Gesetzlos - René Belletto - E-Book

Gesetzlos E-Book

René Belletto

3,8

Beschreibung

Luis Archer, Musiklehrer und zufälliger Junggeselle, sieht das Portrait der schönen Clara und verliebt sich auf den ersten Blick. Einige Tage später ist Clara verschwunden. Verzweifelt versucht Luis sie zu finden und verstrickt sich in ein rasantes Versteckspiel, in dem sich jeder verdächtig macht. Ist Clara entführt worden? Archers Suche führt ihn in die entlegensten Winkel von Paris, in die Arme von zwielichtigen Kleinkriminellen und schließlich sogar in den Weltraum...

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René BellettoGesetzlos

René Belletto

Gesetzlos

Roman

Aus dem Französischenvon Nathalie Mälzer

für M.

Es war schon zu dunkel, als dass ich noch hättein ihren Augen lesen können.Jean Ray, Malpertuis

Willkommen! edle Frauen! seid willkommen!Shakespeare, Coriolanus

Ob ich mich als Held meines eigenen Lebenserweisen werde oder ob dieser Rangirgendeinem anderen gebühren wird?Charles Dickens, David Copperfield

Ich, Sancho, wurde geboren um sterbend zu leben.Cervantès, Don Quichotte

Man bemüht sich eifrig hinter Kunstgriffen zu verbergen,was auf natürlichem Wege unerreichbar ist.Robin Ballester, Maximen

Ich habe eine Tür in meiner Wohnung bisher nicht beachtet.Franz Kafka

KAPITEL 1

(das als Prolog dient)

LEGENDE

Mich quälen Schmerzen weiß nicht woIhr Grund ist weiß nicht wasIch könnt genesen weiß nicht wannWerd ich gepflegt von weiß nicht wem.Flamencolied (Anonym)

Statt Sonne leuchtet mir hierdas Schießpulver.Antoine-Vincent Arnault, Marius à Minturne

Ich heiße Luis Archer.

Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren kam ich auf die Welt.

»Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren schied ich aus der Welt …«

Ich war selber erstaunt, wie erbarmungslos hellsichtig ich diesen zweiten Satz formulierte, erstaunt über meine Geneigtheit, ihm vorgeblich Glauben zu schenken an diesem herrlichen Vormittag des 6. Juni 2008, als ich mit Clara in Saint-Maur auf der Place de l’Église stand und mir die Welt ringsumher derart wirklich erschien.

Es war Freitag, Markttag. Ich hielt Claras Hand fest in meiner. Gemächlichen Schrittes schlenderten wir durch die freundliche, murmelnde Menge: Kunden, die aufmerksam die Auslagen betrachteten, die Pupillen in steter Alarmbereitschaft, wenn es daran ging, Kirschen zu prüfen, Birnen zu befingern oder an Melonen zu schnuppern, als offenbare sich einem auf diese Weise das Größte im Leben oder sein Geheimnis.

Claras Hand in meiner fühlte sich warm und frisch an.

Hätte Maxime noch gelebt, wäre mein Glück grenzenlos gewesen – mein lieber, guter Maxime, mein alter Freund, der am vergangenen 24. Mai unter so grausamen Umständen ums Leben gekommen war!

Ein Händler pries ein Stück rohen Schinken an und riss vor Begeisterung die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. Clara ließ sich anlocken.

»Neun Scheiben«, sagte sie. »Schön dünn.«

Zwar bin ich nicht gerade verrückt nach rohem Schinken, noch nach Fleisch im Allgemeinen. Doch als sie sich umdrehte und mich nach meiner Meinung fragte, pflichtete ich ihr bei – einfach um ihr einen Gefallen zu tun, ihr eine Freude zu machen – mit einem zärtlichen, stummen »Ja«.

Sie lächelte mich an.

Claras Schönheit, der schlanke, hohe, geschmeidige Wuchs ihres Körpers, in dessen Umriss sich die Linien ihrer Brust und ihres Hinterns so harmonisch einfügten, verzückte mich in jedem Augenblick.

Ihr Lächeln entblößte die obere Zahnreihe nur einen Hauch zu weit. »Einen Hauch zu weit«, damit meine ich jene paar Zehntelmillimeter, ohne die ihr Lächeln weniger vollkommen, ihr Liebreiz und ihre Sinnlichkeit weniger zerstörerisch gewesen wären – und ich nutze den deskriptiven Impetus, der mich offenbar erfüllt, um eine Bemerkung über ihre Augen und ihr Haar einfließen zu lassen (bevor ich zu allgemeinen Betrachtungen übergehe): Clara hatte blau-grüne Augen, die (wie mir aufgefallen war) sich zu bestimmten Tageszeiten oder (wie sie mir gesagt hatte) in bestimmten Momenten ihres Lebens verdunkelten – Augen, in denen die sprühende Frische ihrer Jugend funkelte und die der tiefe, zeitlose Ernst ihres Ausdrucks so ergreifend machte. Ihr langes, blondes, dichtes Haar hingegen, das die Rundung ihrer Schultern (oder auch nur einer Schulter) lieblich umschmeichelte, betörte mit seiner hellen, doch stellenweise auch dunklen Farbe, wobei der Übergang von hell zu weniger hell sich mal übergangslos, mal in fein nuancierten Farbabstufungen vollzog, wie von einem Maler aufgetragen, dessen Verliebtheit seiner hohen Meisterschaft in nichts nachgestanden hätte.

Wir wissen, dass eine große Liebe oder das, was man dafür hält, zuweilen an Nichtigkeiten hängt. So bezeichnet man eine solche Liebe bereitwillig als rätselhaft, vorherbestimmt, göttlichen Ursprungs und unvordenklich alt, obwohl sie bloß von einer Asymmetrie am Körper der Geliebten herrührt, die erst eine Woche zuvor bemerkt wurde, von der unvorstellbaren Zartheit der Haut, die den Fußknöchel überzieht, von irgendeinem besonderen Kräuseln der Lippen, wenn sie lächelt. Zwar würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass derlei Gründe (das Wunder von Claras körperlicher Schönheit) überhaupt keinen Einfluss auf jene Liebe gehabt hätten, die mich vom ersten Blick an zu ihr trieb. (Auch will ich gleich verraten, dass dieser erste Blick nicht auf Clara selbst, sondern auf ein Bild fiel, das ihr Onkel Michel gemalt hatte, auf ein Gemälde von Michel Nomen mit ihrem Antlitz.) Doch will ich gern einräumen, dass in der Entstehung meiner Hingezogenheit zu ihr – und ihrer Hingezogenheit zu mir – ein unerklärliches Element … Wie soll ich sagen? Ich kann nur hoffen, dass der Bericht meines langen und außergewöhnlichen Abenteuers den Leser – aber auch mich – am Ende die Echtheit unserer Liebe erahnen lässt (und wie ich hoffe, hoffen muss, auch die Echtheit aller Dinge).

Sie wechselte ein paar Worte mit dem Händler über seine Ware, das schöne Wetter.

Ihre Stimme war eine klingende Liebkosung.

Neun Scheiben rohen Schinkens (dazu vier Kalbsschnitzel) wurden beglichen. Dann kam Clara mir wieder entgegen, wobei ihr kurzes granatrotes Kleid sie mit einem Schlag Verzögerung begleitete. Die Spur jener Schramme, die sie sich in Opera über dem Knie zugezogen hatte, war verblasst, zu einem rosafarbenen Fleck mit unscharfen Umrissen, wie eine kunstvolle Verzierung ihres gebräunten Schenkels.

Wir setzten unsere Einkäufe fort, Brot, frischen Zwieback, Spargel und Obst.

Ich betrachtete Clara im prallen Sonnenlicht.

Bevor wir den Markt verließen, blieben wir stehen und sahen uns in die Augen. Sie beugte sich vor und küsste mich, unsere geschlossenen Lippen berührten sich.

Dies war unser erster Kuss.

Dann drückte ich sie fest an mich und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.

»Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren schied ich …« Was mag eine solche Aussage bedeuten? Dass der, der sie ausspricht, auferstanden ist? Dass es ein Leben nach dem Tod gibt und es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte einem Toten gelungen ist, mit den Lebenden zu kommunizieren, ihnen so etwas wie einen Brief, einen langen Brief zu schreiben, den Bericht über sein neues Leben? Dass die geistige Kraft, die den Menschen antreibt, just im Moment seines Todes in den Körper eines Neugeborenen schlüpft? (Das jedenfalls glaubte Maxime, oder zumindest wollte diese verzweifelte Figur das glauben. Er kam an einem Abend vor zwölf Jahren, als wir unseren Geburtstag bei ihm feierten, mit weniger Ironie als sonst darauf zu sprechen, daran erinnere ich mich noch genau.) Seit einigen Tagen kann ich selbst nicht umhin, dies in Betracht zu ziehen, um genau zu sein: seit dem 2. Juni – jenem Tag, an dem ich Clara begegnete, unter Umständen, die es uns beiden unmöglich machten, dem anderen sein Leben nicht bis ins intimste Detail zu erzählen. Wenn ich genau in jener Stunde zur Welt gekommen bin, in der Claras Großvater verschied (den Punkt muss ich noch prüfen), und wenn tatsächlich er, Albin Nomen, einst den kurzen Vierzeiler in das Tagebuch seiner Tochter Lucie, Claras Mutter, geschrieben hat …

Das Rätsel (wenn es denn eins gibt) wird zu gegebener Zeit gelüftet werden – oder an Verworrenheit gewinnen, das weiß ich noch nicht, und jene Schlichtheit und Klarheit verlieren, die allem Anfang innewohnt und die auch ich ihm gern verleihen würde, mit anderen Worten, wenn mich der dichte und flüchtige Strom der Wirklichkeit, die ich mich anschicke wiederzugeben, wieder fortgerissen hat, komme ich vielleicht nie wieder mit so ausdrücklicher Klarheit auf dieses Rätsel zu sprechen.

