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Anfang der 80er Jahre begegnen sich in Dahme an der Ostsee die Schicksale einer Reihe von Menschen, die sich auf dramatische Weise miteinander verbinden. Die als Saisonkräfte im Restaurant arbeitenden Jugendlichen Martin und Klaus sowie die Auszubildende Julia werden sich nicht nur über ihre Gefühle zueinander, sondern auch über ihre sexuellen Präferenzen klar. Doch was als Romanze oder Coming-Out-Geschichte beginnt, erhält eine schreckliche Wendung. Klaus wird von dem Triebtäter Theo entführt. Von der Polizei ignoriert, versucht Martin seinen Freund zu finden.
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Seitenzahl: 430
Veröffentlichungsjahr: 2020
Rupert van Gerven
Geschälte Seele
R u p e r t v a nG e r v e n
Geschälte Seele
© 2020 Rupert van Gerven
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN:
Paperback:
978-3-347-05953-5
Hardcover:
978-3-347-05954-2
e-Book:
978-3-347-05955-9
Cover-Bild:
Mascha Hesse, Bad Zwischeahn
Lektorat:
Barbara Müller, Eichwalde
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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„Jetzt nimm endlich den Topf vom Herd, riechst du das denn nicht, der Scheiß brennt uns noch an! Glaubst du vielleicht, dass die Chaoten da draußen scharf auf verkohlten Fraß sind? Alles Idioten, die nur darauf warten, Ärger zu machen! Wenn ich die nur sehe, kriege ich schon das Kotzen.“
Hein hat schlechte Laune. Er schimpft und flucht sich in Rage, macht aus einer Mücke einen Elefanten. Die Kollegen dienen als Prellbock, müssen den Wortschwall über sich ergehen lassen. Je mehr Menschen sich in seiner Gegenwart befinden, umso stärker dreht er auf. Ohne Punkt und Komma kann sich Hein über die Urlaubsgäste auslassen.
Martin schrickt zusammen, schaut auf und sieht in Heins vor Wut rot angelaufenes Gesicht. Er hatte auf Durchzug geschaltet und war wieder einmal in seine Gedankenwelten versunken. Schwer kann er sich ihnen entziehen, seinen Träumen. Sie sind seine Vertrauten, ein Ort der Geborgenheit. Der Aufenthalt dort ist ohne Angst vor Verletzungen. Nicht nur Sicherheit, auch Wärme und Bestätigung strömen ihm hier entgegen. Martin glaubt, tief in sich spüren zu können, wie Glück sich anfühlen kann, Liebe gar.
Es ist immer das Gleiche. Sobald er beginnt, die Kartoffeln zu schälen, fühlt er eine Kraft, die alle Gesetze auszuschalten weiß. Sie zieht ihn in einen Traum-Strudel, dabei wird ihm schwindlig. Das ist weniger schlimm als befreiend. Dort ist es ganz leicht, ein Held zu sein, der klug, stark, mächtig, zielstrebig und bewundernswert zugleich ist. Er ist es, der Gefangene befreit und Leben rettet. Antworten fallen ihm zu, ohne dass er darüber nachzudenken hätte. Natürlich ist er genial. Ja, seine Träume sind es, die ihm Halt geben. Sie tragen ihn, sind seine Schuhe aus weichstem Leder. Kein Druck, den seine Füße zu spüren bekommen. Vollkommen sicher ist Martin hier in seiner Unzulänglichkeit. Außerhalb von ihnen fühlt er sich klein und ausgeliefert.
„Hörst du denn nie zu, wenn man mit dir spricht? Dir muss man wohl erst Beine machen, anders kann man bei dir ja nichts erreichen!“ Martin ist Heins gern benutztes Opfer, einer, den er schikanieren kann, sein Prellbock, der einfach alles aushält. Hein findet eine seltsame Befriedigung daran, seine Launen an Martin auszulassen: „Was ist jetzt, wartest du auf eine schriftliche Einladung?“
Martin bemerkt endlich, dass er gemeint ist. Aus seiner Versunkenheit auftauchend, nimmt auch er den Geruch in der Küche wahr. Endlich schaut er von seinen Kartoffeln hoch. Seine Augen treffen sich mit denen von Hein, dieser blickt ihn fragend an. Intuitiv springt Martin von seinem Hocker. Langsam dämmert ihm, was Hein von ihm erwartet. Während des Sprunges stößt er versehentlich gegen die Wanne mit den Kartoffeln. Sie kippt um. Er kann nur zuschauen, wie gelähmt. Die Kartoffeln verteilen sich in der Küche, machen sich breit, sind überall. Wie eine Rattenplage. Man kommt nicht umhin, auf sie zu treten, sobald man den angehobenen Fuß wieder auf den gefliesten Boden zurückstellt. Unter Schränke, in Ecken kullern, rollen und springen sie. Wer jetzt die Küche durchqueren will, muss sich auf einen Eiertanz einlassen.
Martin ist zum Weinen zumute, doch er schluckt die Tränen herunter. Das Letzte, was er will, ist es, sich zu blamieren. Das vertraute Gefühl, ein Trottel zu sein, stellt sich umgehend ein. Wie so oft schon hofft er, dass die anderen es nicht bemerken werden, solange er sich unter Kontrolle hat. Martin löst sich aus seiner Versteinerung. Er will zum Herd, dabei tritt er auf eine Kartoffel. Eine Katastrophe jagt die andere. Wie hätte es auch anders sein können, nichts, aber auch nichts macht er richtig. Noch ehe er ausrutscht und auf den Boden knallt, kann er sich am Schlagbock festhalten. Martin weiß, dass er sich um den Topf kümmern soll, er spürt Heins Erwartung, also will er ihn vom Gasherd heben. Dabei gerät er in Panik und vergisst nach den Topflappen zu greifen. Noch ehe er den Topf mit der angebrannten Suppe von der Flamme nehmen kann, knallt ein Geschirrtuch auf seinen Oberarm. Ein unendlicher Schmerz durchzieht seinen Körper. Martin beißt sich auf die Unterlippe: Nur keine Ohnmacht zeigen. Hein umfasst mit dem Geschirrtuch, das gerade noch Martins Oberarm streifte, den Topf und zieht ihn auf den Tisch neben dem Herd. Er übersieht, dass er ihn zu weit über die Tischkante hinausgezogen hat. Martin befühlt indes seinen Arm, der sich langsam rot verfärbt. Beschämt schaut er zu Boden. „Dass du aber auch gar nichts richtig machen kannst, da kann man schon mal die Beherrschung verlieren, aber das ist auch kein Wunder“, kommentiert Hein. „Du musst dich halt mehr ins Zeug legen, wenn du hier nicht untergehen willst. Mach deine Arbeit vernünftig, dann flipp ich auch nicht aus. Jeder Fünfjährige träumt weniger in den Tag hinein als du.“
Hein ist beleidigend. Er weiß es und findet Spaß daran, Martin zu verletzen. So demonstriert er seine Macht. Schon als Martin heute zur Arbeit kam, war die Stimmung mies. Jeder machte seinen Job, keiner sprach ein überflüssiges Wort, und wenn doch etwas gesagt wurde, betraf es ausschließlich die Arbeit. Was sich gerade abgespielt hat, kann man als den Höhepunkt des Tages bezeichnen. Hein steckt sich befriedigt eine Zigarette an. Der Rest des Tages wird ohne Zwischenfälle verlaufen. Doch weit gefehlt: Der Topf samt Inhalt fällt von der Tischkante. Der Absturz scheint sich im Zeitlupentempo zu vollziehen. Alle starren auf den Topf, keiner vermag der Katastrophe Einhalt zu gebieten. Ein lauter Knall holt alle aus ihrer Erstarrung. Der Brei erobert den Boden. Er umhüllt die wie zufällig dort liegenden Kartoffeln.
