Geschichte des deutschsprachigen Romans - Heinrich Detering - E-Book

Geschichte des deutschsprachigen Romans E-Book

Heinrich Detering

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Beschreibung

Ein Buch, das ein Bestseller werden will, sollte, wenn eben möglich, unter dem Titel die Gattungsbezeichnung "Roman" tragen. Lyrik hat keine Chance, aber auch Novellen und Erzählungen oder gar Erzählungssammlungen sind nicht sonderlich beliebt. Das ist schon länger so in der deutschen Literaturgeschichte. Nachdem der Roman erst einmal sein Image als Unterhaltungsschund im 18. Jahrhundert abgelegt hatte, trat er gleich die steile Karriere als ehrwürdigste, welthaltigste, bildendste aller Gattungen an. Deshalb gehört Orientierung über seine Geschichte zum Kerncurriculum jedes Studiums der Germanistik oder Literaturwissenschaft. Sie wird hier von fachlichen Autoritäten kurzgefasst, aber umfassend, geboten.

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Seitenzahl: 1094

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Geschichte des deutschsprachigen Romans

Von Heinrich Detering und Kai Sina, Benedikt Jeßing, Volker Meid, Albert Meier, Ralf Schnell

Herausgegeben von Volker Meid

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einem Blatt des Entwurfs zum Roman Der Stechlin von Theodor Fontane

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2013

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960245-5

ISBN der Buchhandelsausgabe 978-3-15-010899-4

www.reclam.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung

Die Anfänge des deutschen Prosaromans

1. Erste Annäherung

2. Übersetzungen, Bearbeitungen, ›Prosaauflösungen‹

3. Deutsche ›Originalromane‹ des 16. Jahrhunderts: Vom Fortunatus zum Lalebuch

Der Barockroman

1. Legitimation, Kritik, Poetik

2. Der höfisch-historische Roman und verwandte Romangattungen

3. Schäferliche und verwandte sentimentale Liebesromane

4. Das Spektrum des niederen Romans

Der Roman der Aufklärung

1. Robinsonade, Utopie und Staatsroman: Von Schnabel bis Haller

2. Romantheorie; Neuorientierung im europäischen Kontext

3. Variationen des moralisch-empfindsamen Romans: Von Gellert zu La Roche und der Sterne-Rezeption

4. Satirischer und komischer Roman

5. Christoph Martin Wieland

Don Sylvio von Rosalva

Geschichte des Agathon

Der Goldne Spiegel

Geschichte der Abderiten

Die späten Romane

Goethezeit

Englische Referenzromane

Romane im Ausgang der Aufklärung

Populäre Romane

Romantische Romane

1. Theorie des romantischen Romans

2. Der romantische Leittext: Wilhelm Meisters Lehrjahre

3. Hauptromane der Romantik

4. Die Romane Jean Pauls

Romane nach der Romantik

Das 19. Jahrhundert

Romanpoetik: Hegel – Vischer – Realismus

Materiale Bedingungen der Romanproduktion im 19. Jahrhundert: Buchmarkt, Zeitschriften, Schriftstellerberuf, Zensur

Künstlerroman/Entwicklungsroman

Anti-Entwicklungsromane am Ende des Jahrhunderts

Historische Romane

Politische und Gesellschaftsromane

Jungdeutsche Zeitkritik

Großstadt-/Berlin-Romane

Naturalistische Gesellschaftsromane

Frauenroman

Regionalroman – Heimatroman

Unterhaltungsromane

Der Roman als die ›Epopöe des bürgerlichen Zeitalters‹ – ein Resümee

Der deutschsprachige Roman 1900 –1950

Vorbemerkungen oder Von Eisenbahn-, Mond- und Nilpferdromanen

Dekadenz oder Die Schönheit des Verfalls

Gegenmoderner Modernismus oder »Hunger nach Ganzheit«

Der Erste Weltkrieg im Roman oder »Die Krise nimmt kein Ende«

Der historische Roman oder »Die Zeit ist kaputt«

Neue Sachlichkeit oder Das Sensationelle der Wirklichkeit

Reflektierte Moderne oder »An den alten Roman glaube ich nicht mehr recht«

Politische Romane des Exils oder »Ein ganzes Kriegsschiff in einen Tümpel gesetzt«

Nichtfaschistische Literatur in NS-Deutschland oder »Das gespaltene Bewusstsein«

Der Roman der Nachkriegszeit oder »Beschreiben« und »Transzendieren«

Von 1945 bis zur Gegenwart

Kontinuität und Neubeginn (1945–1949)

Tendenzen der fünfziger Jahre

Probleme des Realismus

Autobiographisches Erzählen: Die siebziger Jahre

Romane der Postmoderne

Jahrhundertwende (1990 –2011)

Literaturhinweise

I. Romantheorie und -poetik

Textsammlungen

Literatur

II. Romangeschichte, Allgemeines

1. Gesamtdarstellungen, Darstellungen größerer Zeiträume, Handbücher, Aufsatz- und Interpretationssammlungen

2. Zur Geschichte einzelner Genres

III. Romangeschichte, Epochen

15./16. Jahrhundert

17./18. Jahrhundert

18. Jahrhundert / Goethezeit

19. Jahrhundert

20. Jahrhundert

Personenregister

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Vorwort

Was ist ein Roman? »Jede freie Prosadichtung von über 50 000 Worten ist im Sinne dieser Vorlesungen ein Roman«, heißt es in E. M. Forsters Ansichten des Romans von 1927.1 Neuere Handbücher schließen sich diesem Minimalkonsens an: »fiktionales Erzählwerk von größerem Umfang und in Prosa geschrieben«2 oder »Sammelbegriff für umfangreiche, selbständig veröffentlichte fiktionale Erzähltexte«.3 Aber selbst derartige Definitionen sind interpretationsbedürftig oder umstritten. Das betrifft die präzisen oder vagen Umfangsvorgaben ebenso wie die Prosaform, die erst seit der Frühen Neuzeit verbindlich wird – und damit allerdings dem Gegenstandsbereich dieses Bandes entspricht.

Genauere, differenzierte Aussagen lassen sich nur über die zahllosen Untergattungen machen, die nach formalen oder inhaltlichen Kriterien (Briefroman, Bildungsroman), nach Darstellungsweise (komischer Roman) oder auch nach ihrer Publikationsform (Fortsetzungsroman, Heftchenroman) definiert werden, um so die empirische Vielfalt einigermaßen zu ordnen. Das breite, immer für Erweiterungen offene Spektrum typologischer Unterscheidungen steht ganz im Einklang mit dem Befund, »daß es in Welt und Leben nichts gibt, das in dem Umfang der Darstellungsmöglichkeiten des Romans nicht Raum fände«.4

Das hatte schon Johann Gottfried Herder erkannt, der in seinen Briefen zu Beförderung der Humanität (1796) den universalen, für alle Themenbereiche offenen Charakter des Romans hervorgehoben hatte:

Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfang, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessiret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessiret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.5

Dies weist wiederum auf Friedrich Schlegels Konzept der progressiven Universalpoesie im Athenaeum (1798, 116. Fragment) voraus, in dem der Roman als eine Vereinigung aller Gattungen, Künste und Wissenschaften, von Poesie und Prosa, von Kritik, Selbstreflexion und Ironie eine zentrale Stelle einnimmt:6 Und so heißt es dann zwei Jahre später in SchlegelsBrief über den Roman in Anspielung auf den universalen Anspruch der romantischen Dichtung: »Ein Roman ist ein romantisches Buch.«7

Wie ein Blick auf die Beiträge des Bandes deutlich macht, fehlt es im Verlauf der Geschichte des Romans nicht an Definitionsversuchen, enger oder weiter, geschichtsphilosophisch hochfliegend oder pragmatisch, immer aber epochenbezogen bzw. zeitgebunden: Belege auch dafür, wie die geschichtliche Entwicklung Typologien oder Systeme immer wieder Lügen straft und ein ›neuer Roman‹ den alten in Frage stellt oder ablöst. So erscheint der Roman – eine kleine Auswahl – u. a. als dichterische Theodizee im Barock, als »innre Geschichte«8 eines Menschen (Friedrich von Blanckenburg) oder als »die wahre bürgerliche Epopee« (Johann Carl Wezel)9 in der Aufklärung, eine Charakterisierung, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihre geschichtsphilosophische Begründung erhält: Vom Roman als »moderne[r] bürgerliche[r] Epopöe«10 oder als »Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist«11 und die sich vor allem im Entwicklungs- oder Bildungsroman manifestiert, sprechen Hegel und Lukács. Dagegen behauptet sich Karl Gutzkows Entwurf eines umfassenden Zeit- und Gesellschaftsromans als tendenziell demokratische Kunstform (»Roman des Nebeneinanders«)12, eine Vorstellung, die dann Thomas Mann ausdrücklich zum Thema macht: Er variiert den Gedanken von der geschichtsphilosophischen Differenz von Epos und Roman und bezeichnet, sicherlich mit politischer Motivation, in einem Vortrag an der Princeton University den Roman als modernes »demokratisches Produkt schöpferischen Bewußtseins«.13

Und wenn Hermann Broch schreibt, dass die »neue Romanform« die des »polyhistorischen Romans« sei,14 reflektiert das nicht nur im Hinblick auf die Integration essayistisch-wissenschaftlicher Züge die Theoriediskussion des modernen Romans, sondern unterstreicht auch die generelle Skepsis gegenüber einem jeweils ›alten‹ Roman. So steht in einem Brief Thomas Manns an Broch vom 19. Juni 1945 der vielzitierte Satz: »Daß auf dem Gebiet des Romans heute eigentlich nur noch in Betracht kommt, was kein Roman mehr ist, war längst meine Meinung gewesen […].«15 Nun gehört allerdings die Konfrontation von ›altem‹ und ›neuem‹ Roman oder von gegensätzlichen Romangenres zu den Konstanten der wechselhaften Romangeschichte, sei es, um die eigenen Vorstellungen vom Roman oder die lange diskriminierte Gattung moralisch und ästhetisch zu rechtfertigen, sei es, um den Wandel der gesellschaftlichen, poetologischen oder wissenschaftlichen Voraussetzungen zu reflektieren oder eine ästhetische Revolution auszurufen. Und es ist gerade diese Wandlungs- und Innovationsfähigkeit, die der Gattung ihre (relative) Unsterblichkeit verleiht. Es kann daher nicht verwundern, dass Carl Einstein, der Autor des ›Anti-Romans‹ Bebuquin (1912), keinen Erfolg mit seinem Vorschlag hatte, »bis auf weiteres die Bezeichnung Roman aufzugeben«.16