Auf diesem Gebiet, muss man’s erwähnen, ist natürlich alles unbewiesen. Der Leser wird sich seine Meinung bilden, wenn und wann er es wünscht.

Was mich betrifft, so haben die unerhörten Begebenheiten, die sich seit Maximes Tod zugetragen haben, mich nur verwirrt – ganz zu schweigen von der geradezu unvorstellbaren Begebenheit, die sich in den Nachmittagsstunden dieses Markttags am Freitag, den 6. Juni 2008 ereignen sollte und die meinen Wunsch zu glauben auf den Gipfel trieb.

Mit Lebensmitteln versorgt überquerten wir die Rue de l’Église.

Welch ein Glück dabei zuzusehen, wie Clara ging, wie sie sich durch den Raum bewegte, so körperlos und fleischlich zugleich, die langen Beine, ihr helles Haar, das bei jedem Schritt wippte, die Schultern nur einen Hauch stärker gebräunt als der übrige Körper, ein Meisterwerk beweglicher Harmonie, als wäre sie auserwählt worden, den Wesen eines anderen Planeten die Vollkommenheit des menschlichen Gangs hinsichtlich Mechanik und Anmut vorzuführen, in jedem Augenblick natürlich und doch auch überraschend wie ein Flusslauf, wie das Wachstum einer Pflanze oder wie ein Musikstück, dessen Verkörperung sie wäre und das sich nun sichtbar in der Zeit abspielen würde, Melodie, Verzierungen, Akkorde.

Wir stiegen die linke Seite der Rue de l’Église hinauf (die Marktgeräusche verebbten), legten ein paar Dutzend Meter zurück (ich ließ drei Erdbeeren fallen, sie blieben im Staub liegen, was soll’s), dann bogen wir rechts in die breite, von zahlreichen Bäumen gesäumte Impasse du Midi.

Es war, als beträte man ein Wäldchen aus Pappeln, Eichen, Kastanien (eine Art, die sich im Herbst rot färben würde – wie oft hatte ich sie doch im Laufe der Jahre sich zur Herbstzeit rot färben sehen!), Buchen, auch Birken und Judasbäume mit ihren gewundenen Stämmen, und hinter der grünen Masse dieses Wäldchens standen, fast völlig verborgen, die beiden prächtigen einzigen Häuser, die in der Sackgasse gebaut worden waren, Claras Haus in der Nummer 1 und in der Nummer 3, ganz am Ende, das Haus von Maxime.

In dem Moment, da mir die Sonne ihre sanfte Wärme in den Nacken blies und meine Nase von den Gerüchen der Bäume und Blumen erfüllt war, versetzte mich eine Flut an Erinnerungen um zwölf Jahre zurück zu jenem bereits erwähnten Tag des 6. Juni 1996, der vielleicht der wahre Anfang dieser Geschichte ist – zumindest einer der vielen »wahren Anfänge«.

KAPITEL 2

DOPPELGEBURTSTAG

Diese Begleitung war in sich so schön, dass der von mir empfundene Genuss durch keine Hauptstimme hätte gesteigert werden können.Ernst Ludwig Gerber,Historisch-biografisches Lexicon der Tonkünstler

Es soll dir, wenn wir uns wieder treffen,an Kenntniß über dies Alles nicht fehlen!Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas

Ich setzte meine Sonnenbrille auf. Um beinahe achtzehn Uhr war der Himmel immer noch gleißend hell.

Im Laden fasste ich in weniger als einer Minute meinen Entschluss: aber ja, keine Frage, das rätselschwangere Armband aus Leder und Kupfer, dem Maximes abergläubisches Naturell – (trotz der scheußlichen Gesichter, die es zierten) – eine heilsame Wirkung zuschreiben würde, schließlich käme das Geschenk ja von mir … Ich hatte zwischen der Originalausgabe eines Bandes von einem seiner Lieblingsautoren, einem Metronom mit diamantgeschmückter Spitze und dem Armband aus Cordoba geschwankt.

Das Antiquitätengeschäft von Charlier G. (Guy) lag nur zwei Schritte von meinem Haus entfernt in der Rue Victor-Masse. Der Antiquitätenhändler mit dem gierigen, hässlichen Lächeln und dem abstoßenden faltigen Glatzkopf (der es für eine gute Idee gehalten hatte, sein Geschäft »Zeiten und Wunder« zu nennen) besaß zwei wesentliche Vorzüge: die Schönheit der angebotenen Objekte und seine absolute Ehrlichkeit im Hinblick auf ihre Echtheit und ihre Geschichte. Das bei archäologischen Ausgrabungen entdeckte Armband bestand ursprünglich aus behauenen Kupferplättchen, die grimassierende, wasserspeiende Gesichter darstellten. Die Hälfte der Plättchen war in schlechtem Zustand gewesen. Gegen 1930 war schließlich ein Kunsthandwerker in Cordoba auf den Gedanken gekommen, diese durch Lederstücke gleicher Größe zu ersetzen, auf die er die monströsen Gesichter der intakt gebliebenen Kupferplättchen per Gravur und Malerei sorgfältig übertrug. Das Ergebnis war ein originelles Schmuckstück, das keineswegs uneinheitlich wirkte, so hervorragend war der Wechsel zwischen festem und weniger festem Material, zwischen Hohlform und Relief, zwischen hellem und dunklerem Gelb gelungen.

Fünf Zentimeter breit, perfekt für Maximes Handgelenk. Mit Gesten, die ausladend und zugleich so betont präzise waren, dass sie, so denke ich mir, Charliers Erregung über seine befriedigte Geldgier kanalisieren sollten, packte er das Armband angemessen ein.

Ich ging zurück zu meinem leuchtend roten Lancia Thema und raste nach Saint-Maur.

Hinter dem Quai de Bercy fuhr ich nur etwa hundert Meter die Autoroute de l’Est entlang, hundert Meter mit leichtem Anstieg, die der Lancia förmlich verschlang (ich erinnere mich, dass ich dabei einen Moment von der Sonne geblendet wurde und nichts mehr sah außer Licht, und ich überließ mich der Vorstellung, gleich abzuheben und die Erde, zu unbekannten Abenteuern aufbrechend, zu verlassen), dann: Überquerung der Pont de Créteil (ehrlich gesagt das einzige Abenteuer auf dieser Strecke), Boulevard Fléchère, Place des Deux-Lions, Rue de l’Église, Église Notre-Dame-des-Anges (die eigenartige Kopie – mit Rundbögen, Medaillons und unzähligen Skulpturen auf der Fassade – einer Kirche aus der andalusischen Renaissance, Santa Maria de la Asunción, in Arcos de la Frontera), und schließlich Impasse du Midi.

In der Sackgasse lag rechterhand ein bewaldetes Grundstück, das wahrscheinlich der Gemeinde gehörte und auf dem die gesunden und kräftigen Bäume offenbar in einer gewissen Symmetrie angepflanzt worden waren. Linkerhand, am Eingang der Sackgasse, Nummer 1, das Haus von Michel und Clara Nomen, deren Namen ich damals noch nie gehört hatte. Maxime selbst, der selten in Saint-Maur, sehr diskret und vor allem desinteressiert war, wusste kaum, dass er Nachbarn hatte. Weder Grundstücksangelegenheiten, noch Nachbarrechtsfragen hatten je eine Begegnung erforderlich gemacht, und auch der Zufall hatte keine herbeigeführt, er sah sie nie und legte es auch nicht darauf an. Am Ende hatte er sie als Geisternachbarn bezeichnet.

Aber er hatte die Erinnerung an das lange und prächtige Haar von Clara als Kind bewahrt, die er, einige Jahre nachdem sich die Nomens in Saint-Maur niedergelassen hatten, einmal von hinten gesehen hatte.

Ich hatte seit jeher die Angewohnheit, das Auto in der menschenleeren Sackgasse, weit vor dem Haupttor, an einem kleinen Gartentor abzustellen, dort den Park zu betreten und die fünfzig Meter bis zu Maximes Haus zu Fuß zu gehen.

Heute war er mir entgegengekommen und erwartete mich schon auf dem Bürgersteig.

Er war groß, etwas größer als ich, kräftig, ohne dick oder schwerfällig zu sein. Seine vollen schwarzen Haare waren auf ebenso originelle wie aus der Mode gekommene Weise eng am Kopf liegend zurückgekämmt.

»Ja, ich weiß, es müsste mal wieder gewaschen werden«, sagte ich, als ich aus dem Auto stieg (als würde sich eine so banale und nebensächliche Bemerkung angesichts unseres Wiedersehens aufdrängen).

Lachen, Umarmungen, Maximes übliches Kompliment über mein großartiges Aussehen eines jungen Weltklasse-Champions (»nach dir« lautete meine übliche Antwort), Schulterklopfen, Geburtstagswünsche.

