Gespenster-Krimi 5 - Frank DeLorca - E-Book

Gespenster-Krimi 5 E-Book

Frank DeLorca

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Beschreibung

Das Dämonengrab

Daisy beschleunigte ihre Schritte. Ihr langes Haar flog im Nachtwind, und das Stakkato ihrer hochhackigen Absätze knallte durch die Stille. Aber ihr Gehör hatte sie nicht getrogen: In das Rauschen des Windes in den Bäumen der Kastanienallee mischte sich das klappernde Geräusch seltsamer Tritte. Es klang, als ob ein Hinkebein sich bemühte, der jungen Frau zu folgen.
Sie wagte nicht, sich umzusehen. Atemlos lief sie an der düsteren Friedhofsmauer entlang, die nicht enden wollte. Endlich hatte sie die Kreuzung erreicht. Eine schaukelnde Straßenlaterne sorgte für etwas Licht. Und in diesem Lichtkreis wuchs hinter ihr ein langer schwarzer Schatten ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Das Dämonengrab

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati/BLITZ-Verlag

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7501-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Das Dämonengrab

von Frank deLorca

Daisy beschleunigte ihre Schritte. Ihr langes Haar flog im Nachtwind, und das Stakkato ihrer hochhackigen Absätze knallte durch die Stille. Aber ihr Gehör hatte sie nicht getrogen: In das Rauschen des Windes in den Bäumen der Kastanienallee mischte sich das klappernde Geräusch seltsamer Tritte.

Es klang, als ob ein Hinkender sich bemühte, der jungen Frau zu folgen. Sie wagte nicht, sich umzusehen. Atemlos lief sie an der düsteren Friedhofsmauer entlang, die nicht enden wollte.

Endlich hatte sie die Kreuzung erreicht. Eine schaukelnde Straßenlaterne sorgte für etwas Licht. Und in diesem Lichtkreis wuchs hinter ihr ein langer schwarzer Schatten …

Daisy stieß nur einen kurzen Schrei aus. Sie überquerte die Kreuzung und bog in die Rue Becqueret ein. Nach wenigen Schritten erreichte sie das Säulenvordach des kleinen Hotels, riss ihre Handtasche auf und suchte verzweifelt nach dem Türschlüssel. Sie spürte ihn zwar, brachte ihn aber nicht sofort heraus. Er schien sich irgendwo zwischen Geldbörse und Kosmetiksachen verfangen zu haben.

Aus der Tür und aus dem Parterrezimmer nebenan, wo die alte Concierge hauste, fiel Licht. Drei-, viermal drückte Daisy auf die Klingel. Das schrille Läuten vermischte sich mit dem drohenden Geräusch der tappenden Tritte. Der hinkende Verfolger musste jetzt ebenfalls die Rue Becqueret erreicht haben. Und sonst befand sich weit und breit kein Mensch auf der einsamen Straße, der dem Mädchen hätte beistehen können.

Als der unheimliche Schatten wieder auf sie zukroch, wurde die Tür geöffnet. Eine alte Dame im schäbigen Hausmantel mit sorgfältig ondulierten Silberlöckchen erschien im Flur.

Die kleinen Augen der Concierge weiteten sich vor Grauen. Dann riss sie das Mädchen in den Gang, und gleichzeitig mit ihrem gellenden Aufschrei knallte die Tür zu.

Draußen vor den Butzenscheiben wuchs der grauenhafte Schatten zu Riesengröße empor und verdunkelte den Flur, der nur von einer schwachen Ampel erleuchtet war. Die Concierge stand reglos neben Daisy. Ihre Finger waren immer noch in den Arm des Mädchens verkrallt, das davon jedoch gar nichts zu spüren schien.

Ein heiseres, bösartiges Gelächter ertönte draußen durch die Nacht.

»Wer ist das, Mère Almy?«, fragte Daisy flüsternd. »Er hat mich verfolgt, aber ich habe mich nicht umgesehen – es war schrecklich Madame …«

Die Alte starrte immer noch auf die Tür, von der der Schatten jetzt langsam verschwand.

»Der Schatten des Todes«, sagte Mère Almy plötzlich tonlos.

Ihre Augen loderten auf wie die einer Wahnsinnigen.

Daisy riss sich los und jagte die Treppe hinauf.

Im Flur des ersten Stocks ging Licht an. Eine Zimmertür wurde geöffnet und ein junger Mann in weißen Hosen, über die ein grellbuntes Sporthemd hing, trat heraus.

»Was ist denn los, wer hat hier geschrien?«, fragte er das Mädchen.

Als Daisy vor ihm stand, erschrak er über ihren Gesichtsausdruck.

