GESPALTENE SONNEN: Mystery Thriller - Sky & Liam - Diana Silver - E-Book

GESPALTENE SONNEN: Mystery Thriller - Sky & Liam E-Book

Diana Silver

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Beschreibung

Wenn diese Geschichte zu Ende ist, fängt sie erst an.

»Mein Name ist Liam Starling«

Skylar kann es nicht fassen, als Tyler nach Los Angeles zurückkehrt und behauptet, sie noch nie gesehen zu haben. Schließlich ist er der Mann, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hat.

Ihm aus dem Weg zu gehen scheint unmöglich – egal wo Sky sich aufhält, er ist da. Doch kaum rechnet sie mit Tylers sadistischem Machtspiel, zeigt er sich von einer ganz anderen Seite.

Charmant. Beschützend. Unwiderstehlich.

Ist sein neues Ich Teil eines perfiden Plans? Oder steckt ein dunkles Geheimnis hinter der Fassade, von dem niemand erfahren darf?

Leserstimmen:

Wow, ich hab mit Sky gelitten, gelacht, gezittert – und wie sie an meinem Verstand gezweifelt. Konnte einfach nicht aufhören zu lesen!
– Steffi Z.

Eine überraschend andere und ungewöhnliche Art von Liebesgeschichte, verpackt in einem Thriller, gemixt mit übersinnlichen Elementen. Hatte das Buch an einem Wochenende durch, musste einfach immer weiterlesen.
– Sarahs Bücherinsel

Ein Romantic-Thriller mit Suchtfaktor – einfach weird! Mit so krassen Wendungen hab ich nie gerechnet. Ich seh ihn schon als Film!
– Jolie

Die Dialoge – genial! Trotz spannender Dramatik hab ich so oft gelacht, aber auch einige Tränen verdrückt.
– Leonie A.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zerrissen
Unausweichlich
Der weiße Wagen
Entrissen
Gefangen
Eiskalt
Vereint
Seelenflammen
Epilog

 

 

Ebenfalls erschienen als Hardcover Taschenbuch

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, einschließlich Cover und Titel. Die Verwendung von Cover, Klappentext und Textpassagen ist für Rezensionen, Buchvorstellungen oder Blogartikel gestattet. Alle dargestellten Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, ob lebendig oder verstorben, sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Genannte Musiktitel, Markennamen oder Warenzeichen gehören den jeweiligen Rechteinhabern.

 

 

© 2024 by Diana Silver C/o Block Services Stuttgarter Str. 106 70736 Fellbach E-Mail: [email protected] USt-IdNr. DE365631674 Covergestaltung © 2025 S. Anadi ISBN: 9783759288868

 

 

 

 

 

 

 

Für Tommy.

Mit seiner unendlichen Geduld.

Danke für deine Unterstützung.

Dein Lachen, deine Liebe.

 

 

 

 

 

 

 

 

Diana Silver, geboren 1968, liebt das Reisen, die Musik und ihren Seelenzwilling. Ihre eigenen Geschichten gestaltet sie lieber harmonisch und unaufgeregt, während die ihrer Figuren voller Verstrickungen, Mysterien und ungewöhnlicher Liebesbeziehungen sind. Inspiriert von den faszinierenden Facetten des Lebens und beeinflusst von den Meistern der Erzählkunst, verliert sie sich beim Schreiben in ihrer eigenen Welt aus Realität und Fiktion, in der oft nichts so ist, wie es scheint ...

 

 

 

 

 

 

 

Wen kümmert Perfektion?

 

Selbst der Mond ist nicht perfekt,

er ist voller Krater.

Das Meer ist unglaublich schön,

aber salzig und dunkel in den Tiefen.

Der Himmel ist immer unendlich,

aber oft bewölkt.

Also alles, was schön ist, ist nicht perfekt,

es ist besonders. Daher kann jede Frau

für jemanden etwas Besonderes sein.

Hör auf, „perfekt“ zu sein, sondern

versuche frei zu sein und zu leben,

das zu tun, was du liebst,

nicht andere beeindrucken zu wollen.

 

Bob Marley

 

 

 

Bürde

 

Reihen von Stahltischen füllen den Raum, bedeckt mit weißen Laken, deren Wölbungen stumme Silhouetten formen. Lautlos gleitet eines der Tücher zu Boden, verweht den faulig-süßen Geruch von Verwesung und enthüllt einen jungen Mann.

Kaum älter als ich – vielleicht 25, liegt er auf dem glänzenden Stahl, still, schön, tot. Seine aschfahle Haut spannt sich über scharfe Wangenknochen wie dünnes Kerzenwachs in einem unnatürlich gelassenen Gesicht. Etwas Gequältes lauert darunter, etwas ... Lebendiges. Als würde er sich zurück aus seinem endlosen Traum kämpfen. Ein Finger zuckt.

Unmöglich. Tote Finger zucken nicht. So wenig wie tote Lider auseinanderreißen.

Aber diese tun es.

Während das Grauen wie eine eisige Hand nach mir greift, setzt sich die Leiche auf, hölzern, mechanisch, wie eine Marionette, gelenkt von unsichtbaren Fäden.

Lähmende Panik hält mich am Fleck, drückt mir die Kehle zu, erstickt jeden Laut – und er kommt näher. Mit aller Kraft zwinge ich meine Beine, sich zu bewegen, bis sie endlich gehorchen – dann renne ich.

Leichentische, zu silbernen Streifen verschwommen, ziehen wie Geister an mir vorbei, ohne Anfang, ohne Ende, ein Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt. Jeder Schritt ist zäh, als trete ich auf Honig, die rettende Tür ein Trugbild, nah und doch weit weg. Es ist so absurd. Ebenso absurd wie der Schatten, der plötzlich über mir ragt und mich zum Stehen zwingt. Ich hebe den Blick.

Hohle Augen, in einer grotesken Maske aus Schmerz und Freude, bohren sich tief in meine. Forschend. Fordernd. Ich kenne dieses Gesicht. Es ist nicht irgendeins. Es gehört ihm ...

 

Ein Schrei, laut und schrill, riss mich aus dem Schlaf. Meine Augen flogen durch den Raum, blieben an meinen Füßen hängen – da lag etwas. Reflexartig kreuzte ich die Arme vor der Brust und hielt den Atem an, bereit für den Angriff.

Doch nichts geschah.

Langsam sickerte die Erkenntnis durch. Ich hatte geschrien. Und das Ding da unten war keine Leiche, die mir nach der Seele trachtete, sondern mein zerwühltes Kopfkissen. Schweißnass, mit Adrenalin in sämtlichen Gliedern, spürte ich das Nachthemd an mir kleben wie eine schlechte Entscheidung unter Alkohol nachts um drei. Fast schon hysterisch schälte ich es von meiner Haut und warf es auf den Boden.

Seufzend ließ ich mich aufs Bett zurückfallen und starrte an die Decke. Wenn man nur alles so leicht wegstrippen könnte. Der Albtraum war kein Zufall, sondern ein Omen. Und ich war ihm nicht entkommen, er hatte gerade erst begonnen.

Was für diesen Tag im Kalender stand, hing seit Wochen wie ein Damoklesschwert über mir. Jetzt kratzte die Klinge an meiner Schädeldecke. Ich wusste, es würde schlimm werden. Nein, schlimmer. Sie zwangen mich dazu, ohne Gnade.

Diese verdammte Obduktion. Aber hey, wozu die Aufregung? Schließlich war es nicht ich, die gleich auf dem Tisch liegen würde. Eine Hospitanz war Pflicht für alle Medizinstudenten, ein nicht verhandelbarer Teil des Lehrplans an der Geffen School of Medicine der UCLA. Gut, keiner erwartete, dass wir Frischlinge uns die Hände schmutzig machen. Diese spezielle Freude blieb dem Präpkurs im nächsten Semester vorbehalten – aber daran wollte ich noch nicht einmal denken. Als ob der aktuelle Lehrplan mir nicht schon genug in den Arsch treten würde. Es war die Hölle. Ich wurde erschlagen von Fachbüchern voller Krankheiten, deren Namen ich weder kannte noch aussprechen konnte. Überzeugt, dass allein der Gedanke daran sie in mir heraufbeschwor, wagte ich kaum, Krebsarten, Gendefekte oder hochansteckende Viren zu verinnerlichen – aus purer Angst, sie könnten in mir aufkeimen, Wurzeln schlagen und erblühen. Aber mal ehrlich, hatte man als Medizinstudentin eine Wahl? Es gab null Ausreden. Die medizinische Fakultät scherte sich nicht um die Befindlichkeiten paranoider Anfänger, zu denen ich eindeutig gehörte.

