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Was wäre das Morgen ohne gestern und heute? Diese Frage stellt sich Gisela immer öfter. Sie ist eine Kämpfernatur, die auch mit über achtzig nicht daran denkt, zu kapitulieren. Entschlossen nimmt sie den Kampf gegen ihre Rückenschmerzen auf, hadert mit der modernen Technik, ohne sich ihr geschlagen zu geben, und mit der zunehmenden Einsamkeit will sie sich schon gar nicht abfinden. Wie wäre es mit einer Senioren-WG? Um diese Idee zu verwirklichen, muss sie sich allerdings erst mit ihrer Erzfeindin Karin versöhnen. Das ist nicht ganz einfach, denn Karin ist aus einem ganz anderen Holz, aber letztlich doch erfolgreich. Gemeinsam kümmern sich die beiden Damen nicht nur um sich selbst, sondern auch um das Liebesleben der nächsten Generation. Dabei lernen sie den Landpfarrer Johann kennen, einen ebenso lebensfrohen wie attraktiven Mann, der am Ende seiner Laufbahn steht und eine neue Bleibe sucht. Begleiten Sie Gisela und ihre Freunde und erfahren Sie, welchen Einfluss das Gestern auf heute und morgen haben kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Brigitte Teufl-Heimhilcher
Reihe Gestern & heute
Sammelband
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Die Autorin
Ach, Gisela Buch1
Prolog
1.Winterabend
2.Geheimnisse
3.Veränderungen
4.Gespräche
5.Frühling 1965
6. Fasching
7. Mütter
8. 1966
9. Ein Abend voller Erinnerungen
10. Gespräche mit Herbert
11. Auf Augenhöhe
12. Tobias und das echte Leben
13. Osterfreuden
14. Sorge um Ulrike
15. Moussaka vegetarisch
16. Dirty Campaining
17. Kaffeeklatsch
18. Endlich daheim?
19. Gewinner und Verlierer
20. Die Sache mit der Senioren-WG
Ach, Elke Buch2
Prolog
1.Alte und neue Freunde
2.Warten und erwarten
3.Die Sache mit dem Nebenbuhler
4.Schöner wohnen
5.Allerseelen
6.Eine unerwartete Begegnung
7.Die Schwere des Daseins
8.Nichts als nette Menschen
9.Schlechte Neuigkeiten
10.Immer wieder Sonntag
11.Komplizierte Verhältnisse
12.Vorfreude sieht anders aus
13.O du fröhliche...
14.Nachwehen und Vorsätze
15.Happy New Year!
16.Glücksklee und Fiebertraum
17.Es war doch nur ein Anbot
18.Die sache mit der Königsidee
19.Das Gutshaus
20.Einsichten
21.Auf einen Kaffee ins Sacher
22.Die Mediation
23.Das Eltern-Treffen
24.Spätes Glück
Epilog
Ach, Johann Buch 3
1,Ein neuer Anfang
2.Unerwarteter Besuch
3.Sodom und Gomorra
4.Der Einstand
5.Immer der Vollmond
6.Schwesterherzen ohne Herz
7.Alltag
8.Traum und Wirklichkeit
9.Geburtstagsgrüße
10.Nur so ein Gefühl
11.Senioren-WG on tour
12.Der katholische Gruß
13.Mehr Fragen als Antworten
14.Geburtstag folgt auf Geburtstag
15.Hochwürden schweigt
16.Eva -1955
17.Johann und das Kaiserwasser
18.Sorge um Eva
19.Späte Einsicht
20.Das Geheimpapier
21.Priester und Primaner
22.Gespenster der Vergangenheit
23.Die Weihnachtsüberraschung
24.Schon wieder Ostern
25.Hofrätin Wogner oder Queen Mum
26.Nur Freunde und Familie
27.Die Macht der Bilder
Danke
Sonst noch erschienen
Deutsche Erstausgabe 2025
Reihe Gestern&Heute Sammelband
Copyright: ©2023 Brigitte Teufl-Heimhilcher,
1220 Wien
https://www.teufl-heimhilcher.at
Buch 1 Ach, Gisela Originalausgabe erschienen © 2023
Buch 2 Ach, Elke Originalausgabe erschienen ©2024
Buch 3 Ach, Johann Originalausgabe erschienen © 2024
Buchsatz/Konvertierung: Autorenservice-Farohi
www.farohi.com
Covergestaltung: Xenia Gesthüsen
Lektorat: Eva-Maria Farohi, Autorenservice-Farohi
Alle Rechte vorbehalten
Was wäre das Morgen ohne gestern und heute?
Diese Frage stellt sich Gisela immer öfter. Sie ist eine Kämpfernatur, die auch mit über achtzig nicht daran denkt, zu kapitulieren. Entschlossen nimmt sie den Kampf gegen ihre Rückenschmerzen auf, hadert mit der modernen Technik, ohne sich ihr geschlagen zu geben, und mit der zunehmenden Einsamkeit will sie sich schon gar nicht abfinden.
Wie wäre es mit einer Senioren-WG? Um diese Idee zu verwirklichen, muss sie sich allerdings erst mit ihrer Erzfeindin Karin versöhnen. Das ist nicht ganz einfach, denn Karin ist aus einem ganz anderen Holz, aber letztlich doch erfolgreich.