Maxime war ein Jahr älter als ich. Wir waren beide am 6. Juni in derselben Stadt geboren, wo wir auf dieselbe Schule gegangen waren. Bis auf einen zweijährigen Zeitraum, der auf das Ende unseres Studiums gefolgt war (Maxime Jurastudium, ich Musikstudium), einen Zeitraum, in dem Maxime kaum ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte (ich komme noch darauf zurück), hatten wir uns in regelmäßigen Abständen getroffen. Das war gar nicht so einfach: Denn Maxime, der zunächst als Dozent gearbeitet hatte und sich bei allem, was er anging, als hochbegabt erwies, wurde schon bald Experte für Internationales Recht bei der Europäischen Kommission in Brüssel und wurde an die verschiedensten Orte der Welt beordert. Derzeit arbeitete er in Chişinău in Moldawien. Da man ihm beim Reisen weitgehend freie Hand ließ, konnte er es stets einrichten, zu unserem Geburtstag in Saint-Maur zu sein, und war jedes Mal glücklich, eine Zeitlang in seinem Geburtshaus wohnen zu können, und glücklich, mich wieder zu sehen.

Wir gingen durch das kleine Gartentor.

Pro Minute stellten wird uns zwanzig Fragen. Maxime lächelte mir zu, wobei er diesmal davon absah, wie üblich den Mund hinter der linken Hand zu verbergen (denn er war der Ansicht, sein Lächeln würde zu viel vom Zahnfleisch entblößen, was weder falsch noch richtig war).

Ich fragte ihn über seine Arbeit aus. Seit ein oder zwei Jahren war er weniger zufrieden als sonst.

»Immer dieselben Absurditäten«, sagte er. »Zu viele ›Fortbildungsseminare‹ in letzter Zeit. Ich finde das grauenhaft. Innerhalb von zwei Tagen soll ich Richtern, die anschließend zehnmal verwirrter sind als zuvor, Kenntnisse vermitteln, die ein jahrelanges Studium und viel Erfahrung voraussetzen. Das Schlimmste daran ist die mangelnde Koordination zwischen den Teams. Die Welt schreitet in Rückwärtsschritten nach vorn, mein Lieber. Nein, sie rast im Eiltempo ihrem Ende entgegen … Kurz, es ist mir gelungen, eine Gegend ohne Strom mit Computern zu überschwemmen, du kannst dir vorstellen, wie stolz ich darauf bin.«

Kündigen? Er hatte mit dem Gedanken gespielt. Aber er brauchte eine Ersatzlösung. Maxime fand nur Ruhe, wenn er tätig war. Seine Arbeit erlaubte ihm, seine Reiselust zu befriedigen, seinen Drang nach ständiger Bewegung, nach ständigen Ortswechseln, das Bedürfnis, nirgendwo zu sein, das Bedürfnis, überhaupt nicht zu sein (ich verfolge meinen Gedanken zu Ende), wobei sie ihm zugleich die Gelegenheit gab, die Welt zu verändern, seinen Abdruck auf ihr zu hinterlassen und auf diese Weise das ihn insgeheim quälende Gefühl der Nichtexistenz zu mildern.

Maxime Voutant-Bersot und Luis Archer, einunddreißig und dreißig Jahre alt, durchquerten den Park wie zwei Jugendliche, wie die Jugendlichen, die wir geblieben waren.

Sein großer, schöner Wohnsitz war gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Louis XVI-Stil erbaut worden. Das quasi unsichtbare Dach, die puristischen Formen nach antikem Vorbild, die hohen Fenster und zahlreichen horizontalen Linien, die die Fassade durchzogen, ließen es ein wenig wie eine Filmkulisse aussehen, die man zwischen den Bäumen aufgestellt hätte.

»Davon abgesehen, geht es dir gut?«, fragte Maxime, als wir eintraten.

»So halbwegs. Und dir?«

»Es geht. So viertelwegs«, fügte er scherzhaft hinzu. Aber ich sah wohl, dass er nicht scherzte.

»Doch nichts Ernstes?«

»Nein … Zu viele unlösbare Probleme.« (Sein Ton änderte sich:) »Komm, heute Abend, Entspannung, Pause, Halbzeit, Oase, Parenthese und Meeresfrüchte-Bankett: Austernplatte, Krabben- und Krebscake …«

Verblüfft starrte ich ihn an. Ich fiel drauf herein, für zwei Sekunden hatte ich es »geschluckt«: Wir beide verabscheuten Meeresfrüchte, vor allem er, der nicht einmal eine halbe Auster hinunterkriegte, ohne dass ihm schlecht wurde. Er gab sich zerstreut und fahrig.

»Ach nein, nein nein! Programmänderung in letzter Sekunde: Kalbsbrust mit Mangold, Sommerkartoffeln und Sprossensalat. Puh!«

Das Wortspiel ließ ich mir nicht entgehen: »Sommersprossensalat?«

»Haha!«, lachte Maxime. Er hatte das Essen von der Vorspeise bis zum Dessert bei seinem üblichen Feinkostladen in Vincennes bestellt.

Ich überreichte ihm sein Geschenk.

»Hier, ich habe dich lange genug auf die Folter gespannt.«

Das Armband von Cordoba gefiel ihm genauso, wie ich es erhofft hatte. Für mich hatte er kürzlich bei einer Stippvisite in Nordafrika ein langes Briefmesser aus graviertem Silber gefunden, das, wie er sagte, ursprünglich als Waffe gedient haben mochte und ideal war, um Briefe zu öffnen. Erneute Umarmung, erneute Geburtstagsglückwünsche.

»Da sich nun auch der vortreffliche Herr Appetit eingefunden hat«, wie er zu sagen pflegte, schickten wir uns an, im Wohnzimmer im ersten Stock zu Abend zu essen.

Bevor wir zu Tisch gingen, zeigte Maxime noch auf sein Klavier:

»Spielst du uns nachher was vor?«

»Gern. Und du? Ein kleines Lied, ein kleines Madrigal?«

Seit seiner Jugend sang er als Amateur Stücke Alter Musik, die er mit ein paar Klaviertönen begleitete. Seine Musikalität beeindruckte mich: Er besaß Partituren, aber er war genauso in der Lage, Stücke aus der englischen, spanischen und italienischen Renaissance, die ihm gefielen, nach Gehör zu spielen.

»Nein, nicht heute Abend. Das nächste Mal, dann bin ich besser vorbereitet. Diesmal … In den vergangenen Wochen hatte ich nicht viel Zeit zum Singen.«

An einer Wand des Wohnzimmers hing ein 1902 gemaltes Bild von Eugène Galien-Laloue. Es stellte einen Abschnitt des Boulevard de Bonne-Nouvelle bei Einbruch der Nacht dar. Maxime hatte das Gemälde gekauft, weil eine der darauf abgebildeten Figuren ihm auf verblüffende Weise ähnlich sah, man hätte meinen können, er hätte höchstpersönlich Modell gestanden.

»Das Datum für meine große Reise steht fest«, sagte er etwas später (während wir, begleitet von einem leichten Wein, die Kalbsbrust, den Mangold, die Sommerkartoffeln und eben den Sprossensalat verzehrten).

Weder er noch ich mochten den Gedanken, ein Tier zu töten, um es zu essen. Aber das Kalb lag nun einmal da, hervorragend zubereitet und angerichtet, und wir versetzten ihm den letzten Todesstoß, indem wir es von den Tellern in unsere Mägen beförderten. (Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass Maximes Empfindlichkeit in der Hinsicht nichts mit dem zuvor erwähnten Aberglauben zu tun hatte, ich meine, er glaubte nicht etwa, dass ein menschliches Wesen in einem Tier wiedergeboren werden könne.)

Ich komme zu seiner Aussage bezüglich »seiner großen« Reise zurück: Anfangs begriff ich nicht, worauf er anspielte – welche Reise, in welches Land? –, und dann, ja, natürlich: touristische Raumfahrt, er hatte ein paar Bekannte angesprochen, die wiederum ihre Beziehungen hatten spielen lassen …

»Deine Reise ins Weltall?«

»Ja.«

»Siehst du, die hatte ich ganz vergessen. Offenbar habe ich nicht so recht daran geglaubt.«

»Ich auch nicht. Und doch werde ich am kommenden 10. September, wenn Gott will, der erste Raumfahrttourist sein. Nun ja, einer der ersten. Über den Preis für das Ticket reden wir lieber nicht …«

»Ist es immer noch inoffiziell?«

»Genau. Und ich werde alles tun, es so lange wie möglich so zu belassen.«

Am kommenden 10. September würde Maxime also Passagier an Bord eines experimentellen Flugzeugs sein, eines auf den ersten Blick ganz normalen, tatsächlich aber mit einer Rakete ausgestatteten Flugzeugs. Das Flugzeug hebt ab, steigt auf, erreicht die Grenzen der Atmosphäre. Dort schaltet er den Raketenmotor an, mit dem er senkrecht weiterfliegt, eben wie eine Rakete, und dann, sobald der Motor wieder abgeschaltet wird, erreicht er den Scheitelpunkt der Parabel. An diesem Punkt, in Hundert Kilometern Höhe, würde Maxime die Aussicht genießen, die man von der Umlaufbahn aus hat, er würde die Sonne und die Sterne sehen, die Rundung der Erde, ihre Wölbung am Horizont, den Übergang zwischen dem Tiefschwarz des Himmels und dem Blau des Planeten, und er wäre für vier Minuten schwerelos, in weiter Ferne, er wäre beinahe ein anderer, ganz seinem Wunsch entsprechend, an einem anderen Ort des Kosmos und fast in einem anderen Körper.

»Hast du immer noch keine Angst?«, fragte ich ihn.

