1,99 €
Die junge Robin MacThane versucht sich in einem abgelegenen Küstenhaus von einer gescheiterten Beziehung und dem Druck ihrer Karriere zu erholen. Doch Goldwater ist ein Ort voller dunkler Legenden. Die Geschichten über die Meermönche und den mysteriösen ›Meerbischof‹ klingen für sie zunächst nach Aberglauben, doch sie verfolgen Robin bis in ihre Träume, die zudem erschreckend real wirken. Dann entdeckt sie merkwürdige Spuren am Strand, und als die Flut immer näher rückt, steigt in Robin die Angst, dass das Meer sie für immer verschlingen wird! Schließlich muss sie erkennen, dass jede Legende einen wahren Kern hat - und das dahinter das kalte Grauen lauern kann!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 126
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Das Gold der Meermönche
Vorschau
Impressum
Das Gold der Meermönche
von Sophia Benjamin
E-Mail von Tilly Ott:
Liebe Miss MacThane,
(ja, ich weiß, Sie sind jetzt Mrs. Roscoe, aber für mich bleiben Sie immer Robin MacThane.)
Ich bin so froh, dass alles ein gutes Ende genommen hat. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich Sie vor dem Haus nicht gewarnt habe. Aber mein Mann wird immer gleich ärgerlich und sagt, ich solle andere Leute mit meinen Spinnereien in Ruhe lassen. Also wünsche ich Ihnen und Aidan viel Glück für die Zukunft. Sie haben mit ihm einen guten Mann bekommen, einen wirklich guten Mann, lassen Sie sich da nur nicht irremachen. Fahren Sie bloß niemals wieder ans Meer, sonst erwischen DIE Sie am Ende doch noch!
Robin fröstelte, als sie die E-Mail las. Es war ja gut gemeint von Tilly, aber die Zeilen weckten Erinnerungen in ihr, die sie am liebsten verdrängt hätte. Sie spürte den eiskalten, sehnigen Griff, der ihren Knöchel umschlang, und vor ihren Augen erschien das Gesicht des Albtraums, das sie aus dem Nebel heraus angestarrt hatte ...
Was sie angestarrt hatte, waren Augen gewesen, obwohl Robin eigentlich nur die Augenhöhlen gesehen hatte, schwarz und ausgefranst wie die Löcher in einem verrottenden Robben-Kadaver, so groß, dass ein Tennisball in jede hineingepasst hätte, und erfüllt von einem gelblich-grünen gallertigen Leuchten, das die Stelle von Iris und Pupille einnahm.
Von einem fahlen Weiß wie ein Fischbauch war das Gesicht gewesen, übersät mit schwarzen Blattern, und auf Schwarz und Weiß gleichermaßen blühte in Flecken ein widerwärtiger grauer Pelz wie Schimmel auf einer feuchten Mauer.
Selbst jetzt, da die Geheimnisse von Goldwater vor ihr lagen wie ein offenes Buch, konnte sie nicht völlig an deren Wirklichkeit glauben.
Sie trat ans Fenster und blickte hinaus auf die am Abend hell erleuchteten Straßen und Häuserreihen von Augusta, der Hauptstadt von Maine. Nichts an der geschäftigen, modernen Stadt erinnerte an Goldwater und die schmutzigen Geheimnisse, die unter den Wassern des Nordatlantiks verborgen lagen. Hier war alles Licht und Vernunft und Realität. Hier konnte sie sich einbilden, sie hätte die schäbige kleine Stadt am Meer weit, weit hinter sich gelassen.
Aber das stimmte nicht. Sie hatte etwas aus Goldwater mitgenommen: ihren Ehemann, Aidan Roscoe. Er würde immer eine lebende Verbindung zu McStrattons Close mit seinen rätselhaften Schrecknissen darstellen ...
†
»Bist du wirklich sicher, Robin, dass du das willst?«, fragte Mabel, als der Wagen der beiden Frauen auf die Landstraße nach Goldwater einbog. »Ich meine, es ist sehr einsam dort, und das Wetter kann sich schnell ändern, selbst jetzt im Hochsommer. Bei Sturm und Unwetter ist die Küste geradezu unheimlich.«
»Wenn ich dort einsam bin, ist mir das nur recht«, erwiderte die zierliche dunkelhaarige junge Frau auf dem Beifahrersitz.