Gemeinsam kümmern sich die beiden Damen nicht nur um sich selbst, sondern auch um das Liebesleben der nächsten Generation. Dabei lernen sie den Landpfarrer Johann kennen, einen ebenso lebensfrohen wie attraktiven Mann, der am Ende seiner Laufbahn steht und eine neue Bleibe sucht.
Begleiten Sie Gisela und ihre Freunde und erfahren Sie, welchen Einfluss das Gestern auf heute und morgen haben kann.
Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur.
In ihren heiteren Gesellschaftsromanen setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben - wie es ist, und wie es sein könnte.
Ach, Gisela
Reihe Gestern & heute Buch 1
Luisa ließ den Blick über die Trauergemeinde schweifen. Sie fand es unfassbar, wie viele Menschen zur Beerdigung ihres Vaters gekommen waren.
Das Wort Vater kam ihr im Zusammenhang mit Herbert Wogner seltsam unpassend vor. Bestenfalls war er ein entfernter Onkel für sie gewesen. Ein freundlicher, aber im Grunde uninteressierter Onkel an der Seite einer kaltschnäuzigen Frau – Gisela.
Dort vorne ging sie. Besser gesagt, sie klammerte sich an Andreas fest. Diese Gisela war an allem schuld. Erst hatte sie Mutter vertrieben, sich dann an Vater herangemacht, ihn gezwungen, nach ihren Regeln zu spielen und ihn dabei zum Hanswurst degradiert.
So und nicht anders war das gewesen. Da konnte Andreas erzählen, was er wollte.
Ihr großer Bruder. Pah, den hatte Gisela doch auch verhext – schon vor Jahrzehnten. Aber das sah er nicht, der Herr Doktor. Bildete sich sonst was ein auf seine Klugheit und ließ sich dabei von Gisela am Nasenring durch die Manege des Lebens führen. Trottel.
Ihr Alois hatte zwar keinen Doktortitel, aber dass Gisela Luisa ebenso um ihren Erbteil betrügen würde, wie das seinerzeit Stiefvater Ferdi getan hatte, das war Alois gleich klar gewesen!
Luisa hakte sich bei ihrem Mann unter. Der Trauerzug setzte sich in Bewegung.
Gisela Wogner nahm ihre Lesebrille ab und schloss für einen Moment die Augen. Früher hatte sie oft bis Mitternacht gearbeitet, jetzt war sie schon nach wenigen Stunden hundemüde.
„Ich mache für heute Schluss“, verkündete sie und lenkte ihren Rollstuhl in Richtung Aufzug.
Ihr Stiefsohn Andreas sah kurz auf und murmelte: „Danke, dass du heruntergekommen bist“.
Sie betrachtete seine müden Gesichtszüge. Klar war sie gekommen. Wer sollte ihm denn sonst helfen? Vor seinem Schreibtisch hielt sie an. „Ich dachte, du gehst heute früher?“
„Mach ich“, murmelte er, ohne aufzusehen.
Gisela schüttelte unmerklich den Kopf. Sie wusste ja, dass er gern die Zeit vergaß, wenn er sich wohlfühlte – und in seinem Büro fühlte er sich definitiv wohl. Besser, sie legte noch etwas nach.
„Wann ist denn dein Termin? Um Mitternacht?“
Jetzt erst sah er auf die Uhr. „Oh, schon so spät? Du hast recht, ich muss los, treffe mich gleich mit den Kollegen Leitner und Hausner.“
„Dann geht es ja doch wieder um Immobilien.“
„Mehr oder weniger. Ein wenig über die Branche tratschen und dabei besprechen, wie es im Verband weitergehen soll. Dieses Jahr wird ein neuer Präsident gewählt, da wollen wir …“
„Wählt dieses furchtbare Weib endlich ab“, fiel sie ihm ins Wort. „Die vertritt keine Brancheninteressen, die vertritt bestenfalls ihre eigenen.“
„Man sollte doch meinen, die wären ident.“
„Sind sie aber nicht, das wissen wir beide – und nicht erst seit gestern.“
„Stimmt, leider.“
„Dann macht endlich Nägel mit Köpfen.“
Andreas nickte und sagte mit unüberhörbarer Ironie: „Ich werde es den werten Kollegen selbstverständlich ausrichten. Soll ich ihnen auch einen Wahlvorschlag übermitteln?“
„Das werdet ihr hoffentlich selbst wissen.“ Sie hielt kurz inne und sah ihn prüfend an: „Denkst du etwa daran, das Amt zu übernehmen?“
„Nicht unbedingt, aber …“
„Solange du hier keinen geeigneten Stellvertreter hast, wäre das auch nicht besonders klug“, unterbrach sie ihn neuerlich. „Die Arbeit wird ständig mehr und immer komplizierter – bei gleichbleibendem Honorar. Da sollte der neue Präsident ansetzen!“
„An dem Thema haben sich schon einige Präsidenten versucht. Du weißt doch aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, damit in der Politik durchzudringen. Als Wählergruppe ist unser Berufsstand ebenso uninteressant wie die von uns vertretenen Hauseigentümer. Es gibt schlicht und ergreifend mehr Mieter als Vermieter.“
Sie winkte ab. „Ist mir bekannt. Leider brauchen wir trotz allem einen zusätzlichen Verwalter.“
Er nickte. „Woher nehmen? Du weißt ja, was wir schon alles versucht haben. Vom Headhunter bis zu Posts auf Instagram haben wir nichts ausgelassen. Wahrscheinlich hätten wir den Sohn des Kollegen, der nur Teilzeit arbeiten wollte, doch einstellen sollen.“
„Ich bitte dich, dieser Faulpelz wollte gerade einmal 25 Stunden pro Woche arbeiten. Abgeschlossenes Studium, unverheiratet, keine Kinder, keine sonstigen Betreuungspflichten, das ist … das ist doch … da fehlen mir die Worte.“
„Hört, hört.“
„Na, ist doch wahr. Erst um Steuergeld ewig studieren und dann nichts beitragen wollen, das ist doch unverschämt! Da kann ich mich so was von aufregen.“
„Du sollst dich aber nicht aufregen. Dein Blutdruck steigt und der junge Mann arbeitet deswegen keine Stunde mehr.“
Er hatte ja recht, das musste sie insgeheim zugeben. Also nickte sie nur kurz. „Ja, ja. Sieh zu, dass du nicht wieder zu spät kommst.“
„Aye, aye, Frau Kapitän.“
„Schafskopf“, murmelte Gisela, dann setzte sie ihren Weg fort.