»Überhaupt nicht. Angst wovor? Vorm Sterben? Ich bin doch schon tot. Weißt du das nicht mehr? Im Übrigen bin ich unzufrieden mit den Feen, die sich über meinen Sarg gebeugt haben, haha! Mein Lachen klingt gezwungen, das hörst du ja. Ich, Angst vorm Sterben?« (Er war aufgewühlt. Er beugte sich vor, um den gekauften Käse zu begutachten.) »Nein. Doch, manchmal, aber dann richtig. Vor allem wäre ich nicht ruhig, wenn ich diesen Ort verließe, ohne mein Testament gemacht zu haben. Aber ich zögere den Moment hinaus. Ein dummer Aberglaube. Angst, überfahren zu werden, wenn ich vom Notar komme. Du siehst, ich habe Angst vor dem Sterben.«

»Bei mir ist es dasselbe. Ich kann mir schlecht vorstellen, mein Testament zu verfassen.«

»Ja, aber …«

»Ja?«

»Stell dir vor, ich habe die Absicht, dich als Alleinerben einzusetzen. Ich werde den vortrefflichen Diego Ruiz darauf ansprechen, du musst ihn unbedingt einmal kennenlernen, ich habe ihm schon so viel von Luis Archer erzählt.«

Diego Ruiz war einer seiner guten Freunde und seit Langem auch sein Geschäftspartner.

Alleinerbe! Nun begriff ich, warum er plötzlich so nervös geworden war.

Um seine Befangenheit zu verbergen, kündigte er mir die Neuigkeit an, als wolle er mich darauf hinweisen, dass bei Einbruch der Dunkelheit die Temperatur im Esszimmer sank, (denn die vier Fenster zum Park standen offen). Ich hatte nicht speziell an den Tod gedacht, als ich ihn fragte, ob ihm sein bevorstehendes Raumfahrtabenteuer denn keine Angst bereitete. Danke, ich war überrascht, peinlich berührt, aber dass er starb, kam nicht in Frage, murmelte ich, während ich die mir entgegengereichte Käseplatte in Empfang nahm.

»Ich hege auch nicht die Absicht«, fügte er hinzu. »Ich empfehle dir den Ziegenkäse. Beim Käse hat man keinen Mord auf dem Gewissen. Nein, also, was ich dir sagen will, ist: Ich habe keine Eltern, keine richtige Familie mehr … Gut, ich sterbe nicht, aber für den Fall, dass doch, wirst du mein Erbe. Nimmst du es mir übel, dass ich es dir gesagt habe?«

»Nein, natürlich nicht, aber …«

»Gut, also reden wir nicht nur darüber. Musik. Ich lege eine Platte auf, das ist der passende Moment. Hast du meine neue Bassbox gesehen?«

»Nein.«

»Atohm X 300, das neueste Modell. Hier. Wenig Volumen, aber hohe Leistung. Kein High Fidelity ohne extreme Tiefen.«

Er stand auf und legte Klavierkonzerte von Bach in der Interpretation des Pianisten Andrei Gavrilov auf.

Einzelkind, die Eltern früh gestorben, das galt auch für mich, wir hatten unzählige Gemeinsamkeiten. Mit dem kleinen Unterschied, dass seine Eltern ihm einen hübschen Batzen Geld hinterlassen hatten. Allerdings auch keine Reichtümer, wie ich früher geglaubt hatte, denn sein Vater hatte sich in den letzten drei Jahren seines Lebens beinahe ruiniert. Luc Voutand-Bersot besaß mehrere Fabriken für Damenunterwäsche einer bekannten Marke. Sein Unternehmen war sein ganzer Daseinsgrund. Als es mit dem Unternehmen bergab ging, hatte er versucht den Bankrott durch alle erdenklichen Mittel abzuwenden, auch durch nicht ganz legale. Dieser Niedergang (das war leider das passende Wort) hatte zwei Jahre gedauert, zwei Jahre, im Verlauf derer er in verruchten Milieus ein- und ausging, in jenen Milieus, mit denen die Großindustrie häufig Umgang pflegt, aber es half alles nichts.

Dann war er gestorben. Maxime, der sein Studium beendet hatte, versuchte der Schließung der Fabriken entgegenzuwirken. Doch es gelang ihm nicht. Er war für diese Art von Tätigkeit nicht geschaffen. Dafür gelang es ihm, Beziehungen in die eben erwähnten Milieus zu knüpfen.

Aber kommen wir zum eigentlichen Punkt – um es einmal ganz klar zu sagen: Weder das von seinem Vater geerbte Geld, noch die mehr als komfortablen Honorare, die ihm die Europäische Kommission überwies, konnten seine irrsinnigen Ausgaben erklären. Er verfügte ganz sicher über Einnahmequellen, von denen ich nichts wusste. Führte er ein Doppelleben? So extravagant diese Hypothese auch schien, eine andere Möglichkeit sah ich nicht. War es vorstellbar, dass er nie mit mir darüber gesprochen hätte? Ja. Sicher aber nicht aus mangelndem Vertrauen, sondern aus Scham und vielleicht auch – ich neige heute zu dieser Annahme (»heute!«) – aus Rücksicht auf mich, aus gewissenhafter, höchster Rücksicht – es war besser, wenn ich von alldem nichts wusste.

Bis zu welchem Grad hatte er sich mit diesem Vermögen in dunkle Machenschaften verstrickt? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Maxime einem seiner Menschenbrüder auf die eine oder andere Weise Schaden zufügen würde. Und doch, das viele Geld … Dabei handelt es sich übrigens um ein Geheimnis, das, darauf weise ich den Leser vorsorglich hin, nie gelüftet werden wird.

Gavrilov spielte die ersten Takte des Klavierkonzerts d-Moll.

»Das einzige, was mich am Tod interessiert«, sagte Maxime, während er sich eine Zigarette anzündete und offenbar weiterhin über seinen Fortscheiden nachdachte, »ist die Frage, in wem ich wiedergeboren werde. Wenn ich denn wiedergeboren werde«, fügte er hinzu (als wollte er mit dieser verbalen Einschränkung und der sie begleitenden übertriebenen Geste, beide Handflächen zu den Schultern hebend, meiner Skepsis zuvorkommen). Übrigens, erinnerst du dich an Robin aus der achten? Den kleinen Blonden?«

»Den kleinen Blonden, der ein bisschen verrückt war? Ja. Zumindest vage. Warum?«

»Durch den denkbar größten Zufall habe ich erfahren, dass er sich seit Monaten in einem Sanatorium befindet. Stell dir vor, er hält sich für Spartakus. Wie du dir sicher schon denkst, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, es ist mir gelungen, über seine Familie seine Telefonnummer herauszubekommen. Ich habe angerufen …«

»Ja, und?«

»Nun, ich fand ihn ganz ruhig und entspannt, normal, wenn man so sagen kann, aber er ist nun einmal davon überzeugt, bis zu der Sekunde seines Todes Spartakus gewesen zu sein. Er liefert einem alle möglichen Details, nach denen man ihn fragt. Und er irrt sich nicht. Man könnte meinen, er hätte eine ganze Bibliothek über die römische Geschichte und Zivilisation gelesen.«

»Das hat er sicher getan, oder?«

»Vielleicht. Jedenfalls weiß er auf alles eine Antwort.«

In diesem Moment klingelte das Telefon. Maxime stand auf, um ranzugehen.

Er verließ den Raum. Ich erriet, dass er mit einer Frau sprach, und als er zurückkehrte, erriet ich an seinem Gesichtsausdruck, was sich ereignet hatte: eine Trennung. Einmal mehr, diesmal von Anabel Trieste, seiner letzten, neuesten Freundin, die ihm nach Chişinău nachgereist war, Anabel, in die er doch sehr verliebt zu sein schien. Er verliebte sich häufig, aber seine Beziehungen hielten nicht lange, drei Monate im Schnitt (zwei Jahre die längste, mit Agnès, dem Engel Agnès).

Auf dem Gebiet der Beziehungen zu Frauen wie auch auf vielen anderen, unterschieden wir uns kaum voneinander, unsere Schicksale verliefen parallel. Wir erreichten das dreißigste Lebensjahr als Junggesellen, waren in alle Frauen verliebt, und noch immer überzeugt davon, dass unser weibliches Gegenstück auf dieser Welt nicht zu finden war.

Er begriff, dass ich begriffen hatte.

»Tja ja«, sagte er einfach.

»Ich hatte geglaubt, mit Anabel …«

»Das hatte ich auch geglaubt.«

»Schade, oder?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht. Trinken wir ein Fläschchen Champagner zum Nachtisch? Na, komm!«

Er ging hinunter, um eine Flasche Champagner zu holen.

»Ich werde Anabel zurückrufen«, sagte er bei seiner Rückkehr.