»Es hat mich jemand verfolgt, Louis«, sagte Daisy atemlos, und er sah, wie sie am ganzen Körper zitterte.

»Bis zur Haustür – es war fürchterlich …«

»Dieser einsame Weg am Friedhof entlang ist nichts für junge Mädchen«, sagte der Mann.

»Aber vielleicht ist der Kerl noch zu greifen.«

Er wollte das Mädchen sanft beiseiteschieben.

»Bleiben Sie um Gottes willen oben, Monsieur Carpentier«, kreischte die Concierge herauf.

»Es ist der Schatten des Todes, der vor der Tür lauert!«

Louis Carpentier hörte deutlich, wie sich ein Schlüssel zweimal im Türschloss drehte. Dann verschwand die Alte in ihrem Zimmer.

»Was soll der Unsinn?«, knurrte er und wollte die Treppe hinunter. Aber Daisy hatte seine Hand ergriffen und hielt ihn mit aller Gewalt zurück.

»Bitte nicht«, flehte sie ihn an.

»Mère Almy hat recht.«

Ihre großen dunkelblauen Augen sahen den jungen Mann, der sie um einen guten Kopf überragte, beschwörend an.

Louis Carpentier zuckte mit den Schultern.

»Na, dann eben nicht«, sagte er dann. »Aber kommen Sie, Daisy, Sie können jetzt einen Cognac vertragen.«

Er führte das Mädchen in sein Zimmer, das kärglich mit alten Möbeln ausstaffiert war, und drückte sie auf einen der verschlissenen Polsterstühle. Daisy ließ alles widerspruchslos mit sich geschehen und nippte mechanisch von dem Cognac, den er ihr einschenkte.

Er genehmigte sich selber ebenfalls ein großes Glas.

»Wie sah der Bursche denn aus?«, erkundigte er sich dann.

Jetzt erst sah er, wie blass die bildhübsche junge Frau war. Ihr praller Busen unter dem dünnen Sommerkleid bewegte sich heftig.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, lautete die Antwort.

»Nur seinen Schatten. Ich wagte einfach nicht, mich umzublicken – oder gar stehen zu bleiben. Aber er muss entsetzlich ausgesehen haben, Louis. Sonst hätte Mère Almy bei seinem Anblick nicht so geschrien.«

»In Zukunft gehen Sie den Weg vom Theater hierher nie mehr allein, Daisy«, sagte Louis energisch.

»Aber jetzt Prost – es wird Zeit, dass Sie wieder zu sich kommen, Mädel.«

Daisy setzte ihr Glas wie in Trance an den Mund und starrte auf das geschlossene Fenster.

Da erst fiel Louis wieder ein, dass es zur Rue Bequeret hinunterführte.

Er stand auf, riss das Fenster auf und blickte hinaus.

Die schmale Straße wurde durch die Lampe vorn an der Kreuzung nur matt erhellt. Hinter den gegenüberliegenden Häusern ragte die alabasterweiße Kuppel von Sacre Coeur in den Nachthimmel empor. Die Rue Becqueret lag wie ausgestorben.

Erst als sich Louis Carpentier ganz aus dem Fenster beugte, sah er den schwarzen Schatten, der am Eisenzaun des Nebengrundstücks lauerte. Es war eine lange, dürre Gestalt, die dort vollkommen bewegungslos stand.

Louis zuckte zusammen. Er kannte das schwarze, bis fast zum Boden reichende Gewand, das dem Büßerhemd der Delinquenten der Französischen Revolution täuschend nachgearbeitet war. Vom Gesicht war nichts zu sehen, denn es wurde von einem nach allen Seiten herunterhängenden Schlapphut völlig verdeckt.

»Verdammt!«, stieß Louis Carpentier leise hervor.

Da spürte er den warmen Körper des Mädchens. Er zog sie sanft neben sich, legte den Arm um ihre Schultern und deutete über die Fensterbrüstung.

»Könnte es der sein?«, fragte er leise.

Er spürte, wie die junge Frau bei dem düsteren Anblick erschauerte.

»Ich sagte Ihnen doch, Louis, dass ich ihn nicht gesehen habe«, flüsterte sie. »Aber nur der kann es gewesen sein …«

»Das ist doch Pierre in der Maske von Cabral«, sagte Louis.

»Er muss mal wieder stockbesoffen sein – sonst würde er nicht im Bühnenkostüm herumlaufen. Jedenfalls werde ich ihm sofort abgewöhnen, Ihnen einen solchen Schrecken einzujagen, Daisykind.«

»Hallo, Pierre!«, brüllte er dann hinunter.