An der Geffen rief kaum jemand meinen Namen, auf den ich vor zweiundzwanzig Jahren getauft worden war. Skylar Summers existierte nicht. Ich wurde von allen nur Sissy genannt, weil sie mich für ein absolutes Weichei hielten. Aber wer konnte es ihnen verübeln? Sie hatten recht. Bei Lehrfilmen saß ich stocksteif im Hörsaal und starrte auf die Leinwand, als würden sie meine Todesanzeige abspielen. Mir graute vor Bildern von Raucherlungen, Diabetikerbeinen oder blumenkohlartigen Geschwüren. Bereits beim kleinsten Tropfen Blut rauschte es mir in den Ohren. Fing es an zu fließen, sah ich schwarz. Manchmal half es, die Beine hochzulegen, aber meistens wurde es sofort finster. Nicht schwer zu erraten, was eine Sektion mit mir anstellen würde, oder?

Meine Kommilitonen hingegen hielten eine forensische Untersuchung für die Krönung ihres Studiums – ach was, ihres Lebens. Wochenlang ging es nur um möglichst grausam entstellte, zerstückelte Leichen, abgetrennte Köpfe oder Gliedmaßen, Brandopfer bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. Sie fieberten der Obduktion regelrecht entgegen – für mich bedeutete sie den Weltuntergang. Als wäre es nicht schlimm genug, dass es meine erste war, fand der Termin auch noch an einem Ort statt, der praktisch nach Grauen und Verzweiflung schrie:

In der Gerichtsmedizin, 1104 N. Mission Road, Los Angeles.

Nicht, dass vertraute Räume den Schlag abgefedert hätten. Aber vielleicht hätte es sich dann weniger nach einem Köpfer in ein leeres Schwimmbecken angefühlt.

Okay, wem wollte ich etwas vormachen? Es war, was es war, egal wo. Warum sonst rann Schweiß von meiner Stirn bei der Vorstellung, tote Organe zu besichtigen, als wären sie Ausstellungsstücke auf einer Kunstmesse? Wenn Bücher und Filme schon der Horror waren, wie sah dann die Realität aus? Und das alles, um einem Geist gerecht zu werden.

Seufzend ließ ich den Blick über die nebelverhangene Skyline Manhattans zum Fenster wandern. Meine Fototapete schlug keine harmonische Brücke zum makellosen, kalifornischen Himmel, der einen heißen Juli-Tag versprach. Die Sonne kitzelte bereits die Palmen auf dem Hügel hinter unserem Haus in den Encino Hills, wo ich seit meiner Geburt lebte. Ihre Wedel hätten etwas Wasser gebrauchen können. Aber zu dieser Jahreszeit regnet es praktisch nie. Das Radio klickte sich ein und spielte den Oldie von Albert Hammond, wie um diese Tatsache zu untermauern. Obwohl der Song, wenn man es genau nimmt, von einer Warnung erzählt. Warnung. Mein Blick schoss zum Wecker, der eigentlich vor dem Radio hätte plärren müssen. Zwanzig vor acht.

Mit einem Ruck warf ich die Decke weg und sprang aus dem Bett. Böses Unterbewusstsein. Vor lästigen Terminen, wie zum Beispiel einem Massaker auf einem Stahltisch, hatte es die unschöne Angewohnheit, mir im Schlaf einzuflüstern, dass Wecker überbewertet sind.

Tapfer biss ich die Zähne zusammen und drehte die Brause auf kalt. Normalerweise liebte ich es, heiß zu duschen. Aber erstens spülte Eiswasser das Chaos aus meinem Kopf, und zweitens trieb es mich zur Eile.

Unsanft rubbelte ich meine blasse Haut mit einem Frotteetuch trocken und musterte dabei das Spiegelbild, von dem ich ungern zugab, dass es meins war. Die dunklen Haare klebten mir in verknoteten Strähnen an den Schultern wie die Tentakel eines Kraken und meine Augen waren mehr rot als grün.

Zügig griff ich nach der Mascara, ließ das Bürstchen einen Moment über den Wimpern schweben und steckte es genauso schnell zurück in das Röhrchen. Kein Schwarz der Welt würde etwas daran ändern, dass mich aus dem Spiegel ein Zombie anstarrte. Außerdem zitterte meine Hand, das Risiko, mir ins Auge zu stechen war einfach zu groß. Die öffentliche Aufmerksamkeit würde sich ohnehin eher auf totes Fleisch richten als auf die zerstörte Erscheinung des Weicheis.

In meinem begehbaren Kleiderschrank griff ich gezielt nach schwarzer Kleidung – für den Anlass schien mir das passend. Kaum hatte ich einen Arm ins Shirt gesteckt, durchbrach nahendes Motordröhnen, untermalt von hämmerndem Bass, die morgendliche Ruhe. Ich wusste sofort, was das bedeutete: Der Shuttleservice in mein persönliches Armageddon rollte an.

Eilig zog ich mir den Rest über, hüpfte in Jeans und flitzte barfuß in den Flur, wo laute Musik durchs Fenster heraufschallte. Frühstück konnte ich vergessen. Aber da es mir ohnehin spätestens in der Gerichtsmedizin wieder hochgekommen wäre ... Ein scharfes Geräusch zerriss die Luft. Ich machte einen Satz, beugte mich über das Fensterbrett nach draußen und fuchtelte hektisch mit den Armen. Gemma war so ekstatisch damit beschäftigt, einen Song mitzusingen, dass sie gar nicht daran dachte, die Hand von der Hupe zu nehmen. Bis sie mich bemerkte und ein breites Grinsen aufsetzte. Mein Zeichen, dass ich sofort da sein würde, beantwortete sie mit erhobenem Daumen, am ganzen Leib zuckend, wie unter elektrischen Schlägen. Ich wunderte mich nicht darüber, bei ihr kamen solche Aussetzer ständig vor. Mit gutem Gewissen konnte ich behaupten, dass meine beste Freundin einfach komplett durchgeknallt war. Es kümmerte sie nicht, dass die frühe Uhrzeit, ein offenes Verdeck und viel zu laute Musik sich nicht optimal ergänzten, und garantiert die halbe Nachbarschaft im Bett stand. Eigentlich kümmerte sie überhaupt nichts.

Eilig klemmte ich mir ein paar rote Chucks unter den Arm, warf einen düsteren Blick in den Flurspiegel, dann einen in meinen schwarzen Lederbeutel. Alles drin: Schlüssel, Handy, Bürste, Haargummi, Geldbörse und, ganz wichtig: HemoBoost, mein Lebensretter. Ohne den ging gar nichts. Dieser Kreislaufbooster hatte mich schon aus mehr brenzligen Situationen herausgehauen, als mir lieb war.

Am Treppenabsatz spähte ich über das Geländer nach unten, um sicherzugehen, unbeschadet davonzukommen. Meine Mutter bewohnte das Erdgeschoss in dem Haus, das Dad uns je zur Hälfte hinterlassen hatte, und ich hoffte, ihr nicht ausgerechnet an diesem Morgen in die Arme zu laufen. In dem Fall hatte ich Glück, aber draußen musste ich an unserer Nachbarin vorbei. Sie gaffte über ihre Hecke, Gemmas kleinen VW im Fadenkreuz.

»Morgen Mrs Getty«, rief ich und winkte im Vorbeilaufen.

Die einzige Antwort bestand aus einem starren Blick. Wer war sie, Medusa? Scheinbar, bei der Frisur. Wie konnten sich Haare so unnatürlich vom Kopf winden und abstehen?

Ohne die befremdliche Erscheinung weiter zu beachten, riss ich die Beifahrertür auf und stieg in den Wagen.

»Echt jetzt?« Mein genervtes Spiegelbild glotzte mich aus Gemmas übergroßer Sonnenbrille an. »Willst du ganz Encino aufwecken, oder hast du was am Ohr?«

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen«, sang sie heiter, steckte sich einen Streifen Kaugummi in den Mund und verfolgte heftig kauend meinen Versuch, den linken Fuß in den rechten Sneaker zu zwängen. Schnaufend wechselte ich die Seiten.

»Was landet auf dem Tisch, was denkst du?«, fragte sie, statt mir den üblichen Spruch aufzudrücken. »Ein angeschwemmter Torso? Ein verkohlter Kadaver? Oder am besten gleich beides – kauf eins, bekomm zwei?«

Ich hielt inne, den Schnürsenkel zwischen den Fingern. »Wenn du ein vollgereihertes Armaturenbrett willst, mach genau so weiter.«

Sie nahm die schwarzen Gläser ab und ließ ihre blauen Augen strahlen. »Wenn wir uns jetzt schon mental auf das Schlimmste einstellen, wird es nachher halb so wild.«

Zufrieden mit ihrer Logik schob sie die Brille zurück auf die kleine Nase, tätschelte mir die Wange wie einem Kind und drehte den Zündschlüssel. Mit einer Hand an meiner Kopfstütze lenkte sie das Cabrio geschmeidig rückwärts die Einfahrt hinunter. Als wir an Mrs Getty vorbeirollten, wich ich vorsichtshalber ihrem Blick aus. Man konnte nie wissen.