***
Andreas sah ihr nach. Seine Stiefmutter wurde heuer 85, doch ihr Faible für grelle Farben hatte sie behalten, ihre Zunge war immer noch messerscharf und ihr Verstand stand der Zunge um nichts nach. Wenn ihre Wortwahl auch nicht sonderlich diplomatisch war, so hatte sie in der Sache doch oft recht.
Das Personalproblem wurde von Jahr zu Jahr schlimmer und die jetzige Präsidentin war tatsächlich kein Gewinn für den Verband. Damals hatte alles für die Wahl von Carola Witzmann gesprochen. Sie schien kompetent zu sein, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und nie um eine Antwort verlegen. Außerdem war sie die erste Frau an der Spitze des Verbandes und sah noch dazu gut aus. Schade, sie hatten sich mehr von ihr erwartet.
Was den zusätzlichen Verwalter betraf, so hatte Gisela zwar ebenfalls recht – doch plante er etwas anderes. Davon würde er ihr allerdings erst erzählen, wenn die Sache konkret war. Sie würde ohnehin nicht begeistert sein.
Er traf sich heute Abend mit den Kollegen nicht nur, um über die Verbandspräsidentin zu schwadronieren, er wollte eine Kooperation eingehen. Zeit, dass er sich auf den Weg machte.
***
Als Andreas gegen 19 Uhr endlich die Bürotür abschloss, kam ihm seine Noch-Ehefrau Mona im Stiegenhaus entgegen.
„Wohin des Wegs“, fragte er mehr aus Höflichkeit.
„Ich fahre zu einer Lesung in die Alte Schmiede.“
„Wer liest?“
„Ziemlich angesagter Autor. Nicht anzunehmen, dass du ihn kennst. Wieso machst du denn um diese Zeit schon Schluss? Normalerweise hockst du doch bis Mitternacht im Büro.“
„Das ist zwar etwas übertrieben, aber ja, üblicherweise arbeite ich etwas länger. Heute treffe ich mich mit Kollegen – übrigens auch in der Stadt. Wenn du magst, kann ich dich gern mitnehmen. Ich wollte ohnehin mit dir über unseren Filius reden.“
„Das trifft sich schlecht, ich werde gleich abgeholt. Was Tobias betrifft, so kann ich mir schon denken, was du besprechen willst. Aber lass den Jungen doch erst einmal in Ruhe ausspannen und zu sich selbst finden.“
Andreas überhörte bewusst, dass Mona abgeholt wurde. Wenn sie auch noch nicht geschieden waren, so lebten sie doch getrennt. Jeder konnte also tun und lassen, was er wollte. Das war ihr Deal – und obwohl sie ihn schon fast ein Jahr durchhielten, fühlte es sich für Andreas immer noch falsch an.
Besser, er konzentrierte sich auf das Wesentliche. „Tobi muss ausspannen? Wovon denn? Außerdem spannt er schon seit September aus. Wird langsam Zeit, dass er in die Gänge kommt.“
„Ich gehe davon aus, dass er ab Herbst studieren wird.“
„Ach ja? Was genau?“
„Da hat er sich noch nicht festgelegt. Aber ich muss jetzt gehen. Wir reden ein anderes Mal darüber. Ciao.“
„Ciao – und schönen Abend.“
Während er zu seinem Wagen eilte, überlegte Andreas einmal mehr, wie es mit ihnen so weit hatte kommen können. Sie waren doch glücklich gewesen, hatten miteinander gelacht, geträumt, einander geliebt und gegen alle Widerstände geheiratet.
Monas aristokratische Familie war mit ihm nicht weniger unzufrieden, wie seine Familie mit einer Fotografin, die sich als Künstlerin fühlte, von Hausverwaltung nicht das Geringste wissen wollte und es schon herabwürdigend fand, wenn sie Fotos von einem Zinshaus anfertigen sollte.
Sie waren dennoch überzeugt gewesen, es hinzubekommen.
Lange Zeit waren sie glücklich gewesen, trotz aller Widerstände und trotz des Altersunterschiedes von fast 15 Jahren. Dann war ihre Liebe langsam zerbröselt. Zerrieben im alltäglichen Kleinkrieg um Job und Familie war sie einen stillen Tod gestorben. Zuletzt hatten sie kaum noch miteinander gelacht und wohl von ganz unterschiedlichen Leben geträumt.