Neben der Diskussion dieser Wandlungs- und Ablösungsprozesse innerhalb der Gattung geht es auch immer wieder um ein größeres Thema, um das Verhältnis des modernen Romans zum Epos. Zunächst dienen die Verweise auf das antike Epos der poetologischen Rechtfertigung des Romans, einer Gattung, die in der für die Frühe Neuzeit verbindlichen antiken Poetik nicht einmal erwähnt wird. So legitimieren die Verfasser und Poetiker des französischen (und dann auch des deutschen) höfisch-historischen Romans im 17. Jahrhundert das Genre dadurch, dass sie es gemäß den Doktrinen des französischen Klassizismus den ›Regeln‹ des antiken Epos unterwerfen und tendenziell an dessen Stelle im Gattungssystem setzen. Wenn dann seit Blanckenburg die historischen Differenzen zwischen Antike und Moderne reflektiert werden, die sich in Epos und Roman niederschlagen, so geschieht das bei Herder noch im Geist der ›Beförderung der Humanität‹ – er steht dabei im Kontext der alten Querelle des Anciens et des Modernes auf der Seite der Modernen –, während Hegel den Vorgang der Ablösung des Epos durch den von ihm wenig geschätzten Roman eher unter dem Aspekt des Verlusts sieht. Anders als Hegel oder später Lukács macht Herder keinen kategorialen Unterschied zwischen antikem Epos und modernem Roman – »Homers Gedichte selbst sind Romane in ihrer Art« –, und er sieht in der weiteren Entwicklung des Romans einen Beleg für den fortschreitenden Erkenntnisprozess in der menschlichen Geschichte (und für die Bedeutung der Gattung Roman):

Daß mit der Zeit der Roman einen größeren Umfang, eine reichere Mannichfaltigkeit bekommen, ist natürlich. Seitdem hat sich das Rad der Zeiten so oft umgewälzt und mit neuen Begebenheiten auch neue Gestalten der Dinge zum Anschauen gebracht; wir sind mit so vielen Weltgegenden und Nationen bekannt worden, von denen die Griechen nichts wußten; durch das Zusammentreffen der Völker haben sich ihre Vorstellungen an einander so abgerieben, und überhaupt ist uns der Menschen Thun und Lassen selbst so sehr zum Roman worden, daß wir ja die Geschichte selbst beinah nicht anders als einen philosophischen Roman zu lesen wünschen. Wäre sie immer auch nur so lehrreich vorgetragen, als Fieldings, Richardsons, Sterne’s Romane! –17

Nun haben es die gleichsam unendlichen Möglichkeiten des Romans nicht nur den Theoretikern schwergemacht, sondern auch die Literaturhistoriker vor letztlich unlösbare Probleme gestellt. Versuche umfassender Romangeschichten, und sei es ›nur‹ im Rahmen einer Nationalliteratur, haben daher Seltenheitswert. Gemeinschafts- und Sammelwerke sowie auf einzelne Epochen, Subgenres oder spezifische Fragestellungen beschränkte Darstellungen sind an ihre Stelle getreten.

Eine allgemeine Geschichte des deutschen oder deutschsprachigen Romans mit einigem Anspruch ist seit Jahrzehnten ein Desiderat. Diese Lücke sucht der vorliegende Band zu schließen. Aus guten Gründen – die kleine Einleitung gibt Hinweise auf die Herausforderung – handelt es sich dabei um ein Gemeinschaftswerk, an dem Spezialisten jeweils größere Abschnitte bzw. Epochen übernommen haben. Zwar gab es Verabredungen über Umfang und inhaltliche Abgrenzungen, aber keine starren Vorgaben im Hinblick auf Methoden oder Darstellungsweise, wenn man nicht den Wunsch von Verlag und Herausgeber dafür hält, mit einem gut lesbaren Buch Lernenden, Lehrenden oder einfach Interessierten einen konzentrierten Überblick über die Geschichte einer eher anarchischen Gattung zu bieten.

Die Unterschiedlichkeit der behandelten Epochen, die spezifischen historischen, gesellschaftlichen und poetologischen Voraussetzungen mit ihren Kontinuitäten und Brüchen, die tiefgreifenden Veränderungen auf dem Buchmarkt und ihre Folgen für die Bedeutung des Romans im Literatursystem – das alles verlangt ein jeweils auf die besonderen Bedingungen der Epoche oder des Zeitraums bezogenes Vorgehen. Der Gewinn dieses Verfahrens liegt zudem in einem gewissen Methodenpluralismus, der sicher auch mit dem Unterschied der Generationen zu tun hat und sich in der individuellen Handschrift der Autoren manifestiert, die sich auf je eigene Weise ihrem Gegenstand nähern und so dem Leser einen Blick auf unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit Literatur und ihrer Geschichte ermöglichen.

Gleichwohl haben sich bei aller erwünschten Freiheit der methodischen Ansätze – ob eher historisch bzw. sozialhistorisch oder ästhetisch und literaturimmanent akzentuiert – gewisse Gemeinsamkeiten ergeben, die in der für alle Autoren gleichen Herausforderung begründet sind, sich nicht von der Massenhaftigkeit und Vielfältigkeit der Romanproduktion überwältigen zu lassen. Das kann nur ohne den illusionären Anspruch einer wie immer gearteten Vollständigkeit geschehen und verlangt notwendig Wertungen, Beschränkungen und die Konzentration auf Schwerpunkte, dazu die Verbindung von systematischen und historischen Gesichtspunkten und immer wieder eine Darstellungsweise, in der sich Romantheorie und -praxis gegenseitig erhellen und raffende Zusammenfassungen und ausführlichere Interpretationen zentraler Werke einander ablösen, um so dem Anspruch eines auf Vielfalt und Tiefe zugleich zielenden Panoramas der Romangeschichte gerecht zu werden. Wenn uns damit ein abwechslungsreiches, anregendes Buch gelungen ist, das ohne Systemzwang, aber nicht beliebig, über die wechselvolle Geschichte einer ungemein wandlungsfähigen Gattung orientiert, haben wir unser Ziel erreicht.

1 E. M. Forster, Ansichten des Romans, Frankfurt a. M. 1962, S. 14. [Engl. Original: Aspects of the Novel, London 1927.]

2 Kurt Wölfel, »Roman«, in: Walter Killy (Hrsg.), Literaturlexikon, Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden, hrsg. von Volker Meid, Gütersloh/München 1993, S. 303.

3 Hartmut Steinecke, »Roman«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Klaus Weimar [u. a.], Bd. 3, Berlin / New York 2003, S. 317.

4 Wölfel (Anm. 2), S. 303. [Abkürzungen aufgelöst.]

5 Zit. nach: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hrsg. von Hartmut Steinecke und Fritz Wahrenburg, Stuttgart 1999, S. 236.

6Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Zweytes Stück, Berlin 1798, S. 204–206. [Reprogr. Nachdr. Darmstadt 1960.]

7 Ebd. Dritten Bandes Erstes Stück, Berlin 1800, S. 123.

8 Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman. Faksimiledr. der Originalausg. von 1774. Mit einem Nachw. von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S. 392.

9 Johann Carl Wezel, Herrmann und Ulrike. Ein komischer Roman. Faksimiledr. nach der Ausg. von 1780, hrsg. von Eva D. Becker, Stuttgart 1971, Bd. 1, S. II.

10Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, zit. nach: Romantheorie (Anm. 5), S. 297.

11 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen großer Epik [1916]. 2., um ein Vorw. verm. Aufl. Neuwied/Berlin 1963 [u. ö.], S. 47.

12 Karl Gutzkow, Die Ritter vom Geiste, Vorwort [1850], zit. nach: Romantheorie (Anm. 5), S. 353.

13 Thomas Mann, »Die Kunst des Romans« [1940], zit. nach: Romantheorie (Anm. 5), S. 444.

14 Hermann Broch, Brief an Daniel Brody [1931], zit. nach: Romantheorie (Anm. 5), S. 426.

15Freundschaft im Exil. Thomas Mann und Hermann Broch, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M., S. 146.

16 Carl Einstein, »Ueber den Roman«; zit. nach: Romantheorie (Anm. 5), S. 403.

17 Johann Gottfried Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität [1796], zit. nach: Romantheorie (Anm. 5), S. 236 f.

Von der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung

Von Volker Meid

Die Anfänge des deutschen Prosaromans

1. Erste Annäherung

»Eines ist gewiß, nämlich, daß ich Prosa schreibe und nicht Verselein, für die ich im ganzen keine übertriebene Achtung hege«, lässt Thomas Mann Clemens den Iren, den »Geist der Erzählung«, zu Beginn seines Mittelalterromans Der Erwählte (1951) erklären. Er könne nicht einsehen, dass Formstrenge an Metrum und Reim gebunden wäre, und »möchte wohl wissen, warum das Gehüpf auf drei, vier jambischen Füßen, wobei es obendrein alle Augenblicke zu allerlei daktylischem und anapästischem Gestolper kommt, und ein bißchen spaßige Assonanz der Endwörter die strengere Form darstellen sollten gegen eine wohlgefügte Prosa mit ihren so viel feineren und geheimeren rhythmischen Verpflichtungen«. Dass dann die Beispielverse – »Es war ein Fürst, nommé Grimald, | Der Tannewetzel macht’ ihn kalt« – gegen »die grammatisch gediegene Prosa« der folgenden Erzählung nicht ankommen, liegt auf der Hand.18

Nun kommentiert Thomas Manns parodistischer Blick auf den mittelhochdeutschen Versroman gewiss nicht die literaturgeschichtlichen Vorgänge im Übergang von Mittelalter zu Früher Neuzeit. Aber auch hier stellt sich die Frage, aus welchen Gründen eine so erfolgreiche Gattung wie der mittelhochdeutsche Versroman zwar nicht unvermittelt, doch nach und nach an Bedeutung verlor, neue Versromane kaum noch entstanden und sich stattdessen allmählich die Prosa durchsetzte. Das Ergebnis war schließlich, dass eine neue Form des Romans die alte ablöste und ihren Platz im Gattungssystem einnahm. Eine wesentliche Rolle bei diesem Vorgang spielte dabei die generelle Ausbreitung der Schriftkultur in der Volkssprache, die den Weg für die zunehmende Verwendung der Prosa zunächst für Sachtexte, dann aber auch für literarische Erzählformen bereitete. Sprachgeschichtliche Entwicklungen förderten diesen Prozess; die alten Reime reimten sich nicht mehr. Außerdem verloren sie ihre Bedeutung als mnemotechnisches Hilfsmittel in dem Maße, in dem individuelles Lesen die mündliche Überlieferung und den mündlichen Vortrag im Rahmen einer Gesellschaft ersetzte.