Sie senkte das Seitenfenster ab und genoss die Luft. Die war hier trotz der Hochsommerhitze bedeutend frischer als in der Hauptstadt Augusta mit ihren Industriedämpfen und Autoabgasen, und die Landschaft des ländlichen Maine war an einem sonnigen Tag Anfang August geradezu unwirklich schön.
»Verstehst du nicht?«, fuhr sie fort. »Ich will jetzt niemand von der Clique sehen. Ich will nicht jeden Tag irgendwelchen Freunden und Bekannten erklären müssen, warum es mit Geoffrey und mir nicht geklappt hat. Und ich will endlich wieder in Ruhe malen und zeichnen.«
In dem Jahr mit Geoffrey war sie nie richtig zum Malen gekommen, und man merkte es, wenn eine Künstlerin eine Weile lang nur halbherzig arbeitete. Auftragsarbeiten brachte sie zustande wie eh und je, aber ihre wirklich künstlerisch wertvolle Arbeit verwelkte wie eine vernachlässigte Pflanze. Kritiker merkten so etwas. »Die anfangs so vielversprechende junge Malerin Robin MacThane ...«
Geoffrey hatte das nicht eingesehen. Er hatte immer gemeint, sie habe doch genug Zeit zum Malen, wenn er anderweitig beschäftigt war. Aber die Arbeit an einem Gemälde konnte man nicht aufnehmen und weglegen wie einen Strickstrumpf. Ihre Arbeit erforderte Konzentration, und wirklich konzentrieren konnte sie sich nur, wenn sie sicher sein konnte, den ganzen Tag nicht gestört zu werden. Nur dann begann der Flow, die kreative Energie, zu rauschen.
Trotzig fügte sie hinzu: »Und außerdem ist Maine keine Wildnis.«
»Hast du eine Ahnung!«, widersprach Mabel. »Ich war nur einmal bei den Otts und hatte das Gefühl, auf dem Mond zu sein. Die haben nicht einmal einen Fernsehapparat! Bloß das Radio, um den Seewetterdienst abzuhören. Elektrizität gibt's nur, wenn du den Generator auftankst; Wasser vom Pumpbrunnen und zum Waschen ein Waschtisch ohne Hähne. Und diese Menschenleere! Allein würde ich dort niemals wohnen wollen.«
»Ich bin nicht allein«, entgegnete Robin. »Du solltest Boris nicht vergessen.«
Der Chow-Chow, der in seiner Reisebox im Fond lag, hob den Kopf, als er seinen Namen hörte, und bellte kurz, als wollte er sagen: »Keine Sorge, ich bin da! Immer in Rufweite!«
Boris war der beste Bodyguard, den sich eine alleinstehende Frau wünschen konnte. Sein mähnenumwallter Kopf war gewaltig, und er hatte Pranken wie Pizzateller. Er hatte beträchtliche Ähnlichkeit mit einem lebensgroßen Plüschlöwen, aber so dekorativ er auch aussah, als Wach- und Schutzhund war er nicht zu unterschätzen.
Seine Zähne waren scharf und seine Kiefer stark, und wenn er sich oder sein Frauchen angegriffen fühlte, zögerte er keine Sekunde, sie beide zu verteidigen.
Kurz bevor sie auf die Landstraße nach Goldwater abbogen, hielt Mabel an einer Tankstelle an. Während sie den Tank füllte, führte Robin ihren Hund zu einem kurzen Spaziergang aus.
Dabei sprach sie ein ungepflegter alter Bursche an, der offenbar seine Tage damit verbrachte, auf einem Korbstuhl neben dem Süßwaren-Automaten zu sitzen und das Kommen und Gehen der Kunden zu beobachten.