***
Mona war froh, dass Andreas von ihrer Beziehung zu Holger nichts wusste. Warum eigentlich? Es ging ihn schließlich nichts mehr an. Vielleicht, weil sie seine herablassenden Kommentare nicht hören wollte. Sie wusste auch so, was er von Holger als Anwalt hielt. Was Andreas nicht wusste, war, dass Holger vielleicht kein Kracher als Anwalt, doch dafür ein hervorragender Liebhaber war. Gefühlvoll, romantisch und verspielt. Anders als Andreas, ganz anders. Wann hätte der jemals ihren Weg ins Schlafzimmer mit Rosenblättern bestreut oder gar mit Teelichtern gesäumt?
Auch dass Holger einige Jahre jünger war, würde Andreas bissig kommentieren. Holger und Andreas lebten in unterschiedlichen Welten. Kein Wunder, die beiden trennten zwanzig Jahre.
Das alles konnte ihr zwar egal sein, ärgern würden Andreas’ Kommentare sie trotzdem.
So wie sie neuerdings alles ärgerte, was er sagte oder tat. Seine Großzügigkeit, wenn es um Giselas verbohrte Ansichten ging, regte sie ebenso auf wie seine Pedanterie in Sachen, die nicht der Rede wert waren. War es nicht vollkommen egal, welche Klamotten Tobi am Weihnachtsabend trug? Er war doch jung. Aber Andreas war eben total verschroben. Altmodisch. Er nannte es Old School.
Nun, es war ohnehin das letzte Weihnachtsfest gewesen, das sie im Kreise seiner Familie gefeiert hatte. Nur Tobi zuliebe war sie heuer noch in Wien geblieben, weil es das erste Weihnachtsfest ohne seinen geliebten Großvater gewesen war. Wer wusste, was das kommende Jahr an Veränderungen bringen würde? Jedenfalls hatte sie sich vorgenommen, beim nächsten Weihnachtsfest mit einem kühlen Drink unter Palmen zu liegen, die Füße im warmen Sand zu vergraben, dabei ins Meer zu schauen und sich darüber zu freuen, dem bürgerlichen Mief endlich entkommen zu sein. Ob Holger dann neben ihr liegen würde?
Tobi würde allerdings enttäuscht sein. Er konnte ja mitkommen, wenn er keine anderen Pläne hatte. Da würde Andreas Augen machen und Gisela erst recht. Dann konnten die beiden allein ihren alten Traditionen frönen. Stille Nacht und gebackener Karpfen am Heiligen Abend, Weihnachtsmesse und gebratene Gans am Christtag. Ging’s noch ein bisserl verstaubter?
Warum war ihr nicht schon früher aufgefallen, dass Andreas und sie nicht zueinander passten? Er war im Grunde doch nie anders gewesen. Ihre Mutter meinte, es läge am Altersunterschied. Das hatte sie ihr zwar schon vor der Hochzeit ins Ohr gesungen, aber das allein war es nicht. Andreas sah zwar gut aus, groß und stattlich, aber er war viel zu verstandesbetont, ein Workaholic wie er im Buche steht und dann auch noch blind für die schönen Künste. Moderne Literatur sagte ihm wenig, moderne Malerei gar nichts. Im Grunde konnte er auch mit ihrer Arbeit als Fotografin nichts anfangen. Zwar hatte er ihre Fotos stets gelobt, aber was bedeutete schon das Lob eines Blinden?
***
Bis Gisela sich in ihrer Wohnung im ersten Stock einen kalten Imbiss hergerichtet hatte, war sie vollkommen erschöpft. Ihre Rückenschmerzen wurden täglich schlimmer. Wenn es nach Andreas ging, säße hier längst eine Pflegerin herum. Das fehlte ihr gerade noch. Vor diesem dummen Sturz war sie doch noch gut zurechtgekommen und wenn ihre Physiotherapeutin recht behielt, sollte alles bald wieder so sein wie früher.
Darauf wartete sie allerdings schon ein halbes Jahr, und wenn deren Bemühungen nicht bald Früchte trugen, musste sie wohl oder übel auf das Angebot ihres Orthopäden, sie an der Wirbelsäule zu operieren, ebenso eingehen wie auf Andreas’ Vorschlag, eine Hilfe zu engagieren. Das Wort Pflegerin vermied sie.
Beides wollte sie so lang wie möglich hinausschieben – man wusste doch nie, wie so eine Operation ausging. Sie war schließlich nicht mehr die Jüngste. Dabei hatte sie weniger Angst vor dem Sterben – sie hatte ihr Leben gelebt – sie hatte Angst, nach der Operation erst recht auf Hilfe angewiesen zu sein.
Schon deshalb wollte sie im Vorfeld noch einiges erledigen.
Gleich morgen würde sie den Anwalt anrufen und einen Termin vereinbaren. Nach Herberts unerwartetem Tod war sie erst unfähig gewesen, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch der unerquickliche Auftritt seiner Tochter Luisa am zweiten Weihnachtsfeiertag hatte sie gleichsam aufgeweckt. Nun wusste Gisela, was zu tun war.
Die Kollegen Ewald Leitner, Michael Hausner und dessen Frau Thessa erwarteten Andreas bereits und sahen ihm mit einem spöttischen Lächeln entgegen.
„Eben haben wir um die Rechnung des Abends gewettet, dass du zu spät kommen wirst“, sagte Michael.