Auf dem Ventura Boulevard in Richtung Downtown setzte Gemma ihre fragwürdige Psychologiesitzung fort. »Hör mal. So eine Autopsie ist doch ein einschneidendes Erlebnis, meinst du nicht?« Sie ließ ihre Worte wirken, die Mundwinkel zuckten.

Ich verdrehte die Augen und starrte in die vorbeirauschende Landschaft. »Du bist echt nicht ganz dicht.«

Sie kicherte. »Komm schon Sky, keine Panik. Die Leichen sind mausetot. Sie quatschen dir kein Ohr ab, grapschen dir nicht an den Hintern ... Was hast du daran auszusetzen? Der Job ist ein Traum.«

»Aus dem man schreiend aufwacht.« Ihr Enthusiasmus ging mir allmählich auf die Nerven.

Gemma nervte oft, trotzdem gab es keine bessere Freundin. Sie war immer für mich da gewesen, sogar bevor wir uns kannten. Am ersten Schultag hatte sie ein paar übereifrige Jungs daran gehindert, mir eine riesige Spinne auf den Kopf zu setzen. Mit ihrer beeindruckenden Größe – für eine Erstklässlerin weit über dem Durchschnitt – hatte sie nur die Arme verschränken müssen, um die Kerle zu vertreiben. Seitdem waren wir unzertrennlich.

Obwohl wir uns blendend verstanden, lebten Gemma und ich in unterschiedlichen Sphären. Unbekümmert und mutig nahm sie jede Hürde, besaß eine magnetische Ausstrahlung, war offen, spontan und unternehmungslustig. Groß und schlank, mit langen blonden Haaren, die ihr in sanften Wellen über die Schultern flossen und ihre gebräunte Haut betonten, verkörperte sie das typische California Girl. Ich dagegen zog Einsamkeit dem Trubel vor. Statt jeden Abend um die Häuser zu ziehen, saß ich lieber auf meiner Couch, bei einem Glas Rotwein und guter Musik. Menschenmassen überforderten mich. Tausend verschiedene Gerüche, rücksichtsloses Verhalten, Rempeleien und zu viel Nähe – ich konnte nur schwer damit umgehen. Dasselbe galt für Entscheidungen. Manchmal grübelte ich so lange über Kleinigkeiten, bis sie ein Eigenleben entwickelten, zu unbezwingbaren Bergen heranwuchsen und mich unter sich zerquetschten.

Gemma nahm sich für so etwas keine Zeit. Sie war dauernd unterwegs und feierte das Leben. Selbst eine forensische Untersuchung machte sie zur Party, trug Mini, buntes Top und High Heels. Ich bevorzugte Jeans, schwarze Shirts und bequeme Sneaker.

»Keine Ahnung, was an verwesendem Fleisch so faszinierend sein soll«, motzte ich und fischte meine Haarbürste aus dem Beutel. »Allein der Gestank bringt mich zum Würgen.«

Gemma wechselte auf den Freeway, während ich versuchte, eine Strähne zu bändigen.

»Schon mal von Mentholpaste gehört?«, fragte sie beiläufig.

Mit dem mentalen Vermerk, nasse Haare nie wieder ungekämmt trocknen zu lassen, tauschte ich die Bürste gegen ein Haargummi und band mir einen Pferdeschwanz. »Wozu? Um wie ein Kaugummi zu riechen, während ich kotze? Du kannst einen halben Eimer unter meine Nase schmieren, es bringt nichts. Genau wie das ganze Studium. Ich als Ärztin. Lächerlich. Am besten, ich schmeiß alles hin.«

Ungerührt behielt sie den Blick auf der Fahrbahn. »Das sagst du jetzt nur aus Frust. Wir wissen beide, dass du das nicht tun wirst.«

Ich drehte mich zu ihr. »Ah. Wissen wir das.«

Ihr Mund lächelte, die Augen blieben ernst. »Du hast deinem Dad versprochen, Medizin zu studieren – aber nicht, später auch als Ärztin zu arbeiten.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Hat er von dir verlangt, irgendeine Fachrichtung einzuschlagen? Vielleicht Gynäkologie, sein Spezialgebiet?«

»Dazu ist es nicht mehr gekommen.«

»Siehst du. Zieh es einfach durch, schließ das Studium ab und ihr habt beide euren Frieden. Und was das bisschen Kotze betrifft – so etwas lässt sich leicht aufwischen.«

Ich starrte auf ihren Mund. Von dieser Seite hatte ich es nie betrachtet. Abzüglich der Vorbereitung am College blieben fünf Semester. Eine lange Zeit. Doch Folter ertrug sich leichter mit einem Ablaufdatum. Die Lösung lag auf der Hand. Ich hielt mein Versprechen, ohne es unnötig zu erweitern. Und später würde ich meine wahre Bestimmung leben. Auch wenn ich mir nie Gedanken darüber gemacht hatte, was sie eigentlich war. Seit meiner Geburt hatte für Dad festgestanden, dass sein kleines Mädchen Ärztin werden würde. Alles andere nannte er Genverschwendung. Dabei gab es niemanden auf der Welt, der für diesen Beruf weniger geeignet wäre. Ich hatte ihn zu sehr geliebt, um ihm das zu beichten. Es dauernd auf den nächsten Tag verschoben. Bis es zu spät war. Nach seinem Tod hatte mir meine Trauer keine andere Wahl gelassen, als ihm posthum den Wunsch zu erfüllen. Dennoch hatte ich lange damit gehadert, mich an der Uni einzuschreiben. Schon bei der Anmeldung waren mir die bewundernden Blicke peinlich gewesen, die man mir als Tochter des berühmten Stephen Summers zugeworfen hatte. Sie verstärkten meinen Minderwertigkeitskomplex – alle hielten mich für einen Ableger seiner Genialität. Dabei flog in unserem Fall der Apfel kilometerweit vom Stamm. Er war ein Genie gewesen. Nobelpreisträger. Wie hätte ich da mithalten, geschweige denn aus seinem Schatten treten können? Aus Solidarität – und weil sie Jura todlangweilig fand – hatte Gemma ihr altes Studium abgebrochen. Glücklicherweise hatte sie die Voraussetzung für das Medizinstudium, den Bachelor of Science, abgeschlossen, und so drückten wir bald wieder gemeinsam die Schulbank. Mit ihr an meiner Seite fühlte ich mich sicher im Hörsaal. Sie war eine große Hilfe. Auch jetzt. Sie hatte mich daran erinnert, dass ich es mir nie verzeihen würde, mein Versprechen zu brechen.

Okay, Dad, bis zum Abschluss. Keine Minute länger.

Um nicht die restlichen Tage zu zählen, suchte ich im Radio nach 4everock, dem Sender für die besten Rockhymnen der letzten Jahrzehnte. Einer meiner Lieblingssongs ließ das Stimmungsbarometer mit nur einem Ton in die Höhe schießen. Gemma drehte voll auf, und diesmal störte es mich nicht. Im Terzett mit Paul Stanley sangen wir gemeinsam »Tonight you belong to me« – laut, falsch, aber mit all der Leidenschaft, die der Song verlangte.

Wir hatten den Freeway verlassen und bogen auf die Mission Road ab. Ein schwarzer Wagen raste heran und fuhr auf gleicher Höhe, dabei kam er mir gefährlich nahe. Bevor ich dem Fahrer den Vogel zeigen konnte, fädelte er blitzschnell vor unserer Kühlerhaube in die Spur. Unmittelbar darauf zerriss ein scharfes Quietschen die Luft.

Amethysten

 

Ich verharrte eine Sekunde im leeren Raum, prallte gegen die Rückenlehne und biss mir fast die Zunge ab. Der Geschmack von Blut sammelte sich in meinem Mund und die Umgebung wirkte wie in Zeitlupe. Gemma rief etwas, ihre Lippen bewegten sich hektisch, doch ihre Stimme kam nur gedämpft bei mir an. Ich spürte ihre Hand an der Schulter, sah ihre weit aufgerissenen Augen, während das Pfeifen in meinen Ohren langsam nachließ.

»Himmel, Sky, bist du verletzt?« Sie klang jetzt klarer.

Ich schluckte hart meinen metallisch süßen Speichel, tastete mir über den Nacken und bewegte den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Du bist nicht angeschnallt«, rief sie anklagend und deutete flüchtig zum Gurt, der lose neben mir baumelte. Dann war ihr vorwurfsvolles Gesicht weg. »Hast du den Verstand verloren!«, hörte ich sie über mir brüllen. »Idiot!«

Schlagartig war ich wieder online. »Es hat aber nicht gekracht, oder?«

Gemma stand auf dem Sitz und hielt sich am Rand der Windschutzscheibe fest. »Fast«, fauchte sie, ihr Kinn zuckte zu dem schwarzen Wagen mit heruntergelassenem Verdeck. »Dieser Hooligan hat seinen blöden Mustang einfach vor uns gequetscht. Und jetzt tut er so, als ginge es ihn nichts an.«

Vor uns, an der Ampel, lümmelte sich ein Kerl im Sitz eines offenen Cabrios. Den Arm lässig über der Tür, zog er an einer Zigarette. Rauchschwaden stiegen in den blauen Himmel, sein ausgestreckter Mittelfinger folgte. Gemma kämpfte mit Schnappatmung.