»Was stehen Sie hier so blöd herum?«

Unter dem Schlapphut hob sich ein geisterhaft blasses Gesicht zum Fenster empor. Der schmale Mund öffnete sich, und ein grausiges Gebiss, das die ganze untere Hälfte der ausgemergelten Visage einnahm wie bei einem Totenschädel, zeigte ein wahrhaft satanisches Grinsen.

»Das ist nicht Pierre«, sagte das Mädchen leise.

»Wer sollte es sonst sein, verdammt noch mal?«, fragte Louis grimmig, aber er war sich plötzlich selbst nicht mehr sicher. »Das werden wir gleich haben.«

Er lief aus dem Zimmer und über den Flur. Dann drückte er die Klinke einer gegenüberliegenden Tür. Als sie nicht nachgab, schlug er ein paar Mal mit der Faust gegen die Füllung.

Erst nach geraumer Zeit ertönte von drinnen ein unwilliges Grunzen.

»Pierre, kommen Sie mal!«, rief Louis.

»Ich habe Ihnen was Interessantes zu zeigen!«

Der Riegel wurde zurückgeschoben, und in der offenen Tür erschien eine hochaufgeschossene Gestalt im Pyjama mit wirr in die Stirn hängenden Haaren.

»Was wecken Sie mich denn auf, Louis?«, schimpfte Pierre Leblanc und stieß dabei eine wahre Schnapswolke aus.

Louis fasste seinen Kollegen bei der Hand und zerrte ihn in Richtung seines Zimmers.

»Dort unten steht Ihr Doppelgänger als Benoit Vicomte de Cabral«, sagte er aufgeregt.

Daisy war vom Fenster zurückgetreten, als Louis den wankenden Mann im Pyjama ins Zimmer schob.

»Was soll denn der Blödsinn?«, sagte Leblanc lallend. »Oder brauchen Sie … mich dazu, um das Mädel … herumzukriegen?«

In anderer Situation hätte Louis ihm für diese Bemerkung vielleicht eine geklebt. Jetzt führte er ihn zum Fenster und hielt ihn über dem Sims fest, als er sich hinausbeugte. Denn Leblanc war in einer Verfassung, in der er leicht über Bord in den Vorgarten hätte kippen können.

»Da unten links«, sagte Carpentier.

»Ich sehe nichts«, knurrte Leblanc.

Auch Louis Carpentier sah nichts mehr. Die unheimliche Gestalt war spurlos verschwunden.

»Ihr spinnt doch alle«, lallte Leblanc.

Plötzlich jedoch war es in der Stille der Nacht deutlich zu hören. Scharrende, klapprige Schritte entfernten sich langsam in einem eigenartigen Rhythmus, als ob sich jemand mit harten Absätzen hinkend über das Pflaster bewegte …

Seit langen Jahren beherbergte die alte Dame in der kleinen Pension, die den etwas kühnen Namen »Hotel Madelon« führte, junge Schauspieler aus der Provinz, die im Montmartreviertel von Paris ihre ersten Startversuche in der Weltmetropole wagten. Die alte Dame war nur eine mittellose Verwandte des Besitzers, eines reichen Winzers aus der Gegend von Tours, und offiziell lediglich als Concierge angestellt.

Aber sie war seit mehr als fünfzig Jahren die Seele der Pension und umsorgte ihre jungen Gäste so liebevoll, dass sie von diesen nur »Mère Almy« genannt wurde. Kein Mensch kannte ihren vollen Namen.

Sprungbrett in Paris für die jungen Schauspieler, die meist aus Orleans oder St. Etienne in die Hauptstadt kamen, war das Theatre Fontaine, nur ein paar Steinwürfe von der Pension »Madelon« entfernt.

Intendant und oft auch Regisseur in einer Person war Henry Beranger. Er brachte vorwiegend alte und neue Boulevardreißer auf die Bühne, in denen sich die Talente austoben konnten, ohne dass Ansprüche höchster Qualität wie etwa bei Shakespeare oder Moliere an sie gestellt wurden.

Das Zwerghotel hatte nur fünf Fremdenzimmer, und die Preise waren, der Kundschaft angemessen, so zivil, dass es dem Inhaber ein Vierteljahrhundertlang nicht eingefallen war, das Mobiliar zu erneuern. Trotzdem oder gerade deshalb war die Atmosphäre im »Madelon« so gemütlich, wie sie mitten im hektischen Paris nur überhaupt sein konnte.