Der Wechsel zur Prosa in der erzählenden Literatur war aber mehr als nur ein formaler Vorgang. Er hatte – und damit nähern wir uns wieder der Argumentation von Thomas Manns Geist der Erzählung – nach eher bescheidenen Anfängen tiefgreifende Folgen für die Ausdrucksfähigkeit der Sprache selbst, Folgen, die es erlaubt erscheinen lassen, schon den epischen Prosawerken der Frühen Neuzeit einen Platz in der Geschichte des deutschen Romans zuzugestehen. Bereits bei den frühen deutschen Übersetzern französischer oder lateinischer Prosatexte und den Bearbeitern älterer Versromane, die sich insgesamt noch verhältnismäßig eng an die Vorlagen halten, zeigen sich Ansätze, die neuen Möglichkeiten der Erzählprosa zu nutzen: eine gegenüber der formelhaften, typisierenden Verssprache flexiblere Syntax mit genaueren kausalen Verknüpfungen und Begründungen, eine kontinuierliche, dynamische Erzählweise und – im Verlauf des 16. Jahrhunderts von wachsender Bedeutung – eine intensivere Darstellung seelischer Regungen.

Dabei begegnen sich zwei Tendenzen. Zum einen kommt es zu Straffungen und Kürzungen der Vorlagen, die u. a. kunstvoll-ausführliche Beschreibungen, Reden oder Exkurse betreffen und vor allem auf die Wiedergabe der inhaltlichen Fakten zielen, zum anderen entstehen Texte, die diesen Annäherungen an einen historiographischen Stil fernbleiben und vielmehr die Ausdrucksmöglichkeiten der Rhetorik für die Erzählprosa nutzen und ihr neue Räume, nicht zuletzt im Hinblick auf die Schilderung innerer Vorgänge und seelischer Motivierung, eröffnen.

Die frühen deutschen Prosaromane besitzen einen höchst unterschiedlichen Charakter; von einem einheitlichen Romantyp der Frühen Neuzeit lässt sich ebenso wenig reden wie von einer verbindlichen Vorstellung von Fiktionalität. Dem entsprechen die unterschiedlichen (und z. T. vagen) zeitgenössischen Bezeichnungen für die neue Form. Am häufigsten erscheint der Begriff ›Histori‹ in verschiedenen Variationen, daneben stehen u. a. Bezeichnungen wie ›Geschicht(en)‹, ein ›lesen‹, ›Buch‹, ›Büchlin‹ oder ›Büchlein‹. Dabei sagt der Begriff ›Histori‹ durchaus etwas aus über das zeitgenössische Verständnis dieser Prosaerzählungen und das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion.

›Histori‹, d. h. historia, bedeutet zunächst Bericht von tatsächlich geschehenen Ereignissen, Tatsachenbericht. Die Verfasser (und Rezipienten) der frühen Romane sehen die Texte gerade auch wegen ihrer Prosaform in der Nähe der Geschichtsschreibung. Als historisch und damit verifizierbar gilt dabei vieles: mit historischen Personen verbundene Erzählungen, pseudohistorisches Geschehen oder auch Legendäres, sofern es sich in irgendeiner Weise mit Realien, Dokumenten oder Genealogien verknüpfen oder durch ›Augenzeugen‹ bestätigen lässt. Im 16. Jahrhundert verschieben sich dann die Akzente; die Auffassung von Wahrheit der dargestellten Wirklichkeit ändert sich. Es geht nun immer mehr um die lückenlose Verknüpfung und kausale Motivierung der Romanhandlung selbst – von ferne auf den ›pragmatischen‹ Roman des 18. Jahrhunderts verweisend –, um die innere Logik des Geschehens, nicht um den Nachweis seiner Faktizität. In der ›Moral‹ am Schluss des Fortunatus (1509) heißt es nicht ohne Ironie über die Märchenmotive der Handlung: »Aber wol ist zu besorgen / die jungfraw des gelücks / die solliche wal [zwischen den Glücksgütern] außgibt / und Fortunato den seckel gegeben hat / sey auß unseren landen verjaget / und in dieser welt nit mer tzu finden.«19 Später behandelt Jörg Wickram die Frage nach der Faktizität des Geschehens eher spöttisch in seinem Dialog Eine Warhafftige History /von einem vngerathnen Son, der sich auf seinen Roman Der JungenKnaben Spiegel (1554) bezieht, und der Übersetzer des ersten Buches des Ritterromans Newe Historia / Vom Amadis auß Franckreich (1569) erklärt ausdrücklich, dass sich der moralische Endzweck »besser vnnd klärlicher in einer erdichten Narration / dann einer warhafften History / darthun« lasse.20 Die Wahrheit liegt im exemplarischen Gehalt des Geschehens.

Zur Nachdrücklichkeit des lehrhaften Zweckes der ›Historien‹ trägt allerdings gerade auch die Erzeugung der Illusion von Tatsachenwahrheit bei, sei es durch Hinweise des Erzählers auf Autobiographisches, Augenzeugen oder Dokumente, sei es durch die Verwendung von Realien aus verschiedenen Wissensgebieten (Geschichte, Naturkunde, Reiseberichte usw.). Hierin wiederum spiegelt sich, wenn auch in eher rudimentärer Form, der »Prozeß der theoretischen Neugierde«21 in der Frühen Neuzeit – einschließlich der Gefahr, dabei den moralischen Lehrzweck bzw. die Balance von Belehrung und Unterhaltung zu verfehlen.

Die Prosaromane des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit waren nicht als anspruchslose Lektüre für un- oder halbgebildete Schichten gedacht, wie die lange verwendete Bezeichnung ›Volksbuch‹ für dieses Genre suggeriert. Diese Auffassung beruht auf einem Missverständnis, das auf Joseph Görres (Die teutschen Volksbücher, 1807) und die romantischen Vorstellungen von Volkspoesie zurückgeht. Widerlegt werden sie schon von literatursoziologischen und buchgeschichtlichen Gegebenheiten wie der äußerst geringen Alphabetisierungsrate der Bevölkerung und der gehobenen Ausstattung der Handschriften und frühen Drucke. Schon aus finanziellen Gründen kamen als Käufer nur Angehörige der wohlhabenden Oberschicht in Frage: das städtische Kaufmanns- und Handelspatriziat, das höhere fürstliche und städtische Beamten- und Gelehrtentum, interessierte Adelige. Erst später, etwa seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, erreichten die Verleger mit steigenden Auflagenzahlen und billiger Ausstattung auch ein breiteres Lesepublikum, bis im 17. Jahrhundert die deutschsprachige Literatur der vorigen Jahrhunderte von den kulturtragenden Schichten abgelehnt und in der Tat sozial deklassiert, aber durchaus weiter gedruckt und verkauft wurde. Dieser Prozess setzte sich mit immer schlichter ausgestatteten Drucken als ›Volkslesestoff‹ für ein stetig wachsendes Lesepublikum fort, wobei es schließlich im Zusammenhang mit der romantischen Aufwertung der ›altdeutschen‹ Poesie u. a. zu dichterischen Neubearbeitungen und volkspädagogisch motivierten Neuausgaben in eigenen ›Volksbuch‹-Reihen kam.

2. Übersetzungen, Bearbeitungen, ›Prosaauflösungen‹

Die frühen deutschen Romane in Prosa sind Übersetzungen, Bearbeitungen oder mehr oder weniger freie Nacherzählungen fremdsprachlicher Vorlagen bzw. Prosaversionen mittelhochdeutscher Versromane, sogenannte Prosaauflösungen. Dieser Übergang zur Prosa im Bereich der ›Unterhaltungsliteratur‹ setzte gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein; eine Teilübersetzung des französischen Lancelot en prose, die bereits um 1250 begonnen wurde, blieb isoliert und offenbar weitgehend folgenlos. Deutsche ›Originalromane‹, Texte, die nicht auf Vorlagen beruhen, entstehen seit Beginn des 16. Jahrhunderts. Das erste Beispiel ist der 1509 gedruckte Fortunatus, wie zahlreiche frühe Romane anonym erschienen.

Bis die Rezeption französischer Texte das Bild des frühen Prosaromans in Deutschland zu prägen beginnt, zeigt sich eine Vorliebe für antike Stoffe. Vor allem der Krieg um Troja, aber auch die Gestalt Alexanders des Großen und sein Leben übten wie schon im Mittelalter eine große Faszination aus. Damit unterstreicht der frühe Prosaroman zugleich seine Nähe zur Geschichtsschreibung. Der bekannteste und erfolgreichste der Trojaromane ist das um 1391 entstandene Buch von Troja von Hans Mair, einem Nördlinger Ratsherrn. Es beruht auf der Historia destructionis Troiae (1287) des sizilianischen Historikers Guido de Columnis. Zwar kürzt Mair Exkurse und Beschreibungen, behält aber den christlich-moralisierenden Ton bei, die Verurteilung einer zum Untergang bestimmten lasterhaften heidnischen Welt (und impliziert dabei wohl, so Max Wehrli, auch eine Kritik an der zeitgenössischen ritterlichen Gesellschaft und ihrer Ideologie).22 Daneben erschienen weitere Trojaromane, die z. T. auf dem unvollendeten mittelhochdeutschen Versroman Konrads von Würzburg (Trojanerkrieg, 1281–87) beruhen bzw. beide Traditionen (und andere Quellen) miteinander verbinden (Druckfassungen seit 1474).

Daneben fand der Alexanderstoff weiterhin großes Interesse. Seit etwa 1400 sind entsprechende Prosaromane bekannt; den größten Erfolg mit zahlreichen Handschriften und Drucken hatte Johannes HartliebsAlexander (um 1450, Erstdruck 1473), eine Vita nach lateinischen Prosavorlagen, der laut Vorrede Fürsten und Adel viel Lehrreiches abgewinnen könnten. Keine historischen oder mythologischen Bezüge hat der Apollonius-Roman (1461, Erstdruck 1471) von Heinrich Steinhöwel, der auf der Grundlage spätmittelalterlicher lateinischer Versionen dem Muster des hellenistischen Liebes- und Reiseromans folgt. Der bekannteste der spätantiken Liebesromane, wichtiges Vorbild später für den höfisch-historischen Barockroman, war HeliodorsAithiopika (3. Jh. n. Chr.), nach einer lateinischen Fassung von Johannes Zschorn ins Deutsche übersetzt (Aithiopica Historia, 1559) und bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts mehrfach neu aufgelegt.