Er spielte mit dem Rückspiegel und präsentierte, scheinbar zufrieden, seine gebleckten Zähne darin. Schneeweiß und kerzengerade. Zum Abschluss schüttelte er seine wellige Mähne, die ihm tief in den Nacken fiel und wie feuchte Kakaobohnen in der Sonne glänzte.

Aus unerfindlichem Grund machte mich der Anblick nervös. Vor allem die Haarfarbe löste ein unbehagliches Flattern in meinem Magen aus, als ob eine Erinnerung anklopfte.

Auf Gemma wirkte sich diese unerhörte Arroganz anders aus – sie explodierte. »Und jetzt? Willst du einen verdammten Orden? Bist bestimmt mächtig stolz, ein Arschloch zu sein.«

Ich zog das Genick ein und bereitete mich auf eine herbe Antwort vor, aber der Kerl tat, als wären wir überhaupt nicht da. Er war mit dem Spiegel beschäftigt. Eine schmale Nase tauchte darin auf, gefolgt von leuchtenden Augen, die nur eine Sekunde zu sehen waren.

Ich rappelte mich im Sitz auf. Diese Farbe – wie dunkle Amethysten. Selten und geheimnisvoll. Einmalig ... nein. Das konnte nicht sein. Es durfte nicht sein.

Zaghaft sah ich etwas genauer hin. Und jetzt sprang mir das Augenpaar direkt ins Gesicht. Ich erstarrte.

»Sky?« Gemma klang besorgt. »Was ist? Hey, sag was.«

»Was«, murmelte ich und schirmte mein Gesicht mit der Hand ab.

»Hast du doch etwas abbekommen?«

»Jetzt schon.« Ich streckte kurz den Zeigefinger aus, behielt den Kopf aber unten. »Er ... er ist wieder da.«

Ihre Augen wanderten prüfend nach vorn, verharrten, bis sie sich schließlich weiteten. »Heilige Mutter Gottes«, japste sie und ließ sich auf ihren Hintern plumpsen. »Ist das wirklich Ty...?«

Ich zwang mich, schnell die Hand zu heben und zu nicken, bevor sie seinen Namen aussprechen konnte. Ich wollte ihn nicht hören. Obwohl das auch keine Rolle mehr gespielt hätte. Es war bereits hochgekommen, was ich die letzten zwei Jahre verdrängt hatte. Oder besser: wen.

Tyler. Er war wieder in der Stadt. Direkt vor mir. Meine Vergangenheit hatte mich buchstäblich eingeholt, daran änderten auch seine inzwischen nackenlangen Haare nichts. Ich rutschte tiefer in den Sitz und spähte vorsichtig über das Armaturenbrett. Tylers Augen waren auf die Ampel gerichtet; anscheinend hatte er mich nicht registriert. Einen Wimpernschlag später trafen sich unsere Blicke, und mir fuhr es wie eine Faust in den Magen. In seiner Mimik regte sich nichts, keine Spur einer Empfindung, obwohl er mich jetzt erkannt haben musste.

Ehe ich wieder atmen konnte, sprang die Ampel auf Grün und der schwarze Sportwagen jagte kreischend davon.

Gemma trat ebenfalls aufs Gas, mit einer Hand hielt sie das Lenkrad, mit der anderen meine Schulter. »Alles in Ordnung?«

»Ich komm klar«, murmelte ich nur, weil der Knoten in meiner Kehle nicht mehr herausließ. Aber ich brauchte nichts weiter zu sagen. Sie wusste Bescheid.

Für den Rest der Fahrt starrte ich auf eine tote Fliege am Scheibenwischer. Kleine Eisbäche rannen meine Wirbelsäule hinunter. Ich hatte mich zu sicher gefühlt, war fest überzeugt davon gewesen ihm nie wieder begegnen zu müssen – dem größten Fehler meines Lebens.

Wir bogen auf die North Mission Road ab und bald zeigten sich die markanten Dachgiebel der Gerichtsmedizin. Das Gebäude, ein imposantes Bauwerk aus rotem Backstein mit hellen Fassadenelementen hätte man für ein Kulturzentrum halten können. Aber das Schild davor wies unmissverständlich darauf hin, wo man war: County of Los Angeles, Medical Examiner Coroner, Visitor Entrance.

Gemma fuhr auf das Gelände und steuerte in eine Parklücke.

»Hoffentlich ist die Leiche Brei«, murmelte ich und sah der vermeintlich toten Fliege nach, wie sie davonflog.

Sie riss die Handbremse hoch und drehte sich auf die Hüfte. »Nur fürs Protokoll: Vor einer halben Stunde hättest du am liebsten alles hingeschmissen. Und jetzt kann es auf einmal nicht schlimm genug werden? Das musst du mir erklären.«

Mein Blick klebte noch immer an der Frontscheibe, doch ich merkte, wie herausfordernd sie mich ansah.

Sie stieß einen müden Seufzer aus. »Ach Sky. Der Idiot ist es nicht wert. Das war er nie. Vergiss ihn.«

Ich ballte die Faust, bis sich meine Fingernägel in den Handballen bohrten. »Als wenn ich das nicht wüsste.«

»Eine zerlegte Leiche kann dir auch nicht helfen, die Vergangenheit auszulöschen.« Ihre Ungeduld klang deutlich heraus.

»Ach echt?« Mir entfuhr ein bitteres Lachen. »Was du nicht sagst. Aber vielleicht hilft es, Feuer mit Feuer zu bekämpfen.«

Gemma zog eine Augenbraue nach oben. »Ich hätte nicht gedacht, dass Tylers Rückkehr dich so mitnehmen würde. Bleibt zu hoffen, dass es keine Wiederholung von diesem schlechten Film gibt.«

»Was ... willst du damit sagen?«

Sie atmete heftig aus. »Meine Güte, Sky. Ist das so schwer zu begreifen? Ich hab einfach Bammel, dass du wieder einknickst.«

Meine Kinnlade fiel. »Sehe ich so aus, als hätte ich die letzten zwei Jahre auf Satans Neffen gewartet?« Es hätte ironisch klingen sollen, doch die Enttäuschung machte alles zunichte.

Sie neigte den Kopf und schürzte die Lippen. »Na ja, nicht direkt, im Gegenteil. Du hast tapfer gekämpft. Wie du die Therapie durchgezogen hast – wow. Oder diesen Selbstverteidigungskurs. Aber so wie ich das sehe, bist du nicht über ihn weg.«

Ich schnaubte. »Und das knallst du mir jetzt einfach so hin? Du solltest mich besser kennen. Tyler ist Geschichte.«

Gemmas Blick glitt über mein Gesicht. Mit jedem Wimpernschlag schien ihr Zweifel größer zu werden.

»Jetzt mal ehrlich, Sky. Könntest du standhaft bleiben, wenn er seine Show abzieht?«

Ich schaute weg. Es war verletzend, dass Gemma mir vorwarf, nichts aus meiner Dummheit gelernt zu haben und mich so offen damit konfrontierte. »Was denkst du denn?«

»Offensichtlich das Richtige.« Sie stieß unsanft die Fahrertür auf und schwang eines ihrer langen Beine auf den Asphalt.

»Vorhin an der Ampel saß genau die Sky neben mir, die ich vor zwei Jahren vom Boden kratzen musste, nachdem sich der Arsch endlich verpisst hatte.« Sie piekte mir an die Schulter. »Dabei war es das Beste, das dir passieren konnte.«

Wir stiegen aus. Demonstrativ knallte ich meine Tür zu, lief um den Wagen herum und schnitt ihr den Weg ab.

»Danke für die freundliche Erinnerung, aber du liegst sowas von falsch. Klar hat es mich erschreckt, dass er plötzlich aufgetaucht ist, dich doch auch.« Ich reckte flüchtig das Kinn zum Gebäude. »Aber lieber würde ich mich da drin zu einer Leiche ins Kühlfach legen als noch einmal zu diesem verfluchten Tyler Hunt. Ist das in deinen Augen standhaft genug?«

Freiheit

 

An diesem Nachmittag suchte ich Zuflucht im Angeles National Forest. Mein kleiner roter Mini-Cooper schnurrte über die Interstate 405, während mich eine Frage beschäftigte. Wer hätte die Goldmedaille für ruinierte Vormittage gewonnen? Tyler oder die Leiche in der Gerichtsmedizin?

Ich seufzte, schüttelte den Kopf und konzentrierte mich auf die Straße. Diese Preisverleihung würde nie stattfinden, ich konnte mich nicht entscheiden.