Just in diesem Moment betritt Klaus die Küche, schaut sich um. „Dich hört man ja fast bis zum Strand. Wie konnte das denn passieren?“, wendet er sich an Martin und zeigt dabei auf den Schlamassel. Martin zuckt hilflos mit den Schultern, während Klaus ihn aufmunternd anlächelt. Dieses Lächeln gleicht einer Zärtlichkeit. Wie in einem Swimmingpool gleitet Martin durch die plötzlich aufkommende Wärme. Klaus schiebt den Zettel mit der Bestellung auf den dafür vorgesehenen Spieß und sagt sie außerdem an, damit sie sofort zubereitet werden kann: „Zweimal Strammer Max, einmal Pommes Mayo mit Bockwurst.“ – „Was bieten wir alternativ an?“, will er noch wissen, bevor er wieder in das Lokal verschwindet. Hein zuckt mit den Schultern, als ginge es ihn nichts an. „Na ja, wie dem auch sei, der Eintopf muss von der Tageskarte gestrichen werden“, fügt Klaus noch an. Martin kniet auf dem Boden. Er hebt die Kartoffeln auf und legt sie ins Becken, um sie abspülen zu können. Natürlich auch jene, die sich nicht in dem grünen Brei befinden. Hein beobachtet Martin und schreit ihn an: „Bist du noch bei Trost? Es reicht, wenn du die abspülst, die im Dreck lagen. Wäre ja noch schöner. Wir sind hier doch kein Sternerestaurant. Setz die Kartoffeln auf und mach die Scheiße weg. Ich glaub, bei dir ist eh Hopfen und Malz verloren. Wo hast du nur dein Gehirn gelassen.“ Martin macht seine Arbeit und wünscht sich nur noch, unsichtbar zu sein.
*
Am Abend spürt Martin kaum noch seine Glieder. Obgleich die Saison erst angefangen hat, war heute der Teufel los. Der Zustrom an Gästen schien kein Ende zu nehmen. Das eine oder andere war zu Boden gefallen, und dies nicht nur in der Küche. Heins Ausraster hatte die Stimmung auf den absoluten Tiefpunkt gebracht. Nun winken die letzten Gäste nach den Kellnerinnen, um die Rechnung zu begleichen. Endlich Ruhe. Das Personal scheint durchzuatmen. Alle sitzen noch im Restaurant am Personaltisch, um den Abend ausklingen zu lassen. Jeder hat ein Glas vor sich.
Martin hört sie lachen. Feuerzeuge klicken, Witze werden erzählt. Martins Abschlussaufgabe an jedem Abend ist es, die Dunstabzugshaube vom Fettfilm zu reinigen. Der Chef schaut sich die Haube jeden Abend genau an, und wenn es nichts zu beanstanden gibt, dann hat auch Martin Feierabend. Martin scheuert mit einem Schwamm in kleinen Kreisbewegungen über das Metall. Der Fettfilm löst sich nur langsam. Im Silber der Haube sieht er sein Gesicht, betrachtet es. Schnell dreht er sich weg und wirft den Schwamm ins Spülwasser. Etwas von der dreckigen Brühe schwappt über. Martin hört Klaus’ tiefe Stimme. Sie gurgelt, wenn er lacht. Er sieht die Kollegen vor sich, sie alle haben schon Feierabend, während er noch immer schuftet: die Kellnerinnen, die Küchencrew, der Chef, der im Grunde sehr nett ist.
Doch es schert ihn nicht, was in der Küche vor sich geht. Solange die Gäste zufrieden sind, mischt er sich nicht ein. Anfangs hat Martin ihn gefürchtet. Die buschigen Augenbrauen lassen die Augen fast gänzlich verschwinden, der Mund ist nur eine feine Linie. Doch die Lachfalten, die wie Sonnenstrahlen seine Augen umranden, künden von einem Humor, der sich hinter einer rauen Schale versteckt. Der Chef steht hinter dem Tresen. Für nichts anderes hat er Augen, und nur deshalb besitzt Hein so viel Macht.
Martin steigt von der Leiter. Endlich ist auch für ihn Feierabend. Unendlich müde ist er, dennoch will er sich zu den anderen setzen. An der Unterhaltung wird er sich nicht beteiligen. Dabei sein und zuhören, das würde ihm schon genügen. Im Lokal werden Stühle geschoben, es klingt nach Aufbruch. Die Überlegung, den anderen noch „Tschüs“ zu sagen, lässt er auf sich beruhen. Ohne ein weiteres Wort will er sich auf den Weg machen. Es ist für ihn einfach nicht zu schaffen: Sobald er mit seinen Aufgaben fertig ist, löst sich die muntere Runde auf.
Martin will gerade zur Personaltür hinaus, da hört er Klaus hinter sich rufen: „Hast du Lust, noch mit nach Lübeck zu fahren? Komm doch einfach mit, wir können dort ein bisschen um die Häuser ziehen.“ Wie selbstverständlich legt er den Arm auf Martins Schulter. Martin atmet seinen Duft ein, spürt seine Nähe und will verharren. Er schämt sich. „Heute nicht, ich bin zu müde“, lehnt er das Angebot ab. Die beiden verlassen gemeinsam den „Nordstern“. Klaus hat immer noch seinen Arm auf Martins Schulter. Nach einer Weile nimmt er ihn unvermittelt zurück, bleibt stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden.
Klaus nimmt tiefe Züge aus der Zigarette. Zehn Minuten brauchen sie bis zu ihrer beider Unterkunft. Sie überqueren den Parkplatz. Auf diesem steht Klaus’ Käfer. Die Beifahrertür ziert ein Kleeblatt, die Fahrertür ein Marienkäfer. Klaus schließt seine Zimmertür auf und lädt Martin auf eine Zigarette ein. Martin hat Lust, er setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Klaus lässt sich aufs Bett fallen, kramt die Zigaretten aus der Kellnerhose.
Martin beobachtet ihn. In der Stille des Zimmers ist ein Knistern zu spüren, das ihn ganz wuschig macht. Um es zu unterbrechen, fragt er: „Wer kam eigentlich auf die Idee mit dem Auto, äh, ich meine, wolltest du das mit den Bildern?“
„Mein Paps“, bekommt er als Antwort. Klaus ist es peinlich, sich „Paps“ sagen zu hören. Es rutscht ihm Gott sei Dank nicht mehr so oft heraus. „Mein Alter, wollte ich sagen“, korrigiert er sich, grinst dabei und fährt fort: „Eltern! Kannst nichts machen, die blamieren einen halt. Na ja, ist wohl normal, oder? Und du willst wirklich nicht mitkommen?“ Martin schüttelt den Kopf. Klaus erhebt sich aus dem Bett: „Ich mach mich jetzt fertig!“ Er öffnet sein Hemd. Martin erblickt aus den Augenwinkeln den Oberkörper von Klaus, der nun auch seine Hose achtlos fallen lässt. Bevor Klaus vielleicht noch ganz nackt im Raum steht, verabschiedet sich Martin: „Ich geh dann jetzt wohl besser. Viel Spaß noch in Lübeck.“ Fast flüchtet er aus Klaus’ Zimmer, das größer und auch schöner als seines ist.