Noch vor der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt, vom frühen Beispiel des Prosa-Lancelot abgesehen, die Umsetzung französischer Texte in deutsche Prosa. Auffallend ist, dass die ersten Prosabearbeitungen französischer Epik stofflich und formal eher archaisch-heroische Welten vergegenwärtigen. Die vier Romane der Herzogin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, zwischen 1430 und 1440 entstanden, gründen auf neueren Versionen französischer Heldenepen (chansons de geste), die ›historische‹ Stoffe aus der Frühzeit der französischen Geschichte behandeln: Herpin, Sibille, Loher und Maller (als einziger der Romane datiert: 1437), Huge Scheppel. Wie die z. T. mit kunstvollen Miniaturen ausgestatteten Handschriften und die frühe Rezeption nahelegen, waren die Texte zunächst für die deutsche höfische Gesellschaft bestimmt, die die aus Lothringen stammende Elisabeth mit den Dichtungen ihrer Heimat vertraut machen wollte. Zugleich band sie durch kleine Zusätze und Veränderungen auch die deutsche Adelsgesellschaft in die Welt des französischen Epenzyklus mit ihrem genealogischen Beziehungsgeflecht ein, mit dem man sich auf die Frühzeit der französischen Monarchie berief, um »in einer heroischen Vergangenheit das größere Bild der eigenen Welt wiederzufinden«.23 Erst als die Romane – mit Ausnahme der Sibille – seit 1500 (Huge Scheppel) bzw. 1514 (Herpin, Loher und Maller) im Druck erschienen, erweiterte sich der Rezipientenkreis.

Genealogische Beziehungen verbinden auch die vier Romane selbst, die so einen losen Zyklus bilden, der von den Karolingern schließlich zur Begründung der Dynastie der Kapetinger führt. Bezugspunkt ist zunächst Karl der Große. Verfehlungen oder Verleumdung der Helden oder Heldinnen (in der Sibille der unschuldigen Ehefrau Karls des Großen), Verbannung, Bewährung und, nach Abenteuer- und Kampfsequenzen in einem weiten geographischen Raum, Rechtfertigung bzw. Herrschaftsgewinnung sind die bestimmenden Momente der Romanhandlungen, die in großem Umfang Motive und Versatzstücke der epischen Dichtungstradition einbeziehen. Dabei unterscheiden sich die Erzählstrukturen erheblich: Der einfachen, kürzeren Geschichte von der verleumdeten und verstoßenen Frau (Sibille) stehen der mehrere Generationen umfassende Familienroman Herpin und die Erzählung von Karls Sohn Loher (Lothar) in Loher und Maller gegenüber, eine Geschichte von treuer und falscher Freundschaft, Braut- und Throngewinnung (Konstantinopel) und Bruderzwist im Erbschaftsstreit nach dem Tod Karls des Großen. Sie führt dann zum letzten und bekanntesten Roman Elisabeths, Huge Scheppel, der den Aufstieg von Hugues Capet zum französischen König und damit zum Begründer des neuen Königsgeschlechts der Kapetinger Ende des 10. Jahrhunderts schildert.

Huge Scheppel ist mit seinem Thema – sozialer Aufstieg durch Leistung – der ›modernste‹ der vier Romane: »wie einer (d’ da hieß Hug schäpler vñ wz metzgers geschlecht) ein gewaltiger küng zů Franckrich ward durch sein grose ritterliche mañheit«, kündigt der erste Druck aus dem Jahr 1500 an.24 Der Roman greift eine anachronistische spätmittelalterliche Legendenbildung auf, die in einer Zeit von Interesse sein musste, in der sich die mittelalterliche Feudalordnung im Umbruch befand und sich neue Formen der staatlichen Organisation und des gesellschaftlichen Lebens herausbildeten. Das zeigte sich jedenfalls dann, als der Roman nicht mehr allein den ursprünglichen adeligen Adressaten zugänglich war, denn die Herausgeber der Druckausgaben – fünf erschienen bis 1571 – bearbeiten Elisabeths Übersetzung und richten den ursprünglichen Text noch stärker auf den Helden aus als die Handschriften. Er ist wegen des Makels seiner Geburt letztlich auf sich selbst gestellt, rebelliert aber keineswegs gegen die Ständeordnung, wenn er auch die Unterstützung der Pariser Bürger findet, sondern ergreift die Chance, sich dank seiner persönlichen Tüchtigkeit – einschließlich unbändiger kriegerischer und sexueller Vitalität – an ihre Spitze zu setzen und durch die Heirat mit der letzten Karolinger-Tochter die neue Dynastie zu begründen.

Zu den Romanbearbeitungen nach französischen Chansons de geste aus dem Sagenkreis um Karl den Großen gehören auch verschiedene Fassungen der Heldengeschichte der Haimonskinder, der vier Söhne des Herzogs Aymon. Nach einem mittelniederdeutschen Druck (1493) und der hochdeutschen Bearbeitung Johanns II. von Simmern, in einer Prachtausgabe 1535 erschienen, fand das Werk erst im 17. Jahrhundert in der aus dem Niederländischen übersetzten Fassung von Paul van der Aelst größere Verbreitung (Ein schöne vnd lüstige History von den Vier Heymons Kindern, 1604 u. ö.). Aus demselben Sagenkreis stammt Johanns von SimmernFierrabras (Erstdruck 1533), die »Histori von eym mächtigen Riesen auß Hispanien«, der von Olivier besiegt wird und nach seiner Taufe auf der Seite der Christen kämpft.

Auch die weiteren Romane nach französischen Vorlagen reichen mit ihren Stoffen und Motiven weit in die Vergangenheit zurück, unterscheiden sich aber durch ihre höfische Überformung und durch neue thematische Akzentuierungen von den Romanen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken. Dabei artikulieren sie ebenfalls das Selbstverständnis der höfischen Aristokratie bzw. bestätigen es durch genealogische Begründungen. Zu diesen Texten gehören neben Thürings von RingoltingenMelusine (handschriftliche Überlieferung seit 1467, Erstdruck 1474) und Pontus und Sidonia von Eleonore von Österreich (um 1460, Erstdruck 1483) dann im 16. Jahrhundert Romane wie Veit WarbecksDie Schön Magelona (1535, entstanden 1527) oder die Hystori von dem Keyser Octaviano (1535), übersetzt von Wilhelm Salzmann.

Während Texte wie Pontus und Sidonia und Octavianus vor dem ›historischen‹ Hintergrund kriegerischer Auseinandersetzungen mit den ›Heiden‹ in Europa und im Nahen Osten bekannte Handlungsmuster wie das der unschuldig verfolgten Frau (Octavianus) oder des hellenistischen Liebes- und Abenteuerromans (Pontus und Sidonia) umsetzen, gewinnen Melusine und Magelone mit ihrer nach innen gewandten Problematik, ungeachtet der Verwendung traditioneller Erzählelemente und alter Legenden- und Sagenmotive, dem Prosaroman neue, in die Zukunft weisende Facetten ab.

Der Geschichte »von einer frawen genandt Melusina / die do ein mehrfaÿm« war,25 liegt ein französischer Versroman von 1402 zugrunde, der auftragsgemäß den Gründungsmythos eines adeligen Geschlechts, des Hauses Lusignan (bei Poitiers), erzählt. Was aber in zahlreichen literarischen und musikalischen Variationen bis in Gegenwart hinein wirkt, ist nicht die adelige Familienchronik, sondern die Geschichte einer Frau, halb Mensch, halb Fisch, der durch das Fehlverhalten des Mannes die Erlösung versagt bleibt, die aber als beispielhafte Gattin, Christin und Begründerin einer Dynastie erscheint. Das alte Sagenmotiv, die Verbindung von Menschen mit einem übernatürlichen Wesen, wird höfisch überformt, vom Übersetzer als »gottes wunder« (S. 12) domestiziert und ansatzweise als innere Geschichte einer (scheiternden) Beziehung zwischen Mann und Frau gelesen.

Ähnlich verbreitet, wenigstens bis zur Romantik, war die Geschichte von der Schönen Magelona, die Veit Warbeck am kursächsischen Hof in Weimar nach einer französischen Prosaerzählung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts übersetzte und dem Kronprinzen 1527 zur Hochzeit widmete (Druck 1535). Dem Roman liegt ebenfalls eine Gründungssage – die des (ehemaligen) Bischofssitzes Maguelone bei Montpellier – zugrunde, aber es ist vor allem die Geschichte einer treuen Liebe über alle Wechselfälle hinweg, wie sie das Repertoire des spätantiken Liebesromans mit dem Schema von Trennung und Vereinigung, von Leid, Prüfung und glücklichem Ende bereithält. Aber nicht die äußeren Abenteuer sind das Entscheidende, sondern die inneren Vorgänge, die Magelona und Peter in einem Reifeprozess zeigen, in dem sie ihr individuelles, mit politischen und gesellschaftlichen Interessen sowie religiösen Moralvorstellungen unvereinbares sinnliches Begehren der göttlichen Barmherzigkeit anheimgeben. So finden sie schließlich im Einklang mit Gott zu einer christlichen Ehe, in der sich zugleich der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft auflöst. Dabei orientiert sich der Übersetzer, der katholische Details tilgt, an den evangelischen Normen von Liebe und Ehe und mildert auch noch die ohnehin nicht besonders ausgeprägten erotischen Schilderungen entsprechend der für die deutsche Magelona charakteristischen stilistischen Zurückhaltung. In der zweiten Jahrhunderthälfte gelangt dann mit den insgesamt 26 Bänden des Amadis auß Franckreich, der Übersetzung (und Fortsetzung) der von Spanien ausgehenden Romanserie, ein Werk nach Deutschland, das in eine völlig andere, auf die höfische Barockkultur vorausweisende Welt führt (s. S. 38 f.).

Anders als Bearbeitungen aus dem Französischen sind deutsche Romane nach italienischen Vorbildern eher selten. Wichtigstes Beispiel ist die Geschichte von Florio und Bianceffora (Erstdruck 1499: Ein gar schone newe histori der hochen lieb des kuniglichen fursten Florio: vnnd von seyner lieben Bianceffora), die auf Boccaccios Roman Il Filocolo (um 1340) zurückgeht und von einer treuen Liebe von der Kindheit an handelt. Im übrigen finden vor allem italienische Renaissancenovellen in italienischer und lateinischer Sprache seit dem Frühhumanismus Interesse; mit ihrer Thematik und Sprachkunst wirken sie auch auf den Roman: Heinrich SteinhöwelsGriseldis (1461/62, Erstdruck 1471) nach Boccaccio, Niclas von WylesVon Euriolo und Lucrecia (1478) nach Enea Silvio Piccolominis Novelle De duobus amantibus (1444), Heinrich Schlüsselfelders Übersetzung von BoccacciosDecamerone (decameron, daz ist cento novelle in welsch, 1472/73) u. a.