Zurzeit wohnten nur drei Gäste in dem hübschen, weiß gestrichenen Häuschen an der Rue Becqueret. Der Intendant des Theatre Fontaine hatte Pierre Leblanc, Louis Carpentier und ihre Kollegin Desirée Arnoux, von allen nur kurz Daisy genannt, für die Hauptrollen eines Zugstücks aus den blutigsten Zeiten der Französischen Revolution engagiert. Sie hatten einander schnell schätzen gelernt und fühlten sich bei Mère Almy ausgesprochen wohl. Meistens gab es schon beim Frühstück etwas über eine originelle Bemerkung der alten Dame zu lachen.

Als sie jedoch am Morgen nach dem Auftreten des Unheimlichen im Schlapphut Kaffee und Hörnchen auftrug, war ihre Miene immer noch vom Schock des Abends gezeichnet, und das kleine, runzlige Gesicht wirkte unnatürlich blass.

Auch Daisy hatte graue Ringe unter den Augen. Sie hatte nur ein paar Stunden geschlafen, und in wirren Träumen war immer die schreckliche Gestalt des Hinkenden aufgetaucht, dessen gierige Krallenfinger sich nach ihr ausstreckten. Auch Louis wirkte ziemlich einsilbig, und Pierre Leblanc schienen die zwei Aspirin, die er gegen seinen Kater geschluckt hatte, auch nicht sehr viel geholfen zu haben.

Ganz gegen ihre Gewohnheit setzte sich Mère Almy, nachdem sie das Frühstück serviert hatte, auf einen verschlissenen Stuhl in der Ecke des Frühstückszimmers, verschränkte die blaugeäderten Hände und starrte die kleine Gruppe ihrer Gäste düster an.

»Ich werde heute zum Theater hinübergehen und Monsieur Beranger eindringlich bitten, dieses makabre Stück nicht aufzuführen«, erklärte sie dann.

Louis Carpentier, ein angebissenes Hörnchen in der Hand, fuhr hoch.

»Was fällt Ihnen ein, Mère Almy?«, sagte er hastig. »Der ›Schatten des Todes‹ wird garantiert ein Erfolg – morgen ist Generalprobe, und in drei Tagen steigt die Premiere. Sie werden uns doch nicht um unser Brot bringen wollen, Madame?«

Das klang ein wenig spöttisch.

»Unsinn«, brummte Pierre Leblanc. Sein schmales Asketengesicht wirkte aufgebläht, weil er ein halbes Hörnchen auf einmal zwischen die Zähne geschoben hatte.

»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Beranger einen Reißer absetzt, weil sich jemand einen makabren Scherz ausgedacht hat? Ich werde mir einen Revolver besorgen und Daisy in Zukunft abends nach Hause begleiten. Sollte der Kerl nochmals auftauchen, der sich in meine Theatermontur geworfen hat, dann gnade ihm Gott.«

»Die Begleitung können Sie ruhig mir überlassen, Pierre«, entgegnete Louis spitz.

»Erstens müsste Daisy Sie führen, weil Sie meistens besoffen sind, und zweitens würden Sie in diesem Zustand nur Löcher in die Luft knallen.«

»Wie Sie wollen, Louis.« Leblanc grinste.

»Vielleicht lassen wir Daisy am besten selber darüber entscheiden. Jedenfalls war es nicht sehr kollegial gedacht, als Sie mir gestern unterstellten, dass ich unsere geschätzte Kollegin auf nächtlichen Straßen belästigen würde.«

»Entschuldigung, Pierre«, sagte Louis ein wenig verlegen, »aber der Kerl sah Ihnen in der Rolle des Vicomte verdammt ähnlich – Daisy wird das bestätigen können.«

»Trotzdem wusste ich sofort, dass es nicht Pierre war«, sagte das Mädchen.

»Sehen Sie?«, triumphierte die alte Dame.

»Ich kenne Monsieur Beranger seit vielen Jahren. Wenn ich ihm alles erzähle, wird er ein anderes Stück auswählen. Er hat genug davon im Repertoire – und Ihre Gage wird er nicht kürzen, Herrschaften.«

»Aber was wollen Sie ihm denn erzählen«, fragte Louis besorgt.

»Dass ich die Uraufführung von ›Schatten des Todes‹ vor über fünfzig Jahren miterlebt habe«, sagte Mère Almy. »Das Stück wurde damals nur dreimal gespielt – und seitdem nie wieder.«

»Das wären natürlich mäßige Aussichten«, meinte Pierre Leblanc.

»War denn das Echo so gering?«

»Es war jedes Mal ausverkauft und bekam sogar gute Kritiken«, antwortete Madame.