*
Wenig später lässt er sich auf sein Bett fallen. Wie froh ist er, einfach für sich zu sein. Rot ist er geworden, das spürt er immer noch in seinem Gesicht. Es war schwer, nicht hinzugucken bei Klaus. Der Tag läuft vor Martins Augen ab, klare Bilder lösen verzerrte ab. Schließlich verschwimmt alles in Tränen. Einige Wochen ist er nun schon hier. Seine Eltern haben ihn nicht zum Bahnhof begleitet. Sie tranken weiter und schenkten ihm keine Aufmerksamkeit, während er seine Siebensachen packte. Er streichelte seinen kleinen Geschwistern über den Kopf, bevor er die Wohnung verließ. „Ich geh jetzt“, sprach er in den Raum, der voll blauem Qualm hing und nach alter Asche stank. Biergeruch hatte seine Nase so lange schon belästigt. Martin erwartete keine Antwort. Und es kam auch keine. Dann, als er gerade die Klinke der Wohnungstür hinunterdrückte, drehte sich seine Mutter um und fragte erstaunt: „Du bist noch da? Verpass bloß nicht den Zug. Oder willst du noch länger hier rumhängen?“
Er verließ die Wohnung und fühlte sich allein im Treppenhaus. Ein Ausgestoßener war er, gehörte schon nicht mehr dazu. Dabei hatte er noch nicht einmal das Haus verlassen. Er fuhr zum Hauptbahnhof. Ein alter Militärrucksack seines Vaters hing ihm über die Schulter, nur wenig befand sich darin. Man hätte glauben können, er wolle nur ein Wochenende an der See verbringen. Martin bestieg den Zug, natürlich hatte ihn keiner zum Abschied in den Arm genommen. Er setzte sich ins Raucherabteil. Eigentlich wollte er überhaupt nicht rauchen. Doch mit dem Geruch fühlte er noch ein Stück Zuhause bei sich. Ganz schön doof, dachte er. Wie würde es wohl sein, dort an der See? Das erste Mal wäre er von zu Hause weg. Angst beschlich ihn. Er lauschte dem anfahrenden Zug, lehnte seinen Kopf an die vibrierende Scheibe und schloss die Augen. Nicht nachdenken.
Martin starrt zur Zimmerdecke. Die Tränen trocknen langsam. Seine Lider schließen sich, Klaus ist bei ihm, warm lächelnd. Martin fühlt Verwirrung in sich, doch er ist zu müde, um darüber nachzudenken.
*
Klaus steigt aus der Dusche, schnappt sich ein Badelaken. Vor dem großen Spiegel in der Kleiderschranktür trocknet er sich ab. Beim Betrachten seines Spiegelbildes steigt Zufriedenheit in ihm auf. Langsam gleitet das Badelaken über seinen Körper, sein Tun ist pure Zärtlichkeit. Es erregt ihn, sich nackt zu betrachten. Das Laken liegt zu seinen Füßen, sein Penis ist ein wenig erigiert. Lübeck ist natürlich Quatsch, seit der Trennung von Jörn hat er keine Lust mehr, sich in der Szene blicken zu lassen. Alles nervt ihn. Er ist so unendlich traurig gewesen. Seine kleine glückliche Welt war in Einsamkeit versunken. Freunde, die ihn anriefen, um ihn aufzuheitern, wollte er nicht sehen. Irgendwann fühlte er sich sogar gut in seinem Schneckenhaus: Allein konnte er dort weinen, bis keine Tränen mehr kamen.
Seine Erregung ist verflogen, nein, einen runterholen will er sich jetzt nicht. Es käme ihm wie eine Verschwendung vor. Hamburg ist das richtige Ziel. Er will tanzen, will trinken, flirten und wer weiß, vielleicht ergibt sich ja noch etwas und er lernt jemanden kennen, mit dem er schlafen möchte. Klaus fühlt eine unbändige Lust in sich, und die will raus. Seit er sich der Szene wieder zugewandt hat, hatte er kein so großes Verlangen mehr verspürt wie heute. Ein guter Fick ist genau das, was ihm Spaß machen würde.
Klaus ist schnell angezogen, die Haare werden sorgfältig gefönt. Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel, und schon ist er auf dem Treppenabsatz. Er steigt in seinen Wagen, startet ihn und summt vor sich hin. Die beiden Farbtupfer sind schon ziemlich schräg, denkt er, da kann man das Postgelb noch als dezent bezeichnen. Eine Zigarette noch, und dann kann es losgehen. Doch sie lassen sich nicht finden. Nach erfolglosem Kramen in den Hosentaschen und der Bestätigung, dass auch keine mehr im Handschuhfach liegen, stellt Klaus den Wagen noch einmal ab, flitzt die Stufen zu seinem Zimmer hoch und schnappt sie sich vom Schreibtisch. Wieder im Auto, mit brennender Zigarette im Mund, huscht ein Lächeln über seine Lippen.
Wie sehr seine Eltern sich darüber gefreut hatten, ihm das Auto zu schenken! Sie waren ganz aus dem Häuschen. Der Käfer parkte eine Ecke entfernt. Nichts ahnend war er auf dem Weg nach Hause daran vorbeigelaufen. Das Gefährt sprang ihm ins Gesicht, und es gab für ihn keinen Zweifel: Dieser Wagen würde ihm heute zum Geschenk gemacht – besaß sein Vater doch das Talent, begrenzt Schönes so zu verunstalten, dass einem die Augen vom Betrachten schmerzen konnten. Die Darstellungen auf den Türen wirkten wie Abziehbilder.
Als er die Wohnungstür aufschloss, warteten sie schon im Korridor auf ihn. Sie nahmen ihn in den Arm, waren aufgeregt wie Kinder, die etwas ausgefressen hatten und sich insgeheim über ihren gelungenen Streich freuten. Er wurde ins Wohnzimmer geschoben. Zunächst wollten sie die Ergebnisse seiner Klausuren erfahren, damit das bestandene Abi endlich gefeiert werden konnte. Einen Zweifel daran, dass er es geschafft hatte, gab es für seine Eltern nicht. Kaffee und ein mit Erdbeeren belegter Tortenboden warteten auf dem Wohnzimmertisch. Sein Vater drückte ihn auf das Sofa, seine Mutter schenkte Kaffee ein. Er saß nun zwischen seinen Eltern. Die Sahne wurde verteilt, in den Kaffee, auf den Kuchen. Sie befanden sich in einem Rückfall in seine Kindertage: Ihre Liebe klebte, manchmal war es zu viel. Sein Vater kniff ihn in die Wange. Hatte Klaus ihm das nicht schon lange abgewöhnt? Mutter strich ihm übers Haar.
Als sein Vater sich auch noch erhob, um eine Rede zu halten, die mindestens eine Viertelstunde anzudauern drohte – angefangen von seiner Geburt, über die ersten Schritte bis hin zu seiner Konfirmation und so weiter –, platzte Klaus der Kragen: „Paps, wenn du jetzt Graf Koks raushängen lässt, ergreife ich die Flucht und ihr müsst euren Kuchen allein aufessen.“
Da stand Mutter schnell auf, zog ihn hinter sich her, sagte: „Komm, wir haben noch ein Geschenk für dich.“ Die drei verließen das Wohnzimmer. Klaus machte sich einen Spaß, er steuerte sein Zimmer an. „Da doch nicht“, rief sein Vater, „es ist draußen, nun komm schon.“ Unten auf dem Bürgersteig angekommen, gaben die Eltern die Richtung vor.
„Na, willst du gar nicht wissen, was es ist?“, wurde er gefragt. „Ach, der Paps hat sicher wieder mal mein Fahrrad mit einer tollen Farbe neu angemalt, aber wozu wir dafür rausmüssen, versteh ich nicht.“ Klaus gab sich ahnungslos, ging voran. Die beiden prusteten, lachten, hatten ihren Spaß und glaubten, ihren Sohn ins Bockshorn jagen zu können.
„Klaus, nun bleib doch stehen, hier ist es doch, dein Geschenk, nun guck doch mal.“ Ihnen strahlte das Glück aus den Augen, die Überraschung war gelungen. Mit Stolz bekam er den Autoschlüssel von seinem Vater überreicht. Die Kruse aus der Vierten wollte sich dazugesellen, schnell sprangen sie in den Wagen. Die erste Fahrt zu dritt war ein Muss. Die drei fühlten sich in dem Gebrauchten ziemlich wohl. Kommentare, wie Klaus den Wagen zu fahren hat, folgten. Klaus betrachtete seinen Vater durch den Rückspiegel, ihre Blicke trafen sich.
Sie passierten die Geschwister-Scholl-Straße. Hier kennt noch fast jeder jeden. Kleine Geschäfte, mehr oder weniger gut gehend, reihen sich aneinander. Seine Mutter grüßte jedes Mal, wenn sie jemanden sah, den sie kannte. Sie war stolz und wollte, dass die Leute Notiz von ihrer gemeinsamen Ausfahrt nahmen.
