Geschichten aus dem Wiener Wald - Ödön von Horváth - E-Book

Geschichten aus dem Wiener Wald E-Book

Ödön von Horváth

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit den Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Ödön von Horváths berühmtestes Theaterstück, uraufgeführt 1931 in Berlin, ist die bewegende Geschichte eines Frauenlebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Marianne soll nach dem Willen ihres Vaters mit Oskar verheiratet werden, einem wohlhabenden Wiener Fleischhauer. Aber Marianne weigert sich und wird stattdessen die Geliebte Alfreds. Als solche gerät sie schrittweise in immer größeres Elend und schließlich sogar ins Gefängnis. Als sie in aussichtsloser Situation wieder zu ihrem Vater zurückkehrt, besteht der Fleischhauer Oskar auf seinem Heiratsplan: »Mariann, du wirst meiner Liebe nicht entgehn.«

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Seitenzahl: 120

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Ödön von Horváth

Geschichten aus dem Wiener Wald

Volksstück in drei Teilen

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit den Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für TEXT + KRITIK.

Nichts gibt so sehr das

Gefühl der Unendlichkeit

als wie die Dummheit.

Personen

ALFRED

DIE MUTTER

DIE GROSSMUTTER

DER HIERLINGER FERDINAND

VALERIE

OSKAR

IDA

HAVLITSCHEK

RITTMEISTER

EINE GNÄDIGE FRAU

MARIANNE

ZAUBERKÖNIG

ZWEI TANTEN

ERICH

EMMA

HELENE

DER DIENSTBOT

BARONIN

BEICHTVATER

DER MISTER

DER CONFERENCIER

 

Das Stück spielt in unseren Tagen, und zwar in Wien, im Wiener Wald und draußen in der Wachau.

Erster Teil

IDraußen in der Wachau

Vor einem Häuschen am Fuße einer Burgruine. ALFRED sitzt im Freien und verzehrt mit gesegnetem Appetit Brot, Butter und sauere Milch – seine MUTTER bringt ihm gerade ein schärferes Messer.

In der Luft ist ein Klingen und Singen – als verklänge irgendwo immer wieder der Walzer »Geschichten aus dem Wiener Wald« von Johann Strauß.

Und in der Nähe fließt die schöne blaue Donau.

 

DIE MUTTER

(sieht ALFRED zu – plötzlich ergreift sie seine Hand, in der er das Messer hält, und schaut ihm tief in die Augen).

ALFRED

(stockt und starrt sie mit vollem Munde misstrauisch an. – Stille).

DIE MUTTER (streicht ihm langsam über das Haar)

Das ist schön von dir, mein lieber Alfred – dass du nämlich deine liebe Mutter nicht total vergessen hast, lieber Alfred –

ALFRED

Aber wieso denn total vergessen? Ich wär ja schon längst immer wieder herausgekommen, wenn ich nur dazugekommen wär – aber heutzutag kommt doch schon keiner mehr dazu, vor lauter Krise und Wirbel! Wenn mich jetzt mein Freund, der Hierlinger Ferdinand, nicht mitgenommen hätt mit seinem Kabriolett, wer weiß, wann wir uns wiedergesehen hätten!

DIE MUTTER

Das ist sehr aufmerksam von deinem Freund, dem Herrn von Hierlinger.

ALFRED

Er ist überhaupt ein reizender Mensch. In einer guten halben Stund holt er mich wieder ab.

DIE MUTTER

Schon?

ALFRED

Leider!

DIE MUTTER

Dann iss bitte nicht die ganze sauere Milch zusammen, ich hab sonst nichts da zum Antragen –

ALFRED

Der Hierlinger Ferdinand darf ja gar keine sauere Milch essen, weil er eine chronische Nikotinvergiftung hat. Er ist ein hochanständiger Kaufmann. Ich hab öfters mit ihm zu tun.

DIE MUTTER

Geschäftlich?

ALFRED

Auch das.

(Stille.)

DIE MUTTER

Bist du noch bei der Bank?

ALFRED

Nein.

DIE MUTTER

Sondern?

(Stille.)

ALFRED

Ich taug nicht zum Beamten, das bietet nämlich keine Entfaltungsmöglichkeiten. Die Arbeit im alten Sinne rentiert sich nicht mehr. Wer heutzutag vorwärtskommen will, muss mit der Arbeit der anderen arbeiten. Ich hab mich selbständig gemacht. Finanzierungsgeschäfte und so – (er verschluckt sich und hustet stark).