Neben den Übersetzungen und Bearbeitungen fremdsprachlicher Vorlagen gehören einige Prosafassungen deutscher mittelalterlicher Versromane zur Frühgeschichte des deutschen Prosaromans, sind aber von eher geringer Bedeutung für dessen Entwicklung. Das vom Stoff her bekannteste Werk, Tristrant und Isalde (Erstdruck 1484), beruht nicht auf der Dichtung Gottfrieds von Straßburg, sondern auf der älteren Tristandichtung von Eilhard von Oberg (um 1170). Daneben erlebte noch die Prosaversion des Artusromans Wigalois von Wirnt von Gravenberc (um 1210–20) als Wigoleisvom Rade (Erstdruck 1493) im 16. und 17. Jahrhundert zehn weitere Drucke, während es der späte höfische Roman Wilhelm von Österreich (1314) von Johann von Würzburg als Prosaroman nur auf zwei Auflagen (1481, 1491) brachte.

3. Deutsche ›Originalromane‹ des 16. Jahrhunderts: Vom Fortunatus zum Lalebuch

Der 1509 anonym in Augsburg erschienene Fortunatus ist der erste deutsche Prosaroman der Frühen Neuzeit, der nicht auf einer älteren Vorlage oder einer ausländischen Quelle beruht. Zugleich handelt es sich, auch das ist ein Novum, trotz der Verwendung von Märchenmotiven um ein entschieden gegenwartsbezogenes Werk. Der vom Verfasser als »hystoria«26 bezeichnete Text steht am Beginn einer Reihe von eigenständigen deutschen Romanen durchaus unterschiedlichen Charakters, die über Hermann BotesDil Ulenspiegel (um 1510/11) – wenn man dergleichen locker in einen biographischen Rahmen gestellte Schwankreihen der Romangeschichte zuordnen will –, die Romane Jörg Wickrams (seit 1539) und die Historia Von D. Johann Fausten (1587) zum ebenfalls anonymen Lalebuch (1597) führt. Dazu kommt noch, kaum klassifizierbar, Johann FischartsGeschichtklitterung (1575, 1582, 1590), ein Werk, das zwar von François Rabelais’Gargantua (1534) ausgeht, aber viel mehr ist als eine Übersetzung oder Bearbeitung.

Doch die Entfaltung einer deutschen Romantradition, die sich hier ankündigte und mit Fortunatus und Faustbuch auch internationalen Erfolg hatte, drohte schon im letzten Drittel des Jahrhunderts durch die Rezeption neuer Romanformen aus dem Ausland überlagert zu werden, die dann auch die Romanliteratur des 17. Jahrhunderts prägen sollten. Kontinuität gehört nicht zu den charakteristischen Merkmalen der deutschen Romangeschichte der Frühen Neuzeit; vielmehr beginnt nach den eher tastenden Anfängen ein Prozess des Nach- bzw. Gegeneinanders von ›altem‹ und ›neuem‹ Roman, der im Lauf der Geschichte des deutschen Romans immer wieder für Innovationen und Umbrüche sorgte.

Fortunatus handelt von Aufstieg und Fall einer Familie im Verlauf von drei Generationen. Zugleich ist der Roman, verfremdet durch Märchenmotive wie Glückssäckel und Wunschhütlein, eine exemplarische Darstellung der Macht und der Gefahr des Geldes: Ausdruck der frühkapitalistischen Wirtschafts- und Lebensform, der der anonyme Verfasser, Zeitgenosse der Fugger und Welser, skeptisch gegenübersteht und die ihn zugleich fasziniert. Mit z. T. wörtlichen Übernahmen aus Reisebeschreibungen und Itinerarien mit genauen Entfernungsangaben beglaubigt der Autor das Geschehen und vermittelt dazu Welterfahrung. Zu lernen ist auch über den richtigen und falschen Umgang mit Geld. Denn obwohl die Moral am Anfang und Ende lehrt, dass »in alweg vernufft und weißhait für all schätz diser welt / zu begeren und zu erwölen« seien (S. 5), so zeigt der Roman Reichtum und Weisheit nicht als absolute Gegensätze. Vielmehr demonstriert das Beispiel des Fortunatus, der vor dem Hintergrund der (selbstverschuldeten) materiellen Not seiner Eltern Reichtum den anderen von der Fee angebotenen Glücksgütern vorzieht, wie man sich durch einen klugen, vernünftigen Umgang mit Geld einen Platz in der Gesellschaft sichern kann, allerdings um den Preis des Verschweigens seiner Quelle und damit der Einsamkeit selbst unter den Nahestehenden. Es ist eine prekäre Balance, wie das Scheitern seiner beiden Söhne und ihr Tod durch Gewalt bzw. Gram deutlich machen. So spiegelt der Roman die Chancen und die Gefahren der neuen ökonomischen Realitäten in einer Welt, die den Einzelnen mit allen Verheißungen und Risiken auf sich selbst stellt, statt der göttlichen Vorsehung dem wechselvollen ›Glück‹ anheimgegeben.

Auf die immer wieder gestellte Frage nach dem ›bürgerlichen‹ Charakter des Fortunatus gibt es keine eindeutige Antwort. Zwar bilden die Finanz- und Handelsstädte das Zentrum der neuen Ökonomie, aber so wie sich die patrizischen Akteure in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Adelige verstehen, so orientieren sich die Romanfiguren in ihren Lebenskonzepten und Aufstiegsstrategien allein an der Welt des hohen, wenn nicht sogar regierenden Adels. Bei Jörg Wickram, dem ersten namentlich bekannten Autor von Prosaromanen, die nicht auf ausländischen bzw. älteren deutschen Vorlagen beruhen, ist das Bild differenzierter.

Seine Anfänge als Romancier stehen noch ganz im Zeichen des Ritterromans und zeigen ihn als Autor, der aus dem überlieferten Erzähl- und Motivrepertoire schöpft, das neu zusammengefügte Material um das Thema der Liebe organisiert und seinen didaktischen Zielen – Hinführung zu Vernunft, Mäßigung, Affektkontrolle – unterwirft (Ritter Galmy, 1539; Gabriotto und Reinhart, 1551). In den folgenden Romanen ändern sich zwar die Themen, aber die didaktischen Tendenzen bleiben bzw. verstärken sich noch. In Wickrams bekanntestem Roman Der Goldtfaden (1557; Neubearbeitung von Clemens Brentano 1809) ist noch einmal nach einem ländlichen Vorspiel wie in den Ritterromanen die adelig-höfische Welt Ort des Geschehens. Dabei verbindet Wickram Motive und Handlungselemente des Ritter- und Liebesromans mit einem ausgesprochen utopischen Modell sozialen Aufstiegs. Er erzählt, so der Untertitel, »Ein schöne liebliche vnd kurtzweilige Histori von eines armen hirten son / Lewfrid genant / welcher auß seinem fleißigen studieren / vnderdienstbarkeyt / vnd Ritterlichen thaten eines Grauen Tochter vberkam« und schließlich selbst die Herrschaft über die Grafschaft antritt. Auf dem Weg dahin sind natürlich zahlreiche Hindernisse zu überwinden und viele Bewährungsproben und Kämpfe zu bestehen, von Mordanschlägen eines Rivalen und seines künftigen Schwiegervaters zu schweigen.

Der Held erweist sich als Ausbund ritterlicher und menschlicher Tugenden, so dass die Erhebung in den Adelsstand als verdienter Lohn für seine Tüchtigkeit erscheint. ›Bürgerliche‹ Tugenden wie Fleiß, Gehorsam, Dienst und Leistungsbereitschaft sind die entscheidenden Momente in diesem indirekten Plädoyer für den Tugend- bzw. Verdienstadel. Dabei ist es die Geliebte Angliana, die angesichts der gesellschaftlich gebotenen, vorbildlichen Zurückhaltung Lewfrids die Initiative ergreift, ausdrücklich den Standesunterschied negiert und Lewfrid für ihren »rechten einigen und stäten ehgemahel haben wil«: weder ihres »vatters gůt noch nichts anders« werde sie daran hindern.27 Allerdings, und das signalisiert den utopischen Charakter dieses Modells, zu seiner Verwirklichung bedarf es des Wunderbaren, wie es sich in der Begleitung des Helden durch den Löwen Lotzmann als göttliches Zeichen manifestiert. Das Aufstiegsexempel vollzieht sich innerhalb der bestehenden Ordnung, bezieht aber in der zeitgenössischen humanistischen Diskussion über Erb- und Tugendadel eindeutig Position.

In seinen weiteren Romanen stellt Wickram gesellschaftliche Modelle vor, die den höfischen Rahmen verlassen und in einer alltäglichen Welt auf Leistung und gutes Zusammenleben als Erfolgsstrategie setzen und mit gegenteiligen, negativen Verhaltensweisen kontrastieren: Der Jungen Knaben Spiegel (1554) und Von Gůten vnd Bösen Nachbaurn (1556). Die Handlung des Knabenspiegel lehnt sich an das in der Literatur der Reformationszeit besonders beliebte Gleichnis vom verlorenen Sohn an (Lukas 15,11–32) und folgt im Aufbau, in der Kontrastierung der Lebensläufe und in der Typologie der Personen konsequent einem didaktischen Programm: Anleitung zur Tugend, Abschreckung vom Laster. Die Tugendhaften gehen unbeirrt ihren Weg des sozialen Aufstiegs – auch hier ein Plädoyer für den Tugend- und Verdienstadel –, die Bösen ebenso unbeirrt den Weg zum Galgen. Dazwischen stehen die Ungefestigten, denen die Umkehr noch möglich ist. So hält der Roman, lehrhaft zusammengefasst gegen Ende, Eltern und Jugendlichen einen Spiegel vor, der auf Tugend und Gottesfurcht basierende Erziehungsprinzipien fordert und fleißiges Lernen, Gehorsam und das Meiden »böser gesellschafft« als Grundlage für Glück und Erfolg sieht.28 Ein Buch, das man, so Wickram im »Beschluß«, »etwann in teütschen schůlen« brauchen könne (S. 120).

