.
Galerien von Typen, Milieus und Situationen zeichnen ein Querschnittsbild aus Stadt und Provinz. Charakter, Gewohnheit und Stand verketten sich zu wiederkehrenden Mustern. Beobachtend, systematisch und auf soziale Mechanik fokussiert.
Kurzprosa über Stolz, Identität und Ehre in einer Gesellschaft, die Schein und Name hochhält. Familienfehden, Kriegsfolgen und ökonomische Kalküle treiben pointierte Konflikte voran. Rasch, dramatisch und mit scharfem Blick für Maskenspiele der Restauration.
Zwischen Küstentragödie, religiöser Schwärmerei und der Legende eines alten Musikers verhandeln diese Texte Transzendenz, Sehnsucht und die Macht der Kunst. Grenzen von Wirklichkeit und Vision verschieben sich zugunsten innerer Wahrheiten. Lyrisch, visionär und bisweilen mystisch.
Zwei Fallgeschichten erproben Grenzfälle von Gewissen und Gesetz, in denen Wohltat, Glaube und Vernunft neu gewichtet werden. Persönliche Loyalitäten geraten mit formalen Normen in Spannung. Nüchtern erzählt, doch ethisch vielstimmig.
Geldströme, Klatsch und Gefühl bilden im Salon ein enges Netz, in dem Beziehungen zugleich ökonomisch und emotional verhandelt werden. Finanzkunst, Selbstinszenierung und Liebesstrategien enthüllen Mechanik und Glanz der höheren Gesellschaft. Glitzernd im Ton, aber analytisch kühl.
Ein arrangiertes Gefühlsspiel schützt Ansehen und Freundschaft – und fordert einen stillen Preis. Loyalität, Täuschung und gesellschaftliche Erwartungen werden gegeneinander abgewogen. Zart ironisch und melancholisch.
Machtklugheit, Fanatismus und standhafte Treue werden an historischen Brennpunkten vermessen. Staat, Kirche und Individuum erscheinen als Kräfte, die moralische Entscheidungen verdunkeln oder klären können. Sachlich, detailbewusst und mit Sinn für Ambivalenzen der Geschichte.
Eifersucht, Habgier und Begierde zerfurchen Familien und Karrieren, während das Kleinbürgertum in seinen Routinen und Ressentiments seziert wird. Das Private wird zur Bühne gesellschaftlicher Machtspiele. Scharf, illusionslos und mit dunklem Humor.
Derb-heitere Schwänke und fabliauxartige Episoden feiern Körper, Witz und List in volkstümlichem Ton. Lustspiel des Allzumenschlichen, das Sitten und Autoritäten mit augenzwinkernder Respektlosigkeit spiegelt. Rabelaisianisch, verspielt und pointenreich.
Seltene Güter, riskante Missionen und undurchsichtige Affären zeigen Begehren, Pflicht und Schuld im Brennglas. Kleine Ursachen haben große soziale Folgen. Konzentriert, spannungsvoll und von moralischer Zweideutigkeit geprägt.
Satirische Miniaturen über Routinen, Tricks und Missverständnisse des Ehealltags. Aus Nebensächlichkeiten wachsen exemplarische Konflikte. Leicht, beobachtungsstark und pointiert.
Zwei verbundene Novellen über Trennung, Erinnerung und die Nachwirkungen von Kriegserlebnissen auf Liebe und Identität. Begegnung und Verlust kreisen um die Frage, was die Zeit aus Gefühlen macht. Tragisch, romantisch und eindringlich.
Ein essayistisches Handbuch des Zusammenlebens, das Rollen, Rituale und Strategien der Ehe in humorvoller Typenlehre beleuchtet. Beobachtung ersetzt Moralpredigt und entlarvt gesellschaftliche Konventionen. Ironisch, systematisch und streitbar.
Vignetten urbaner Routinen, Berufe und Gewohnheiten bilden eine Bestandsaufnahme moderner Lebensformen. Der Blick gilt Funktionsweisen, nicht heroischen Taten. Enzyklopädisch, amüsiert und exakt.
Ein kompaktes Lebensbild zeichnet Bildung, Arbeitsethos und thematische Fixpunkte des Autors im Kontext seiner Zeit nach. Werk und Zeitgeschichte spiegeln sich wechselseitig, ohne Legendenbildung. Sachlich, bündig und einordnend.
Geld, Begehren und gesellschaftliche Stellung bestimmen Beziehungen, während Presse, Justiz und Politik als Kräftefelder persönlicher Entscheidungen wirken. Wiederkehrende Figuren und vernetzte Schauplätze schaffen eine Welt, in der Einzelschicksale Muster sichtbar machen. Stilistisch reicht das Spektrum von satirischer Schärfe und dokumentarischer Präzision bis zu mystischer Vision – mit wachsender Panoramatendenz im Verlauf des Gesamtwerks.
Sterne (Tristam Shandy, Kap. CCCXXII)
Für Monsieur Savary Mitglied der Akademie der Wissenschaften
Gegen Ende Oktober 1829 trat ein junger Mann in das Palais-Royal, als die Spielhäuser, wie es das Gesetz vorschreibt, das eine hohen Steuern unterliegende Leidenschaft schützt, gerade öffneten. Ohne lange zu zögern, stieg er die Treppe zum Spielsaal hinauf, der die Nummer 36 trug.
»Ihren Hut bitte, Monsieur!« rief ihm mit trockener, mürrischer Stimme ein kleiner, alter Mann zu, der zusammengeduckt hinter einem Verschlag im Halbdunkel saß und, als er sich unvermittelt erhob, ein fahles, abstoßendes Gesicht zeigte.