DIE MUTTER

Schmeckts?

ALFRED

Jetzt wär ich aber fast erstickt.

DIE MUTTER

Ich freu mich nur, dass es dir schmeckt.

(Stille.)

ALFRED

Apropos ersticken: wo steckt denn die liebe Großmutter?

DIE MUTTER

Mir scheint, sie sitzt in der Küch und betet.

ALFRED

Betet?

DIE MUTTER

Sie leidet halt an Angst.

ALFRED

Angst?

(Stille.)

DIE MUTTER

Vergiss ihr nur ja nicht zu gratulieren – nächsten Monat wird sie achtzig, und wenn du ihr nicht gratulierst, dann hab ich hier wieder die Höll auf Erden. Du bist doch ihr Liebling.

ALFRED

Ich werds mir notieren. (Er notiert es sich.) Großmutter gratulieren. Achtzig. (Er erhebt sich, da er nun satt ist.) Das ist ein biblisches Alter. (Er sieht auf seine Armbanduhr.) Ich glaub, es wird Zeit. Der Hierlinger muss jeden Moment erscheinen. Es ist auch noch eine Dame dabei.

DIE MUTTER

Was ist das für eine Dame?

ALFRED

Eine ältere Dame.

(Stille.)

DIE MUTTER

Wie alt?

ALFRED

So mittel.

DIE MUTTER

Hat sie Geld?

ALFRED

Ich hab nichts mit ihr zu tun.

(Stille.)

DIE MUTTER

Eine reiche Partie ist nicht das letzte. Du hast halt die Richtige noch nicht gefunden.

ALFRED

Möglich! Manchmal möcht ich ja schon so Kinder um mich herum haben, aber dann denk ich mir immer wieder: nein, es soll halt nicht sein –

DIE GROSSMUTTER (tritt mit ihrer Schale sauerer Milch aus dem Häuschen)

Frieda! Frieda!

DIE MUTTER

Na, wo brennts denn?

DIE GROSSMUTTER

Wer hat mir denn da was von meiner saueren Milch gestohlen?

DIE MUTTER

Ich. Weil der liebe Alfred noch so einen starken Gusto gehabt hat.

(Stille.)

DIE GROSSMUTTER

Hat er gehabt? Hat er gehabt? – Und da werd ich gar nicht gefragt? Als ob ich schon gar nicht mehr da wär – (zur MUTTER) tät dir so passen!

ALFRED

Bäääh! (Er streckt ihr die Zunge heraus.)

(Stille.)

DIE GROSSMUTTER

Bäääh! (Sie streckt ihm die Zunge heraus.)

(Stille.)

DIE GROSSMUTTER (kreischt)

Jetzt möcht ich überhaupt keine Milch mehr haben! Da! (Sie schüttet die Schale aus.)

DER HIERLINGER FERDINAND

(kommt mit VALERIE, einer hergerichteten Fünfzigerin im Autodress).

ALFRED

Darf ich bekannt machen: das ist meine Mutter und das ist mein Freund Ferdinand Hierlinger – und Frau Valerie – und das dort ist meine liebe Großmutter –

DIE MUTTER

Das ist sehr schön von Ihnen, Herr von Hierlinger, dass Sie mir den Alfred herausgebracht haben – ich danke Ihnen, danke –

DER HIERLINGER FERDINAND

Aber ich bitte, meine Herrschaften! Das ist doch alles nur selbstverständlich! Ich hätt Ihnen ja den Alfred schon öfters herausgebracht – der liebe Alfred hätte ja nur ein Wörterl verlauten dürfen.

DIE MUTTER

Nur ein Wörterl?

DER HIERLINGER FERDINAND

Wie gesagt – (er stockt, da er merkt, dass er sich irgendwie verplappert hat).

(Peinliche Stille.)

VALERIE

Aber schön haben Sies hier heraußen –

DIE MUTTER

Wollen die Herrschaften vielleicht mal auf den Turm?

DER HIERLINGER FERDINAND

Auf was für einen Turm?

DIE MUTTER

Auf unseren Turm da –

DER HIERLINGER FERDINAND

Ich bitte, gehört denn da diese hochromantische Ruine den Herrschaften?