Klaus kommt mit den beiden eigentlich gut klar, doch manchmal sind sie ihm schon peinlich. Wieder in der Wohnung, am Tisch sitzend, suchte er nach den richtigen Worten: „Mami, Paps, also das ist …“ Er brach ab, weiterzusprechen, fiel ihm schwer. „Was ist los?“, wollte der Vater wissen, nun ungeduldig geworden. „Bist du in Schwierigkeiten? Rede doch mit uns, wir sind schließlich eine Familie!“
„Nun gut“, stammelte Klaus, „ich dachte, so nach dem Abi, also …“
„Jetzt mache es nicht so spannend“, schob seine Mutter nach. „Also gut, ich geh für ein halbes Jahr an die Ostsee, zum Jobben, mal raus hier, das versteht ihr doch?“
Später in der Nacht hörte er sie miteinander flüstern. Nach einiger Zeit bemerkte er am rhythmischen Quietschen ihres alten Ehebettes, dass sie sicher waren, er würde bereits schlafen.
Klaus wirft einen Blick in den Rückspiegel. Er ist noch immer zufrieden mit seinem Äußeren. Doch auf einmal wird seine Aufmerksamkeit von etwas Merkwürdigem gefesselt: Dort, hinter dem Baum, da bewegt sich doch ein Schatten! Als hätte sich jemand ruckartig versteckt! „Nein“, sagt er zu sich, „manchmal fantasiere ich mir was zusammen.“ Wenn jemand nicht gesehen werden will, dann führt er doch etwas im Schilde. Und das kann nicht sein, hier, mitten in der Nacht. „Oh Klaus“, beruhigt er sich, „du weißt schon, warum du Theaterwissenschaften studieren willst. Die Fantasie geht halt manchmal mit dir durch.“ Er legt den Gang ein, langsam rollt der Wagen vom Parkplatz, er freut sich auf Hamburg.
Seine Eltern hatten versucht, ihm den Job auszureden. Sie wollten ihm zwei Wochen USA schenken, dort sollte er ein Praktikum in einem Theaterworkshop machen. Doch Klaus war nicht interessiert. Er fuhr stattdessen mit ein paar Freunden nach Südfrankreich. Die Eltern eines Freundes besaßen dort ein Haus, das die Jungen nutzen konnten. Der ganze Abistress fiel von ihm ab, er entspannte sich, hatte viel Spaß mit den Jungs. So vertrödelte er die Zeit, bis er den Job antrat.
In Hamburg angekommen, parkt Klaus den Wagen in der Nähe des „Pit“, einer Disco, in der er schon oft mit Freunden ganze Nächte durchgetanzt hat. Die Autotür fällt ins Schloss, er atmet die frische Luft ein. Auf dem Weg zum Eingang kickt er eine Coladose vor sich her. Ein Kerl kommt ihm entgegen, die beiden grinsen sich an. Klaus geht weiter, ohne sich umzudrehen. Er drückt den Klingelknopf vom „Pit“, die Tür wird von innen geöffnet.
*
Julia kommt von einem langen Spaziergang entlang der Ostsee zurück. Sie hat ihrem geliebten Leuchtturm einen Besuch abgestattet. In seiner Nähe fühlt sie sich geborgen, wie in einer schützenden Burg. Sie liebt Gebäude, die sie als „gute Orte“ empfindet. Um herauszufinden, ob ein Gebäude eine solche Ausstrahlung besitzt, muss sie diese nicht betreten. Julia glaubt, eine Fähigkeit zu besitzen, die den meisten fremd ist. Sie erkennt die Charaktere der Gebäude, egal, ob diese gut oder böse sind oder waren.
Die alte Garage ihrer Großeltern hat zwei Holzflügeltüren. Quietschende Scharniere verleihen den Türen eine Art Leben, sie begrüßen Julia, wenn sie sie öffnet. Seit Julia denken kann, hat nie ein Auto in der Garage gestanden. Vielmehr war sie vollgestopft mit altem Trödel, wie ihre Mutter zu sagen pflegte. Julia sah das anders, sie konnte nur Schönheit erkennen: die alte Truhe, gefüllt mit Kleidern, all die ausrangierten Möbel, von denen jedes eine Geschichte zu erzählen hatte, der Schaukelstuhl, in den sie sich manchmal in ihrer Kindheit gesetzt hatte, um dort „Hanni und Nanni“ zu lesen. Die Garage war auch ein Versteck vor ihren Brüdern, wenn diese sie zu ärgern versuchten.
Dann gab es noch das alte Haus im nahe gelegenen Wald, das sie in seinen Bann zog. Es war seit Jahren nicht bewohnt. Nicht etwa, weil der Stromanschluss fehlte oder weil es nur Öfen zum Heizen gab. Nein, das war nicht der Grund. Vor vielen Jahren war hier eine Familie von jemandem überfallen und getötet worden. Die Gerüchte um dieses schreckliche Geschehen trieben bunte Blüten: Mal hatte der Mörder ein Beil benutzt, dann wieder einen Vorschlaghammer. Doch man konnte dem Haus diese Gräueltat nicht anlasten, entschied Julia. In ihrer Wahrnehmung hatte es einen guten Charakter. Zuweilen streifte Julia in Gedanken durch die Zimmer. Noch immer war es für sie von Interesse, in welchem Raum „es“ wohl geschehen sein mochte.
Julia ging mit ihrem Wissen über Häuser und Orte nicht hausieren. Wusste sie doch, dass alle sie für verrückt halten würden. Ihre beste Freundin Anja hatte sie jedoch ins Vertrauen gezogen. Noch immer sind Julia und Anja befreundet, doch ein wenig Distanz ist zwischen ihnen entstanden. Vielleicht, weil Julia sich schon eine ganze Weile hier an der Ostsee befindet, wo sie ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau macht. Sie hat die Ostsee gewählt, die ihr schon aus der Kindheit von den jährlichen Familienferien vertraut ist. Die Ostsee ist ihr zweites Zuhause. Schon immer wollte sie dort leben. Nur in der klaren Seeluft glaubt sie, richtig durchatmen zu können. Ihr Asthma ist hier kein Thema mehr. Natürlich vermisst Julia die Familie manchmal. Doch Bochum spielt nur noch eine Rolle, wenn sie ihre Leute besucht.
Julia befindet sich jetzt im zweiten Lehrjahr. In der ersten Zeit fühlte sie sich sehr allein, doch nach und nach hatte sie Freundschaften geschlossen und sich in einen Jungen verliebt. Eine ganze Saison lang knutschte sie mit ihm herum. Als er dann zurück nach Goslar musste, war sie furchtbar traurig. Die Nacht vor seiner Abreise verbrachten sie zusammen. Für Julia war es das erste Mal. Die beiden versprachen, einander zu schreiben, doch schon nach einigen Wochen ließen sie es bleiben.
Die Arbeit macht Julia Spaß. Das Einzige, was nervt: Immer muss sie zu den Gästen freundlich sein. Das ist schon ein ziemlich harter Brocken. Es fällt ihr halt schwer, zum Beispiel die füllige Dame nicht darauf hinzuweisen, dass ein Badeanzug vielleicht angebrachter wäre als der ins Fleisch schneidende Bikini. Natürlich versucht sie sich im Zaum zu halten – zumindest wenn der Chef in der Nähe ist.
Auf dem Rückweg vom Leuchtturm begegnet Julia Klaus und Martin. Sofort gleitet ihr Blick zu Martin, dem hübschen Jungen, den sie schon seit geraumer Zeit anschauen muss und den sie so gern kennenlernen würde. Mit eingezogenem Kopf bewegt er sich vorwärts. Für Sekunden sieht Julia seine braunen tiefen Augen: Sie blicken so traurig. Für Julia ist es wichtig, in die Augen zu schauen, sie sieht immer zuerst dorthin. So viel steht darin geschrieben. Aus Martins Augen schimmert ihr Traurigkeit entgegen.