Betritt man ein Spielhaus, dann nimmt einem das Gesetz zuerst einmal den Hut. Ist das ein symbolisches Vorzeichen, ein Akt der Vorsehung? Oder ist es nicht vielmehr eine Art Teufelspakt, der einen Pfand abfordert? Will man den Spieler vielleicht auf diese Weise nötigen, Ehrerbietung denjenigen gegenüber zu wahren, die ihm sein Geld abknöpfen wollen? Oder hat die Polizei, die ihre Nase in jeden schmutzigen Winkel der Gesellschaft steckt, gar ein Interesse daran, den Namen seines Hutmachers oder seinen eigenen zu erfahren, falls er ihn in sein Hutfutter geschrieben hat? Oder ob man etwa dem Schädel Maß nehmen will, um eine lehrreiche Statistik über die Größe der Spielerhirne aufzustellen? Über diesen Punkt hüllt sich die Verwaltung in tiefstes Schweigen. Aber eines muß der Spieler wissen: Sowie er den ersten Schritt zum grünen Tisch getan hat, gehört ihm sein Hut ebensowenig, als er sich selber gehört. Er ist dem Spiel verfallen, er, seine Habe, sein Hut, sein Stock und sein Mantel. Verläßt er schließlich den Saal, demonstriert das Spielhaus wie mit einem Zeichen beißenden Hohnes, daß es ihm wenigstens etwas läßt: den Hut. Sollte er jedoch einen neuen Hut besitzen, wird er aus seinem Schaden lernen, daß es ratsam ist, sich eine spezielle Kleidung fürs Spiel zuzulegen.
Das Erstaunen des jungen Mannes, als er für seinen Hut, dessen Ränder zum Glück schon leicht abgegriffen waren, eine numerierte Marke erhielt, zeugte deutlich genug von einer noch unverdorbenen Seele, daher sandte ihm auch der kleine Alte, den der Fieberrausch des Spielerlebens von Jugend an verzehrt zu haben schien, einen trüben teilnahmslosen Blick, aus dem ein Philosoph das Elend der Spitäler, das unstete Dasein der Gescheiterten, Protokolle unzähliger Selbstmorde, lebenslänglicher Zwangsarbeit oder Verbannungen an den Coatzacoalco hätte herauslesen können. Dieser Mann, dessen längliches weißes Gesicht nur noch von Darcets Gallertsuppen genährt schien, verkörperte das bleiche Bild der auf ihren einfachsten Ausdruck gebrachten Leidenschaft. In seinem runzeligen Gesicht hatten langjährige Qualen ihre Spuren hinterlassen; anscheinend verspielte er sein kärgliches Gehalt noch am Zahltag. Wie alte Schindmähren, die die Peitsche nicht mehr spüren, so vermochte ihn nichts mehr zu erschüttern.
Das dumpfe Stöhnen der Spieler, die davongingen und alles verloren hatten, ihre stummen Flüche, ihre stumpfen Blicke machten auf ihn schon lange keinen Eindruck mehr. Er war das leibhaftig gewordene Spiel. Hätte der junge Mann diesen erbärmlichen Zerberus näher betrachtet, hätte er sich vielleicht gesagt: ›In diesem Herzen gibt es nur noch ein Kartenspiel!‹ Der Unbekannte indes achtete auf diese lebendige Warnung nicht, die zweifellos die Vorsehung vor jene Tür gestellt hatte, wie sie vor alle unheilvollen Stätten den Ekel setzt. Er trat entschlossen in den Saal, wo der Klang des Goldes auf die von Begehrlichkeit angestachelten Sinne eine magische Faszination ausübte. Wahrscheinlich wurde dieser junge Mann von dem logischsten aller bedeutsamen Sätze Jean-Jacques Rousseaus dort hingetrieben, dessen trauriger Sinn, wie ich glaube, folgendermaßen auszudrücken ist: ›Ja, ich begreife, daß ein Mann zum Spiel geht, aber nur dann, wenn er zwischen sich und dem Tode nichts als seinen letzten Taler sieht.‹
Am Abend atmen die Spielhäuser nur eine recht vulgäre Poesie, obgleich ihre Wirkung da unfehlbar ist wie die eines blutrünstigen Dramas. Die Säle sind voll von Schaulustigen und Spielern, von notleidenden Greisen, die sich hinschleppen, um sich aufzuwärmen, von erhitzten Gesichtern; Orgien, die im Wein begonnen und in der Seine enden werden. Wenn hier auch Leidenschaft im Übermaß vorhanden ist, so ist man wegen der allzu großen Anzahl der Akteure daran gehindert, den Dämon des Spiels von Angesicht zu Angesicht zu betrachten. Der Abend gleicht einem wahren Ensemblestück, wo die ganze Truppe grölt und jedes Instrument einen anderen Part spielt. Man kann da manch ehrbare Leute antreffen, die der Zerstreuung wegen kommen und dafür zahlen wie fürs Theater, für Tafelfreuden oder den Besuch in einer Dachstube, wo sie wohlfeil drei Monate schmerzhafte Reue einhandeln. Aber begreift man die wahnwitzige Leidenschaft in der Seele eines Mannes, der ungeduldig das Öffnen eines Spielkasinos erwartet? Der Spieler, der morgens kommt, unterscheidet sich von dem am Abend wie der gleichgültige Ehemann von dem Liebhaber, der unter den Fenstern seiner Angebeteten schmachtet. Nur morgens kommt die zitternde Leidenschaft und die Not in ihrem unverhüllten Grauen.