Doch mit jeder Meile, die ich zurücklegte, ließ die Spannung in meinen Schultern nach, und der Wahnsinn des Tages verblasste langsam. Es war, als würde mich die Einsamkeit der Wildnis magisch anziehen – wie eine Süchtige, die gleich ihren Dealer trifft. Die Stille dort oben war mein Reset-Knopf, mein persönlicher Sigmund Freud. Ich wusste, dass die Natur mit ihrer heilenden Kraft die Unruhe in meinem Kopf in kürzester Zeit wegtherapieren würde.

Die Luft wurde frischer und trug den belebenden Duft von Kiefernnadeln und feuchter Erde – ein kleiner Erholungsurlaub für jede Lunge, die täglich städtischem Smog ausgesetzt war. Ich beugte mich zum offenen Fenster, nahm einen tiefen Atemzug und ließ die sanfte Brise meine Haut streicheln.

Die Vorfreude stieg, während ich die Serpentinen hinauffuhr, die sich wie ein Band um steile Abhänge schlängelten. Manchmal brachen die Bäume auf und gaben eine schwindelerregende Sicht auf tiefe Täler oder Klippen frei, von denen schmale Wasserfälle in funkelnden Schleiern herabstürzten. Bis die Straße endete und mein roter Mini von sattem Grün verschluckt wurde. Hier würde jedes GPS versagen, doch ich brauchte keine Karte. Der Wald war ein alter Freund für mich.

Nachdem ich an einem überwachsenen Weg geparkt hatte, griff ich nach meiner Bauchtasche auf dem Beifahrersitz mit einer kleinen Wasserflasche, einem Müsliriegel und – natürlich – HemoBoost darin. Ich warf noch einen Sunblocker-Stift dazu und schnallte mir den Gurt um die Hüfte. Das Klicken der Tür, als ich ausstieg, war das letzte Geräusch der Zivilisation, bevor ich die Schlüssel in die Tasche meiner Jeans-Shorts steckte und meinen Zopf enger zog. Dann setzte ich einen Trekkingschuh vor den anderen. Der Boden war weich und federnd, und der Geruch von Harz überflutete mich mit einer Welle Nostalgie.

Mein Vater und ich waren oft zu langen Spaziergängen aufgebrochen, hatten Rehe beobachtet oder den Rufen von Eichelhähern gelauscht. Jeder Schritt, jeder Atemzug versetzte mich weiter in meine Kindheit zurück.

Ich bahnte mir einen Weg durch hohes Gras und dachte an die kostbaren Stunden, in denen nur Dad und ich existierten. Ich konnte fast sein Lachen hören, die Wärme in seinen Augen sehen, die Liebe fühlen, auch wenn die Jahre ohne ihn weiterzogen.

Ein paar Tränen versiegten mit einem lachenden Schluchzen. Dad hatte mir immer die wichtige Aufgabe übertragen, unsere Sandwiches einzupacken. Und wenn er mir den winzigen Rucksack auf den Rücken geschnallt und mich liebevoll seine kleine Pfadfinderin genannt hatte, war ich einfach nur glücklich und stolz gewesen.

Vorbei an bizarren Pilzen und wilden Beerensträuchern wanderte ich an einem Bach entlang, begleitet von seinem Plätschern. Das klare Wasser funkelte in der Sonne und reflektierte verschwommen den blauen Himmel, an dem ein Adler die Schwingen ausbreitete. Aber selbst in dieser Idylle verfolgte mich das Bild aus der Gerichtsmedizin. So lebendig, als stünde ich noch vor dem Unbekannten, der auf dem Stahltisch unter dem Leichentuch gelegen hatte.

Mein Mentor, Professor Dr. Richard Chapman, hatte ihn feierlich enthüllt und als John Doe vorgestellt, wie auf dem lieblosen Zettel an seinem steifen Zeh vermerkt. Mit geübtem Griff zog er das Skalpell über Johns athletische Brust und erklärte dabei jeden seiner Handgriffe. Ich konnte nur auf das auseinanderklaffende Fleisch starren, während vor meinem geistigen Auge ein knuspriger Truthahn auf einem Silbertablett schwebte, in dem ein Tranchiermesser steckte. Warum mir genau in diesem Moment das letzte Thanksgiving mit Dad einfiel – keine Ahnung.

Gemma sah besorgt zu mir herüber – sie musste bemerkt haben, dass ich kaum noch atmete. Und das lag nicht nur an diesem abartigen Formaldehydgestank.

»Du bist stärker, als du denkst«, wisperte sie mir ins Ohr, während ihre Augen wie gebannt an dem Körper hingen. Ein tiefer Seufzer folgte. »Ein Jammer. Warum ist der mir nicht vorher über den Weg gelaufen? Sieh dir den Körperbau an. Diese markanten Gesichtszüge. Seine Größe. Wie für mich gemacht. So eine Verschwendung. Den hätte ich nie wieder aus dem Bett gelassen.«

Okay, das war – schräg. Aber einfach total Gemma. Nur sie konnte so inbrünstig von einer Leiche schwärmen. Und bei mir so mühelos einen Würgereiz auslösen.

Im Gegensatz zu ihr fesselte mich nicht der attraktive Körper oder das scharfgeschnittene Gesicht des armen Kerls, der so würdelos auseinandergenommen wurde. Vielmehr weckte seine Geschichte mein Interesse. Wer mochte er gewesen sein? Ob ihn jemand vermisste? Abwesend verfolgte ich, wie Dr. Chapman das Skalpell wechselte, und stellte mir eine schwangere junge Frau vor, die am Fenster stand, ein kleines Kind auf dem Arm, den Blick sehnsüchtig in die Ferne gerichtet. Das machte mich traurig und ich merkte nicht sofort, dass die Stimme des Professors gedämpfter klang, weil meine Ohren rauschten. Als er seine Hand in Johns offenen Bauch gesteckt hatte, um die Leber zu entnehmen, konnte auch HemoBoost nicht mehr helfen. Nach ein paar hektischen Sprühstößen in die Nase war mir das Licht ausgegangen.

Die peinliche Erinnerung blieb zurück, während ich immer höher in die Wälder stieg. Ich wusste genau, wohin ich wollte. Der Weg am San Gabriel River entlang war eine meiner Lieblingsstrecken.

Ich nahm einen Schluck Wasser und setzte meinen Fuß fest auf den schmalen Pfad. Es würde vielleicht eine Stunde dauern, bis ich oben ankam, aber das war genau die Zeit, die ich brauchte, um den Rest des Tages hinter mir zu lassen.

Über mir spannten sich die Baumkronen wie ein schützendes Dach, durch das Sonnenlicht in goldenen Flecken auf den Weg fiel und wie ein Mosaik hin und her tanzte. Es gab nur mich und den Wald, den Rhythmus meiner Schritte, die sich mit seinen Klängen vermischten, dem Rascheln der Blätter, dem Zwitschern der Vögel ... bis er plötzlich aufbrach und mir mein Ziel präsentierte. Ich blieb stehen, reckte meine Glieder und stemmte die Hände in die Hüfte. Ich kannte den Anblick. Aber jedes Mal aufs Neue zauberte er mir ein Lächeln aufs Gesicht.

Majestätische Kiefern säumten die Grenzen einer Waldlichtung, an denen Eichhörnchen auf und ab huschten. Unter ihrem Schatten wucherten Farne, deren hellgrüne Wedel sich wie Fächer ausstreckten. Auf der Wiese explodierten Farben von Wildblumen – Lupinen, Mohn und Mariposalilien. Über den Blüten tanzten Schmetterlinge begleitet vom Summen der Bienen und feinem Windrauschen. Irgendwo klopfte ein Specht zu dem Konzert, als gäbe er den Takt an.

Aus dem Gestrüpp erhob sich ein Blockhaus, das dunkle Holz betupft mit Moos. Auf der kleinen Veranda schwang ein Schaukelstuhl sanft in der leichten Brise, und vergitterte Fensterscheiben warfen funkelnde Lichtreflexe zurück. Ich schirmte die Augen mit der Hand ab und ließ sie weiter zu dem Maschendraht wandern, der einen Schrottplatz flankierte. Dieser krasse Gegensatz wirkte wie ein Tintenklecks, der mitten in ein Gedicht geplatscht war.

Trotzdem hatte ich mich nicht in einer Märchenwelt verirrt, und das Blockhaus war auch keine verwunschene Hütte. Sonst hätte es kaum Solarpaneele auf dem Dach, eine Wasserleitung, die unterirdisch den alten San Gabriel anzapfte, oder allen Komfort, den man zum Wohnen braucht. Zwar gab es keine elektrische Heizung – aber der offene Kamin sorgte für Wärme in den Wintermonaten, die hier oben bitterkalt werden konnten. Das wusste niemand besser als Dr. Ronald Jackson, der von allen nur Jack genannt wurde und seit über zwanzig Jahren in dieser Abgeschiedenheit lebte. Er war ein ehemaliger Kollege und Freund meines Vaters gewesen, ein brummiger Bär von Mann, der sein Herz aus Gold hinter trockenem Humor und Ruppigkeit versteckte. Genau wie Dad. Vielleicht war Jack deshalb so etwas wie ein Ersatz-Vater für mich geworden.