DIE MUTTER

Nein, die gehört dem Staat. Wir verwalten sie nur. Wenn die Herrschaften wollen, führ ich die Herrschaften hinauf – nämlich dem Besteiger bietet sich droben eine prächtige Fernsicht und eine instruktive Rundsicht.

DER HIERLINGER FERDINAND

Aber gern, sehr gern! Zu charmant, gnädige Frau!

DIE MUTTER (lächelt verlegen)

Aber oh bitte! (Zu VALERIE.) Die Dame kommen doch auch mit?

VALERIE

Danke, danke – es tut mir schrecklich leid, aber ich kann nicht so hoch hinauf, weil ich dann keine Luft krieg –

DIE MUTTER

Also dann auf Wiedersehen! (Ab mit dem HIERLINGER FERDINAND.)

VALERIE (zu ALFRED)

Dürft ich mal den Herrn um eine kleine Information bitten?

ALFRED

Was gibts denn?

DIE GROSSMUTTER

(setzt sich an das Tischchen und horcht, hört aber nichts).

VALERIE

Du hast mich wieder mal betrogen.

ALFRED

Sonst noch was gefällig?

VALERIE

Der Hierlinger erzählt mir grad, dass beim letzten Rennen in Saint-Cloud nicht die Quote hundertachtundsechzig, sondern zweihundertzweiundzwanzig herausgelaufen worden ist –

ALFRED

Der Hierlinger lügt.

VALERIE

Und das Gedruckte da lügt auch? (Sie hält ihm eine Rennzeitung unter die Nase.)

(Stille.)

VALERIE (triumphierend)

Na?

ALFRED

Nein, du bist halt keine richtige Frau. Du stoßt mich ja direkt von dir – mit derartigen Methoden –

VALERIE

Du wirst mir jetzt das geben, was mir gebührt. Siebenundzwanzig Schilling. S’il vous plaît!

ALFRED (gibt ihr das Geld)

Voilà!

VALERIE

Merci! (Sie zählt nach.)

ALFRED

Kleinliche Person.

VALERIE

Ich bin keine Person! Und von heut ab bitte ich es mir aus, dass du mir immer eine schriftliche Quittung –

ALFRED (unterbricht sie)

Bild dir nur ja nichts ein, bitte!

(Stille.)

VALERIE

Alfred, du sollst mich doch nicht immer betrügen-

ALFRED

Und du sollst nicht immer so misstrauisch zu mir sein – das untergräbt doch nur unser Verhältnis. Du darfst es doch nicht übersehen, dass ein jeder Mensch Licht- und Schattenseiten hat, das ist normal. Und ich kann dir nur flüstern: eine rein menschliche Beziehung wird erst dann echt, wenn man was voneinander hat. Alles andere ist larifari. Und in diesem Sinne bin ich auch dafür, dass wir jetzt unsere freundschaftlich-geschäftlichen Beziehungen nicht deshalb abbrechen, weil die anderen für uns etwa ungesund sind –

VALERIE (unterbricht ihn)

Nein, pfui! Pfui –

ALFRED

Na siehst du! Jetzt hast du ja schon wieder einen anderen Kopf auf! Es wär doch auch zu leichtsinnig von dir, um nicht zu sagen, übermütig! Was mach ich denn aus deinem Ruhegehalt, Frau Kanzleiobersekretärswitwe? Dadurch, dass ich eine Rennplatzkapazität bin, wie? Durch meine glückliche Hand beziehen Frau Kanzleiobersekretärswitwe das Gehalt eines aktiven Ministerialdirigenten erster Klass! – Was ist denn schon wieder los?

VALERIE

Ich hab jetzt nur an das Grab gedacht.

ALFRED

An was für ein Grab?

VALERIE

An sein Grab. Immer, wenn ich das hör: Frau Kanzleiobersekretär – dann muss ich an sein Grab denken.

(Stille.)

VALERIE

Ich kümmer mich zu wenig um das Grab. Meiner Seel, ich glaub, es ist ganz verwildert –

ALFRED

Valerie, wenn ich morgen in Maisons-Laffitte gewinn, dann lassen wir sein Grab mal gründlich herrichten. Halb und halb.

VALERIE

(küsst plötzlich seine Hand).

ALFRED

Nein, nicht so –

DIE STIMME DES HIERLINGER FERDINAND (vom Turm)

Alfred! Alfred! Es ist wunderschön heroben, und ich komm gleich runter!