„Wer hat verloren?“
„Du“, grinste Ewald.
„Ich wollte euch nicht enttäuschen“, entgegnete Andreas. „Außerdem hatte ich sowieso vor, euch einzuladen.“
„Wie nobel von dir“, schmunzelte Michael Hausner. „Vermutlich hast du noch vor der Tür gewartet.“
„Fast.“
„Dafür haben wir bereits ein Glas Muskateller-Frizzante für dich vorbereitet.“
Michael nahm die Flasche aus dem Weinkühler und schenkte ihm ein Glas ein. „Auf dein Wohl!“
Er prostete ihnen zu. „Auf unser gemeinsames Wohl.“
Während sie köstliche Pasta und delikaten Fisch aßen, unterhielten sie sich über den neuesten Branchenklatsch und natürlich über die ins Haus stehende Änderung des Maklerrechts, die seit Wochen die Gemüter der Branche erregte.
„Dieses Gesetz ist reiner Populismus und unsere werte Präsidentin hat so gut wie nichts dagegen unternommen“, ärgerte sich Ewald Leitner. „Es kann ja sein, dass die Änderung tatsächlich nicht zu verhindern gewesen wäre, aber sie hat es ja nicht einmal versucht und damit argumentiert, dass andere Staaten ähnliche Regelungen hätten.“
„Die haben aber auch nicht so ein restriktives Wohnrecht“, warf Michael ein. „Wenn das so beschlossen wird, kostet es österreichweit einige hundert Arbeitsplätze, und den Mietern bringt es im Endeffekt mehr Nach- als Vorteile. Eine Loose-loose-Situation, wie sie im Büchl steht.“
Alle stimmten ihm zu.
„Müsst ihr auch Mitarbeiter entlassen?“, fragte Andreas.
„Wir zum Glück nicht, aber der Maklerbetrieb, mit dem wir zusammenarbeiten“, berichtete Ewald.
Andreas nickte. „Unsere Maklerin ist eine der engagiertesten Mitarbeiterinnen, noch dazu Alleinerzieherin. Aber ich fürchte, ich werde sie nicht behalten können.“
Was er nicht dazusagte war, dass sie auch ein bezauberndes Lächeln hatte. Ausgerechnet sie sollte er kündigen? Es war zum Haareraufen.
„Wenn wir, als Makler, einen Mieter suchen, verlangen die Eigentümer Bonitätsprüfungen, dass sich die Balken biegen. Sobald sie die Maklerkosten dafür tragen müssen, werden sie lieber jeden dahergelaufenen Nachmieter akzeptieren. Wetten?“, ereiferte sich Ewald. „Einige haben bereits angekündigt, die Suche nach Mietern selbst zu übernehmen. Das wird ein Theater, das sag ich euch.“
„Nur ein Grund mehr, die Zusammenarbeit unserer Kanzleien zu intensivieren“, setzte Thessa hinzu.
Alle stimmten ihr zu, und da die Kanzleien Hausner und Leitner bereits seit einiger Zeit kooperierten, berichteten sie von ihren Erfahrungen.
„Klingt vielversprechend“, meinte Andreas und hob sein Glas. „Da kann ich doch nur sagen: Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.“
Darauf stießen sie an, dann meinte Ewald lächelnd: „Wenn du mit Zitaten um dich wirfst, fällt mir augenblicklich Gisela ein. Wie geht es ihr?“
„Sieht man davon ab, dass sie im Rollstuhl unterwegs ist, weil sie nicht einsehen will, dass sie sich an der Wirbelsäule operieren lassen muss, würde ich sagen, sie ist ganz die Alte. Doch die Rückenschmerzen setzen ihr ebenso zu wie Vaters Tod.“
„Gisela sitzt im Rollstuhl?“, war Ewald verwundert.
Andreas nickte. „Seit dem Unfall, bei dem ein Radfahrer sie niedergestoßen hat.“
„Ich weiß davon, aber beim Begräbnis deines Vaters ging sie doch schon wieder sehr aufrecht, nur auf dich und einen Gehstock gestützt.“
Andreas nickte. „Darauf hat sie bestanden. Dank starker Schmerzmittel hat sie es irgendwie hinbekommen. Tobias und ich haben sie gestützt, so gut wir konnten. Du kennst sie ja, wenn sie sich etwas einbildet.“
***
Ewald war mit Andreas seit etwa dreißig Jahren befreundet, genauso lange kannte er auch Gisela.
Damals gehörten Andreas und er zum hoffnungsvollen Branchen-Nachwuchs, während Gisela im Innungsausschuss saß und zum innersten Kern der Branchen-Hautevolee zählte.
Dennoch war sie eher gefürchtet als beliebt gewesen. Auch Andreas galt vielen als arroganter Schweiger, weil er sich nur selten zu Wort meldete. Aber das stimmte nicht. Ewald wusste es besser. Andreas sprach eben nur, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte. Gisela würde formulieren: Wer nichts zu sagen hat, der möge schweigen. Vielleicht hatte sie das auch zu Andreas öfter gesagt.
„Apropos Gisela. Weiß sie von unserem Deal?“, fragte Ewald.