Er hatte seine Karriere als plastischer Chirurg hinter sich gelassen und die Welt von Botox und Fettabsaugung gegen unverfälschte Natur und – einen Wertstoffhof – getauscht. Für ihn war das kein Geschäftsprojekt, sondern eine Art Hobby. Nachdem er jahrzehntelang Brüste vergrößert und Hintern gestrafft hatte, fand er Befriedigung darin, ausrangierte Dinge in etwas Zweckmäßiges umzuformen – eine andere Art von Kunst.

Ich steckte die Finger durch den Maschendraht und ließ den Blick über Metallschrott und rostige Autokarossen schweifen. Als kleines Mädchen hatte ich mich davon angezogen gefühlt und mir mehr als eine Schnittwunde eingehandelt. Das Gebrüll hatte den beiden Männern jedes Mal einen kleinen Weltuntergang beschert.

Mein leises Lachen wurde jäh von einem durchdringenden Knarren unterbrochen. Die Tür zur Hütte war aufgegangen und Jack trat auf die Schwelle. Er starrte zu mir herüber, als wäre ich ein Alien, das eben mit seinem Raumschiff ein Loch in seinen Rasen gebrannt hatte.

»Jack«, rief ich. »Schön, dich zu sehen.«

Er zog die Augenbrauen zusammen. »Kaum zu glauben, nach über einem Jahr.« Seine Stimme klang wie das Krächzen eines Raben. »Alles in Ordnung bei euch da unten?«

»Alles bestens«, schwindelte ich.

»Ich habe deinen Wagen nicht gehört.« Er schaute sich suchend um. »Bist du zu Fuß gekommen?«

Ich überstreckte den Daumen zur Schulter. »Steht unten am Willow’s Whisper. Etwas Bewegung kann meiner Figur nicht schaden.«

Eine lahme Ausrede – sein düsterer Blick sprach Bände. Aber spontan war mir nichts Besseres eingefallen. Ich wollte ihm nicht erzählen, dass der Fußmarsch ein verzweifelter Versuch gewesen war, meinem Ex oder einer Leiche davonzulaufen. Tyler hatte er nie leiden können und von meinem Medizinstudium wusste er nichts – für den Fall, dass ich es mir anders überlegt hätte. Außerdem durfte man als dünnhäutiger Frischling von einem Chirurgen kein Mitgefühl erwarten.

Er musterte mich flüchtig und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Als ob so ein Hühnchen es nötig hätte. Deine Gene sorgen schon dafür, dass du in Form bleibst. Wenn wir davon sprechen ... wie geht es Claire?« Der Name meiner Mutter schlüpfte ihm nur zögernd über die Lippen.

»Blendend«, brummte ich. »Du kennst ja die Geschichte mit dem Unkraut.« Warum musste er ausgerechnet von ihr anfangen? Als ob der Tag nicht schon mies genug wäre.

Er schob die Hände in die Taschen seiner Arbeitshose und räusperte sich. »Ist sie noch allein? Oder hat sie wieder geheiratet?«

Ich ließ die Augen an ihm hinabwandern. »Hast du deinen weißen Kittel wieder aus dem Schrank geholt?« Er schnalzte mit der Zunge. »Chirurgie ist Geschichte. Sie hat mich reich gemacht, aber nie befriedigt.«

Ich nickte triumphierend. »Siehst du. Und genauso verhält es sich bei Mom mit der Ehe.«

Jack drehte sich zu den San Gabriel Mountains, sichtlich genervt von meinem Zynismus. Er deutete flüchtig auf den höchsten Gipfel. »Sieh dir unseren Old Baldy an. Ist der Ausblick nicht der Wahnsinn?«

Während mein Blick den Mount Saint Antonio erfasste, tat ich es wieder. »Aber du bist nicht von deiner Mulholland Villa in eine Hütte gezogen, nur um die Aussicht zu bewundern?«

Er wedelte energisch mit der Hand, als wäre meine Frage eine lästige Fliege, die sich einfach nicht verscheuchen ließ. »Warum nicht? Hier oben inspiriert mich die Natur. Gibt es einen besseren Lehrer oder talentierteren Künstler?« Die Sonne selbst schien ihm diesmal Rückendeckung für seine Ausrede zu geben. Die weißen Gipfel in goldenes Licht getaucht, schwebten wie Heiligenscheine über der gezackten Formation. Bei diesem Anblick verblasste das Rätsel um den Mann, der sich selbst vom königlichen Star-Chirurgen zum Schrottbaron degradiert hatte.

Ich verspürte kein Bedürfnis weiterzubohren, dafür aber ein Ziehen in den Waden und den Wunsch, mich einen Moment zu setzen.

Ich spähte zum Schaukelstuhl auf der Veranda und marschierte los, doch Jack trat mir in den Weg. »Heute kann ich dich nicht hereinbitten«, sagte er hastig. »Meine Toilette ist verstopft. Damit willst du nichts zu tun haben, vertrau mir.«

Seufzend trat ich gegen einen Tannenzapfen. »Darauf wäre es heute auch nicht mehr angekommen.«

»Sieht nach einem miserablen Tag aus«, stellte er trocken fest und sah dem Zapfen nach.

Ich nickte nachdrücklich und wartete auf Fragen. Doch es folgten keine.

Das kam mir komisch vor. Normalerweise hätte Jack mich jetzt mit diesem Röntgenblick angesehen, der einen alles gestehen lässt – selbst wenn es nichts zu gestehen gibt. Doch er blieb aus. Stattdessen wies er zur Sonne, die immer tiefer hinter die Berggipfel sank.

»Denkst du, eine Nachtwanderung würde dir den Tag retten? Oder warum sonst bist du noch hier?«

Diese Fragen verwirrten mich. Gut, bald würde es dämmern. Aber wozu der Stress? Es blieb noch genügend Zeit.

»Besser, ich bring dich zu deinem Wagen«, meinte er und packte meinen Arm. »Wir nehmen den Transporter. Auf geht’s.«

»Willst du mich loswerden?« Ich drehte mich lachend aus seinem Griff und bemerkte, wie sein Blick flüchtig zur Hütte huschte. Wahrscheinlich wäre mir das entgangen, wenn er sich nicht so merkwürdig verhalten hätte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

»Die Nacht wird dich auf den letzten Metern überraschen«, behauptete er scharf. »Wir sind hier im Angeles Forest, nicht im Valley Village Park.«

Ich zögerte und tat so, als würde ich über das Angebot nachdenken. In Wirklichkeit suchte ich in seinem Gesicht nach einem Hinweis, warum er mich vom Hof haben wollte. »Mach dir keine Mühe«, sagte ich eilig, als ich bemerkte, dass ich ihn mit verengten Augen angestarrt hatte. »Das schaffe ich locker, bevor es dunkel wird. Sogar hüpfend auf einem Bein.«

»Stur wie eh und je«, brummte er. »Dann mach dich besser sofort auf den Weg.«

Nach einem für meinen Geschmack zu schnellen Abschied ging ich mit dem Gefühl, nicht willkommen gewesen zu sein, und verstand nicht, warum. Jack hatte immer eine Tür für mich offengelassen. Hatte ich ihm einen Grund gegeben, sie jetzt zuzuschlagen?

Oder hatte er etwas dahinter zu verbergen ...?

Hinterhalt

Entschlossen marschierte ich über die Wiese und warf einen Blick zurück. Jack stand regungslos vor seiner Hütte und sah mir hinterher. War da Erleichterung auf seinem Gesicht?

Ich ließ die Lichtung hinter mir und bog wieder auf den schmalen Pfad.

Nach wenigen Metern blieb ich stehen und spähte angestrengt zwischen den Bäumen hindurch. Es war unmöglich, einfach wegzugehen und mein seltsames Gefühl zu ignorieren. Aus dieser Perspektive bot sich mir ein direkter Blick auf den Schrottplatz. Hinter Autos mit Einschusslöchern und zerborstenen Windschutzscheiben sowie Stapeln aus zerkleinertem, verrostetem Metall lag die Hütte versteckt.

Es gab keinen richtigen Weg, also bahnte ich mir eine Schneise durch das dichte Gestrüpp, das sich entlang des Zauns erstreckte. Die Farne und Gräser wehrten sich nach Kräften, ein Blatt klatschte mir hart ins Gesicht. Leise fluchend rieb ich meine Wange und fragte mich, was ich mit dieser Spionageaktion überhaupt bezweckte.

Vielleicht war ich paranoid, dachte mir Unsinn herbei und verdächtigte Unschuldige? Vermutlich hatte Jack einfach nur seine Ruhe gebraucht, Herrgott noch mal. Gerade als ich umkehren wollte, vermischte sich das Rascheln der Blätter mit einem dumpfen Summen. Reflexartig ging ich hinter einem Farn in die Hocke und lauschte. Da waren Stimmen.