Um diese Zeit kann man den wahren Spieler bewundern, einen Spieler, der nichts gegessen, nicht geschlafen, nicht gelebt, über nichts nachgedacht hat, so furchtbar ist er von der Geißel seines Spielfiebers durchglüht worden, so sehr juckt es ihm in den Fingern nach einem Trente-et-Quarante. Zu dieser verhängnisvollen Stunde begegnet man Augen, deren Ruhe schaudern macht, Gesichtern, von denen man nicht loskommt, Blicken, die die Karten förmlich durchbohren und verschlingen. Großartig sind die Spielhäuser deshalb nur, wenn die Karten gegeben sind und die Kugeln zu rollen beginnen. Wie Spanien seine Stierkämpfe, Rom einst seine Gladiatoren gehabt hat, so ist Paris stolz auf sein Palais-Royal, dessen nervenzehrende Roulettes das Vergnügen verschaffen, zuzusehen, wie das Blut in Strömen fließt, ohne daß das Publikum Gefahr läuft, darin auszugleiten. Wollen Sie einen flüchtigen Blick in diese Arena werfen? Treten Sie ein! ... Wie kahl alles ringsum ist! An diesen Wänden, die bis in Mannshöhe von einer fettigen Papiertapete bedeckt sind, kein einziges Bild, das die Seele erfreuen könnte. Nicht einmal ein Nagel ist da, der den Selbstmord erleichtern könnte. Das Parkett ist ausgetreten und schmutzig. Ein länglicher Tisch nimmt die Mitte des Raumes ein. Die gewöhnlichen Rohrstühle, die eng um das vom Gold abgewetzte Tuch herumstehen, künden von einer erstaunlichen Gleichgültigkeit gegen den Luxus bei Männern, die doch hierherkommen, sich um des Geldes und des Luxus willen zugrunde zu richten. Dieser Widerspruch im Menschen wird dort sichtbar, wo die Seele übermächtig auf sich selbst zurückwirkt.
Der Liebende möchte seine Geliebte in Seide, in die schmeichelnden Gewebe des Orients hüllen und besitzt sie die meiste Zeit auf einem armseligen Lager. Der Ehrgeizige träumt sich auf dem Gipfel der Macht, während er sich im Schmutz knechtischer Unterwürfigkeit erniedrigt. Der Kaufmann vegetiert in den hinteren Räumen eines ungesunden feuchten Ladens, derweil er ein prächtiges Haus bauen läßt, aus dem sein Sohn und vorzeitiger Erbe späterhin durch eine vom Bruder angeordnete Zwangsversteigerung hinausgejagt wird. Gibt es schließlich etwas Freudloseres als ein Freudenhaus? Seltsames Problem! Wie der Mensch, immer im Widerspruch mit sich selbst, seine Hoffnungen durch die Mißhelligkeiten der Gegenwart trügt, über seine Mißhelligkeiten mit einer Zukunft hinwegtäuschen will, die ihm nicht gehört, und dadurch allen seinen Handlungen den Stempel der Inkonsequenz und der Schwäche aufdrückt! Das Unglück allein ist auf Erden vollkommen.
Als der junge Mann den Saal betrat, waren schon einige Spieler versammelt. Drei alte Kahlköpfe saßen in ungezwungener Haltung am grünen Tisch; ihre bleichen, maskenhaft starren Gesichter, teilnahmslose Diplomatenmienen, ließen erkennen, daß ihre Seelen abgestumpft waren und ihre Herzen seit langem verlernt hatten, schneller zu schlagen, selbst wenn der letzte Notpfennig der Frau auf dem Spiel stand. Ein junger schwarzhaariger Italiener mit olivfarbenem Teint saß reglos am Ende des Tisches, hatte die Ellbogen aufgestützt und schien jenen inneren Stimmen zu lauschen, die einem Spieler verhängnisvoll zuraunen: ›Ja! – Nein!‹ Der südländische Kopf atmete Gold und Feuer. Sieben oder acht Zuschauer standen im Kreise herum und harrten der Szenen, die ihnen die Fügungen des Schicksals, die Mimik der Spieler, die Bewegung des Geldes und der Rechen bereiten sollten. Diese Müßiggänger standen schweigsam, starr und gespannt da, wie das Volk auf der Place de Grève, wenn der Henker einen Kopf abschlägt. Ein großer, hagerer Mann in fadenscheinigem Rock hielt in der Hand ein Register und in der andern eine Nadel, mit der er den Wechsel von Rot und Schwarz registrierte. Das war einer von jenen, die am Rande aller Genüsse ihrer Zeit leben, ein moderner Tantalus, einer jener Geizhälse, die keinen roten Heller ihr eigen nennen und um einen imaginären Einsatz spielen; eine Art vernünftiger Narr, der einer Schimäre nachhängt, um über sein Elend hinwegzutrösten, der mit dem Laster und der Gefahr umgeht wie junge Priester mit dem Abendmahl, wenn sie weiße Messen lesen.