»Darf ich mir erlauben, dies zu befürworten?«

»Du darfst, mein lieber Luis. Robin-Spartakus hat mir erzählt, wie er den Prätor Varinius reingelegt hat, den Rom geschickt hatte, um ihn und seine Männer zu vernichten. Die beiden Armeen haben ihre Zeltlager einander gegenüber aufgeschlagen. Die Nacht bricht herein. Robin erzählt, dass er vor dem Zeltlager Leichen an Pfählen befestigt hat: Varinius wird sie für Wachtposten halten … er hat überall Feuer anzünden lassen und den Hornisten befohlen, das übliche Signal ertönen zu lassen. Und dann flieht in der Nacht heimlich die ganze Armee – hunderttausend Mann, sagt Robin stolz. Eine Meisterleistung. Am Morgen befindet der kampfbereite Varinius, die feindlichen Truppen seien recht wenig unternehmungslustig, und entdeckt, dass Spartakus ihn einmal mehr kujonniert hat, und zwar nicht zum letzten Mal. Robin führt unglaublich genaue Details an. Soll ich dir eingießen?«

»Danke«, antworte ich. »Nun, er hat sicher viel über das Thema gelesen. Was die Details betrifft …«

»Leider nicht überprüfbar. Sonst, wenn man einen Beweis hätte … würde Robin der Mann des Jahrhunderts werden, stell dir vor!«

»Ganz davon abgesehen, dass auch du gegen den Beweis nichts hättest.«

»Haha! Nein! Man müsste dann bloß noch herauszufinden, warum sich einige Personen an ihr früheres Leben erinnern, und andere nicht. Im Übrigen ist mir dieses Jahr in Chişinău etwas aufgefallen. Wenn man die Leute fragt, haben viele Erinnerungen, deren Ursprung und deren Umstände sie nicht kennen. Unbekannte Erinnerungsobjekte. Es geht nicht darum, sich wie Robin aus unbekannten Gründen und in der Erwartung, dass die Rätsel sich erhellen, an alles zu erinnern (sagte Maxime mit einem neuen Lächeln, das er nicht verbarg, tatsächlich, heute war der Abend des befreiten Lächelns, pfeif aufs Zahnfleisch), sondern darum, eine dunkle Erinnerung zu haben, und sei es auch nur eine einzige, von der man nicht weiß, woher sie rührt – die aber dennoch da ist, in uns, tief eingeschrieben … Entschuldige, ich langweile dich. Zumal du der Oberbefehlshaber jener Armee an Leuten bist, die sich nicht erinnern können …«

»Das ist gar nicht ausgemacht«, erwiderte ich, zu meiner eigenen Überraschung, ohne nachzudenken. »Ich hatte es ganz vergessen, aber hier, jetzt, da du gerade darüber redest … nichts Verblüffendes, aber ich sehe, wie deine Augen zu glänzen beginnen …«

»Schieß los, ich bin ganz Ohr.«

»Am Donnerstagabend nach meinem Unterricht ging mir plötzlich eine Stelle aus einem Gedicht oder einem Lied durch den Kopf. Ich erinnerte mich an vier Verse, aber nur an diese. Unmöglich herauszufinden, woher sie stammen, aus welchem Gedicht, von welchem Dichter. Einfach nervtötend. Wieder zu Hause habe ich in meinen Büchern, auf der Festplatte meines Computers gesucht, nichts. Dann habe ich nicht mehr daran gedacht, bis heute Abend.«

»Sagst du sie mir auf?« (meinerseits ein zögerliches »Ja«.) »Komm! Wir wollen meine Allgemeinbildung testen.«

So linkisch wie man sich manchmal vor einer nahestehenden Person geben kann, wenn man etwas aufsagt oder singt, fing ich mit meinem Vierzeiler ein, wobei ich meine eigene Stimme kaum wiedererkannte:

Die Liebesträume früher Jahre

sind sämtlich mit der Zeit entschwunden.

Auf dass ich in Erinnerung wahre

mein Warten, bis ich dich gefunden.

»Sehr hübsch! Und wie passend! Diese vier Verse nehmen einen originellen Platz in unseren Gesprächen ein … aber ich kenne sie nicht. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was es sein könnte.«

»Ich auch nicht. Vielleicht ein vergessenes Lied, das ich als Kind gehört habe. Vielleicht hat mich kürzlich eine Melodie daran erinnert, und dabei ist der Text wiedergekommen? Ich weiß es nicht.«

»Jedenfalls, wenn du es wiederfindest …«

»Verlass dich auf mich, du erfährst es als erster.« (Ich zeigte auf ein Schachspiel:) »Wollen wir eine Runde spielen?«

»Hast du Lust?«

»Eigentlich nicht. Und du?«

»Ich auch nicht.«

Er zündete sich eine Zigarette an und wir unternahmen einen Spaziergang durch den Park. In dem Moment – es herrscht absolute Stille, kein Lüftchen wehte – vernahmen wir Klaviermusik in der Ferne, kaum hörbar. Es war nicht Gavrilov, dessen Platte am Ende des Prestos beim letzten Klavierkonzert verstummt war. Das Klavierstück konnte nur aus dem Haus Nummer 1 herüberklingen.

»Ist es eine Platte oder spielt da jemand?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht.«

»Spielen deine Nachbarn Klavier?«

Wie liefen an der Hecke zwischen den beiden Grundstücken entlang. Es gab keinen Zaun, man hätte problemlos von einem Garten in den anderen schlüpfen können.

»Ich weiß nicht. Vor diesem Abend war es mir nicht aufgefallen.«

Er legte beide Hände auf den Kopf, drückte dabei die Haare platt und zog sie ein wenig nach hinten. Er trug das Armband von Cordoba.

»Passt das Armband, ist die Größe richtig?«

»Perfekt. Und ich liebe diese kleinen boshaften Fratzen an meinem Arm. Mit etwas Glück wird alles Böse, das in mir steckt, auf diesen Weise verschwinden.«

»Wollen wir’s hoffen«, erwiderte ich.

Beinahe hätte ich hinzugefügt: »Welches Böse? Welches Böse steckt in dir? Sag es mir, das ist der Moment! Wir werden uns beide besser fühlen, wenn wir darüber geredet haben!« Vielleicht hätte ich es tun sollen, vielleicht hätte er sich gehen lassen, vielleicht hätte sich unser beider Leben verändert? (Nein, er hätte nicht geantwortet, das weiß ich, bestenfalls im Scherz.)

Es war zwei Uhr morgens. Ich spielte Maxime das Prélude von Bachs zweiter Englischen Suite vor, zu langsam und zu schlecht, dann verabschiedete ich mich. Am nächsten Morgen hatte ich früh Unterricht. Bevor ich aufbrach, begutachtete Maxime noch einmal den geschenkten Brieföffner und fand das Metall an einigen Stellen etwas trüb. Er legte es ein paar Sekunden in ein Silberbad, spülte es anschließend unter Wasser und wischte es sorgfältig trocken.

»Hier! Das sieht schon ganz anders aus, was?«

»In der Tat, ganz anders«, sagte ich. »Danke.«

Das Ergebnis war spektakulär, das Messer funkelte.

Am Lancia gingen wir auseinander.

»Pass auf dich auf«, sagte Maxime, der diesen Ausdruck mochte. »Alles Gute für morgen. Ich wünsche dir morgen einen klingenden Tag. Einen, der richtig, nicht falsch klingt.«

»In Ordnung, danke. Man weiß ja nie, was die Vergangenheit so alles für einen bereithält …«

»Haha!«

Auf dieses Bonmots von guten Freunden, die eine Flasche Champagner getrunken haben, obwohl sie das Trinken nicht gewohnt sind (weder Maxime noch ich hatten eine besondere Vorliebe für Alkohol), und mit einem letzten verschworenen Lachen fuhr ich von ihm fort.

KAPITEL 3

DER ÜBERFALL

Was weder Nacht noch Flamme werden kann,verschweigt man lieber.Catherine Pozzi

Spendet im Juni die Wiese nichtsist sie ein rechter Taugenichts. (Sprichwort)

Am Montag, den 6. Juni ’66, trat gegen Tagesende Albin Nomen gedankenverloren in das Zimmer seiner achtjährigen Tochter Lucie. Er sah sie an ihrem Schreibtisch sitzen, ihm den Rücken kehrend, vielleicht mit Schreiben beschäftigt. Da fuhr sie so abrupt herum, dass ihr langes blondes Haar bei der raschen Bewegung durch die Luft flog.

»Womit warst du denn gerade beschäftigt?«, fragte Albin. »Aber du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst …«

»Doch, ich will gern«, sagte Lucie, die sich ein wenig wand.

Albin spürte, dass sie tatsächlich gern reden wollte, ihr Winden bewies es.

Er kam ihr zur Hilfe:

»Schreibst du?«

»Ja. In Mamas hübsches Heft.«

Éva, Lucies Mutter, hatte das Heft lange vor Lucies Geburt im Atelier des florentinischen Herstellers Giulio Giannini e figlio gekauft. Der Umschlag war aus hellem Leder. Der Schnitt schien mit grünen Blumen oder, wenn man ihn unterm Mikroskop betrachtete, mit irgendeinem Zellstoff bedruckt zu sein. Die Seiten waren durch und durch weiß, tiefweiß, milchweiß. In seiner jungfräulichen Vollkommenheit war das Heft so schön, dass man beim Hineinschreiben das Gefühl hatte, es zu besudeln. Es war sich selbst genug, hatte Éva gedacht und es so belassen, bis zu dem Tag, an dem sie es ihrer Tochter geschenkt hatte (sie war an diesem Tag bedrückt gewesen und hatte beim kleinsten Anlass losgeheult).

Albin sah Lucie tief in die grünen Augen, deren Reinheit, Klarheit und Sanftmut ihn jedes Mal entzückten.

»Und was schreibst du? Magst du es mir erzählen?«

»Ja. Ich schreibe auf, was ich tagsüber gemacht habe. Die Leute, die ich getroffen habe. Ob ich Bauchschmerzen hatte, wie letztens, als ich die Kirschen aufgegessen habe.«

»Du führst also Tagebuch. Schon seit Langem?«

»Ich führe Tagebuch?«

»Ja. Was du machst, nennt man Tagebuch führen. Es ist ein bisschen so wie die Tageszeitung, die man am Kiosk kauft, in der man täglich lesen kann, was in diesem Land und in der ganzen Welt passiert ist. Bei dir hingegen findet man nur das, was dir passiert ist. Und der Schreiber bist du, man kann es nicht am Kiosk kaufen.« (Kleines Lachen von Lucie.) »Und, schreibst du schon lange?«

»Nein, noch nicht lange. Seit acht Tagen. Eines Abends habe ich meinen Kugelschreiber genommen und angefangen.«

»Und hast du heute schon geschrieben?«

»Heute? Nein, nicht viel. Fast gar nichts. Willst du es sehen?«

»Ja!«

Er beugte sich vor und las laut:

»Kolia mag seine Kroketten nicht mehr. Er mag lieber überbackene Jakobsmuscheln. Und er mag Papa lieber als Mama.«

Kolia war die Katze des Hauses. Albin lächelte.