Dem Erziehungsbuch ließ Wickram mit Von Gůten vnd Bösen Nachbaurn einen drei Generationen umfassenden ›Familienroman‹ folgen, der im Milieu von Kaufleuten und Handwerkern spielt, aber mit zahlreichen Motiven und Handlungselementen aus dem Repertoire der internationalen Erzählliteratur – Seereisen einschließlich einer Robinsonade, Überfälle, Entführungen, Trennung und Wiedervereinigung von Geliebten usw. – ausgestattet ist. Im Mittelpunkt des insgesamt eher heterogenen Romans steht das Konzept eines auf Freundschaft, guter Nachbarschaft und gegenseitiger Hilfsbereitschaft gegründeten Zusammenlebens in einer kleinen Gemeinschaft, die sich von den negativen Einflüssen der Außenwelt abschirmt und dank bürgerlicher Arbeitsmoral, sorgfältiger Erziehung und Ausbildung der nachfolgenden Generationen prosperiert.

Reagierten der Fortunatus-Dichter und Wickram durchaus differenziert auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen und Diskussionen ihrer Zeit, so geht es dem unbekannten Verfasser der Historia von D. Johann Fausten (1587) um eine grundsätzliche Kritik der geistigen Strömungen einer als verderblich gesehenen ›Moderne‹. Es handelt sich um eine entschiedene Absage an die Autonomiebestrebungen des Individuums in Renaissance und Humanismus, an die neuzeitliche ›theoretische Neugierde‹. Dagegen stellt der verunsicherte und beunruhigte Autor, wohl ein orthodoxer lutherischer Theologe, ganz im Geist Luthers Glauben über Wissen und prangert am Beispiel des Zauberers und Schwarzkünstlers Faust den menschlichen Erkenntnisdrang als vom Teufel inspirierten »fürwitz« an, der Ursache »deß Abfalls von Gott / der Gemeinschafft mit den bösen Geistern vnd verderbens zu Leib und Seel«, wie es der Drucker in seiner Widmung zusammenfassend formuliert.29

Die Lebensgeschichte, von der die breite Tradition der Faustdichtungen ihren Ausgang nimmt, knüpft an eine historische Gestalt von zweifelhaftem Ruf an, die – und das sind die einzigen dokumentarischen Belege – 1520 für den Bamberger Bischof ein Horoskop stellte, 1528 aus Ingolstadt und 1532 aus Nürnberg ausgewiesen bzw. gar nicht erst hineingelassen wurde. Der Verfasser des Faustbuchs nutzte die umlaufenden Gerüchte und formte sie als Erster zu einer zusammenhängenden Lebensgeschichte, deren abschreckende Wirkung er durch die mehrfach betonte Authentizität der »Historia« noch zu steigern suchte.

Dabei verbindet der Autor ursprünglich unabhängige Schwänke und Zaubergeschichten mit seinem negativen Helden und reichert die Geschichte zudem mit Materialien aus nicht immer aktuellen geographischen, naturwissenschaftlichen, literarischen und theologischen Quellen an. Der dreiteilige heterogene Text zeigt so die Offenheit der noch recht neuen Form des Prosaromans. Konsequenz im Sinn des theologischen Programms des Autors besitzt hingegen der Weg Fausts als eines Mannes, der liebte, »das nicht zu lieben war« (S. 15), und so nach dem 24. Jahr seiner Teufelsverschreibung nach einer »Weheklag von der Hellen / vnd jrer vnaußsprechlichen Pein vnd Quaal« (S. 117) und der abschließenden »Oratio Fausti ad Studiosos« (S. 119) ein schlimmes Ende findet, »allen hochtragenden / fürwitzigen vnd Gottlosen Menschen zum schrecklichen Beyspiel / abscheuwlichen Exempel / vnd treuwhertziger Warnung« (Titel). Das Ende ist unausweichlich, denn der verstockte und verzweifelte Sünder vertraut trotz aller Reueanwandlungen nicht auf die Gnade Gottes und glaubt, seine Sünden »weren grösser / denn daß sie jhme möchten verziehen werden« (S. 122). Thomas Mann griff in seinem Doktor Faustus (1947) noch einmal ausdrücklich auf das Faustbuch von 1587 zurück.

Während im Faustbuch die Reihung von Schwänken im Mittelteil nur das Bild eines aus unterschiedlichsten Materialien locker gefügten Romans bestätigt, sind die Schwankgeschichten im Lalebuch (1597) Teil eines übergreifenden erzählerischen Zusammenhangs, eines anspielungsreichen satirischen Romans für ein gebildetes Publikum, der Thomas Morus’Utopia (1516), den Entwurf eines vollkommenen Gemeinwesens, ins Gegenteil verkehrt: Das Lalebuch. Wunderseltzame / Abentheurliche / vnerhörte / vnd bißher vnbeschriebene Geschichten vnd Thaten der Lalen zu Laleburg. Ein Jahr später erschien eine Ausgabe mit veränderten Namen und Orten unter dem Titel Die Schiltbürger. Diese Fassung setzte sich dann durch und ließ die Schildbürger sprichwörtlich werden. Beide Versionen wie auch eine dritte unter dem Titel Grillenvertreiber (1603) erschienen anonym.

Ein Schiffer, so die literarische Fiktion, erzählt dem Autor von den Lalen (›Lale‹ bedeutet ›einfältiger Mensch‹) und ihrer längst untergegangenen Stadt, die »in dem großmechtigen Königreich Vtopien gelegen« war.30 Wurmstichige Chroniken geben weitere Hinweise. Die Lalen, Menschen griechischer Abstammung, werden wegen ihrer Klugheit von Fürsten der ganzen Welt als Ratgeber begehrt. Da aber wegen ihrer ständigen Abwesenheit zu Hause alles in Verwirrung gerät, beschließen sie, in Zukunft in Laleburg zu bleiben und, damit sie nicht mehr behelligt werden, Narrheit zu simulieren. Worauf sie dann die merkwürdigsten Dinge unternehmen: ein Rathaus ohne Fenster bauen, Salz säen usw. Das Rollenspiel wird zu Wirklichkeit, die Narrheit setzt sich durch. Zum Schluss zünden die Lalen aus Furcht vor einem »Maußhund«, einer Katze, ihre Stadt und damit auch die Kanzlei an, »also daß von jhren Geschichten nichts ordenliches mehr verzeichnet zufinden« (S. 137). Der Rückkehr zur Erzählfiktion des Anfangs, der die planvolle Komposition des kleinen Romans unterstreicht, folgt noch ein Ausblick auf das weitere Schicksal der Lalen und damit das satirische Fazit im Hinblick auf den zeitgenössischen Leser, auf alle Menschen. Die Lalen zerstreuen sich in alle Welt und pflanzen »jhre Zucht weit vnd breit auß« (S. 138), und wenn auch der Stamm der Lalen erloschen ist, so ist doch »jhr Thorheit vnd Narrey (welches das beste) vbergeblieben / vnnd vielleicht mir vnnd dir auch ein guter theil darvon worden. Wer weist obs nicht wahr ist?« (S. 139) Utopia, das ›Nirgendland‹ als Narrenland, ist überall …

Als möglicher Verfasser des in Straßburg gedruckten Lalebuchs wurde auch der elsässische polyhistorische Schriftsteller, konfessionelle Polemiker und Satiriker Johann Fischart genannt. Dafür gibt es, wie für andere Hypothesen, keine stichhaltigen Beweise. Fischart ist allerdings Übersetzer des sechsten Amadís-Buches (1672) und Autor eines satirischen Romans, seines Hauptwerks, das er als »verwirretes ungestaltes Muster der heut verwirrten ungestalten Welt« vorstellt und das in seiner Maßlosigkeit und Sprachgewalt seinesgleichen in der älteren deutschen Romangeschichte sucht.31 Es erschien, ebenfalls in Straßburg, zunächst unter dem Titel Affenteurliche vnd Vngeheurliche Geschichtschrift vom Leben / rhaten vnd Thaten der […] Helden vnd Herrn Grandgusier / Gargantoa / vnd Pantagruel / Königen inn Vtopien vnd Ninenreich. Etwan von M. Francisco Rabelais Französisch entworfen: Nun aber vberschrecklich lustig auf den Teutschen Meridian visirt (1575), dann in zwei jeweils stark erweiterten Fassungen 1582 und 1590 unter dem Titel Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung[…].

Das Buch ist einerseits ein Affront gegen die in der humanistischen Poetik und Rhetorik vorherrschenden klassizistischen Tendenzen, andererseits setzt die intertextuelle Faktur des Textes mit seinem Zitaten- und Anspielungsreichtum und seinen einfallsreichen Sprachmanipulationen den humanistisch gebildeten Leser voraus. Die »Rekonstruktion der eingeforderten Bildung« addiert sich zu einem zweihundertseitigen Katalog.32 Fischarts deutsche Prosa ist alles andere als ›volkstümlich‹, und das Verfahren, die französische Vorlage in einen »Teutschen Model« zu gießen (so seit 1582 im Untertitel), höchst ungewöhnlich. Die Geschichtklitterung enthält zwar bis auf geringfügige Kürzungen den gesamten Text des Gargantua, doch der macht nur etwa ein Viertel der deutschen Version aus. Dabei ergibt sich der größere Umfang nicht durch Veränderungen und Erweiterungen der Handlung und zusätzliches Personal – das Handlungsgerüst bleibt bestehen –, sondern allein durch die sprachlichen Energien, die Rabelais’ Text bei Fischart auszulösen scheint. Jedes Wort, jeder Name, jeder Halbsatz oder Satz kann Auslöser von Abschweifungen, Anspielungen, Assoziationen, Wort- und Klangspielen oder sprachlichen Neuschöpfungen werden, die sich zu Reihungen, Worthäufungen oder Sachkatalogen von kaum übersehbarer Fülle addieren. Eine Fülle, die keine Rücksichten auf Dekorum und klassizistisches Maß nimmt, sondern alle nur möglichen Bereiche der geistigen und physischen Welt von entlegener humanistischer Gelehrsamkeit und älteren deutschen literarischen und sprachlichen Traditionen (Lieder, Sprichwörter, Schwänke) bis hin zum Grotesk-Körperlichen und Grobianischen assoziativ und additiv in Worten und Wortketten zu erschließen sucht.

Das beginnt schon mit Rabelais’ »Prologue de l’auteur«, dessen Anrede »Beveurs tresillustres, & vous, Verolés [›Venusseuchling‹] tresprecieux«33 bei Fischart eine mehr als eine Seite umfassende Wortkaskade auslöst: »IHR meine Schlampampische gute Schlucker, kurtzweilige Stall und Tafelbrüder: ihr Schlaftrunckene wolbesoffene Kautzen und Schnautzhän, ihr Landkündige und Landschlindige Wein Verderber unnd Banckbuben: Ihr Schnargarkische Angsterträher, Kutterufstorcken, Birpausen, und meine ZeckvollzepfigeDomini Winholdi von Holwin: Ertzvilfraß lappscheisige Scheißhaußfüller unnd Abteckerische Zäpfleinlüller: Freßschnaufige Maulprocker, Collatzbäuch […].«34 Einen Höhepunkt erreicht das Verfahren in der berühmten »Truncken Litanei«, die auf annähernd 30 Seiten – nicht einmal drei bei Rabelais – ohne Absatz, Pause und Erzählerkommentare die Reden und Rufe, das Gestammel und das Geschrei eines Zechgelages zu einem rhythmisch mitreißenden Sprachstrom montiert.