Ein kurzes „Hallo“, Julia hebt andeutungsweise die Hand. Martin wird rot. Julia fühlt ihren Bauch hin und her springen. Wie süß er doch ist. „Wie könnte ich es nur anstellen, ihn kennenzulernen“, denkt sie, „aber vielleicht will er das ja gar nicht.“ Er geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Zurück in ihrem Zimmer, lässt sie sich aufs Bett fallen. Sie nimmt ihr Tagebuch und notiert oben rechts das Datum. Julia dreht den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Schließlich schreibt sie nur einen Satz: „Er hat schöne große braune traurige Augen.“
Danach legt sie das Tagebuch zur Seite, blickt zur Wand, wo sie all die Ansichtskarten angebracht hat: Karten von ihren Eltern, von den Großeltern und natürlich auch von Anja. Anja wählt immer Karten, auf denen sich Gebäude befinden: Kirchen, alte Mühlen, Fachwerkhäuser. Natürlich hat Anja kein Gefühl für die Schwingung von Gebäuden. Und Julia traut sich nicht, sie wissen zu lassen, dass nur lebendige Gebäude sie interessieren, nicht auf Karten abgebildete.
*
Klaus schlägt die Augen auf. Etwas Schweres liegt auf seiner Brust: Eine schwarze Katze mit glänzendem Fell hat sich in seiner Haut verkrallt. Sie schaut ihm in die Augen, faucht und macht klar, wer hier zu Hause ist. Ohne sich zu rühren, schließt Klaus sofort wieder die Augen und wartet darauf, dass sein Bettgenosse zurück ins Zimmer kommt, damit er ihn aus der misslichen Situation befreit. Der Katze indes gefällt es auf Klaus’ Brust. Sie macht keine Anstalten, sich zu entfernen. Mit einer Tatze fährt sie ziemlich langsam über seine Haut und hinterlässt eine Blutspur. Selbstgefällig schnurrt sie dabei. In genau diesem Moment kommt der Mann hinein, in beiden Händen hält er Kaffeebecher. Sofort ruft er: „Marylyn!“ Einige Schritte, und er befindet sich am Bett, stellt die Kaffeebecher auf den Nachttisch und hebt die Katze an ihrem Fell hoch. Diese faucht ihn an, wissend, dass sie keine Chance hat. Er wirft sie in den Flur und schließt die Tür.
Klaus hat längst wieder seine Augen geöffnet, um ihn zu beobachten. Ein ihm unbekannter Mann agiert vor seinen Augen. Holger heißt er, erinnert sich Klaus. Er weiß wie er schmeckt und wie er küsst und riecht. Doch sicher ist sich Klaus nicht. Holger nimmt ein Tuch von der Papierrolle und wischt die Blutspur von Klaus’ Brust: „Tut mir leid, ich habe nicht bemerkt, wie sie ins Zimmer geschlichen ist. Sie ist ein Biest, musst du wissen, hochgradig eifersüchtig.“ Er küsst Klaus auf den geschlossenen Mund. Klaus flüstert: „Gib zu, das ist ein Trick, um unliebsame Liebhaber so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Und wer trotzdem bleibt, ist selbst schuld, stimmt‘s?“ Er grinst.
Zärtlichkeit verschafft sich erneut Raum, umspannt die beiden. Sie befinden sich in einem Kokon, der sie eine vertraute Nähe spüren lässt, obwohl sie einander fremd sind. Leidenschaft pulsiert im Raum: Die beiden vergessen alles um sich herum. Immer mehr wollen sie, können nicht genug bekommen. Als sie voneinander lassen, wissen sie nicht, wie viel Zeit verstrichen ist. Sie liegen nebeneinander, Klaus auf dem Rücken und Holger auf dem Bauch. Eine Zigarette wandert zwischen ihnen hin und her, sie trinken den inzwischen kalt gewordenen Kaffee. Blaue Ringe verflüchtigen sich. Klaus will aufstehen. Er wird von starken Armen zurückgehalten. Sie lieben sich ein weiteres Mal. Klaus nimmt einen letzten Schluck aus seinem Becher. Während er sich aus dem Bett hebt, fühlt er eine angenehme Schwere. Sonnenstrahlen leuchten den Raum aus. Dem Wunsch, zum Fenster zu gehen und sich in den Lichtkelch zu stellen, will er nicht widerstehen.
Der Hinterhof zeigt sich als typisch für das Schanzenviertel. Holger stellt sich hinter Klaus und nimmt ihn in seine Arme. Blecherne Mülltonnen bis zum Überquellen gefüllt, Fahrräder an Hauswände gelehnt. Im Sandkasten liegen Plastikeimer und Schaufeln, Hundekacke gleich neben der Plastikharke. Klaus will gehen. Doch wie sagt er es ihm? Holger kommt ihm zuvor: „Ich muss gleich los, in die Bibliothek.“ Klaus dreht sich aus der Umarmung. „Klar, wie spät ist es eigentlich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schaut er zur Uhr auf dem Nachtschrank. Das darf doch nicht wahr sein: Er müsste längst im Auto sitzen. Gehend und stolpernd zieht er sich an und schlüpft in seine Schuhe. Im Flur springt die Katze zur Seite. Ein letztes Fauchen verdeutlicht, dass sie mit seinem Aufenthalt nicht einverstanden war, konnte sie doch nicht an ihrem angestammten Platz am Fußende des Bettes schlafen. Klaus öffnet die Wohnungstür. Holger und er blicken einander an, kurz nur, nicht mal ein Kuss zum Abschied, schon ist er draußen.
Klaus nimmt zwei Stufen auf einmal. Er will so schnell wie möglich zu seinem Wagen. Ihm ist klar, dass er es nicht pünktlich zur Arbeit schaffen wird. Zwar dürfte die Verspätung nicht gravierend sein, doch sie müsste ausreichen, um Hein auf die Palme zu bringen.
*
Martin wird von der Sonne geweckt. Er fühlt sich wie gerädert. In der Nacht ist er immer wieder wach geworden. Das macht ihn wütend, weil er weiß, dass er sich am Tag dann nicht konzentrieren kann. Viele Fehler unterlaufen ihm in diesem halbwachen Zustand. Heins Ausraster sind Selbstläufer, denen er nicht ausweichen kann. Seine liebste Beschäftigung scheint es zu sein, bei Martin nach Fehlern zu suchen – und natürlich findet er immer welche. Es macht ihm Spaß, ihn vorzuführen, und alle anderen müssen es sich anschauen, wie Hein mit Martin verfährt. Dass die anderen Mitarbeiter peinlich berührt sind, interessiert Hein nicht.
Mit einem Ruck will Martin aus dem Bett springen, doch die Matratze lässt ihn noch nicht los. Martin würde gerne den Tag im Bett verbringen, es braucht seine ganze Willenskraft, um sich zu erheben. Der einzige Anreiz aufzustehen ist eh nur der Instantkaffee, den er sich morgens aufbrüht. Martin füllt seinen Becher mit Wasser, stellt den Tauchsieder hinein und wartet, dass das Wasser zu blubbern beginnt. Der Tauchsieder wird aus dem Becher genommen, der Kaffee hineingegeben. Nun bleibt nur die Hoffnung, dass er durch den ersten Schluck in den Tag katapultiert wird. Martin liebt es, den ersten Kaffee in Ruhe mit sich allein trinken zu können. Es gibt niemanden, der ihn kritisiert: Nichts ist falsch.
Die Stille, welche er hier kennenlernen durfte, liebt er, ja, er braucht sie gar. Bei seiner Familie war es selten ruhig, geschweige denn still. Auch auf das Mittagessen freut sich Martin jeden Tag erneut. Wie selten gab es zu Hause regelmäßige Mahlzeiten, und wenn, kamen meist Fritten auf den Tisch. Gab es etwas anderes, waren die Fritten immer die bessere Wahl. Martin denkt voller Schaudern an die Schweinsohren, -schwänze oder auch -füße. Schnell umschalten: Gestern stand Schnitzel mit Püree auf dem Speiseplan, total super, und Nachschlag darf er sich auch immer nehmen. Sogar Pudding gab es hinterher. Er liebt Götterspeise über alles.