„Bis jetzt noch nicht. Ich wollte erst Fakten schaffen. Rechtlich hat sie zwar schon lange keinen Einfluss mehr, aber du kennst sie ja.“
„Ich kenne sie und irgendwie bewundere ich sie sogar, aber mehr noch bewundere ich dich. Gisela tagtäglich im Büro zu haben, ist vermutlich … kein Honiglecken.“
Andreas nickte zustimmend. „Da hast du recht – und auch wieder nicht. Natürlich hadert sie oft mit der Technik, obwohl sie für ihr Alter IT-mäßig nicht schlecht unterwegs ist. Außerdem kennst du ihre spitze Zunge, die ist bei manchen Mietern ebenso gefürchtet wie bei einigen Mitarbeitern. Aber sie betreut immer noch eine Handvoll langjähriger Kunden, und wenn es darum geht, alte Geschäftsfälle auszugraben, Zusammenhänge herzustellen, die weit in die Vergangenheit reichen – ihr wisst, wie oft das in unserem Geschäft vorkommt –, ist sie unschlagbar. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie das eines Tages ohne sie laufen soll.“
„Ihr macht mich neugierig, die Dame würde ich gerne kennenlernen“, warf Thessa ein.
„Das wird ohnehin nicht zu vermeiden sein, meine Liebe. Deshalb wollte ich vorschlagen, die nächste Besprechung bei uns im Büro abzuhalten, um euch Gisela vorzustellen – und vice versa. Ich weiß, dass sie anstrengend sein kann, aber ohne sie gäbe es unsere Kanzlei schon lange nicht mehr.“
Da ist was dran, dachte Ewald, der die alten Geschichten über die Kanzlei Wogner noch aus den Erzählungen seiner Tante kannte. Wenn er sich recht erinnerte, war die Kanzlei knapp vor der Insolvenz gestanden. Doch das musste einige Jahrzehnte her sein. Später wurde sie eine der führenden Kanzleien der Stadt. Auch das war Geschichte. Durch die vielen Betriebszusammenlegungen der letzten Jahre war die Kanzlei heute bestenfalls noch als Mittelbetrieb einzustufen.
***
Da Giselas langjähriger Anwalt seit Kurzem in Pension war, musste sie sich einmal mehr mit dessen Nachfolger herumschlagen, was ihre Laune kaum verbesserte. Wie hieß er doch gleich? Obwohl ihr der junge Mann nun schon einige Zeit bekannt war, konnte sie sich seinen Namen nicht merken. Verflixt, ihr Namensgedächtnis war doch früher ganz gut gewesen. Egal, sie würde einfach Herr Doktor sagen – wobei auch das nicht mehr stimmen musste, neuerdings hatten sie ja ganz seltsame Titel.
Gisela empfing den Anwalt in ihrer Wohnung, dennoch hielt sie sich nicht mit langen Vorreden auf.
„Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat mein Mann sein Vermögen zu gleichen Teilen seinem Sohn Andreas, seiner Tochter Luisa und mir vermacht.“
Der Anwalt nickte. „Er hat kein Testament hinterlassen, demnach ist die gesetzliche Erbfolge eingetreten. Ich nehme an, das hat Sie nicht sonderlich überrascht.“
„Wir haben nie darüber gesprochen, wir hatten ja Gütertrennung, aber ja, ich habe mit etwas Ähnlichem gerechnet. Ich hingegen habe seit Langem ein Testament und genau das muss ich nun ändern. Da mein Mann als Erbe nicht mehr infrage kommt, möchte ich Andreas zum Alleinerben machen.“
Der Anwalt machte sich eine Notiz.
„Da Luisa nur meine Stieftochter ist, nehme ich an, dass rechtlich nichts dagegenspricht“, ergänzte Gisela.
Der Anwalt nickte zustimmend. „Das ist absolut richtig. Nur der guten Ordnung halber gebe ich zu bedenken, dass der größere Teil des Vermögens in Ihren Händen liegt.“
„Sie werden es nicht glauben, das ist mir bekannt.“
„Vielleicht wollen Sie darüber hinaus das eine oder andere Legat aussetzen?“
„Gute Idee. Ich könnte Luisa die hässliche Brosche, die sie mir zum 70. Geburtstag geschenkt hat, überlassen und die grauslichen Vasen, die sie stets aus dem Urlaub mitgebracht hat, gleich dazu.“
Der Anwalt lächelte pflichtschuldigst, ging darauf aber nicht näher ein, also fuhr Gisela fort: „Bei meinem Stiefsohn Andreas weiß ich das Erbe in guten Händen, zumindest soweit es die Immobilien betrifft. Ob er die Antiquitäten zu schätzen weiß, die ich von meiner Tante Gusti geerbt habe, ist eine andere Frage. Für ihn ist das vermutlich alles nur alter Krempel.“
„Wie gesagt, Sie könnten einzelne Stücke ebenso als Legat aussetzen wie Bargeld und Ähnliches.“
Gisela nickte.
„Es wäre hilfreich, wenn wir in einem solchen Fall Fotos der jeweiligen Objekte hätten. Vielleicht könnte Ihre Schwiegertochter diese anfertigen?“
Gisela rückte ihre Lesebrille zurecht, machte sich eine Notiz und erwiderte kurz: „Das könnte sie.“
Mona war zwar nie die Frau gewesen, die Gisela sich für Andreas gewünscht hatte, fotografieren konnte sie immerhin. Vielleicht würde sie sogar das eine oder andere Stück aus Giselas Vitrine eher zu würdigen wissen als Andreas.