Hinter der Maßlosigkeit der Sprachbehandlung mit ihrem lustvollen, anarchischen Negieren höfischer wie ›bürgerlicher‹ Vorstellungen von Maß und Beherrschung im Hinblick auf Essen, Trinken, Sexualität oder körperliche Ausscheidungen lässt sich kaum – anders als in der traditionellen Satire – ein didaktisches Programm erkennen, jedenfalls nicht im Sinn bürgerlicher Moral. Eher mag es sich um einen Protest des durchaus bürgerlich-protestantischen Autors gegen die Bedrohung der Freiheit des Individuums in einem Zeitalter zunehmender Regulierung, Reglementierung und Affektkontrolle handeln, für den Rabelais’Gargantua als Folie diente: eine humanistische Satire auf zeitgenössische Missstände – Rechts- und Erziehungswesen, scholastische Theologie, Mönchtum – mit dem utopischen Gegenentwurf der weltlichen Abtei Thelème am Ende, einer auf individueller Freiheit gegründeten Schule der Humanität und diesseitiger Lebensfreude. Aber wenn das auch alles bei Fischart steht, als ›Übersetzung‹ wäre sein Roman gescheitert, nicht aber als manieristische sprachlich-klangliche Welterschließung. Bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein fand das Werk offenbar zahlreiche Leser, wie sechs weitere Ausgaben bis 1631 zeigen. Danach standen wohl die Vorgaben der klassizistisch geprägten Sprach- und Literaturreform des 17. Jahrhunderts einer weiteren Rezeption dieses Romanexperiments entgegen.

Der Barockroman

Der deutsche Prosaroman des 15. und 16. Jahrhunderts umfasst ein breites, heterogenes Spektrum von Texten, die sich der Rekonstruktion einer kontinuierlichen Entwicklung entziehen. Als sich das mit dem Werk Jörg Wickrams zu ändern scheint und sich die Umrisse eines bürgerlichen, die zeitgenössische Realität oder aktuelle Themen reflektierenden Romans abzuzeichnen beginnen, werden diese Ansätze überlagert durch einen neuen, von höfischer Kultur geprägten Romanimport aus den romanischen Ländern, dem Amadís de Gaula bzw. Amadis auß Franckreich (1569–95). Die deutsche Fassung der von Spanien ausgehenden Romanserie beruht zum größten Teil auf der französischen Bearbeitung, wurde aber dann noch durch drei eigene Fortsetzungen und zwei aus dem Italienischen übersetzte Supplementbände auf insgesamt 26 Bände vermehrt. Es handelt sich um einen ausufernden Ritter- und Liebesroman, in dem zeitloses, feudales Mittelalter herrscht, eine Märchenwelt mit Zauberern, Feen und Ungeheuern, in der die Helden – zunächst Amadis und Oriana, dann ihr Sohn Esplandian und weitere Mitglieder der Sippe – ihre ritterlichen und amourösen Abenteuer bestehen und die alten höfischen Werte wie Treue, Tapferkeit und Hilfe für die Bedrängten aufrechterhalten. Cervantes hatte den Amadís in seiner parodistischen Kritik der Ritterromane vom Feuer verschont (Don Quijote, I,6); in Deutschland geriet der Amadís zwar aus moralisch-religiösen und poetologischen Gründen in Verruf, seine sprachliche Form jedoch, die den höfisch-empfindsamen Stil der französischen Vorlage nachzuahmen suchte, galt als vorbildlich. Man hatte sogar aus dem ganzen Roman eine »Schatzkammer« zusammengestellt, die gleichsam als Handbuch des guten Stils für alle gesellschaftlichen Gelegenheiten dienen sollte: Schatzkammer / Schöner / zierlicher Orationen / Sendbriefen / Gesprächen / Vorträgen / Vermahnungen / vnnd dergleichen (1596, 61624). Das allerdings änderte nichts daran, dass der Romaninhaltlich und vor allem strukturell schon veraltet war, als er zu einem europäischen Ereignis wurde.

Denn noch in der Zeit des großen europäischen Erfolgs des Amadís bildeten sich in den süd- und westeuropäischen Literaturen, z. T. auch als Gegenbewegung, die Gattungen heraus, die den modernen europäischen Roman der Renaissance und des Barock konstituieren sollten. An diese Entwicklungen in den weiter fortgeschrittenen europäischen Literaturen schließt der deutsche Roman des 17. Jahrhunderts an.

Der anonym erschienene Lazarillo de Tormes (1554) und Mateo AlemánsGuzmán de Alfarache (1599–1604) begründeten in Spanien die bis in die Gegenwart wirksame Tradition des Pikaro- oder Schelmenromans, Jorge de Montemayor legte mit seiner Diana (1559), ebenfalls in Spanien, die Grundlage für die weitere, in Honoré d’UrfésAstrée (1607–27/28) gipfelnde Entwicklung des Schäferromans, indem er Milieu und Thematik der Schäferpoesie der Renaissance mit Handlungselementen des Ritterromans verband. Und wenn dann in manchen Schäferromanen die ritterlich-höfischen Elemente verstärkt und das Geschehen formaler Disziplin nach dem Vorbild von HeliodorsAithiopika unterworfen wurde (Sir Philip Sidney, Arcadia, 1590 bzw. 1593) und noch wie bei d’Urfé eine gewisse geographische und historische Fundierung hinzukam, deutete sich der Weg zum höfisch-historischen Roman des Barock an. Darüber hinaus ergänzen inkommensurable Meisterwerke wie Cervantes’Don Quijote (1605–15) und Genres wie der sentimentale Liebesroman (novela sentimental, romansentimental), der roman comique, die Utopie oder das im Rückzug befindliche Modell des Ritterromans das facettenreiche Romanspektrum mit seinen vielfältigen Variationen zwischen den sozialen und stilistischen Polen ›Hoch‹ und ›Niedrig‹.

Vor diesem Hintergrund entfaltete sich die Geschichte des deutschen Barockromans mit seinen drei Hauptgattungen höfisch-historischer Roman, Schäferroman und Pikaroroman. Am Anfang standen Übersetzungen und Bearbeitungen der stil- und gattungsbildenden ausländischen Muster, Arbeiten, die nicht nur die moderne europäische Romanliteratur bekannt machen, sondern auch der sprachlichen und stilistischen Schulung als notwendiger Voraussetzung für eine eigene Produktion dienen sollten. Dabei wurden ältere einheimische Erzähltraditionen wie die des frühneuhochdeutschen Prosaromans beiseitegeschoben; sie wirkten allenfalls auf einer unteren, dem gelehrten Literaturbetrieb entzogenen Ebene weiter.

Der langwierige, auch regional und konfessionell differenzierte Prozess der Aneignung der internationalen Gattungsmuster führte erst recht spät zu eigenständigen Romanen, die die tradierten Formen zwar aufnahmen, zugleich aber die nationalen und historischen Differenzen sichtbar machten. Deutliche Modifikationen der Grundmuster bis hin zu ausgesprochenen Mischformen waren die Folge. Die traditionelle Gattungsgliederung steckt daher nur den Rahmen der Darstellung ab und dient dem Versuch, die Stoffmenge übersichtlich zu ordnen, ohne jedoch die tatsächliche Vielfalt der Romanproduktion und den individuellen Charakter der Werke durch Verallgemeinerungen überdecken zu wollen.35

1. Legitimation, Kritik, Poetik

Im Unterschied zu den spärlichen poetologischen Hinweisen in den frühneuhochdeutschen Prosaromanen begleiten poetologische Reflexionen in Vorreden, dialogischen Schriften oder in den Romanen selbst die allmähliche Herausbildung einer neuen deutschen Romanliteratur, bis es im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gelingt, dem als repräsentativ angesehenen höfisch-historischen Roman durch die Orientierung am Epos einen Platz im Gattungssystem der Poetik zuzuweisen. Bei diesen Diskussionen geht es jedoch zunächst nur am Rand um romanästhetische Probleme; im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen vielmehr allgemeine Fragen der Rechtfertigung einer durch den humanistischen Gattungskanon nicht legitimierten und überdies moralisch anrüchigen Gattung. Auch die von Aristoteles’ Unterscheidung von Poesie und Geschichtsschreibung ausgehenden Überlegungen über Geschichte und (wahrscheinliche) Erfindung bzw. Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zielen in diese Richtung und stellen in apologetischer Absicht den Nutzen wahrscheinlicher Erfindungen heraus, ein Argument, das schon der Übersetzer des ersten Amadís-Bandes angeführt hatte und das zum Gemeingut der humanistischen Poetik des 17. Jahrhunderts gehört. Denn während die Geschichtsschreibung durch ihre Verpflichtung gegenüber dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse starken Beschränkungen unterworfen ist, bietet die dichterische Erzählung die Freiheit, Gestalten und Geschehnisse entsprechend dem moralischen Endzweck anzulegen: »Ist also der Dichter seines Wercks Meister / der Geschichtschreiber aber der Warheit Knecht«, schreibt Georg Philipp Harsdörffer.36

Der moralisierend-belehrende Wirkungszweck nimmt in der argumentativen Rechtfertigung des Romans einen breiten Raum ein. Die Romane selbst bestätigen dieses Konzept durch ihre exemplarische Darstellung tugendhafter Verhaltensweisen oder ihres abschreckenden Gegenteils und eine betonte, durch die Integration vielfältiger Materialien gestützte Lehrhaftigkeit, die vor allem auf den theologischen und politischen Bereich zielt, aber darüber hinaus geradezu enzyklopädische Züge annehmen kann. Eine zweite Strategie baut auf die Gegenüberstellung von ›altem‹ und ›neuem‹ Roman und nutzt die Abgrenzung von der älteren Romandichtung zur Rechtfertigung einer neuen, in moralischer und ästhetischer Hinsicht auf der Höhe der humanistisch-aristotelischen Poetik stehenden Romanliteratur. Die Rolle des Sündenbocks spielte für lange Zeit der Amadís. Dabei genügte es Autoren wie Jean-Pierre Camus in Frankreich oder Andreas Heinrich Bucholtz in Deutschland nicht, vor der Unmoral, Verlogenheit, Unwahrscheinlichkeit usw. des ›schandsüchtigen‹ Amadís (Bucholtz) zu warnen. Sie präsentierten zugleich Gegenentwürfe in der Absicht, den ›liederlichen Büchern‹ Leser abspenstig zu machen, zugleich aber alle Angriffe auf die Gattung des Romans als solche zu widerlegen und damit ihre Existenzberechtigung zu demonstrieren. Der Kampf gegen den Amadís wurde aus diesem Grund selbst dann noch fortgesetzt, wenn auch mit formelhaft wiederholten Argumenten, als der alte Ritterroman längst an Anziehungskraft verloren hatte.37

Einen weiteren wichtigen Ansatzpunkt für die poetologische Legitimation des Romans lieferte Aristoteles mit dem Hinweis, dass der Dichter eher als Erfinder von ›Mythen‹, Handlungen, als von Versmaßen anzusehen sei. Humanistische Aristoteliker des 16. Jahrhunderts, aber auch Cervantes in seinem Don Quijote (I,47), vertraten dieses Konzept, mit dem sich die Prosaform des Romans rechtfertigen ließ. Für Struktur und Erzählweise bot das Epos das naheliegende Vorbild, und die Anlehnung an das Epos bildete dann eine der Grundlagen der klassizistischen französischen Romanästhetik des 17. Jahrhunderts. Sie wirkte, nicht zuletzt durch beispielhafte Romane und die darin enthaltenen Reflexionen, auch auf die deutsche Romanpoetik und -produktion.