Das Mädchen gestern, wo hat er sie schon einmal gesehen? Vergessen. Sie schaute ihn so merkwürdig an. Martin füllt sich seinen Becher noch einmal voll, setzt sich damit aufs Bett. Seine Überlegung, wie es wohl wäre, ein Mädchen mit nach Hause zu bringen, lässt ihn zu dem Schluss kommen, dass dies wohl das Letzte wäre. Sie wäre den Argusaugen der Eltern ausgesetzt, die Kleinen würden grinsen und ihre Hände vor die Münder halten. Seine Eltern würden ihn blamieren, da ist er sich ganz sicher. Nein, er kann es sich nicht vorstellen, ein Mädchen, das er liebt, seinen Eltern vorzustellen. So wenig, wie er andere mit nach Hause bringen konnte.
Seine Eltern warfen ihm vor, dass er nur faul zu Hause rumhängen würde. Ständig rechneten sie ihm vor, was sie das koste. Und dass er sich ein bequemes Leben machen wolle und mit diesem Verhalten auch seinen letzten Job verloren habe. Sein Chef habe ihn natürlich durchschaut und deshalb gefeuert. Sie wollten nicht hören, dass er gar nichts dafür konnte, war es doch nur ein Job auf Zeit gewesen. Er hatte überhaupt keinen Einfluss auf eine Weiterbeschäftigung. Martin war in einer Geflügelfabrik beschäftigt gewesen, genau bis zum 24. Dezember, danach war Schluss. Er hatte die Arbeit gehasst. Mit einer Hochdruckpistole musste er die Arschlöcher der gerupften Enten vergrößern, danach wurden die Innereien herausgenommen, in einen Beutel gesteckt und wieder hineingestopft. Es war am Küchentisch, beim Essen, als seine Eltern ihm Vorwürfe machten: „Die Wohnung ist zu klein, kannst du nicht langsam ausziehen? Such dir eine Arbeit, wo du auch übernachten kannst, da muss es doch was geben. Obwohl, der Klügste bist du ja nicht gerade, könnte schon schwer werden, für dich etwas zu finden.“ Martin hörte schweigend zu. Er zeigte nicht, was er fühlte. Vielleicht waren da ja auch überhaupt keine Gefühle, sondern nur Leere.
Seine Mutter legte ihm ein Schweinsohr auf den Teller, das dritte. Martin wollte sich noch Kartoffeln dazunehmen. Ein Blick, und er wusste, dass er mit den zwei Kartoffeln, die ihm noch auf dem Teller verblieben waren, auskommen musste. „Ich gehe morgen aufs Arbeitsamt, vielleicht haben die ja etwas für mich, könnte doch sein“, murmelte er vor sich hin. Martin trennte die Haut von dem mit Sehnen durchzogenen Knorpel. Er schnitt die Haut in kleine Stücke und beförderte etwas davon in den Mund, schob Kartoffeln nach. Mit reichlich Wasser schluckte er die Masse fast ungekaut hinunter. Martin musste darauf achten, dass die Kartoffeln reichten, denn die Schweinsohren allein könnten ihn zum Klo laufen lassen, um alles wieder auszukotzen. Das brächte dann wieder Ärger, den er natürlich vermeiden wollte. Er schaute unauffällig in die Runde. Sein Blick blieb für Sekunden bei den Geschwistern hängen. Pfeile durchbohrten seinen Bauch. Er musste sich ein wenig krümmen. Sein Herz raste.
Wann bemerkte er, dass er zum Außenseiter in seiner Familie geworden war? Martin fand sich auf eine Nebenstrecke gedrängt. Jeder Versuch, sich wieder eingliedern zu wollen, war erfolglos geblieben. Irgendwann gab es keinen Weg mehr zur Hauptstrecke zurück. Schon lange half ihm die Erinnerung daran, dass er seine Eltern auch anders kannte, nicht mehr. Wie hatte es nur begonnen? Anfänglich tranken sie ein Glas zu viel, dann lachten sie, weil Papa so lustig wurde, natürlich lachte Martin mit. Irgendwann lachte er, obwohl seine Eltern damit aufgehört hatten. Das war ihm gar nicht aufgefallen. Martin bemerkte nicht, dass die Stimmung sich zu ändern begann. Er bekam eine Ohrfeige und wurde in sein Zimmer geschickt. Später kam seine Mutter ins Zimmer, setzte sich auf seinen Bettrand. Sie streichelte seinen Kopf und sagte: „Papa hat es nicht so gemeint, er ist jetzt manchmal nervös. Das geht vorbei.“
Es ging nicht vorbei, stattdessen wurde es schlimmer. Seine Mutter trank nun auch immer mehr. Es wurde seine Aufgabe, sich um die Kleinen zu kümmern. Er wickelte sie. In der Nacht stand er für sie auf. Wenn sie sich die Kehlen aus dem Hals schrien, versuchte er, sie zu beruhigen. Er sang ihnen ein Lied vor, das seine Mutter ihm vor dem Umzug, als er noch das einzige Kind in der Familie war, vorgesungen hatte. „La, Li, Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“, ging der Text. Manchmal half das Singen, dann wieder nicht und sie weckten sich sogar gegenseitig auf. Martin war oft so verzweifelt. Er wärmte Milch und füllte sie in die Fläschchen, steckte sie in die kleinen Münder. Dann war endlich Ruhe. Alles Erdenkliche unternahm er, damit seine Eltern von dem Geschrei nicht wach wurden. Martin war nach diesen Nächten, in denen die Kleinen ihn auf Trab hielten, wie gerädert.
Er erinnert sich daran, wie schön es vor dem besagten Umzug gewesen war. Seine Eltern widmeten sich ausschließlich ihm. Sie machten Ausflüge, besuchten Freunde oder Verwandte. So viel Spaß hatten sie miteinander. Einen Sommer waren sie in den Harz gereist. All das schien nun vorbei. Nicht nur hatte er nachts für die Kleinen zu sorgen, auch die Hausarbeit fiel ihm immer mehr zu. Natürlich waren zuerst die Kleinen dran, die quietschfidel den neuen Tag begrüßten, als hätte es die gestrige Nacht nicht gegeben. Sie wurden zurechtgemacht, dann kamen sie in das Laufgitter. Danach kümmerte Martin sich um das Wohnzimmer. Die Fenster wurden zum Lüften geöffnet. Es stank jedes Mal wie in einer Kneipe. Er leerte den überquellenden Aschenbecher, sammelte die Bierdosen zusammen und brachte sie hinunter in den Müll. Zwei Häuser weiter befand sich ein Kiosk. Dort hatte er vier Bierdosen zu kaufen, damit gleich etwas zu trinken da war, wenn sie aufgestanden waren. Meistens musste er anschreiben lassen. Zurück in der Wohnung, stellte er sie kalt, um dann das Frühstück vorzubereiten. Immer gab es einen Berg Wäsche. Martin füllte die Waschmaschine mit heller Kleidung und übersah die rote Socke. Inzwischen waren seine Eltern aufgestanden. Gleich nach einem Schluck Kaffee wurden die Bierdosen geöffnet und schnell ausgetrunken. Martin saß am Tisch und kaute auf einer Schnitte, die nur mit Margarine bestrichen war.
Der Schulunterricht hatte bereits begonnen, doch noch konnte er nicht zur Schule, denn der Waschgang der Maschine musste beendet sein. Erst wenn die Wäsche aufgehängt war, konnte er sich auf den Weg machen. Martin ging ins Bad. Er beeilte sich, wissend, dass er es nicht mehr schaffen würde, pünktlich zu sein. Als er die Waschmaschine öffnete, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen: Alles war rosa. Diesen Tag sollte er so schnell nicht vergessen. Die Mutter schlug ihn grün und blau. Martin bekam eine Entschuldigung, um beim Sportunterricht nicht mitmachen zu müssen.