»Das mit den Kroketten stimmt«, sagte er. »Was Mama angeht, weiß ich nicht. Vielleicht weil ich dem Kater zu fressen gebe, verstehst du. Da interessiert er sich zwangsläufig mehr für mich. Aber ich glaube, am liebsten mag er dich. Dir schaut er am längsten in die Augen. Ganz normal, denn du hast die schönsten Augen der Welt. Kann ich die anderen Seiten des Hefts sehen? Deines Tagebuchs?«

»Wie du magst«, sagte sie und wand sich wieder, diesmal auf andere Weise.

Nein, dazu ist sie nicht bereit, sagte sich Albin.

»Na, ein andermal. Außerdem sind wir in Eile. Ich lasse dich weiterschreiben, ich mache mich schnell fertig.«

»Nein, ich höre auch auf! Heute weiß ich nicht, was ich erzählen soll.« (Ihre Augen leuchteten auf.) »Willst du nicht etwas hineinschreiben?«

»Aber gern!«, sagte Albin.

Mit einer rührenden Geste reichte sie ihm entschlossen und vertrauensvoll den Kugelschreiber. Albin küsste sie aufs Haar. Er vergötterte seine Tochter (und Lucie ihren Vater). Er schob die Banalitäten, die ihm einfielen, beiseite. Ein Gedicht, genau, das wäre das Richtige.

Er schrieb in sorgfältiger Handschrift, bedächtig wie ein Kalligraph:

Die Liebesträume früher Jahre

sind sämtlich mit der Zeit entschwunden.

Auf dass ich in Erinnerung wahre

mein Warten, bis ich dich gefunden.

Keine Unterschrift. Gern hätte er mehr geschrieben, aber mehr kam nicht. Den Rest, den Autor hatte er vergessen.

»Ein hübsches Gedicht, oder?«, fragte er.

Lucie war überglücklich.

»Ja! Hast du es dir ausgedacht?«

»Nein.« (Er lächelte.) »Ich glaube nicht … ich muss es wohl beim Aufsagen in der Schule gelernt haben. Ich weiß nicht mehr, wer es geschrieben hat. Nur für dich habe ich mich daran erinnert, mein Schatz.«

Lucie las die vier Verse noch einmal durch und blickte auf: »Dann ist es also so etwas wie ein Geheimnis?«

»Genau. Ein Geheimnis zwischen uns.«

»Wirst du es auch niemandem erzählen?«

»Niemandem. Und du auch nicht?«

»Ich auch nicht!«, sagte Lucie aus tiefstem Herzen.

Dann versuchte Albin die Fragen seiner Tochter zum Sinn des Vierzeilers zu beantworten.

»Auf dass ich in Erinnerung wahre mein Warten bis ich dich gefunden«, war nicht leicht zu erklären. Aber er gab sein Bestes und hatte den Eindruck, dass Lucie ihn sehr gut verstand.

Lucie räumte das Heft in die untere Schublade ihrer Kommode. Das Möbelstück roch gut nach Holz und Wachs. Lucie liebte den Geruch, der ihr im weiteren Leben stets die Kindheit in Erinnerung rufen sollte.

»Nehmen wir Kolia mit?«, fragte sie.

»Nein. Es geht ihm im Auto nicht gut. Weißt du noch das letzte Mal?«

»Ja, stimmt, der Arme!« (Sie ging an die Fenstertür ihres Zimmers.) »Er liegt am Swimmingpool. Ich gehe runter, ihm tschüss sagen.«

Im Flur, von dem alle Zimmer des Obergeschosses abgingen, kamen sie an Michels Schlafzimmer vorbei, Michel war Lucies großer Bruder. Die Tür war zu. Kein Mucks. Michel spielte Schach mit Bertrand, einem Schulfreund. Michel ging nicht gern zu den Tormonds. Er langweilte sich dort. Vor allem mochte er die Tochter nicht, eine eingebildete Pute von fünfzehn Jahren, die nicht einmal hübsch war und ihn kaum eines Blickes würdigte. Hätte Bertrand nicht kommen können, wäre er alleine da geblieben und hätte mit seinem elektronischen Schachbrett gespielt. Und er hätte gemalt, sein letztes Bild überarbeitet, bei dem ihm die Perspektive missraten war, Valette, sein Zeichenlehrer, hatte ihm gezeigt, was nicht stimmte. (Aber das Bild »hatte etwas«, trotz des technischen Fehlers, hatte Valette gesagt, wie bei allem, was Michel malte.)

Albin und Lucie traten hinaus auf die Freitreppe, von der aus man in einen Park mit Swimmingpool, einer Schaukel und Blumenbeeten blickte. Der Lärm der Avenue Foch war nicht zu hören. Das Haus war von der Straße abgewandt und durch Wohnhäuser von ihr getrennt – sowie durch eine Reihe Bäume, die die Wohnhäuser verdeckten. Hier fühlte man sich sehr fern von der Stadt, sehr fern von allem, anderswo.

Langsam lief die Katze am Rand des Swimmingpools entlang.

Der Vater und die Tochter kamen näher. Albin setzte sich in einen Rattansessel und Lucie ging Kolia streicheln, ein schönes Tier mit einem eindringlichen Blick, mal verspielt, mal abweisend und schwermütig. Im darauffolgenden Moment erschien im Fenster des ersten Stocks Évas Gesicht, mit Brille und Haarknoten. Sie mahnte Albin, nicht zu trödeln. Sie wollte pünktlich bei den Tormonds sein, damit der Abend nicht zu spät endete, sie war müde. Albin erhob sich und ging hinein zu seiner Frau. Krawatte, Anzug, einmal mit dem Kamm durch das wellige, noch volle weiße Haar (das von den eher groben Gesichtszügen ablenkte), schon war er fertig. Éva und er schritten gemeinsam hinunter. Die Brille hatte Éva abgesetzt. Sie war groß und elegant, ebenso groß wie ihr Ehemann, wenn sie – wie an diesem Abend – Absätze trug. Beide waren nicht mehr ganz jung. Sie hatten Michel ziemlich spät bekommen, und Lucie sogar noch später, mit ihr hatte keiner mehr gerechnet, sieben Jahre lagen zwischen den Geschwistern.

Zum Zeitpunkt von Lucies Geburt war Albin bereits Rentner gewesen. Sein Vater hatte gewünscht, ja gefordert, dass Albin eine Militärkarriere einschlug. Er hatte sich gefügt, jedoch ohne Begeisterung. Er war Unteroffizier geblieben und hatte nie versucht, einen höheren Dienstgrad zu erreichen, sondern sich nach fünfzehn Jahren Langeweile in einer Verwaltung so früh wie möglich verrenten lassen. Er hatte keine Geldsorgen, seine Eltern hatten ihn nicht mittellos gelassen. Évas Vater, ein steinreicher Botschafter spanischer Herkunft, der in Peru verstorben war, hatte ihnen zur Hochzeit gar die Villa in der Avenue Foch geschenkt, und obendrauf einen dicken schwedischen Luxusschlitten.

Éva und Albin waren mit ihrem Rentnerleben, das mit allerlei mondänen Aktivitäten gefüllt war, hoch zufrieden. Überdies gab Éva zweimal pro Woche behinderten Kindern Nachhilfeunterricht in Spanisch, und Albin malte – hässliche Bilder, die er für gewöhnlich gleich wieder verbrannte. (Jene, die sich die zufällig über das allgemeine Mittelmaß erhoben, verbrannte er ebenso wie die anderen. Er behauptete ganz ernsthaft und sogar mit einem gewissen Vergnügen, dass diese zerstörerische Geste das Beste an seiner Arbeit war.)

Sie gingen durch das große Wohnzimmer im Erdgeschoss, wo über dem Kamin ein Landschaftsgemälde hing. Dieses ansprechende Bild war nicht Albins Werk, sondern das seines Sohnes Michel, der im Gegensatz zu ihm echtes Talent besaß. Michel hatte im Alter von elf Jahren mit dem Malen angefangen und schon bald gewusst, dass er sein Leben ganz der Malerei widmen würde. Seine Eltern hofften, diese frühe und fordernde Berufung würde ihm helfen, die depressiven Zustände zu überwinden, die ihn seit der Kindheit heimsuchten. Zwei Jahre zuvor hatte Éva ihn dabei ertappt, wie er sich alle Beruhigungsmittel und Schlaftabletten, die er in der Hausapotheke ihres Zimmers gefunden, in die Tasche gestopft hatte. Was hatte er damit vor? Sie zu schlucken? Hatte er wirklich an Selbstmord gedacht? Niemand vermochte es zu sagen, er jedenfalls wusste es nicht.

Glücklicherweise hatte sich kein weiterer beängstigender Zwischenfall dieser Art ereignet, und so nahmen sie an, dass es Michel trotz seiner Zurückgezogenheit und Schweigsamkeit gut ging.

»Michel, wir gehen!«, rief Éva.