„Wollen Sie für Ihren Enkel Tobias auch ein Legat aussetzen?“
„Gute Idee. Im Keller müssten noch zerrissene Jeans von meinem Mann sein, die könnten ihm gefallen.“
Da der Anwalt sie etwas konsterniert ansah, setzte sie hinzu: „Außerdem existiert ein Wertpapierdepot auf den Namen des Klugscheißers und die Dachgeschosswohnung hier im Hause bekommt er auch.“
„Ich dachte, in der Dachgeschosswohnung wohnt Ihre Schwiegertochter?“
„Ja, und?“
„Soll deren Wohnrecht im Falle Ihres Ablebens gewahrt bleiben?“
Gisela dachte kurz nach, dann nickte sie. „Von mir aus soll sie hier wohnen bleiben. Tobias kann dann ja meine Wohnung haben.“
„Soll das ebenfalls vertraglich vereinbart werden? Schließlich wird Ihr Stiefsohn Eigentümer des Hauses.“
„Das werden sich die drei schon ausmachen.“
„Zur Absicherung Ihres Enkels und Ihrer Schwiegertochter könnten Sie entsprechende Wohnrechte zu deren Gunsten im Grundbuch …“
Gisela warf ihm einen genervten Blick zu. „Junger Mann, ich habe mein Leben in der Immobilienbranche gearbeitet. Das ist mir alles bekannt. Mein Stiefsohn wird über diese Immobilien verfügen und ich zweifle nicht daran, dass er für seinen Sohn und seine Ehefrau, sollte Mona das dann noch sein, angemessen sorgen wird.“
Da der Anwalt nicht gleich darauf antwortete, schoss sie nach: „Haben Sie das verstanden?“
Er nickte.
***
Wenn Gisela etwas anfing, dann zog sie es auch durch. Noch am selben Tag rief sie Mona an. „Ich hätte wieder einmal einen Auftrag für dich.“
„Ach, wirklich.“
„Nur keine Begeisterungsstürme, diesmal handelt es sich weder um ein Zinshaus noch um eine devastierte Wohnung. Ich möchte, dass du meine Antiquitäten fotografierst. Die Verrechnung erfolgt natürlich fremdüblich.“
„Schön. Zu welchem Zweck?“
„Ist das wichtig?“
„Natürlich, sonst hätte ich nicht gefragt.“
„Also gut. Unser Anwalt meint, ich bräuchte Fotos von den Stücken, die ich als Legat aussetze.“
„Es geht mich zwar nichts an, aber …“
„Du weißt gar nicht, wie recht du hast, meine Gute. Wann darf ich mit deinem Besuch rechnen?“
***
Offenbar war Gisela immer noch der Meinung, sie hätte es nicht nötig, ihre Ansichten zu begründen, ärgerte sich Mona. Wie nach jedem Gespräch schwankte sie zwischen Ärger und einem Hauch Belustigung. Einerseits mochte sie Giselas herrisches Gehabe nicht, andererseits musste man ihr zugestehen, dass sie – anders als Andreas – offene Worte ebenso wenig scheute wie Konfrontationen. Insofern waren sie einander ähnlich, was nicht unbedingt zur gegenseitigen Sympathie beitrug.
Dennoch merkte Mona den Fototermin bereits für den übernächsten Tag vor. Altes Geschirr zu fotografieren war zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber immer noch besser als vollgerammelte Kellerabteile und stickige Dachböden. Außerdem würde Gisela prompt zahlen.
Seit Mona von Andreas getrennt lebte, fiel ihr auf, wie teuer das Leben war. Natürlich hatte sie auch früher eingekauft, doch sie hatte sich nie die Mühe gemacht, ihre Ausgaben zu summieren. Wozu auch? Das gemeinsame Konto war immer ausreichend gefüllt gewesen.
Hätte sie schon früher nachgerechnet, wäre sie sicher nicht auf seinen Vorschlag eingegangen, der da lautete: Er überließ ihr kostenlos die Dachgeschosswohnung zur Nutzung und übernahm alle Kosten für Tobias, darüber hinaus sorgte jeder für sich.
Na schön, eine Zeit lang ging das, noch hatte sie Reserven, doch à la longue musste sich eine andere Lösung finden. Holger meinte, auch im Zuge einer Scheidung würde sie nicht wesentlich besser aussteigen, da sie während ihrer Ehe unternehmerisch tätig gewesen war. Wenn das wirklich stimmte, sollte sie Holgers Antrag vielleicht doch annehmen.
Andreas sah gedankenverloren aus dem Fenster und beobachtete, wie der Wind den Regen über die Terrasse peitschte.
Das nächste Treffen mit seinen neuen Geschäftspartnern sollte bereits in einer Woche stattfinden. Der Kooperationsvertrag war unter Dach und Fach. Höchste Zeit, Gisela reinen Wein einzuschenken.
Heute schien ihm der Zeitpunkt günstig. Es war ihr vormittags etwas besser gegangen, da würde sie pünktlich um drei wieder ins Büro kommen. Da Freitag war, waren kaum noch Mitarbeiter im Büro, der Anrufbeantworter war eingeschaltet, das Telefon würde sie daher auch nicht stören.
Obwohl ihm das Geschäft seit langer Zeit gehörte, lag ihm dieses Gespräch im Magen. Vielleicht sollte er zuallererst mit dem Personalproblem argumentieren. Das war zwar nur einer der Gründe, warum er sich zu dieser Kooperation entschlossen hatte, aber es war einer, den Gisela am ehesten gelten lassen würde.