Sport, wie sehr hasste er dieses Fach. Die Mannschaftssportarten waren die schlimmsten. Nacheinander wurden die Schüler ausgewählt, bei der jeweiligen Mannschaft mitzumachen. Es war klar, dass Ulli und Edeltraut die Mannschaften aufstellen durften. Ebenso klar war es, dass er und die dicke Rita zuletzt aufgerufen werden würden. Martin wurde vor Rita aufgerufen. Aber machte das einen Unterschied?
Martin sah seinen Vater an, der bis zum Mittag schon betrunken war. Es schien so lange her, dass er gern mit ihm an einem Tisch saß. Wie viel Spaß hatten sie früher zusammen gehabt! Sie hatten ihre Spielchen, lachten lauthals, und auch der strenge Blick seiner Mutter änderte nichts daran. Das ging so lange, bis auch sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. Nichts war von der Ungezwungenheit noch da. Martin versuchte, sich seinen Vater von damals in Erinnerung zu rufen. Zwecklos. Es gelang ihm nur bruchstückweise: Ein Puzzle, dem einzelne Teile fehlen, ergibt kein Bild. Der geliebte Vater ist verschwunden. Ein Rülpsen holte ihn aus seinen Gedanken. Es kam von seinem Gegenüber: Er trug alte Jogginghosen und ein Rippunterhemd, das sich über seinen dicken Bauch spannte. Er war – wie fast immer – nicht rasiert. „Wieso willst du erst morgen ins Arbeitsamt gehen, du willst doch bloß hier rumhängen und stören“, wandte sich der Vater Martin zu. Martin schwieg und betrachtete seine Geschwister, die in ihren Pommes herumstocherten. Sie waren auch befangen. Nicht so wie er, denn bisher bekamen sie die unterschiedlichen Stimmungen nur unterschwellig mit. Als Prellbock jedoch fungierte er.
Wieder einmal gab es die verhassten Schweinsohren. Martin quälte sich damit ab, und seine Befürchtung bestätigte sich: Die Kartoffeln reichten nicht aus. Den Rest der Schweinsohren musste er ohne jede Beilage essen. Ab jetzt würde es sich in die Länge ziehen. Er musste seinen Ekel schrittweise überwinden. Das befürchtete Kotzgefühl trat natürlich ein. Es gab keinen Ausweg aus der Situation. Seine Mutter nahm einen großen Schluck Bier aus der Dose seines Vaters. „Was ist jetzt, warum erst morgen?“, bohrte der Vater nach. Martin versuchte ein Stück vom Ohr runterzuschlucken, es schien an seinem Gaumen festgeklebt. Vorsichtig löste er es. Jetzt hing es in seiner Speiseröhre und rutschte nicht weiter. Er bildete Speichel, um das Stück leichter hinunterschlucken zu können. „Heute ist doch Mittwoch, da haben die keine Sprechstunde“, antwortete er gequält. Ein Blick auf seinen Teller bestätigte ihm, dass er noch einiges vor sich hatte.
„Das ist doch nur eine Ausrede von dir“, mischte sich nun seine Mutter ein. „Ich werde schon dafür sorgen, dass du hier wegkommst und uns nicht weiter auf der Tasche rumhängst.“ Warum konnten sie ihn nicht mehr lieben?
Martin nimmt einen letzten Schluck Kaffee und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Er tritt aus der Haustür, schaut zum Himmel. Die Sonne wärmt. „Hallo!“, hört er es da plötzlich hinter sich. Martin senkt den Kopf, hebt ihn vorsichtig und schaut das Mädchen von gestern an. Röte schießt in sein Gesicht. „Wie geht’s?“, fragt sie, um irgendetwas zu sagen, „ich bin grad zufällig in der Nähe.“ Julia schaut Martin an, sieht die traurigen Augen wieder. „Ich hab dich schon öfter gesehen, du arbeitest wohl auch hier? Ist doch auch toll hier, oder? Also ich lerne Hotelfachfrau in dem kleinen Hotel in der Fehmarner Straße. Macht ziemlichen Spaß. Einige Gäste sind natürlich spießig, aber sonst ist alles paletti. Schönes Wetter ist heute, findest du nicht auch?“ Julia ist aufgeregt, und in solchen Momenten spricht sie ohne Punkt und Komma. Martin glaubt, sie werde gar nicht mehr aufhören zu reden. Es ist nicht schlimm, aber er muss ja zur Arbeit. „Wahrscheinlich nerv ich dich und quatsch dich einfach voll“, beendet Julia ihren Redefluss. „Nee, nee, ist schon okay. Nur ich muss leider los, bin ein bisschen in Eile.“
Martin sieht ein Grübchen auf ihrer rechten Wange und findet es total niedlich.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich dich ein wenig begleite?“ Julia wartet seine Antwort erst gar nicht ab. Die beiden schlendern nebeneinander her. Julia fragt Martin Löcher in den Bauch, sie will so viel wissen: seit wann er hier ist, woher er kommt, wo er arbeitet, was er so macht, wann er seinen freien Tag hat.
„Wir sind da, ich muss rein. Wenn ich zu spät anfange, gibt’s Ärger.“ Bei dem Wort „Ärger“ zieht Martin eine Grimasse. Er ist schon fast im Personaleingang des „Nordstern“ verschwunden, da fragt Julia ihn: „Hast du Lust, aber nur wenn du willst, also wir könnten doch …“ Sie stottert und wird auch noch rot dabei, setzt neu an: „Wollen wir ein Eis essen gehen?“ Martin strahlt Julia an, er findet sie schon jetzt toll und freut sich darauf, sie wiederzusehen. „Ja, gerne“, antwortet er.
„Okay, dann bis heute Abend nach der Arbeit, ich hol dich ab, ja?“, sagt Julia.
„Um elf!“, ruft Martin, bevor er im „Nordstern“ verschwindet.
*
Klaus springt in seinen Wagen. Mit einem Affentempo rast er durch die Stadt, bis er auf eine Baustelle stößt, die seine Weiterfahrt erschwert. Leitungen werden hier wohl neu verlegt. Warum macht er sich Gedanken darüber? Er hat es eilig, und nun wird er gezwungen, im Schritttempo zu fahren. Er ist nicht wirklich nervös, obgleich ihm klar ist, dass er es nicht mehr pünktlich zur Arbeit schafft. Frech grinst er sich im Rückspiegel an. Klaus fühlt sich wohl. Es war leidenschaftlicher Sex. Wie ein Verdurstender war er sich gestern vorgekommen. Dann stieß er auf eine Quelle reinsten Wassers, eine Oase, die ihm die ganze Nacht gehörte. Sein Durst schien ihm unstillbar.
Klaus folgt der Umleitung. Er muss sich durch ein Nadelöhr fädeln. Die Zeit rast, er überlegt, an der nächsten Telefonzelle anzuhalten, um im „Nordstern“ seine Situation zu erklären. Die Baustelle liegt inzwischen hinter ihm, eine Telefonzelle ist auch in Sicht. Geschmeidig springt er aus dem Wagen und kramt nach Kleingeld, um festzustellen, dass ihm ein Zehner fehlt. Pech kann man haben.
Weiter geht es. Der Verkehr läuft jetzt flüssig, die Autobahn ist frei. Klaus stellt das Radio an: Staumeldung. „Ein LKW ist mit einer Ladung Eier durch zu hohe Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen und umgestürzt. Nachfolgende PKWs sind ins Rutschen geraten. Menschen wurden nicht verletzt, jedoch entstand erheblicher Sachschaden.“ Klaus nimmt die Nachricht gelassen hin. Da ist einfach nichts mehr zu machen. Er wird definitiv um einiges zu spät kommen. Na ja, davon wird die Welt schon nicht untergehen. Er schiebt eine Kassette von Uriah Heep ein. Nach dem Wochenende wird nicht sehr viel los sein im Restaurant, schließlich ist es noch Vorsaison an der Ostsee. Das wird sich ab Ostern natürlich ändern, aber bis dahin wird alles vor sich hin plätschern. Natürlich wird Hein den Lauten machen. Soll er doch.