Er nahm seinen Zigarrenstummel aus dem Mund und nuschelte, wobei er sehr hässliche, schief stehende Zähne entblößte: »Da wird Ihr Hund aber keine Freude haben, wenn Sie mit ihm an die Goldwater-Küste fahren.«
Sie war überrascht, musste aber zugeben, dass das höchstwahrscheinlich stimmte. »Er ist eben ein typischer Chow-Chow. Die mögen alle kein Wasser. Und am Meer waren wir überhaupt noch nie. Daher würde es mich nicht wundern, wenn ihm dort zunächst alles verdächtig vorkommt.«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit Chow-Chow zu tun. Hunde können die Küste von Goldwater nicht ausstehen – alle Hunde, egal, welcher Rasse. Sie rennen am Strand auf und ab, winseln und knurren und klemmen den Schwanz ein. Und wollen Sie wissen, warum? Sie wittern den Meerbischof und seine Mönche.«
»Meerbischof? Mönche?«, wiederholte sie erstaunt.
»Nun ja, so etwas wie Wassermänner, nur eben im Ozean. Meeresgötter. Oder See-Dämonen, wie Sie wollen. Bei Flut schwimmen sie aus der Tiefe herauf. Und dann« – er grinste breit in einer Art wollüstigen Vergnügens – »fressen sie alles, was warmes Blut hat. Hunde. Menschen auch. Junge, schöne Frauen. Solche wie Sie.«
Glücklicherweise blieb es Robin erspart, dem widerwärtigen Gnom eine Antwort zu geben, denn Mabel saß schon wieder am Steuer und hupte, um sie zu sich zu rufen.
Robin beeilte sich, samt Hund ins Auto zu kommen.
»Was wollte die alte Vogelscheuche von dir?«, fragte Mabel, während sie Gas gab.
Robin hatte keine Lust, das ebenso absurde wie unerfreuliche Gespräch wiederzugeben. Sie antwortete nur kurz: »Irgendwas wegen Boris. Hab ihm nicht zugehört.«
†
Die Sonne hatte eben erst den Zenit verlassen, als die beiden Frauen Goldwater erreichten, eine unbedeutende Ortschaft, die genauso aussah wie Hunderte andere Kleinstädte im ländlichen Nordosten Amerikas auch. Interessant war für die Reisenden vorerst einmal nur ›Roscoes Motel, Supermarkt und Diner‹.
Die Otts hatten ihnen gesagt, dass der Supermarkt alles auf telefonische Bestellung hin ins Haus lieferte, also sprach Robin den Mann an der Kasse an und machte sich mit ihm bekannt als die neue, kurzfristige Mieterin des Ott-Hauses.
Sie war überrascht: Aidan Roscoe war ein sehr attraktiver Bursche in Jeans und T-Shirt. Ein wenig älter als sie – Mitte bis Ende Zwanzig – mit schwarzbraunem Haar und einem intelligenten Gesicht. Ein gepflegter kurzer Bart umrahmte sein Kinn. Und was er für Augen hatte, groß, leuchtend und grün wie Weintrauben!
Sein Lächeln entblößte schneeweiße Zähne. Allzu weiß und allzu regelmäßig – ganz offensichtlich die Arbeit eines soliden, aber kunstlosen Zahnarztes. Merkwürdig, dass ein so junger Mann Implantate im Ober- und Unterkiefer brauchte, aber vielleicht hatte er ja einen Unfall gehabt.
Mit Geoffreys makelloser viriler Schönheit konnte er es auf jeden Fall nicht aufnehmen, aber normale Männer waren nun einmal nicht perfekt. Bei denen genügte es, wenn sie sympathisch waren.
Er überflog die Liste, die sie ihm reichte. »Sind Sie sicher, dass Sie damit auskommen? Für zwei Personen ist das reichlich mager.«
»Ich werde allein dort wohnen.«
»Allein? Dort am Meer?« Er blickte sie erstaunt, fast erschrocken an. »Na, Sie haben Mut!«
»Ich habe gesunde Nerven und einen wachsamen Hund. Das genügt ja wohl, oder?«
Ihr Ton war unwillkürlich schnippisch geworden, und der junge Mann machte einen leicht verlegenen Eindruck.