ALFRED (ruft hinauf)

Ich bin bereit! (Er fixiert VALERIE.) Was? Du weinst?

VALERIE (weinerlich)

Aber keine Idee – (sie betrachtet sich in ihrem Taschenspiegel.) Gott, bin ich wieder derangiert – höchste Zeit, dass ich mich wieder mal rasier – (sie schminkt sich mit dem Lippenstift und summt dazu den »Trauermarsch« von Chopin).

DIE GROSSMUTTER

Alfred!

ALFRED

(nähert sich ihr).

DIE GROSSMUTTER

Wann kommst du denn wieder? Bald?

ALFRED

Sicher.

DIE GROSSMUTTER

Ich hab so Abschiede nicht gern, weißt du. – Dass dir nur nichts passiert, ich hab oft so Angst –

ALFRED

Was soll mir denn schon passieren?

(Stille.)

DIE GROSSMUTTER

Wann gibst du mir denn das Geld zurück?

ALFRED

Sowie ich es hab.

DIE GROSSMUTTER

Ich brauch es nämlich.

ALFRED

Zu was brauchst du denn dein Geld?

DIE GROSSMUTTER

Nächsten Monat werd ich achtzig – und ich möcht um mein eigenes Geld begraben werden, ich möcht keine milden Gaben, du kennst mich ja –

ALFRED

Mach dir nur keine Sorgen, Großmama!

IIStille Straße im achten Bezirk

Von links nach rechts. OSKARS gediegene Fleischhauerei mit halben Rindern und Kälbern, Würsten, Schinken und Schweinsköpfen in der Auslage. Daneben eine Puppenklinik mit Firmenschild »Zum Zauberkönig« – mit Scherzartikeln, Totenköpfen, Puppen, Spielwaren, Raketen, Zinnsoldaten und einem Skelett im Fenster. Endlich: eine kleine Tabak-Trafik mit Zeitungen, Zeitschriften und Ansichtspostkarten vor der Tür. Über der Puppenklinik befindet sich ein Balkon mit Blumen, der zur Privatwohnung des ZAUBERKÖNIGS gehört.

 

OSKAR

(mit weißer Schürze; er steht in der Tür seiner Fleischhauerei und manikürt sich mit seinem Taschenmesser; ab und zu lauscht er, denn im zweiten Stock spielt jemand auf einem ausgeleierten Klavier die »Geschichten aus dem Wiener Wald« von Johann Strauß).

IDA

(ein elfjähriges, herziges, mageres, kurzsichtiges Mäderl, verlässt mit ihrer Markttasche die Fleischhauerei und will nach rechts ab, hält aber vor der Puppenklinik und betrachtet die Auslage).

HAVLITSCHEK (der Gehilfe OSKARS, ein Riese mit blutigen Händen und ebensolcher Schürze, erscheint in der Tür der Fleischhauerei; er frisst eine kleine Wurst und ist wütend)

Dummes Luder, dummes –

OSKAR

Wer?

HAVLITSCHEK (deutet mit seinem langen Messer auf IDA)

Das dort! Sagt das dumme Luder nicht, dass meine Blutwurst nachgelassen hat – meiner Seel, am liebsten tät ich so was abstechen, und wenn es dann auch mit dem Messer in der Gurgel herumrennen müsst, wie die gestrige Sau, dann tät mich das nur freuen!

OSKAR (lächelt)

Wirklich?

IDA

(fühlt OSKARS Blick, es wird ihr unheimlich; plötzlich rennt sie nach rechts ab).

HAVLITSCHEK

(lacht).

RITTMEISTER

(kommt von links; er ist bereits seit dem Zusammenbruch pensioniert und daher in Zivil; jetzt grüßt er OSKAR).

OSKAR UND HAVLITSCHEK

(verbeugen sich – und der Walzer ist aus).

RITTMEISTER

Also das muss ich schon sagen: die gestrige Blutwurst – Kompliment! First class!

OSKAR

Zart, nicht?

RITTMEISTER

Ein Gedicht!

OSKAR

Hast du gehört, Havlitschek?

RITTMEISTER

Ist er derjenige welcher?

HAVLITSCHEK

Melde gehorsamst: Ja, Herr Rittmeister!

RITTMEISTER

Alle Achtung!