»Bleib hier oben, und du bist sicher«, hörte ich Jack sagen.

Meine Ohren verwandelten sich praktisch in Rhabarberblätter.

»Das ist unmöglich«, widersprach eine samtene, männliche Stimme. »Wie soll ich meinen Bruder finden, wenn ich nicht nach ihm suche?«

»Aber es ist zu riskant für dich. Was ist, wenn sie deine Fährte aufnehmen?«

»Wenn sie mich hier finden, ist es riskant für dich. Keiner gewinnt. So oder so.«

Mein Herz hämmerte mir an die Rippen. Ich hatte keine Ahnung, ob es an der Stimme lag, dem Fremden selbst, oder an dem, was er sagte. Etwas in mir schrie, dass ich sofort abhauen sollte. Doch Neugier hatte sich wie ein Bodyguard über jegliche Vernunft geworfen.

»Wo willst du Robin suchen?«, fragte Jack. »Los Angeles ist kein Dorf. Oder funktioniert deine Gabe wieder?«

»Nein.« Das klang niedergeschlagen. »Die Angst um ihn blockiert alles. Keine Chance auf irgendeinen Hinweis.«

Worüber, zur Hölle, redeten die beiden? Waghalsig rückte ich ein Stück näher, um kein Wort zu verpassen und um einen Blick auf den geheimnisvollen Fremden zu werfen, da ich es vor Spannung kaum noch aushielt. Geräuschlos umfasste ich einen Farnwedel und drückte ihn nach unten.

Neben Jacks Arbeitshosen waren ein Paar Beine in Jeans und weißen Turnschuhen zu sehen, die vor einem rostigen Lincoln auf und ab gingen. Der Fremde stoppte, lehnte sich an die Karosse und brachte sie damit zum Kippen. Er strauchelte, fing sich aber elegant auf. Ich unterdrückte ein Kichern und reckte den Hals, um sein Gesicht sehen zu können. Doch er wandte sich ab. Alles, was ich bekam, war ein weißes Shirt und kurze, kakaobraune Haare, die in der Abendsonne glänzten. Der Farbton verursachte ein Ziehen in meiner Brust, und noch bevor er sich umdrehte, klickte es bei mir. Ich duckte mich blitzartig und der Wedel schnappte zischend zurück. Was in aller Welt ... das konnte nur eine Sinnestäuschung sein. So etwas wie eine Fata Morgana. Meine Nackenhaare sträubten sich. Hatte Gemma recht? Nahm mich seine Rückkehr so mit, dass ich ihn mir einbildete und sogar hier oben neben Jack stehen sah?

Ich wusste, es war falsch. Sogar dumm. Angetrieben von Neugier und Verwirrung (keine Ahnung, was überwog), richtete ich mich langsam auf, teilte wieder die Zweige – und diesmal sprang mir die Gewissheit direkt ins Gesicht.

Ich verlor das Gleichgewicht und landete hart auf meinem Hintern. Da drüben stand ...Tyler. Tyler Hunt.

Zuerst konnte ich nur hyperventilieren. Dann schrie wieder die Stimme in meinen Kopf. LAUF! JETZT! Diesmal gehorchte ich, ohne zu zögern, und rappelte mich auf. Das heißt, ich wollte es. Doch gleich beim ersten Schritt versagten meine Beine und ich sackte zurück unter den Busch. Sie fühlten sich an wie auf einem Ameisenhaufen. Mit der Faust zwischen den Zähnen pumpte ich mit den Füßen, um das Blut wieder zum Fließen zu bringen. Es nützte nichts, alles blieb taub. Bei einem Geräusch setzte mein Herz einen Schlag aus. Aber es war nur ein Vogel, der sich zwitschernd über mir niedergelassen hatte. Noch bevor ich erleichtert ausatmen konnte, gaben die Gräser ein zartes Rascheln von sich und er flog aufgeschreckt davon.

Jemand sagte »Hey«, und ich stellte das Atmen ein. Tyler reckte den Kopf über den Farn und strahlte wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum. »Wer bist du denn? Hast du dich verlaufen?«

Ich zuckte, als er seine Arme durch die Wedel schob und auseinander zwängte. Sonst konnte ich ihn nur anstarren.

Seit unserer Begegnung am Morgen musste eine Menge geschehen sein. Er hatte sich einen anständigen Haarschnitt zugelegt, der ihm besser stand als die langen Zotteln. Und scheinbar war sogar Zeit geblieben, ein paar Manieren aufzutreiben. Aber das trug wenig zu meiner Entspannung bei. Sein charmantes Lächeln und der höfliche Ton machten mir eine Heidenangst. Jacks Gesicht tauchte neben ihm auf. Der sonst so gelassene Mann schien aufgeregt und erinnerte an einen Karpfen, der etwas sagen wollte, aber nicht konnte. Dennoch gab mir seine Nähe Sicherheit und mein Gehirn war jetzt fähig, Tylers Frage zurückzuspulen. Irgendetwas passte daran nicht.

»Darf ich dir helfen?« Tyler streckte den Arm zu mir herunter.

»Danke, verzichte«, grummelte ich, während ich seine gebotene Hand musterte, als säße darin ein giftiges Insekt. »Du hast mir schon genug geholfen.«

Er zog sie zurück und warf einen flüchtigen Blick darauf. »Entschuldige bitte, ich wollte dich keinesfalls belästigen.«

»Nicht?« Ich riss die Augen auf. »Das ist komisch. Früher hattest du doch auch kein Problem damit.«

Tyler kratzte sich am Kopf. »Echt? Dann weißt du mehr als ich. Kannst du mir auf die Sprünge helfen?«

Kurz blieb mir der Mund offenstehen. »Sag mal, spinnst du? Nach allem, was du getan hast, kommst du mir so? Deine Spielchen kannst du dir sparen, Prince Charming. Den Ahnungslosen nimmt dir keiner ab. Selbst wenn du deine Stimme verstellst.« Es war mutig, so mit ihm zu reden. Aber das traute ich mich nur, weil wir nicht allein waren.

Obwohl Jack nichts anderes fertigbrachte, als zu starren.

Tyler hob beschwichtigend die Hände. »Hey. Wow. Was hat dich denn so sauer gemacht?«

Ich schnaubte. »Jetzt tu doch nicht so erschüttert. Ist das deine neue Masche, um an mein Geld zu kommen?«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich und es sah fast so aus, als hätte er Mitleid mit mir. Aber ich kannte Tyler. Lucifer war ein Debütant gegen ihn.

»Tut mir leid, dass ich dich so aufrege«, sagte er und drückte sich die Handfläche an die Brust. »Aber sei versichert, ich habe keinerlei Interesse an deinem Geld.«

Oh, er was so gut. Der perfekte Schauspieler, genau wie früher. Sogar besser. Ich hätte die Nerven verlieren müssen, aber es ging nicht. Im Gegenteil. Ich fühlte eine merkwürdige Ruhe in mir aufsteigen. Sogar mein Augenlid hörte auf zu zucken. Er streckte zögernd seine freie Hand aus, und diesmal ließ ich mir von ihm aufhelfen. Vorsichtig schüttelte ich meine Beine – das Blut floss wieder.

»Ich will dir nicht zu nahetreten«, sagte er, die Hand noch immer am Brustbein, »aber wäre es möglich, dass du ein wenig irrational reagierst? Wir sehen uns heute zum ersten Mal«, er verbeugte sich leicht, »zu meinem großen Bedauern, wenn ich das anmerken darf. Folglich gibt es keinen Anlass, wütend auf mich zu sein.«

Das war der Punkt, an dem ich begann, an meinem Verstand zu zweifeln. Ich wusste genau, was er tat, war mir seiner manipulativen Taktiken bewusst. Aber ich begriff nicht, warum es mir nichts ausmachte, dass er mich für dumm verkaufen wollte.

»Dein Ego hat es nicht verkraftet, dass ich dich verlassen habe«, flüsterte ich mit zitternder Stimme. »Ist das so ein kindisches Rache-Ding? Willst du mich in den Wahnsinn treiben, um deine Kontrolle zurückzubekommen?«

Mit einem genervten Schnaufen zuckte Tyler die Schulter und ließ endlich seine verdammte Hand herunterfallen. »Okay, ich geb auf. Es führt zu nichts.«

Jack erwachte aus seiner Schockstarre und fuchtelte sich durch das Gestrüpp. »Sky«, sagte er eindringlich, während sein Blick zwischen dem Möchtegern-Johnny Depp und mir hin und her flatterte. »Es ist nicht so, wie es aussieht.«

»Nein?« Jetzt spürte ich Wut in mir aufwallen. »Wie dann?« »Bist du plötzlich der Meinung, der da wäre ein guter Kerl? Das würde ich mir noch mal überlegen, bei dem rührseligen Bruder-Scheiß, den er dir verkauft hat. Es existiert kein Robin. Tyler ist ein Einzelkind!«

Jack stieß einen tiefen Seufzer aus, der sich wie ein Ächzen anhörte. Er wirkte hilflos. Und das machte mich rasend. »Du stehst hier und siehst, dass er uns etwas vormacht – und tust nichts? Er ist und bleibt ein Lügner, muss ich dir das ernsthaft erklären?«

Ich sah wütend zu Tyler, erwartete, dass er jetzt endlich seine Maske fallen lässt. Aber er spielte weiterhin den netten Kerl und schaute wie ein Welpe, der nicht verstand, warum er nicht auf die Couch darf. Vorsichtig hob er den Zeigefinger.