Kurz darauf erschien Michel auf der Treppe. Er hatte einen auffallend klugen Blick, sein Gesicht hingegen war hässlich, offensichtlich hatte er von seinem Vater nur jene Züge geerbt, die am wenigsten Anmut besaßen. Dicht hinter ihm stand Bertrand, ein bleicher, hagerer Junge (der häufig der Klassenbeste und häufig gleichauf war mit Michel). Sie verabschiedeten sich, wobei sich Bertrands Stimme, ein tiefer Bass, deutlich von den anderen abhob. Michel gab seinen Eltern und seiner Schwester Lucie einen Kuss. Er überragte sie um einen Kopf. Sie war noch ein Kind, er schon ein Teenager, fast doppelt so alt wie sie. Nach dem Abschiedskuss drückte er sie, anstatt sie loszulassen, noch fester an sich, als begegnete er ihr nach langer Abwesenheit zum ersten Mal oder als sähe er sie nie wieder. Normalerweise waren seine Gefühlsbezeugungen nicht so demonstrativ. Lucie stieß ein kleines Lachen aus, so heftig hatte er sie umarmt, dann brach sie gemeinsam mit ihren Eltern auf.

Der langgestreckte und robuste schwedische Wagen (ein Gierow, das teuerste Modell dieser Marke) rollte langsam aus der Tiefgarage der Avenue Foch 26 und fuhr bis zum Boulevard périphérique, dann die Seine entlang, um den Parc de Boulogne herum und schließlich auf die Autobahn Richtung Chartres und Orléans.

Die Tormonds wohnten in Limours-en-Hurepoix. Ursprünglich waren Hugues und Huguette Tormond Freunde von Évas Mutter Sylvie Soleares gewesen. Éva und Albin hatten sich eng mit ihnen angefreundet und kamen (trotz der Tochter Marie-Jeanne, einem wirklich unangenehmem Kind) gern zu Besuch.

Die Autobahn war frei. Trotz seines schweren, etwas klobigen Aussehens glitt der Gierow mit einem gleichmäßigen, sanften und beruhigenden Geräusch über sie hinweg. Éva hatte den Wagen nie gemocht, auch wenn sie seinen Komfort, etwa die beheizbaren Sitze im Winter, schätzte. Selbst Albin, der früher ein großer Auto-Liebhaber gewesen war, hätte lieber einen amerikanischen Wagen gehabt (einen schicken Buick oder einen schicken Chrysler), es stand jedoch außer Frage, dass sie sich nicht mit dem fürstlichen Geschenk von Évas Vater zufrieden gaben. Lucie, auf der Rückbank, war ein wenig aufgekratzt, genau genommen sogar sehr aufgekratzt, sie hätte viel darum gegeben, den Sicherheitsgurt lösen zu dürfen. Doch das war ihr leider untersagt, in der Hinsicht war ihre Mutter streng.

Die Freude über das Geheimnis, das sie mit ihrem Vater teilte, durchströmte sie. Albins vier Verse gingen ihr im Kopf herum, auch wenn sie sie noch nicht auswendig konnte – aber fast, ganz bald.

In Orsay verließen sie die Autobahn und nahmen die kleine Landstraße, die nach Limours-en-Hurepoix führte. Die Straße führte auf halber Strecke durch zwei Ortschaften, Gometz-le-Châtel und Gometz-la-Ville. Wenn sie das Schild von Gometz-le-Châtel erblickten, lächelten Albin und Éva sich für gewöhnlich an, weil Gomez Évas Mädchenname war.

Dieses Mal wie die anderen Male lächelten sie sich an. Es war zum Spiel geworden, und Lucie stieß ein helles Lachen aus.

Der Überfall fand auf dem letzten Abschnitt der Strecke statt, zwischen Gometz-la-Ville und Limours.

Einige Kilometer hinter Gometz-la-Ville wurde Albin von einem Auto überholt, einem alten Simca Versailles. Darin saßen drei Männer. Die Straße war schmal und das Überholmanöver riskant. Doch kaum fuhr das Auto vor ihnen, wurde der Fahrer erst immer langsamer und bremste schließlich so hart, dass Albin selbst halten musste, um einen Auffahrunfall zu vermeiden.

Ein Mann mit langen Haaren stieg aus dem Simca. Er reckte eine Waffe in die Höhe. Zwei große Schritte, schon stand er neben Albins Fahrertür und bedeutete ihm, die Scheibe herunterzukurbeln.

Wäre Albin allein gewesen, hätte er vielleicht etwas gewagt. Einen abrupten Start, ein Zickzackmanöver … doch das war alles zu gefährlich für seine Frau und seine Tochter. Der Angreifer könnte schießen. So gehorchte er und ließ die Scheibe herunter.

»Was ist los? Was wollen Sie?«, fragte er so gefasst wie möglich.

Éva stand unter Schock. Ja, was mochte dieser Mann, dessen zu langes Haar ihm fast bis zur Schulter reichte, von ihnen wollen? Lucie, der die Furcht die Kehle zuschnürte, legte ihrem Vater die Hand in den Nacken.

»Das Auto«, sagte der Mann mit tiefer Stimme. »Wir wollen das Auto.«

Albin hatte mit einer Geldforderung gerechnet. Erstaunt blickte er den Mann – für zwei, drei Sekunden? – an, bevor er reagieren konnte.

Daraufhin ereignete sich eine Szene, die von unvorhersehbarer, ja unerklärlicher Brutalität war.

Der Mann setzte Albin die Pistole auf die Stirn: »Du musterst mich gerade. Willst du eine genaue Personenbeschreibung anfertigen können? Ist es das?«

Er ließ Albin keine Zeit zu antworten. Von plötzlicher Wut gepackt, durchzuckte ihn der ganze Oberkörper und er drückte auf den Abzug.

Die Kugel traf Albin in den Kopf.

Kaum hatte Éva angefangen zu schreien, ertönte ein weiterer Knall. Der Mann hatte ein zweites Mal geschossen. Éva brach tot zusammen, in den Kopf getroffen wie ihr Mann.

Lucie wurde verschont. Die herbeigeeilten Kumpanen des Täters zogen die Leichen mit den blutüberströmten Gesichtern aus dem Wagen und legten sie nebeneinander in den Graben am Straßenrand, während der Schütze die um sich schlagende und laut brüllende Lucie zu dem Simca Versailles hinüberzerrte und dort einsperrte.

Vermutlich hatten sie bloß einen Vorwand gesucht, um ihren Blutdurst zu stillen, (und bei der Gelegenheit das schnelle und sichere Auto gestohlen, das ihnen tatsächlich von Nutzen war) – und offenbar hatte ihnen der Doppelmord genügt. Jedenfalls hatten sie Lucie weder getötet noch misshandelt.

Sie kam mit zwei blauen Flecken an den Schultern und an den Armen davon.

Die traumatische Wirkung war jedoch verheerend, der Schock saß so tief, dass sie ihn in ihrem kurzen Leben nie überwinden sollte.

Im Auto der Nomens fuhren die drei Männer wieder davon. Sie wendeten und rasten Richtung Autobahn.

Vierzig Minuten Verspätung … Das war nicht normal. Die Tormonds riefen bei Michel an (»Ja, sie sind losgefahren, um die und die Uhrzeit«) und dann gleich bei der Gendarmerie von Limoursen-Hurepoix.

Kein einziger aussagekräftiger Fingerabdruck in dem Simca Versailles, kein einziges Indiz, das es erlaubt hätte, eine Ermittlung durchzuführen. Kein einziger Gierow war durch die eilig aufgestellten Polizeisperren gekommen. Ein Überfall von Geistern oder Außerirdischen, sagte einer der Polizisten zu den Tormonds.

Die drei Männer wurden nie gefunden. Man erfuhr nichts über sie. Man wusste nur, dass der Mörder zum Tatzeitpunkt lange Haare gehabt hatte, lang und hell, blond, aber sicher war Lucie sich nicht.

Am Tag nach der Beerdigung von Albin und Éva Nomen verbrachte Michel einen Großteil des Nachmittags allein in seinem Schlafzimmer, auf dem Bett liegend.

Er schlief nicht. Gelegentlich hörte er Stimmen im Nachbarraum. Es war Sylvie, ihre Großmutter, die mit der armen Lucie sprach. Sie versuchte sie zu trösten, trocknete ihre Tränen, ermunterte sie dazu, Kekse zu essen.

Fast pausenlos kümmerte sie sich um sie.

Michel, der mit großer Phantasie begabt war und für sein Alter viel nachdachte, fiel es schwer zu glauben, dass man seine Eltern nur getötet haben sollte, um ein Auto zu stehlen. Vielleicht steckte ein anderer Grund dahinter? Was, wenn sein Vater ein Doppelleben geführt hatte, wenn er in geheime und gefährliche Machenschaften verstrickt gewesen war, von denen niemand in der Familie je etwas erfahren hatte?

Vielleicht war der Mord nur der Endpunkt einer langen Geschichte, in die sein Vater verwickelt gewesen wäre?

Er sprach mit Sylvie über seinen Argwohn. Doch sie konnte ihn beruhigen und davon überzeugen, dass – nein, unmöglich –, sein Vater kein Doppelleben geführt hatte. Es war die Tat von Irren, von Leuten, für die ein Menschenleben wertlos war und die dazu bereit waren, aus niederen Beweggründen, ja, grundlos zu töten.

KAPITEL 4

(Präambel)

DIE GESCHICHTE MIT CATHY, 1

Brich auf zu sterben und kehre zurück,auf dass ich dich lieben kann. (Armenisches Sprichwort)

Das ist er!Georges Feydeau

Cathy Maynial mit ihrem langen schwarzen Haar, das immer verstrubbelt war (aus Gewohnheit, und das sah ja auch so niedlich aus!), Cathy hob den Finger: Sie wusste es. Sie wusste es immer. Sie war bei Weitem die beste Schülerin der achten Klasse, die klügste und auch die liebenswürdigste.

Sie war zwölf Jahre alt, ein Jahr Vorsprung.