»Na also – sonst hätte es Beranger niemals wieder ausgegraben. Aber was, zum Teufel, war dann der Grund?«

»Drei der Mitwirkenden starben noch auf der Bühne oder kurze Zeit danach unter völlig ungeklärten Umständen«, sagte die Concierge mit Betonung.

»Damals war doch die große Choleraepidemie in Paris«, versuchte sich Louis zu erinnern.

»Die war zehn Jahre vorher«, erwiderte die Alte lächelnd. »Ich will Sie ja nicht ängstigen, aber vielleicht nehmen Sie die Sache doch etwas ernster, wenn ich Ihnen verrate, wer die drei Toten waren: der, der den Henker spielte, der Richter, der den Vicomte Cabral zum Tode verurteilte, und der Darsteller des mörderischen Barons selbst.«

Dabei sahen die kleinen Augen in dem faltigen Gesicht Pierre Leblanc bedeutsam an. Der konnte nicht verhindern, dass die Kaffeetasse in seiner Hand zu klappern begann, und er wusste selbst nicht, ob das Zittern nur dem Alkohol von gestern Abend anzulasten war.

»Die beiden letzten müssen ja auch auf der Bühne sterben«, wandte Louis ein.

»Wieso aber blieben die tatsächlichen Todesfälle unaufgeklärt? Hat man die Polizei nicht eingeschaltet?«

»Doch, aber sie fanden nichts. Sie hätten auch nie etwas herausfinden können, denn der Mörder der drei Schauspieler war der selbe, der hundert Jahre vorher seine ganze Familie umbringen ließ und dann selbst unter die Guillotine kam: Vicomte Benoit de Cabral. Er und kein anderer, Mademoiselle Desirée, war es, der Sie gestern Abend bis hierher verfolgt hat. Ich habe ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen.«

Wieder stand plötzlich dieser wahnsinnsnahe Ausdruck in ihren winzigen Augen, der Daisy gestern fast so erschreckt hatte wie der Schatten, der ihr gefolgt war.

Louis Carpentier stand auf.

»Gehen wir, es wird langsam Zeit, Leutchen«, sagte er und rieb sich die Hände, als ob er frösteln würde. Dabei schien die warme Maisonne in das kleine Zimmer.

»Die Concierge blinzelte heftig und hob ihre verwelkte Hand.

»Einen Augenblick noch«, murmelte sie.

»Ich werde Monsieur Beranger auch noch etwas anderes erzählen. Ob ihm nämlich nicht aufgefallen ist, dass der Autor des ›Schattens‹ Marcel Cabral hieß. Er hätte sich auch Vicomte nennen können, denn er war ein Nachkomme von Benoit, der als Einziger seiner ansonsten ausgerotteten Sippe einen Sohn hatte. Der Urenkel hat die entsetzliche Geschichte seiner Ahnen zu diesem schauderhaften Theaterstück verarbeitet. Aber auch wenn es ein Erfolg geworden wäre, hätte er keine Tantiemen mehr einstreichen können. Denn zwei Tage nach der letzten Aufführung fand man ihn mit umgedrehtem Genick vor dem Familiengrab der Cabrals – dort drüben auf dem alten Friedhof von St. Vincent. Auch in diesem Fall blieb die Polizei ratlos – obgleich Selbstmord bei dem Zustand der Leiche natürlich völlig undenkbar war.«

»Das ist ja – grauenhaft!«, rief Louis und schüttelte sich.

Als er die Alte in ihrem zerschlissenen Stuhl ansah, empfand er für einen Moment, dass sich etwas wie Eiseskälte im Zimmer ausbreitete.

»Haben Sie jetzt immer noch etwas dagegen, dass ich Sie zu Monsieur Beranger begleite?«, wisperte die Concierge kaum hörbar.

»Nein, Mère Almy!«, sagte Daisy entschlossen. »Bitte kommen Sie mit!«

Das Theatre Fontaine lag ziemlich unscheinbar in der gleichnamigen Straße zwischen Nachbarhäusern eingebettet. Eine Steintreppe führte unter ein stumpfwinkliges Vordach, das wie die beiden marmorierten Rundsäulen, die es trugen, dem ionischen Stil nachempfunden war.

An der Front dieses Daches prangte der Name in vergoldeten Buchstaben. Ansonsten verrieten nur ein paar Schaukästen neben der Eingangspforte, dass es sich hier um einen der zahlreichen Kunsttempel der französischen Hauptstadt handelte.

Das Theater fasste rund dreihundert Besucher und verfügte über eine hochmoderne Drehbühne, auf der auch die gewagtesten Tricks kein technisches Risiko bedeuteten.

Intendant Henry Beranger saß, die unvermeidliche Gitane Maïs