Ein oder zwei jener geriebenen Spekulanten, die die Chancen des Spiels genau einschätzen und alten Sträflingen gleichen, welche die Galeere nicht mehr schreckt, hatten ihren Platz gegenüber der Bank gewählt, um drei Einsätze zu wagen und mit dem erhofften Gewinn, von dem sie ihr Leben bestritten, sofort zu verschwinden. Zwei alte Saaldiener schlenderten mit verschränkten Armen auf und ab und blickten von Zeit zu Zeit durch die Fenster in den Park, wie um den Vorübergehenden ihre nichtssagenden Gesichter als Aushängeschild zu zeigen. Der Croupier und der Bankhalter hatten eben jenen unbewegten Blick über die Spieler gleiten lassen, der ihnen den Atem nimmt, und grell ihr: »Faites le jeu!« gerufen, als der junge Mann die Tür öffnete. Irgendwie wurde die Stille noch tiefer, und alle Köpfe wandten sich neugierig dem Neuankömmling zu. Etwas Unerhörtes ging vor: Die stumpfen Greise, die versteinerten Angestellten, die Schaulustigen, sogar der fanatische Italiener, alle empfanden beim Anblick des Unbekannten ein Gefühl des Entsetzens. Muß man nicht sehr unglücklich sein, sehr hinfällig und unheimlich aussehen, um in diesem Saale, wo der Schmerz stumm sein muß, das Elend Fröhlichkeit heuchelt und die Verzweiflung den Anstand wahrt, Mitleid zu erregen, Teilnahme zu erwecken, einen Schauder hervorzurufen? Nun denn, in dem ungewohnten Gefühl, das jene eisigen Herzen bewegte, als der junge Mann eintrat, war von alledem etwas enthalten. Aber haben nicht auch Henker manchmal über die Jungfrauen geweint, deren blonde Köpfe auf einen Wink der Revolution fallen mußten?
Beim ersten Blick lasen die Spieler in dem Gesicht des Neulings ein schreckliches Geheimnis; die Anmut seiner jugendlichen Züge war umschattet, sein Blick zeugte von vergeblichen Anstrengungen und von tausend gescheiterten Hoffnungen. Der düstere Gleichmut des zum Tode Entschlossenen verlieh seiner Stirn eine matte, krankhafte Blässe; ein bitteres Lächeln zog leise Falten in seine Mundwinkel, und der Anblick der tiefen Hoffnungslosigkeit, die seine Züge ausdrückten, war kaum zu ertragen. Ein verborgenes Genie flackerte im tiefsten Inneren seiner umflorten Augen, die vielleicht von Vergnügungen ermattet waren. Hatte die Ausschweifung ihr schmutziges Siegel auf dieses edle, ehemals reine und leuchtende, jetzt entwürdigte Antlitz gedrückt? Die Ärzte hätten die gelben Ringe um die Augen und die Röte auf den Wangen zweifellos einer Krankheit der Lunge oder des Herzens zugeschrieben, während die Dichter Zeichen Kräfte verschleißenden geistigen Ringens, die Spuren nächtlichen Studiums beim kärglichen Schein einer Lampe darin gesehen hätten. Aber eine Leidenschaft, tödlicher als Krankheit, eine Krankheit erbarmungsloser als Studium und Genie, verheerte dieses junge Gesicht, verkrampfte diese beweglichen Muskeln, preßte dieses Herz zusammen, das Wollust, Studium und Krankheit nur leicht gestreift hatten. So wie im Bagno ein berühmter Verbrecher bei seiner Einlieferung von allen Sträflingen respektvoll empfangen wird, so grüßten diese menschlichen Dämonen, diese in allen Folterqualen Erfahrenen einen unerhörten Schmerz, eine tiefe Wunde, die ihr Blick zu ergründen suchte, und erkannten in ihm an der Majestät seiner stummen Verachtung, der eleganten Kläglichkeit seiner Kleidung einen ihrer Fürsten.
Der junge Mann trug wohl einen Frack von guter Fasson, aber die Verbindung seiner Weste mit der Krawatte war zu kunstvoll hergestellt, als daß man darunter ein Hemd vermuten konnte. Seine Hände, hübsch wie die einer Frau, waren von zweifelhafter Sauberkeit; seit zwei Tagen hatte er keine Handschuhe mehr getragen. Wenn selbst den Croupier und die Saaldiener ein Schauder überflog, so weil über den feingeschnittenen Zügen, den natürlich gewellten dünnen, blonden Haaren noch ein Hauch von Unschuld lag. Dies Gesicht war noch fünfundzwanzig Jahre jung, und das Laster schien darauf nur ein Zufall zu sein. Die Lebenskraft der Jugend kämpfte darin noch an gegen die Verheerungen unterdrückter Begierden. Licht und Finsternis, Sein und Nichts stritten gegeneinander und zeugten Anmut und Grauen zugleich. Der junge Mann erschien in dieser Runde wie ein Engel ohne Strahlenschein, der vom rechten Wege abgekommen war. Und wie ein altes zahnloses Weib vom Mitleid ergriffen wird, wenn es sieht, wie sich ein schönes junges Mädchen dem Verderben preisgibt, so waren alle diese Würdenträger des Lasters und der Schande nahe daran, dem Neuling zuzurufen: »Flieh von hier!« Jener aber schritt geradewegs auf den Tisch zu, blieb stehen und warf auf gut Glück ein Goldstück, das er in der Hand hielt, auf den Tisch. Es rollte auf Schwarz; zugleich richtete er, wie starke Naturen, die die quälende Ungewißheit verabscheuen, einen ungestümen, wiewohl gefaßten Blick auf den Croupier. Das Interesse an diesem Einsatz war so groß, daß keiner der Alten setzte; aber der Italiener folgte mit der Besessenheit der Leidenschaft einem Gedanken, der ihm gerade gelächelt hatte, und setzte sein ganzes Gold gegen das Spiel des Unbekannten. Der Bankhalter vergaß seine stereotypen Wendungen zu rufen, die mit der Zeit heiser und unverständlich geworden sind: »Faites le jeu! – Le jeu est fait! – Rien ne va plus.« Er breitete die Karten aus und schien dem Zuletztgekommenen Glück zu wünschen, gleichgültig, ob den Veranstaltern dieses finstern Vergnügens Gewinn oder Verlust daraus entstünde. Jeder der Zuschauer wollte in dem Schicksal dieses Goldstücks ein Drama, die Schlußszene eines edlen Lebens sehen; ihre Augen, auf die verhängnisvollen Karten geheftet, funkelten; aber trotz der Aufmerksamkeit, mit der sie abwechselnd den jungen Mann und die Karten betrachteten, konnten sie auf seinem kalten und gefaßten Antlitz kein Zeichen der Erregung wahrnehmen.