»Ja, klar!«, stimmte er eilfertig zu. »Ich meine nur, gegen das Meer hilft Ihnen beides nicht.« Sein Blick schweifte plötzlich ins Leere, als sei er innerlich an einen anderen Ort versetzt worden. »Das Meer ist eine andere Welt. Es ist fremd und feindselig, und was darin wohnt, betrachtet uns als Eindringlinge und Beute.« Er zwang sich, einen alltäglichen Ton anzuschlagen – was ihm nicht gut gelang. »Haben Sie Erfahrung mit dem Leben so dicht am Ozean?«
»Nein. Ich wohne in Augusta. An der Küste war ich noch nie.« Sie wunderte sich über seine so dramatisch formulierte Warnung. Und mehr noch über den Ton, in dem er sie hervorgebracht hatte – einem Tonfall persönlicher Anteilnahme, ja, persönlicher Sorge, als sei er aus irgendeinem Grund über die Maßen erschrocken bei dem Gedanken, dass sie ins Ferienhaus der Otts einziehen wollte.
Er sprach hastig und eindringlich weiter. »Dann sollten Sie ganz besonders vorsichtig sein. An heißen Tagen verlockt das Meer natürlich zum Schwimmen, aber ich würde Ihnen abraten. Das Wasser hier ist eiskalt, und die Strömungen sind tückisch. Und passen Sie gut auf ...«
Roscoe wollte ihr offenbar noch eine ganze Menge mehr sagen, aber plötzlich trat eine ältere Frau in blauen Latzhosen aus dem Lagerraum und gab ihm mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln zu verstehen, er sollte schweigen. Er musste großen Respekt, wenn nicht Furcht vor ihr haben, denn er wechselte augenblicklich das Thema.
Mit einem Schlag war er wieder ganz Supermarkt-Angestellter. »Okay, abgemacht! Sie lassen uns einfach Ihre Einkaufsliste da, und ich bringe die Sachen noch heute ins Haus, genauso wie wir es bei Familie Ott immer machten. Wünsche einen guten Aufenthalt!«
Damit verschwand er im Lager.
Seltsam, dachte Robin. Nach einem solchen einschüchternden Drachen sah die Frau mit der grauen Pagenfrisur, bei der es sich offenbar um Mutter Roscoe handelte, gar nicht aus. Sie wirkte eigentlich recht nett. Aber dass ihr Sohn mit der fremden Frau sprach, schien ihr Sorgen zu bereiten – oder besser gesagt, Öl ins Feuer von Sorgen zu gießen, die ständig in ihrem Herzen schwelten ...
†
Die Einsamkeit des ländlichen Maine senkte sich über sie wie ein dünner Nebel, und Robin MacThane begriff, was ihre Freundin mit ›Wildnis‹ gemeint hatte.
Die Straße war übersät mit Rissen und Schlaglöchern, die den Stadtvätern von Goldwater offenbar keine Reparatur wert waren. Links und rechts drängten dichte Wälder an sie heran, förmliche Urwälder aus Kiefern und Steineichen, deren Stämme in der würgenden Umklammerung des Efeus erstickten. Der Boden zwischen den Bäumen, mit kümmerlichen Büschen bewachsen, war von einer leopardenfleckigen Schicht vorjährigen Laubes bedeckt.
Die Sonne verschwand, und ein dumpfes Zwielicht umgab sie, in dem unangenehm viele Mücken tanzten. Boris nieste und schnaubte. Der Geruch der modernden Blätter musste unerträglich sein für seine feine Nase.
Plötzlich tauchte an der Seite der Straße ein mannshohes Schild auf, das die verblichenen Umrisse eines Hauses und darunter den Schriftzug ›McStrattons Close‹ zeigte. Eine halbe Meile weiter kam ein Gebäude in Sicht, halb verborgen hinter einer verwachsenen Auffahrt, die rechtwinkelig von der Straße abzweigte.
»Da habe ich ja doch Nachbarn«, bemerkte Robin, die nicht sehr angetan war von dem Gedanken.