Die französische Romanpoetik fand ihre Zusammenfassung in Pierre Daniel Huets Traité de l’origine des romans (1670); Eberhard Werner Happel fügte die Abhandlung in deutscher Übersetzung als Exkurs in seinen Roman Der Insulanische Mandorell (1682) ein. Die eher unsystematische Darstellung Huets verbindet Romanpoetik und -apologie mit einer Übersicht über die Geschichte des Romans von den Anfängen in der Antike bis zur Gegenwart. Dabei gründen die romanästhetischen Partien im wesentlichen auf programmatischen Formulierungen Madeleine de Scudérys im Vorwort zu ihrem Roman Ibrahim ou l’illustre Bassa (1641) und in anderen Werken. Huet definiert Romane – und er meint damit höfisch-historische Romane – als »auß Kunst gezierte und beschriebene Liebes Geschichten in ungebundener Rede zu unterrichtung und Lust des Lesers«. Romane sind – wie jedes Kunstwerk – »nach gewissen Regeln« organisiert,38 die unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit im klassizistisch-aristotelischen Sinn anhand des Epos und Heliodors spätantiken Liebesromans Aithiopika definiert werden: Einheit der Handlung und der Zeit, zu erreichen durch eine organische Verbindung von Haupt- und Nebenhandlungen, Beschränkung der Dauer der Gegenwartshandlung durch den Romaneinsatz medias in res, wahrscheinliche Mischung von ›wahrer‹ Historie und Fiktion, moralische Wirkungsabsicht.

Mit der Legitimierung des Romans als vollwertiger, weil dem Epos vergleichbarer Literaturgattung stand seiner Aufnahme in die deutschen Poetiken nichts mehr im Wege. Zuerst geschah dies bei Sigmund von Birken (Teutsche Rede-bind- undDicht-Kunst, 1679) und dann unter dem beherrschenden Einfluss von Huet u. a.bei Daniel Georg Morhof (Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie, 1682, ²1700), Albrecht Christian Rotth (Vollständige Deutsche Poesie, 1688) und Magnus Daniel Omeis (Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, 1704). Noch Gottsched knüpfte im Kapitel »Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen« der vierten Auflage der Critischen Dichtkunst von 1751 vielfach an Huets Traktat an.

Ebenso wenig wie Huet die gesamte Breite des französischen Romanschaffens einbezieht, spiegeln die deutschen romantheoretischen Dokumente in seiner Nachfolge die tatsächliche Praxis. Der Pikaroroman und andere Ausprägungen des niederen Romans bleiben weitgehend ausgeschlossen. Die Verengung hat mit der klassizistischen Perspektive zu tun. Die Autoren des niederen Romans führen daher eine eigene, durchaus auch auf den hohen Roman bezogene Diskussion. Allerdings gibt es in Deutschland kein Gegenstück zu den Abhandlungen Charles Sorels, der in La Bibliothèque Françoise (1664) und De la connoissance des bons livres (1671) das dialektische Verhältnis von roman comique und roman héroïque nicht ohne polemischen Unterton prägnant beschreibt. Hier – wie in Partien seines bekanntesten Romans, der Histoire comique de Francion (1623–33; dt. 1662 und 1668) – geht es um die Rechtfertigung der »bons Romans Comiques & Satyriques«,39 die im Gegensatz zu den unwahrscheinlichen und wirklichkeitsfremden Ritter- und Schäferromanen bzw. höfisch-historischen Romanen für Wahrheit und Lebensnähe stehen.

Die Autoren des niederen Romans in Deutschland teilen diese Ablehnung der hohen Romangattungen; auch sie verstehen ihre Texte als satirische Schriften, als Gegenbilder zum höfisch-historischen Roman, von dem sich der niedere Roman in wesentlichen Aspekten unterscheidet: in der Figur des Helden und seiner Welt bzw. seiner sozialen Stellung, in der Struktur der Erzählung, in der Erzählweise. Das Wahrscheinlichkeitspostulat des höfisch-historischen Romans mit seiner auf Täuschung des Lesers zielenden Vermischung von ›Wahrheit‹ und Fiktion bedeutet für sie Verlogenheit, und die in den höfisch-historischen Romanen geschilderten Begebenheiten bzw. »erlogenen und groß-pralenden Sachen«40 entbehrten jeder Nützlichkeit, weil sie im Leben weder vorkämen noch sich nachahmen ließen.

Anders argumentiert Christian Thomasius in seinen Romanrezensionen in den Monatsgesprächen: Er konfrontiert nicht höfisch-historische und satirische Romane, sondern nutzlose und nützliche Bücher. In seiner Einteilung der Gattung in »viererley Classen«41 finden sich höfisch-historische und satirische Romane auf der positiven, Schäfer- und alte Ritterromane auf der negativen Seite. So böten sich höfisch-historische Romane geradezu als Lehrbücher für junge Menschen an, die aus den »darinnen versteckten sowol Politischen als Sitten-Lehren […] tausendmahl mehr Nutzen« ziehen könnten, als wenn sie »alle libros ad Nicomachum nebst denen magnis moralibus und libris Politicorumaußwendig« könnten (Bd. 4, S. 659). Dem Ziel einer solchen Erziehung zur Weltklugheit durch Romane dienten auch die satirischen Romane. Dagegen kritisiert Thomasius die Ritter- und Schäferromane, weil sie sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abwendeten und so keine nützlichen Einsichten vermitteln könnten. Es verwundert daher nicht, dass sich Thomasius’ Hochschätzung des satirischen Romans (Cervantes, Sorel, Scarron) nicht auf den spanischen Pikaroroman und auf Grimmelshausen erstreckt; die hier erkennbaren asketischen, weltfeindlichen Züge stehen in direktem Widerspruch zu seinen Intentionen. Offen zeigt sich Thomasius aber gegenüber neuen Entwicklungen des Romans, sofern ihn die Verfasser als Instrument der Vermittlung psychologischer und gesellschaftlich relevanter politischer und historischer Kenntnisse nutzen. Das gilt für den französischen psychologischen Kurzroman, aber auch für den enzyklopädischen Großroman, wie ihn LohensteinsArminius repräsentiert, und für den von Eberhard Werner Happel vertretenen Romantyp, der auf eher praxisnahe Weltorientierung und Information zielt.

Die Romankritik im 17. Jahrhundert richtet sich in der Regel nicht gegen die Gattung selbst, sondern gegen bestimmte Erscheinungsformen. Eine Ausnahme bildet die polemische Abhandlung Mythoscopia Romantica: oder Discours Von den so benanten Romans (1698) des reformierten Schweizer Pastors Gotthard Heidegger. Dieser, ein guter Romankenner, fasst alle nur möglichen Einwände gegen die Gattung zusammen, die letztlich in der auf ein Bibelzitat gegründeten Verurteilung alles fiktiven Erzählens gipfeln: »[…] wer Romans list / der list Lügen.«42 Besonders verwerflich sind gerade die Romane, die Geschichte (auch biblische) und Fiktion miteinander verbinden und sich damit anmaßen, Gott und seine Werke, die Geschichte, korrigieren zu wollen. Dass das Lesen von Romanen überdies einen »greülichen Zeit-raub« bedeutet (S. 62), der den Menschen davon abhält, seine gottgegebene Zeit zur Erlangung des Seelenheils zu nutzen, ist ein weiterer Punkt in Heideggers theologisch begründeter Argumentation. Seine Ansichten fanden Beifall in reformierten Kreisen der Schweiz; verwandte Argumente gebrauchte die radikale pietistische Fiktions- und Romankritik. Allerdings blieb Heideggers Polemik nicht ohne Widerspruch: Unter den Antworten auf das Buch befindet sich eine anonym erschienene Rezension von Leibniz, der eine Vorliebe für den höfisch-historischen Roman besaß (Madeleine de Scudéry, Anton Ulrich) und nun gegen Heidegger entschieden die Nützlichkeit der Romane betonte und sie zu den »annehmlichsten erfindungen der Menschen« zählte.43

2. Der höfisch-historische Roman und verwandte Romangattungen

Am Anfang der Geschichte des deutschen höfisch-historischen Romans stehen Übersetzungen. Mit der Argenis (1621, dt. 1626) des Neulateiners John Barclay führte Martin Opitz den höfisch-historischen Roman in die deutsche Literatur ein, mit einem repräsentativen Werk der höfisch-absolutistischen Kultur, das die barocke Tradition der Einheit von Staats- und Liebesgeschichte begründete und zugleich durch den Rückgriff auf die Struktur des hellenistischen Liebesromans eine überzeugende Lösung für die Formprobleme des Romans anbot – noch bevor sich die Romanpoetik (Madeleine des Scudéry, Huet) damit befasste. Die aktuelle politische Funktion im Rahmen des sich formierenden absolutistischen Staates ergibt sich dabei ganz zwanglos aus der Handlung und der sozialen Stellung der Akteure: Das Liebesgeschehen spielt sich unter Mitgliedern regierender Häuser ab, deren Schicksale weitreichende Folgen für Völker und Staaten haben. Es gibt keine