»Rouge, pair, passe«, verkündete der Croupier im Amtston.
Eine Art dumpfen Röchelns entrang sich der Brust des Italieners, als er die gefalteten Geldscheine, die ihm der Bankhalter zuwarf, einen nach dem anderen vor sich niederfallen sah. Der junge Mann indes begriff seinen Ruin erst in dem Augenblick, als der Rechen seinen letzten Napoleon hinwegraffte. Das Elfenbein entlockte dem Goldstück, das rasch wie ein Pfeil auf den vor der Kasse angesammelten Goldhaufen zuflog, einen trockenen Ton. Der Unbekannte schloß sacht die Augen; seine Lippen wurden bleich; aber bald hob er die Lider, sein Mund gewann korallene Röte, er nahm die Miene eines Engländers an, für den das Leben keine Geheimnisse mehr birgt, und entfernte sich, ohne mit einem jener herzzerreißenden Blicke um Trost zu flehen, die verzweifelte Spieler häufig genug den Anwesenden zuwerfen. Wieviel passiert im Zeitraum einer Sekunde und wieviel hängt von einem Wurf des Würfels ab!
»Das war gewiß seine letzte Patrone«, sagte lächelnd der Croupier nach einem Augenblick des Schweigens, in welchem er dieses Goldstück zwischen Daumen und Zeigefinger hochgehalten hatte, um es den Anwesenden zu zeigen. »Der ist so überspannt, daß er sich ins Wasser stürzen wird«, sagte ein Gewohnheitsspieler mit einem Blick auf die andern, die einander alle kannten.
»Ach was!« rief der Saaldiener und nahm eine Prise Tabak.
»Hätten wir es nur gemacht wie der Monsieur dort!« sagte einer von den Greisen zu seinen Kollegen und deutete auf den Italiener.
Alle sahen auf den glücklichen Gewinner, dessen Hände beim Zählen der Banknoten zitterten.
»Ich habe eine Stimme gehört, die mir ins Ohr rief, das Spiel werde gegen die Verzweiflung dieses jungen Mannes recht behalten«, sagte er.
»Das war kein Spieler«, meinte der Bankhalter, »sonst hätte er sein Geld in drei Teile geteilt, um bessere Gewinnchancen zu haben.«
Der junge Mann wollte hinausgehen, ohne seinen Hut zu verlangen; aber der alte Wachhund hatte den armseligen Zustand dieser Kopfbedeckung bemerkt und reichte sie ihm wortlos hin. Der Spieler gab mit mechanischer Bewegung die Garderobenmarke zurück und stieg die Treppe hinunter, indem er ›Di tanti palpiti‹ pfiff, aber so leise, daß er die reizende Melodie kaum selbst vernahm.
Er befand sich bald unter den Bogengängen des Palais-Royal, ging bis zur Rue Saint-Honore, schlug dann den Weg zu den Tuilerien ein und durchquerte unschlüssig den Park. Er lief, als wäre er mitten in einer Wüste; Menschen stießen ihn, die er nicht sah, er hörte durch das Geschrei der Menge hindurch nur eine Stimme: die des Todes. Er war in ein lähmendes Nachdenken verloren, wie es einst jene dem Schafott Bestimmten befiel, die ein Karren vom Justizpalast zur Place de Grève führte, zu jenem Richtplatz, der getränkt ist von all dem Blut, das seit 1793 dort vergossen wurde.
Etwas Großes und Entsetzliches liegt im Selbstmord. Bei den meisten Menschen ist ein Sturz so ungefährlich wie bei Kindern, die zu niedrig fallen, um sich ernstlich zu verletzen; aber wenn ein großer Mann zerschmettert, muß er aus großer Höhe gefallen sein, muß er sich bis zu den Himmeln erhoben und ein unerreichbares Paradies erschaut haben. Unerbittlich müssen die Gewalten sein, die ihn treiben, von der Mündung einer Pistole Frieden für seine Seele zu erlangen. Wieviel junge Talente verzehren sich und gehen, in einer Mansarde eingesperrt, zugrunde, weil ihnen ein Freund fehlt, eine Frau, die sie tröstet, und das inmitten von Millionen von Wesen, angesichts einer am Gold übersättigten, von Langeweile gepeinigten Menge! Wenn man dies bedenkt, erscheint der Selbstmord ungeheuerlich. Gott allein weiß, wieviel Entwürfe, unvollendete Dichtungen, wieviel Verzweiflung und erstickte Schmerzensschreie, wieviel mißlungene Versuche und verworfene Meisterwerke zwischen dem freiwilligen Tode und der keimenden Hoffnung liegen, deren Stimme den jungen Mann einst nach Paris gelockt hat. Jeder Selbstmord ist ein Poem von erhabener Melancholie. Wo fände man im Ozean der Literaturen ein die Zeiten überdauerndes Buch, das sich an Poesie mit dieser Zeitungsnotiz messen könnte: ›Gestern um vier Uhr stürzte sich eine junge Frau vom Pont-des-Arts in die Seine.‹
Vor diesem Pariser Lakonismus verblassen alle Dramen und Romane, selbst jenes alte Titelblatt: ›Die Klagen des ruhmreichen Königs von Kaërnavan, den seine Kinder in den Kerker warfen‹; der einzige Überrest eines verlorengegangenen Buches, das den harten Sterne, der doch selbst Frau und Kinder verlassen hatte, zum Weinen brachte.