»Jetzt bin ich ganz raus. Wer ist Tyler?«

Ein Keuchen entfuhr mir. Was für einen perfiden Plan verfolgte er mit seiner Scharade? Und welche Rolle spielte Jack dabei? Warum ließ er sich darauf ein? Das ergab keinen Sinn. Ich sah Jack an. Dann wieder Tyler. Jack.

»Hast du den Verstand verloren?«, brach es aus mir heraus. »Wo bleibt dein Versprechen, diesem Mistkerl den Kragen umzudrehen, sollte er sich noch einmal in meine Nähe wagen? Du glaubst den ganzen Blödsinn, obwohl du weißt, dass nichts davon wahr ist. Was ist nur in dich gefahren?«

»Sky, lass dir erklären ...«, versuchte Jack mich zu beruhigen.

Wie ein trotziges Kind hielt ich mir die Ohren zu. Mein Bedarf war gedeckt. Ohne ein weiteres Wort wirbelte ich herum und rannte über die dicht bewachsene Wiese, als wäre sie ein englischer Rasen. Blätter, Stängel, Äste, sie schnitten wie kleine Messer in meine Haut, aber ich spürte nichts. Außer dem unbändigen Verlangen, diesem Irrsinn zu entkommen.

Dämmerung

Die Hütte lag schon ein großes Stück hinter mir, dennoch rannte ich immer weiter durch die Bäume, zurück über den schmalen Pfad. Der Abend brachte kaum Abkühlung; die Luft war drückend und knisterte, das Holz knackte. Die unheimlichen Geräusche ließen meine Fantasie mit mir durchgehen. Überall sah ich Schatten zwischen den Ästen, die mich beobachteten, hörte sie flüstern. Es war gruselig, fast wie in dem Film, den Tyler damals als harmlos abgetan hatte. Ich war naiv gewesen, hatte ihm vertraut und mich darauf eingelassen. Dabei hätte ich schon an seinem blöden Grinsen und dem Titel erkennen müssen, dass etwas nicht stimmt. Tanzende Teufel verheißen selten Gutes.

Das Abendrot hatte sich in den Wipfeln der Douglasien verfangen und vermischte sich allmählich mit einem tiefen Violett. Ich beschleunigte das Tempo und fragte mich, wie ich so dumm sein konnte, Jacks Angebot abzulehnen. Hätte er mich zu meinem Wagen gebracht, würde ich jetzt nicht allein in der Dämmerung durch die Wildnis stolpern. Die atmende Erinnerung an die schlimmsten Jahre meines Lebens wäre mir erspart geblieben. Und die schwelende Angst, dass Tyler dort anknüpfte, wo sie geendet hatten.

Ich verfluchte diesen Tag, diesen Wald und mich selbst, die sture Kuh in den kurzen Jeans, die durch die Bäume schoss, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her.

Ein roter Punkt in der Ferne, der aus der dunkelgrünen Umgebung herausstach, verhinderte im letzten Moment einen hysterischen Anfall. Erleichterung durchflutete mich. In wenigen Minuten würde ich in meinem Mini Cooper sitzen und diesen miserablen Tag hinter mir lassen.

Ich wurde langsamer, schob die Hände in die Taschen meiner Shorts, doch statt einem Schlüsselbund bekam ich nur feuchtes Polyester zu fassen. Schnaufend blieb ich stehen, klopfte meine Hüften ab, durchwühlte den Bauchbeutel und stülpte sämtliche Hosentaschen heraus. Nichts. Unter wilden Selbstbeschimpfungen, gegen die ›sture Kuh‹ ein Kompliment war, kehrte ich um. Mein Blick fuhr hektisch über die Erde, während ich den Pfad zurücklief. Durch die Bäume fiel kaum noch Licht und bald hielt ich jeden Stein und jedes Blatt für meine Schlüssel.

Irgendwann zwang mich die Erschöpfung, einen Moment zu rasten. Ich beugte den Oberkörper nach vorne und stützte die Hände auf die Knie. An meinen Lidrändern fing es an zu flimmern, gleichzeitig drängte sich diese typisch kalte Übelkeit vom Magen herauf.

Ich taumelte zu einem Baum, rutschte mit dem Rücken an seinem moosbewachsenen Stamm hinunter und legte den Kopf zwischen die Knie. Als ich nach meiner Tasche tastete und hoffte, dass HemoBoost diesmal seinen Job erledigte, war es schon zu spät. Neben dem Hornissenschwarm unter meiner Schädeldecke waren ein paar weiße Turnschuhe das Letzte, was ich wahrnahm. Dann traf mich die Dunkelheit wie ein Güterzug.

Aus weiter Entfernung hörte ich immer wieder meinen Namen. Skylar. Skylar. Die Stimme, die ihn rief, klang wie ein Echo, das von Bergen zurückgeworfen wurde. Mir war, als schwebte ich über den Gipfeln. »Skylar … komm zu dir.«

Die Situation fühlte sich verändert an. Ich merkte, dass ich auf der Erde lag, etwas tätschelte abwechselnd meine eine, dann die andere Wange, jemand redete beruhigend auf mich ein. Ich begriff nicht so ganz. Daher hielt ich es für klüger, die Lider vorerst nur einen Spalt zu öffnen. Tyler kniete neben mir, die Stirn voller Sorgenfalten. »Hey. Da bist du ja wieder.«

Schlagartig riss ich die Augen auf, und bevor mein Gehirn das Signal »Gefahr« überhaupt erst senden konnte, schubste ich ihn von mir. Er strauchelte, fing sich aber schnell, wobei er überrascht blinzelte. Ich hingegen strampelte wie ein Käfer auf dem Rücken. Laub stob in die Höhe, etwas stach mich in die Handfläche, während ich rückwärts ruderte. Aber ich nahm nur den Schreck wahr, der wie Strom durch meinen Körper jagte.

»Wo ist Jack?«, fragte ich mit schriller Stimme.

Er hob kurz die Schultern. »Ich musste schnell reagieren und bin allein hinter dir her.« Er klang, als wäre das eine Heldentat.

Ich zuckte noch weiter zurück, presste meinen Rücken an einen Baumstamm. Mir war klar geworden, dass es nur uns beide gab. Hier. Im Wald. In dem es immer düsterer wurde. Außerdem hing die Tatsache in der Luft, dass ich ihn gestoßen hatte. Natürlich nicht vorsätzlich, nur aus Reflex. Aber ich wusste aus Erfahrung – es würde ihn einen Dreck scheren. Jeder Blick, der seiner Meinung nach deplatziert war oder ein falsches Wort – für ihn reichte das, um einen harmlosen Moment in eine Vorlesung über Respekt zu verwandeln. Ich zog automatisch den Kopf ein, um mich auf Ohrfeigen vorzubereiten. Oder ›Ermahnungen‹, wie er seine ›Erziehungsmaßnahmen‹ stets betitelt hatte.

Er beobachtete mich genau. Doch anders als sonst machte er keine Anstalten, die Hand zu heben. Nicht eine Geste deutete darauf hin, mir eine Lektion ›Gehorsam‹ zu erteilen.

»Du hast Angst vor mir.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, als ob er über die Sportnachrichten sprechen würde. »Warum eigentlich?«

Ich schluckte hart. Die Erinnerungen an alte Szenen wich der gegenwärtigen Erwartungsangst.

»Hör zu«, sagte er. Seine Stimme war weich, fast sanft, und das machte sie nur noch gefährlicher. »Ich hab dir nichts getan. Heute nicht, gestern nicht – und das wird auch so bleiben. Also, warum tust du so, als wäre ich ein Monster?«

Ich rappelte mich auf, ließ ihn dabei nicht aus den Augen.

»Warum sagst du nichts? Ist wirklich alles okay?« Er kam einen Schritt näher, ich machte zwei zurück.

Da war noch ein leichtes Pfeifen in meinen Ohren, aber die Bäume drehten sich nicht mehr. »Alles bestens«, antwortete ich schnell. »Du kannst beruhigt gehen.«

»Schlechte Idee.« Er klang besorgt und gleichzeitig bestimmt. »Was ist, wenn du wieder zusammenklappst? Wäre es nicht besser, ich bringe dich nach Hause?«

»Vergiss es«, stieß ich hervor. »Wie kannst du auch nur annehmen, dass ich dir vertrauen würde, nach allem, was passiert ist?

---ENDE DER LESEPROBE---