Im nächsten Augenblick jedoch sah sie, dass der Weg durch einen Balken versperrt war, an dem ein rostiges Schild hing mit der Warnung ›Privatbesitz! Betreten verboten! Lebensgefahr!‹
»Nein, hier wohnt keiner«, erklärte Mabel. »Das McStratton-Haus steht schon ewig lange leer, schon seit den Siebzigerjahren.« Sie schüttelte sich. »Was für ein abscheulicher Kasten!«
Tatsächlich sah man dem Gebäude die vielen Jahre an, die es bei Wind und Wetter leer gestanden hatte. Es machte jedoch immer noch einen sehr eleganten Eindruck, wie es da in fahlem Weiß aus der ungezähmten, überbordenden Vegetation hervorleuchtete.
An einer Seite sprang ein grün-gläserner Anbau vor, augenscheinlich ein Wintergarten oder die Überdachung eines Swimmingpools. Zurzeit sah er mehr einem rostigen Käfig ähnlich, denn viele von den gekrümmten Scheiben waren aus ihren Halterungen gefallen.
Robin, die gerne Pflanzen zeichnete, begann bereits im Kopf Skizzen zu machen, und Mabel schien es zu bemerken, denn sie fügte besorgt hinzu: »Komm bloß nicht auf den Gedanken, dort herumzustreunen! Ich weiß schon – tausend faszinierende Motive für eine Landschaftsmalerin! Aber du hast hier Motive genug, und außerdem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dir in der modrigen Hütte ein Stück Decke auf den Kopf fällt oder die rostige Treppe unter dir zusammenbricht. Herbert Ott hat uns alle eindringlich davor gewarnt. Ein Todesfall ist genug.«
»Ein Todesfall ist genug? Was meinst du damit?«
»Genau weiß ich es nicht mehr, aber kürzlich ist wohl jemand im Swimmingpool hinter dem Haus ertrunken. Also beherzige meinen Rat.«
Robin war rätselhaft, wie jemand im Swimmingpool eines Hauses, das seit Jahrzehnten unbewohnt war, ertrinken konnte. Der musste doch längst leer und knochentrocken sein. Und selbst wenn Regenwasser durch das löchrige Dach gefallen war – wer würde denn in einer solchen Brühe schwimmen?
Aber sie kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn Mabel deutete auf eine Öffnung im Tunnel der Bäume und verkündete: »Wir sind da!«
†
Der Wald öffnete sich auf einen Hügelrücken, der in sanften Wiesen zum Wasser hin abfiel.
Die ›Kleine Bucht‹, wie man sie zur Unterscheidung von der ›Großen Bucht‹ mit dem Fischereihafen nannte, bildete eine breites U. Der rechte Arm des U war lang und schmal, eine von Strandhafer bewachsene Landzunge, während der linke ein bloßer kurzer Ausläufer des Urwalds war, überwuchert von moosbewachsenen Bäumen, Efeu und Stechpalmen, in dem die weiße Ruine stand.
Dazwischen breitete sich in ungebrochener Fläche das Wasser aus.
Was für ein Anblick! Ständig von Königsblau und Malachitgrün zu leuchtendem Smaragd wechselnd, spielte das Meer ruhig vor sich hin wie ein großes, zufriedenes Tier, jagte kleine, weißgekrönte Wellen über den schlammbedeckten Küstenstreifen und saugte sie wieder zurück.
Eine merkliche Kühle stieg von der riesigen Wasserfläche auf. Das fühlte sich angenehm an, aber trotz der Hochsommerhitze lud das Wasser nicht zum Baden ein.
Robin meinte plötzlich zu spüren, dass Aidan Roscoes Warnung mehr umfasste als nur die Gefahr tückischer Küstengewässer. Trotz seiner augenblicklichen malerischen Unschuld atmete das Meer dieselbe Art von Menschenfeindlichkeit wie ein schneebedecktes Gebirge. In seiner urtümlichen Menge und Ausdehnung hatte es etwas Unirdisches an sich, etwas im buchstäblichen Wortsinn von der festen Erde Abgeschiedenes und ihren Bewohnern übel Gesinntes.
Auf der Höhe des Rückens stand das Ferienhaus der Otts, ein lang gestreckter, einstöckiger Bungalow mit einem Schuppen an der einen und einem Grillplatz samt Sitzbank an der anderen Querseite. Die Sonnenstrahlen tauchten seine holzverschalte Außenseite in einen warmen rötlichen Glanz.