Tausend ähnliche Gedanken stürmten auf den Unbekannten ein, jagten bruchstückhaft an seinem inneren Auge vorüber, zerfetzten Fahnen gleich, die mitten im Schlachtgetümmel aufflattern. Warf er einen kurzen Augenblick lang die Last seiner Gedanken und Erinnerungen ab, um vor einigen Blumen still zu stehen, deren Blüten sich auf der weiten Rasenfläche sacht im Wind wiegten, durchzuckte ihn dann das Leben, das sich noch bäumte unter dem lastenden Todesgedanken, hob er die Augen zum Himmel: doch dort rieten ihm die grauen Wolken, die trauerbeladenen Windstöße, die niederdrückende Atmosphäre zu sterben. Er nahm den Weg zum Pont Royal und sann über die letzten seltsamen Einfälle seiner Vorgänger nach. Er mußte lächeln, als ihm einfiel, daß Lord Castlereagh erst das bescheidenste menschliche Bedürfnis befriedigt hatte, bevor er sich die Kehle durchschnitt, und daß Auger, Mitglied der Akademie, seine Tabaksdose geholt hatte, um auf dem Weg zum Tode schnupfen zu können. Er durchdachte diese Absonderlichkeiten und befragte sich daraufhin selbst, wobei er sich dabei ertappte, wie er sorgsam den weißen Staub abschüttelte, mit dem ein Lastträger der Hallen, welchem er, dicht an das Brückengeländer gepreßt, ausgewichen war, seinen Rockärmel beschmutzt hatte. Als er auf dem höchsten Punkt der Brückenwölbung angelangt war, starrte er trübsinnig ins Wasser.
»Schlechtes Wetter, sich zu ertränken!« rief ihm ein altes, zerlumptes Weib lachend zu. »Die Seine ist kalt und schmutzig!«
Er antwortete mit einem knabenhaften Lächeln, das den ganzen Wahnwitz seines Entschlusses bewies; aber plötzlich schauderte er, als er in der Ferne am Hafen der Tuilerien über einer Baracke in fußhohen Lettern die Aufschrift erblickte: ›Rettungsstation‹. Monsieur Dacheux erschien ihm im Rüstzeug seiner Philanthropie, wie er jene tugendhaften Ruderstangen in Bewegung setzte, die den Ertrinkenden die Schädeldecke einschlagen, wenn sie unglückseligerweise noch einmal an die Wasseroberfläche gelangen. Er sah ihn die neugierigen Gaffer herbeilocken, einen Arzt auftreiben, Tabakrauch bereithalten; er las die Todesmeldungen der Journalisten, die sie zwischen der Ausgelassenheit eines Gelages und dem Lächeln einer Tänzerin niedergeschrieben hatten, hörte die Taler klingen, die der Polizeipräfekt den Bootsführern für seinen Kopf auszahlte. Tot war er 50 Francs wert, lebend war er nichts weiter als ein talentvoller junger Mann ohne Protektion, ohne Freunde, ohne Strohsack als Lager, ohne Bedeutung, eine wahre soziale Null, ohne Nutzen für den Staat, der sich um ihn nicht scherte. Ein Tod am hellichten Tag erschien ihm würdelos, er beschloß in der Nacht zu sterben, um dieser Gesellschaft, die die Größe seines Lebens nicht zu schätzen wußte, einen unkenntlichen Leichnam zu hinterlassen.
Er setzte also seinen Weg fort und wandte sich, schlendernd wie ein Müßiggänger, der die Zeit totschlagen will, zum Quai Voltaire. Als er die Stufen, in die die Brücke ausläuft, hinabstieg, wurde seine Aufmerksamkeit an der Ecke des Quais von alten Büchern angezogen, die auf der Brüstung ausgebreitet waren; es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte einige davon erhandelt. Er mußte wieder lächeln, steckte die Hände philosophierend in die Hosentaschen und nahm wieder die unbekümmerte, von kalter Verachtung durchdrungene Haltung an, als er zu seiner Überraschung in seiner Tasche einige Geldstücke auf eine wahrhaft phantastische Art klingen hörte. Ein Hoffnungsschimmer erhellte sein Gesicht, glitt von den Lippen über Wangen und Stirn und ließ seine Augen vor Freude strahlen. Doch dieser Funke Glück glich dem Aufglimmen eines Stück Papiers, das die Flamme bereits verzehrt hat; und so wie dieser in schwarzer Asche verlischt, verdüsterte sich das Antlitz des Unbekannten wieder, als er die Hand hastig aus der Tasche zog und drei große Sous erblickte.
»Ach, lieber Monsieur, la carità! La carità! Catarina! Nur einen kleinen Sou für Brot!«
Ein kleiner Schornsteinfeger mit aufgedunsenem schwarzen Gesicht, rußigbraunem Körper und zerlumpten Kleidern, streckte die Hand aus, um ihm das letzte Geld abzubetteln.
Zwei Schritte von dem kleinen Savoyarden entfernt, stand ein armer, demütiger Alter, hinfällig, bedürftig und elend, in eine zerschlissene Tapisserie gehüllt, der ihn mit dumpfer eindringlicher Stimme bat: »Monsieur, geben Sie mir, was Sie wollen, ich werde für Sie beten...« Aber als der junge Mann den Alten angeblickt hatte, verstummte dieser und verlangte nichts mehr. Es mochte ihm aus diesem düstern Gesicht wohl eine noch härtere Not als die seine entgegenstarren.
»La carità! La carità!«
Der Unbekannte warf dem Knaben und dem armen Alten sein Geld hin, verließ den Uferweg und ging zu den Häusern hinüber, da ihm der quälende Anblick der Seine unerträglich geworden war.
»Wir werden Gott um die Erhaltung Ihrer Tage bitten«, riefen ihm die beiden Bettler nach.