Seine Gedanken gehen zurück zum gestrigen Abend. Als er das „Pit“ betrat, sprudelte es vor Aufregung in ihm. Er wollte Spaß haben und hoffte, dass sich etwas für eine Nacht ergeben würde. Die Erwartungen, die er an diesen Abend knüpfte, waren hoch. Langsam arbeitete er sich zum Tresen vor, um einen Wodka-Orange zu bestellen. Mit dem Glas in der Hand schlenderte er durch die Disco, um kurz darauf von Frank, einem Bekannten, mit Küsschen rechts und links auf die Wange begrüßt zu werden. Sie plauderten belangloses Zeug. Frank hatte das Bedürfnis, den neuesten Klatsch zum Besten zu geben. Er produzierte sich, machte auch nicht davor halt, von seinen sexuellen Eroberungen zu berichten. Dabei warf er sich in Pose. Klaus hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Musik drang in ihn ein, und je mehr er ihr lauschte, desto weniger wollte er dem Szenegewäsch sein Ohr schenken. Klaus wandte sich von Frank ab, doch das interessierte den gar nicht. Er ließ sich nicht abschütteln, bat Klaus, sein Glas zu halten, damit er sich auf der Tanzfläche austoben und dabei natürlich eine möglichst gute Figur machen konnte.
Klaus schaute den Tanzenden eine Weile zu. Dann stellte er entschlossen die Gläser ab und schlenderte auf die Tanzfläche, um sich mit geschlossenen Augen nach der Musik zu bewegen. Schon mehr als eine halbe Stunde tanzte er, konnte gar nicht genug bekommen. Die Augen inzwischen wieder geöffnet, betrachtete er die Mittanzenden. Mit identischen Gesten bewegten sie sich zu „Y.M.C.A.“ von Village People. Sie waren gefönt, einige auch geschminkt. Vorher hatten sie Stunden zu Hause vor dem Spiegel verbracht. Schweiß bildete sich auf Gesichtern, Wimperntusche verlief. Einige wirkten lächerlich. Klaus betrachtete sich in den Spiegelwänden und Säulen, welche die Tanzfläche flankierten. Er war irritiert von seinem eigenen Spiegelbild. Dabei hatte er sich so toll gefunden, als er sich für die Nacht zurechtmachte. Es war eigentlich nichts Schlimmes, nur dass er aussah wie alle anderen, bloß eben nicht geschminkt. Klaus verließ die Tanzfläche, um einen Schluck aus seinem Glas zu nehmen. Er stand wieder herum, ohne dass sich Frank wieder zu ihm gesellt hätte. Der hatte wahrscheinlich Besseres zu tun, war vielleicht seinem Ziel schon näher gekommen, einen Mann von seiner Verführkunst zu überzeugen.
Einen zweiten Drink bestellend, gab Klaus das Glas am Tresen zurück. Er schlenderte durch die Disco. Nach dem Durchforsten landete er wieder vor der Tanzfläche und lehnte sich an eine Säule. „Das wird heute wohl nichts mehr“, überlegte er. Enttäuschung kroch in ihm hoch. Just in diesem Moment baute sich doch tatsächlich jemand vor ihm auf und nahm ihm die Sicht auf die Tanzfläche. Und beraubte ihn damit um den einzigen Spaß, den er in dieser Nacht noch haben würde. Klaus tippte dem Fremden genervt auf die Schulter: „Hey, du nimmst mir die Sicht.“ Dieser drehte sich zu ihm um. Zwei große Augen schauten in seine. Nun war Klaus sprachlos, suchte nach irgendwelchen Worten. Also fragte er nach Feuer, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er kramte nach seinen Zigaretten. Peinlicherweise fiel dabei das Feuerzeug zu Boden. Der Fremde sah das natürlich. Klaus spürte, wie Röte in ihm hochschoss.
„Keine besonders originelle Anmache von dir.“ Mit diesen Worten holte der Fremde sein Feuerzeug aus der Hosentasche, hielt Klaus die kleine Flamme hin, die ein wenig flackerte, und zündete sich selbst seine Zigarette an. Zeitgleich begannen sie den Satz: „Bist du öfter hier?“ Sie mussten darüber lachen. Holger stellte sich vor und fragte sein Gegenüber, ob er Lust habe, mit vor die Tür zu kommen. Klaus nickte und fand Holgers Lachfältchen anziehend. Der Mund schien zum Küssen gemacht zu sein. Stopp. Er befand sich gerade auf einer Fantasiereise, holte sich jedoch augenblicklich wieder zurück. Die beiden drängelten sich durch das Gewühl. Klaus roch Holgers Männlichkeit, auch seine Wärme. Wie zufällig berührten sie sich an ihren Handrücken. Er wusste nun, dass er gern diese Nacht mit Holger verbringen würde.
Draußen atmeten sie die frische Luft ein. Sie unterhielten sich, unterbrachen sich gegenseitig, rauchten, flirteten. Klaus lehnte sich an eine Hauswand. Holger stand genau vor ihm. Fast berührten sich ihre Nasen, so nahe waren sie sich. Aus dem „Pit“ drang Musik, wieder Village People: „In the Navy“. Hintergrundmusik, die nicht störte, ganz im Gegenteil. Die beiden redeten nun nicht mehr. Auf einmal war es still um sie herum geworden. Ihre Lippen trafen sich, als hätten sie den Code knacken müssen, der besagt: „Ihr dürft euch jetzt küssen.“ Weiche Lippen, die sich öffneten, um mehr zuzulassen. Die Zungen wurden neugierig, vorsichtig, schließlich fordernd. Sie bekamen einen Vorgeschmack auf die Nacht. Obwohl noch nicht ausgesprochen, war klar, dass sie diese miteinander verbringen würden. Mit oder ohne anschließendem Frühstück. Das Anzünden von Zigaretten unterbrach die Zärtlichkeiten. Synchron zogen sie den Rauch ein, bliesen aus. Zwei Rauchwolken trafen sich, wurden zu einer. Der leichte Frühlingswind bewegte sie weiter. Dann wurden die Zigaretten achtlos fallen gelassen, um erneut einander nahe zu sein. Hände suchten nach Wegen, um Haut zu berühren. Sie schoben sich an der Hauswand entlang, bis sie von einem Hauseingang verschluckt wurden. Die Hände waren erfolgreich, hatten Hemdknöpfe geöffnet. Leidenschaft. Der Atem ging schneller, die Umarmungen wurden fordernder. Sie konnten kaum an sich halten. „Zu mir oder zu dir?“, fragte Holger. „Zu dir.“
Klaus streichelte über Holgers Brust und freute sich wie ein Kind. Die beiden gingen schweigend nebeneinander. Andere kamen ihnen entgegen, sich unterhaltend, knutschend oder einfach nur die laue Frühlingsnacht genießend. Die Luft schien erotisiert. Klaus begab sich in ein Fahrwasser, von dem er noch nicht wusste, wohin es ihn tragen würde. Er ließ sich treiben und genoss es. Holger gab die Richtung vor, sie gingen ein Stück entlang der Alster. Paare blickten auf das Wasser, schauten den Schwänen beim Liebesgeplänkel zu. Klaus verlangsamte seinen Schritt. „Ich will nur eine Minute zuschauen“, sagte er leise und zog an Holgers Ärmel. Holger verdrehte die Augen, streichelte ihn sanft: „Lass uns weitergehen.“ Klaus schaute noch einmal zu den Schwänen. Malbuchkitsch. Eine Kulisse, wie für frisch Verliebte gemacht. Doch er wollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden, sondern nur noch lustvoll ficken.