HAVLITSCHEK

Herr Rittmeister sind halt ein Kenner. Ein Gourmand. Ein Weltmann.

RITTMEISTER (zu OSKAR)

Ich bin seinerzeit viel in unserer alten Monarchie herumtransferiert worden, aber ich muss schon sagen: Niveau. Niveau!

OSKAR

Ist alles nur Tradition, Herr Rittmeister!

RITTMEISTER

Wenn Ihr armes Mutterl selig noch unter uns weilen würde, die hätt eine Freude an ihrem Sohn.

OSKAR (lächelt geschmeichelt)

Es hat halt nicht sollen sein, Herr Rittmeister.

RITTMEISTER

Wir müssen alle mal fort.

OSKAR

Heut vor einem Jahr ist sie fort.

RITTMEISTER

Wer?

OSKAR

Meine Mama, Herr Rittmeister. Nach dem Essen um halb drei – da hatte sie unser Herrgott erlöst.

(Stille.)

RITTMEISTER

Ist denn das schon ein Jahr her?

(Stille.)

OSKAR

Entschuldigens mich bitte, Herr Rittmeister, aber ich muss mich jetzt noch in Gala werfen – für die Totenmess. (Ab.)

RITTMEISTER

(reagiert nicht; ist anderswo).

(Stille.)

RITTMEISTER

Wieder ein Jahr – bis zwanzig gehts im Schritt, bis vierzig im Trab, und nach vierzig im Galopp –

(Stille.)

HAVLITSCHEK (frisst nun wieder)

Das ist ein schönes Erdbegräbnis gewesen von der alten gnädigen Frau.

RITTMEISTER

Ja, es war sehr gelungen – (er lässt ihn stehen und nähert sich der Tabak-Trafik, hält einen Augenblick vor dem Skelett in der Puppenklinik; jetzt spielt wieder jemand im zweiten Stock, und zwar den Walzer »Über den Wellen«).

HAVLITSCHEK

(sieht dem RITTMEISTER nach, spuckt die Wursthaut aus und zieht sich zurück in die Fleischhauerei).

VALERIE

(erscheint in der Tür ihrer Tabak-Trafik).

RITTMEISTER

(grüßt).

VALERIE

(dankt).

RITTMEISTER

Dürft ich mal die Ziehungsliste?

VALERIE

(reicht sie ihm aus dem Ständer von der Tür).

RITTMEISTER

Küss die Hand! (Er vertieft sich in die Ziehungsliste; plötzlich bricht der Walzer ab, mitten im Takt.)

VALERIE (schadenfroh)

Was haben wir denn gewonnen, Herr Rittmeister? Das große Los?

RITTMEISTER (reicht ihr die Ziehungsliste wieder zurück)

Ich hab überhaupt noch nie was gewonnen, liebe Frau Valerie. Weiß der Teufel, warum ich spiel! Höchstens, dass ich meinen Einsatz herausbekommen hab.

VALERIE

Das ist halt das Glück in der Liebe.

RITTMEISTER

Gewesen, gewesen!

VALERIE

Aber Herr Rittmeister! Mit dem Profil!

RITTMEISTER

Das hat nicht viel zu sagen – wenn man nämlich ein wählerischer Mensch ist. Und eine solche Veranlagung ist eine kostspielige Charaktereigenschaft. Wenn der Krieg nur vierzehn Tage länger gedauert hätt, dann hätt ich heut meine Majorspension.

VALERIE

Wenn der Krieg vierzehn Tag länger gedauert hätt, dann hätten wir gesiegt.

RITTMEISTER

Menschlichem Ermessen nach –

VALERIE

Sicher. (Ab in ihre Tabak-Trafik.)

MARIANNE

(begleitet eine GNÄDIGE FRAU >aus der Puppenklinik – jedes Mal, wenn diese Ladentür geöffnet wird, ertönt statt eines Klingelzeichens ein Glockenspiel).

RITTMEISTER

(blättert nun in einer Zeitung und horcht).

DIE GNÄDIGE FRAU

Also ich kann mich auf Sie verlassen?

MARIANNE

Ganz und gar, gnädige Frau! Wir haben doch hier das erste und älteste Spezialgeschäft im ganzen Bezirk – gnädige Frau bekommen die gewünschten Zinnsoldaten, garantiert und pünktlich!

DIE GNÄDIGE FRAU