An der Auslage eines Kunsthändlers sah der junge Mann, der den Lebenden schon fast nicht mehr angehörte, eine junge Frau aus einer glänzenden Equipage steigen. Hingerissen blickte er auf die reizende Erscheinung, deren zartes Gesicht sich von dem Atlas ihres eleganten Hutes harmonisch abhob. Die schlanke Gestalt, die anmutigen Bewegungen entzückten ihn. Das Kleid wurde beim Aussteigen aus dem Wagen leicht zurückgeschlagen und ließ ein wohlgeformtes Bein sehen, das ein weißer Strumpf fein umspannte. Die junge Frau betrat den Laden und ließ sich Alben, Sammlungen von Lithographien vorlegen und kaufte für mehrere Goldstücke, die auf dem Ladentisch funkelten und klangen. Der junge Mann, der an der Türschwelle scheinbar damit beschäftigt war, die Gravüren in der Auslage zu betrachten, sandte der schönen Unbekannten die glühendsten Blicke, zu denen ein Mann fähig ist, sie hingegen blickte nur einmal unbekümmert zu ihm hin, wie man zufällig irgendeinen Passanten ansieht.
Für ihn war es ein Abschied von der Liebe, von den Frauen! Aber dieser letzte, inbrünstige Hilferuf glitt unverstanden ab, rührte das Herz dieser leichtfertigen Frau nicht, ließ sie nicht erröten, nicht die Augen niederschlagen. Was war es für sie? Ein Zeichen der Bewunderung mehr, ein Verlangen, das sie eingeflößt hatte und das ihr am Abend die schmeichelnden Worte eingab: ›Ich habe heute ,gut' ausgesehen.‹ Der junge Mann schritt rasch zu einem anderen Fenster und drehte sich nicht mehr um, als die Unbekannte ihren Wagen bestieg. Die Pferde zogen an, und diese letzte Vision des Luxus und der Schönheit schwand dahin, wie sein Leben dahinschwinden sollte. Melancholischen Schrittes ging er an den Geschäften vorbei und sah sich ohne großes Interesse die ausgelegten Waren an. Als die Läden aufhörten, betrachtete er den Louvre, das Institut, die Türme von Notre-Dame und vom Justizpalast und den Pont-des-Arts. Diese Bauwerke schienen traurig auszusehen unter dem grauen Widerschein des Himmels, durch den hie und da ein heller Strahl drang, der Paris bedrohlich wirken ließ, denn diese Stadt unterhegt wie eine hübsche Frau unerklärlichen Anwandlungen von Schönheit und Häßlichkeit. So schien sich die Natur selbst verschworen zu haben, den Todheischenden in schmerzliche Ekstase zu tauchen.
Jener unheilvollen Macht ausgeliefert, deren zersetzende Wirkung mit dem Strom unserer Nerven den ganzen Organismus durchdringt, war es ihm, als ob sein Körper sich allmählich einem Schwebezustand näherte. Unter dem Ansturm dieser Todespein schwankte er gleich einer aufgepeitschten Welle und nahm Gebäude und Menschen wie durch einen Nebel wahr, in dem alles wogte und verschwamm. Er wollte sich dem Druck entziehen, den diese Auflehnung seiner physischen Natur auf seine Seele ausübte, und ging auf einen Antiquitätenladen zu, wo er seine Sinne abzulenken oder beim Handeln um Kunstgegenstände die Nacht zu erwarten beabsichtigte. Er tat dies sozusagen, um sich Mut zu machen und eine Herzstärkung zu sich zu nehmen, wie die Verbrecher, die auf ihrem Gang zum Schafott ihrer Kraft nicht trauen. Doch das Bewußtsein seines nahen Todes lieh dem jungen Mann für einen Augenblick die Sicherheit einer Herzogin, die zwei Liebhaber hat, und so trat er unbefangen, mit dem starren Lächeln eines Trunkenen, in den Laden des Antiquitätenhändlers. War er denn nicht trunken vom Leben oder vielmehr vom Tode? Bald befiel ihn wieder der Schwindel, und die Gegenstände erschienen ihm in seltsamen Farben oder verschoben sich leicht, als wären sie belebt, was höchstwahrscheinlich dem unregelmäßigen Kreisen seines Blutes zuzuschreiben war, das bald kaskadengleich brauste, bald matt und träg wie laues Wasser dahinfloß.
Er erklärte einfach, die Lagerräume besichtigen zu wollen, um dort etwaige Kuriositäten ausfindig zu machen, die ihm zusagten. Ein frischer, pausbäckiger Bursche mit rotem Haarschopf, auf dem eine Ottermütze saß, übertrug die Aufsicht des Ladens einer alten Bäuerin, einer Art weiblichen Calibans, die gerade einen Ofen säuberte, ein Wunderwerk des genialen Bernard Palissy; dann sagte er mit sorgloser Miene zu dem Fremden: »Schauen Sie sich nur um, Monsieur! Hier unten sind nur ganz gewöhnliche Sachen. Wenn Sie sich aber die Mühe machen wollen, mit in die erste Etage hinaufzusteigen, kann ich Ihnen sehr schöne Mumien aus Kairo zeigen, mehrere inkrustierte Töpferarbeiten und ein paar Ebenholzschnitzereien, ›echte Renaissance‹ kürzlich erst eingetroffen und einfach wundervoll.«
In seiner entsetzlichen Lage empfand der Unbekannte dieses Ciceronengeschwätz, diese dummen Kaufmannsphrasen wie die albernen Scherze, mit denen beschränkte Geister einen Mann von Genie peinigen. Aber er trug sein Kreuz bis zum bitteren Ende, hörte seinem Führer mit halbem Ohre zu und antwortete mit Gesten und vereinzelten Worten. Doch nach und nach wußte er sich das Recht zu erobern, in Schweigen zu verharren, und konnte sich bedenkenlos seinen letzten grauenvollen Betrachtungen überlassen. Er war Poet, und unvermutet fand seine Seele hier Nahrung in Hülle und Fülle vor: er sollte die Gebeine aus zwanzig Welten im voraus zu sehen bekommen.