»Ja, Cathy?«

»Contrapunctus 11 – Die Kunst der Fuge«, sagte sie. »Bach.«

Sie lächelte mich an. Die Frage war nicht einfach. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie womöglich nur für sie gestellt hatte, um des Vergnügens willen, sie darauf antworten zu hören – und ich fragte mich sogar, ob sie meine Absicht nicht erriet, was ihr Lächeln erklären würde.

Ich lobte sie.

Ihre Anwesenheit half mir, den anstrengenden Mittwochskurs zwischen fünf und sechs Uhr zu ertragen. Die Schülerinnen waren müde und gereizt, mir ging es nicht viel anders. Die neue Institutsverwaltung hatte offenbar beschlossen, meinen Unterrichtsplan zu sabotieren. Um es gleich zu sagen, der neue Direktor und der Vizedirektor waren beide nutzlose Idioten, die Musik offenbar für das hinterletzte aller Fächer hielten, heimtückische Idioten, die mich nicht leiden konnten und nur neidisch waren (ich weiß, wovon ich rede). Es war mir schleierhaft, durch was für Ränke und aberwitzige Umstände sie an ihre Posten gekommen waren. Sie kannten sich schon lange und steckten immer unter einer Decke (»die dreckigen Säcke«, Anruf bei Maxime an dem Tag, als ich sie mit diesem Etikett bedacht hatte), sie waren mir feindlich gesinnt, ganz sicher, Umgang pflegten wir aus reiner Höflichkeit (während der alte Direktor – fortgerafft in seinem Arbeitszimmer beim letzten Schub einer angeborenen Krankheit, die ihm sein Leben lang aufgelauert hatte – ein guter Freund geworden war).

In meiner Heimatstadt war ich zuerst Musiklehrer gewesen. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich beschlossen, vor der Vergangenheit zu fliehen und nach Paris zu gehen. Ich hatte mich für eine Privatschule entschieden, um bei der Berufung mehr Sicherheit zu haben, ich misstraute dem staatlichen Schulsystem, da bittet man um Ober-Hammer-Schlau und kriegt dann Unter-aller-Sau (auch da ein Anruf bei Maxime, der damals einen Auftrag in Bukarest hatte). Ich hatte also eine Stelle in Paris bekommen – was selbst im privaten Schulsystem nur mit der Unterstützung einer Freundin von Maximes Mutter, Ida Retable, möglich war. (Ida Retable, die in den letzten Jahren ihres Lebens Élise Voutand-Bersot sehr nahe gestanden hatte, war lange in Maxime verliebt gewesen und ähnelte darin – wie in manch anderen, geradezu beunruhigenden Dingen, z.B. der Narbe an ihrer Lippe – Rosa Dartle, der Gesellschaftsdame von Frau Steerforth, der Mutter Steerforths, des lieben Freundes von David Copperfield in David Copperfield.)

Zwei Jahre lang hatte ich an einer Einrichtung gelehrt, die mir nicht gefiel. Das ideale Angebot kam schließlich mit dem Institut Benjamin, einer Freien Mädchenschule (»aber nicht gerade mädchenfreien Schule«, Maxime in der Türkei) für Schülerinnen der Sekundarstufe. Ideal, weil die Einrichtung in der Rue des Martyrs 37a lag, von mir aus gesehen also nur zwölf Hausnummern weiter, weil die Klassen klein waren (etwa zwölf Schülerinnen pro Klasse), und schließlich auch weil das allgemeine Niveau hoch war, gemessen an unserem geistig und seelisch im Verfall (Maxime: »im freien Fall«) begriffenen Zeitalter sogar ungewöhnlich hoch. Mit der Aufnahme in diese Einrichtung wurden Schülerinnen wie Lehrer quasi geadelt und infolge der strengen Regeln und Sanktionen auch ständig getadelt, wie Maxime zu sagen pflegte (aber vielleicht sollte ich damit aufhören – ich gelobe Besserung – die Wortspiele wiederzugeben, an denen mein Freund und ich uns gern ergötzten, ganz gleich an welchem Ort er sich gerade befand), Maxime, der so tat, als würde er mir vorwerfen, der alte unverbesserliche Anarchist (aber er war alles mögliche, er spielte so viele Rollen!), ich würde mich in einem »tödlich bürgerlichen« Lebensstil einrichten. (Es stimmt schon, dass die Eltern, die ihre Kinder auf das Institut Benjamin schicken konnten, nicht gerade zum Proletariat von Paris und Umgebung gehörten, und auch, dass es auf eine gewisse Bequemlichkeit meinerseits hinwies, dass ich in einem solchen Kokon lehrte.)

Unser Gespräch vom Vortag über die Launen des Gedächtnisses ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Woher kamen die vier Verse, die tief in meinem Innern versunken gewesen und vor einigen Tagen plötzlich wieder an die Oberfläche geschwemmt worden waren? Gehörten sie, wie es Maxime gefallen hätte, zu den Erinnerungen eines anderen, der ich früher gewesen wäre, und hatten sie sich zum Zeitpunkt meiner Geburt gewissermaßen in mich hineingeschlichen, zu einem Zeitpunkt, der dem Tod jenes »anderen« entsprach? Noch erstaunlicher war, wie es Maxime gelingen konnte, mich mit solchen Geschichten zu verwirren (wenn auch nur ein bisschen, aber das Bisschen war schon viel, das Bisschen war zu viel), bei denen ich normalerweise nur mit den Schultern gezuckt, die ich mir nicht einmal angehört hätte, wären sie mir nicht von meinem alten Freund erzählt worden. War Maxime verrückt – manchmal, wenn man die Leute zu gut kennt, merkt man es ja nicht? Nein, beileibe nicht, er war alles Mögliche, nur nicht verrückt!

Als ich am Abend zuvor zu mir nach Hause zurückgekehrt war, hatte ich den Vierzeiler auf die erste Seite eines Hefts aus blutrotem Leder und schneeweißen Seiten geschrieben (eines der vielen Hefte, die Maxime mir geschenkt hatte).

Ich hatte die Angewohnheit, die zweite halbe Stunde meines Unterrichts praktischen, anregenden Übungen zu widmen. Meistens sangen wir. Mit der Zeit hatte ich mir ein richtiges kleines Repertoire erarbeitet, zu dem das von den Mädchen heißgeliebte Laudemus Virginem aus dem Llibre Vermell de Montserrat (14. Jahrhundert) gehörte sowie der sanfte Choral der Bach-Kantate 185 (die obligate Violinenpartie gespielt von der ach so sanften Irène Renning) oder auch schlichtere, volksliedhaftere Gesänge wie Nous sommes trois souverains princes oder Voisin d’où venait ce grand bruit, die ich für ihre jungen Mädchenstimmen arrangiert hatte. Jene, die dazu Lust hatten, spielten Flöte, Klavier oder Violine, allein oder zu mehreren, oder ich spielte selbst ein Stück, zum Beispiel Danza de la Pastora von Ernesto Halffter (1905-1989), worum sie mich gern baten.

Ich unterrichtete siebzehn Stunden pro Woche. Ich hatte nichts gegen meine Arbeit, im Gegenteil. Es war ein angenehmer Ort. Trat man durch die Tür der Nummer 37a, befand man sich in einem Park mit Bäumen und Blumenbeeten, und am Ende des Parks erhoben sich, dem südlichen Licht ausgesetzt, das Stylobat und die Säulen, Friese, Gesimse und Architrave der hellen, an sonnigen Tagen blendenden Fassade des Institut Benjamin, eines überladenen Baus aus dem 19. Jahrhundert.

Von Anfang an bestand ein gutes Verhältnis zu den Kollegen, auch wenn diese – bis auf eine mehrmonatige Beziehung mit Marie-Pierre Valet-Michelet, die seit drei Jahren Zeichenlehrerin am Institut war – rein beruflicher Natur waren. Dann war Marie-Pierre ins Ausland (Madrid) gegangen und hatte mir angeboten ihr zu folgen. (Es war ein Angebot, mein Leben mit ihr zu teilen: Doch dieses war mir leider, ach, unmöglich.)

Dann die Versuchung, sie durch die Tochter des Direktors höchstpersönlich zu ersetzen (dieser Halunke besaß ein wirklich hübsches Kind), Nathalie Mornais, der ich auf dem Institutsfest begegnet war, eine Versuchung, der ich jedoch erfolgreich widerstand (das Böse braucht man nicht zu suchen, es kommt ziemlich schnell von allein gelaufen, und trollt sich nur langsam wieder fort, wenn überhaupt).

Wir hatten miteinander getanzt. Sie hatte mir ihre Telefonnummer gegeben. Ich meldete mich nicht.

Ich habe sie nie wieder gesehen.

Soviel zu meiner Karriere und meinem Leben, dem Leser ins Ohr geflüstert, kurz bevor Solène Walser an der Violine und Cathy am Klavier (diese Leichtigkeit in Cathys Spiel, diese Eleganz trotz ihres zarten Alters!) den dritten Satz, Andante, der Sonate in G-Dur von Bach, BWV 1027, beendeten. Ende des Unterrichts, die Glocke läutete bei der letzten Note.

Nachdem die Schülerinnen hinausgeströmt waren, räumte ich das Nötigste weg und brach auf. Ich schritt durch einen Flur, folgte dann einem weiteren, der ziemlich lang war, die letzte Tür rechts war die von Mornais. Sein Büro ging zum Park auf der Seite der Rue des Martyrs. Ich wollte ihm ein Formular mit meinen Wünschen für den Stundenplan im kommenden Schuljahr geben, damit die Dummheiten dieses Jahres vermieden würden – wohlwissend, dass er und Quiret, sein Helfershelfer, sie nicht berücksichtigen würden.