Auf den ersten Blick boten ihm die Lagerräume ein wirres Bild, auf dem sich Weltliches und Heiliges durcheinanderhäufte. Ausgestopfte Krokodile, Affen, Riesenschlangen grinsten Kirchenfenster an, es schien, als wollten sie ihre Zähne in Büsten schlagen, nach Lackarbeiten haschen oder an Kronleuchtern emporklettern. Eine Sèvresvase mit dem Bild Napoleons von Madame Jaquotot stand neben einer dem Sesostris geweihten Sphinx. Die Anfänge der Welt und die Begebenheiten von gestern fanden sich auf eine grotesk friedliche Art miteinander verbunden. Ein Bratenwender lag auf einer Monstranz, ein republikanischer Säbel auf einer mittelalterlichen Hakenbüchse. Madame Dubarry,g von Latour in Pastell gemalt, nackt, in einer Wolke mit einem Stern auf dem Kopf, schien lüstern einen türkischen Tschibuk zu betrachten, als wollte sie den Zweck der sich ihr entgegenschlängelnden Spiralen ergründen. Werkzeuge des Todes, Dolche, seltsame Pistolen, Geheimwaffen, Rüstungen, lagen in buntem Durcheinander neben den Gerätschaften des Lebens: Porzellanschüsseln, Meißener Tellern, hauchdünnen chinesischen Tassen, antiken Salznäpfen, Konfektschalen aus adligem Familienbesitz. Ein Schiff aus Elfenbein wogte mit geschwellten Segeln auf dem Rücken einer reglosen Schildkröte.
Eine Luftpumpe stieß dem Kaiser Augustus, der es erhaben kaltblütig hinzunehmen schien, ein Auge aus. Gefühllos wie zu ihren Lebzeiten schauten französische Schöffen und holländische Bürgermeister bleich und kalt von ihren Porträts auf dieses Chaos von antikem Kleinkram hernieder. Alle Länder der Erde schienen Überbleibsel ihrer Wissenschaften, eine Probe ihrer Kunst hierhergesandt zu haben. Es war eine Art philosophischen Kehrichthaufens, auf dem nichts fehlte, von der Friedenspfeife des Wilden bis zum grün-goldenen Pantoffel aus dem Serail, vom Krummschwert des Mauren bis zum Götzenbild der Tataren. Ja sogar der Tabaksbeutel des Soldaten, der Kelch des Priesters und die Federn von einem Thron waren da zu finden. Überdies wurde diese monströse Szenerie von tausendfach wechselnden bizarren Lichtreflexen beherrscht, die dem Wirrwarr der Farbtöne und dem schroffen Kontrast von Hell und Dunkel entsprangen. Das Ohr vermeinte, erstickte Schreie zu vernehmen, der Geist, unvollendete Dramen zu erfassen, das Auge, einen verborgenen Lichtschein zu erspähen. Hartnäckiger Staub hatte seinen leichten Schleier über alle Gegenstände gebreitet, deren zahlreiche Kanten und Rundungen die malerischsten Wirkungen hervorriefen.
Der Fremde verglich diese drei mit den Produkten der Zivilisation, den Zeugnissen der verschiedensten Kulte, mit Gottheiten, Meisterwerken, königlichen Insignien, mit Ausschweifung, Vernunft und Tollheit vollgepfropften Räume zunächst einem Spiegel aus zahlreichen Facetten, deren jede eine Welt zeigt. Nach dem ersten verworrenen Eindruck wollte er einzelne Gegenstände auswählen und genießerisch betrachten; doch nach dem vielen Sehen, Denken und Träumen befiel ihn ein heftiges Fieber, das wohl von dem in seinen Eingeweiden nagenden Hunger herrühren mochte. Der Anblick so vieler Pfänder, die von versunkenen Nationen und dahingegangenen Leben der Menschen zeugten, betäubte vollends die Sinne des jungen Mannes; der Wunsch, der ihn in den Laden getrieben hatte, war erhört worden: er verließ die Wirklichkeit, stieg allmählich zu einer Traumwelt empor, gelangte in den Zauberpalast der Ekstase, wo ihm das Universum bruchstückhaft und in Feuer getaucht erschien, so wie einst vor den Augen des heiligen Johannes auf Patmos die Zukunft flammend vorüberzog.
Unzählige Gestalten, schmerzbewegte, liebliche und schreckliche, finstere und leuchtende, ferne und nahe, erhoben sich in Scharen, in Myriaden, in Generationen. Vor einer von schwarzen Bändern umwickelten Mumie wuchs starr und geheimnisumwoben Ägypten aus dem Sand; dann die Pharaonen, die um ihrer Grabmäler willen ganze Völker in den Tod trieben; dann Moses, die Hebräer und die Wüste, eine feierliche, uralte Welt. Eine Marmorstatue, auf einem Säulentorso sitzend, frisch, anmutig und von strahlender Weiße, ließ die wollüstigen Mythen Griechenlands und Ioniens vor ihm erstehen. Und wen hätte es nicht gleich ihm entzückt, auf dem feinen roten Ton einer etruskischen Vase ein junges braunhäutiges Mädchen vor dem Gott Priapus tanzen zu sehen, den es mit heiterer Miene grüßte?