Er ging wieder zu seinem Schreibtisch und versuchte, sich auf das vor ihm liegende Schriftstück zu konzentrieren, doch seine Gedanken schweiften ab.
Es war Zeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Mit Mitte fünfzig dachte er zwar noch lange nicht ans Aufhören, doch die Anforderungen, die heute an einen Verwalter gestellt wurden, konnten größere Kanzleien weit besser bewältigen.
Noch vor zwanzig Jahren, als Gisela und sein Vater ihm die Geschäftsführung übertragen hatten, galt ihr Unternehmen als einer der großen Betriebe der Stadt. Heute waren sie kaum mehr als mittelgroß. Dabei hatte er das Gefühl, alles wäre erst gestern gewesen, denn trotz aller Schwierigkeiten waren ihm die Jahre allzu schnell vergangen. Nun hatte der Tod seines Vaters ihm vor Augen geführt, wie schnell das Leben zu Ende sein konnte.
Seither dachte er immer öfter, die Zeit zerrinne ihm zwischen den Fingern.
Eben noch war er ein Junge gewesen, der nicht so richtig wusste, wohin er gehörte. Es hatte eine Zeit lang gedauert, bis er seinen Platz im Leben gefunden hatte. Nun war er ein Mann, der die Mitte seines Lebens überschritten hatte. Lange schien ihm alles bestens zu sein – doch seit einiger Zeit war nichts, wie es sein sollte.
Seine Ehe mit Mona bestand nur noch auf dem Papier, Sohn Tobias hatte nicht den geringsten Ehrgeiz und schon gar keinen Plan, was aus ihm werden sollte. Es schien ihn überhaupt nicht zu interessieren. Irgendetwas hatten sie wohl falsch gemacht.
Während Andreas noch überlegte, wie er sich Tobias gegenüber verhalten sollte, hörte er Gisela kommen.
Da er wusste, wie sehr sie sich bemühte, ihre Beschwerden möglichst zu verbergen, eröffnete er das Gespräch mit den Worten: „Ich sehe, du hast auf deinen Rollstuhl verzichtet. Das lässt mich hoffen, dass es dir heute besser geht.“
Sie stützte sich schwer auf ihren Stock, ehe sie sich in ihren Bürosessel fallen ließ und schnaufend antwortete: „Ganz fantastisch, sieht man doch.“
Ohne auf ihren sarkastischen Ton einzugehen, fuhr er fort. „Das trifft sich gut, ich möchte nämlich mit dir reden.“
„Dann tu’s.“
„Du erinnerst dich an Ewald Leitner?“
Sie warf ihm einen genervten Blick zu. „Ich hab’s im Rücken, nicht im Kopf.“
„Ich weiß, deshalb bin ich auch sicher, dass du die Änderungen, die ich plane, verstehen wirst.“
„Klingt schon einmal gefährlich. Welche genau?“
„Ich will und werde mit Ewald eine Kooperation eingehen.“
„Der hat doch schon vor Jahren mit einem anderen Kollegen fusioniert.“
„Es sind etwas mehr als zwei Jahre und es war keine Fusion. Die beiden haben lediglich ihre Betriebe an einem Standort zusammengelegt, um Synergien zu nutzen.“
„Sag jetzt nicht, du willst unseren Betrieb ebenfalls an einen anderen Standort verlegen.“
„Nein, das will ich nicht und das ist mit der heutigen Technik auch gar nicht notwendig, um enger zusammenzuarbeiten.“
Das schien sie vorerst ein wenig zu beruhigen. Dennoch klang ihre nächste Frage kämpferisch. „Was soll das bringen?“
„Es soll unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten, uns ebenfalls Synergieeffekte bescheren und die Zukunft absichern. Du weißt sicher, dass Ewald einige Jahre älter ist als ich. Michael Hausner und seine Frau Thessa sind hingegen um einige Jahre jünger …“
„Ja, und?“ Es klang ungeduldig.
„So lass mich doch ausreden. Ich muss an die Zukunft denken.“
Sie sah ihn erstaunt an. „Du bist 55.“
„Ja, eben. Ob Tobias eines Tages ins Geschäft einsteigen wird, steht in den Sternen. Im Moment sieht es eher nicht danach aus. Aktuell interessiert er sich außer für Mädels nur noch fürs Chillen und, wenn dann noch Zeit bleibt, für Klimaschutz.“
„Ich weiß, darüber hält er gern große Reden. Vielleicht sollte er in die Politik gehen.“
Andreas lächelte: „Mona meint, das sei das Ergebnis ihrer Erziehung, weil sie …“
„Dann hat sie wohl einiges falsch gemacht!“, fuhr Gisela dazwischen.
Das sah Mona naturgemäß ganz anders, Andreas war geneigt, beiden recht zu geben. Klar war es wichtig, Kinder zu selbstständigem Denken zu ermuntern, zu selbstbewussten Menschen zu erziehen – einerseits. Andererseits gehörte zum selbstständigen Denken auch, auf ein gewisses Wissen zurückzugreifen, und bevor das Selbstbewusstsein in den Himmel wuchs, sollte man erst etwas geleistet haben.
„Tobias ist genauso ein hoffnungsloser Träumer wie sein Großvater“, unterbrach Gisela seine Überlegungen. Das war zwar keine sehr vielversprechende Prognose, klang jedoch erstaunlich milde.
„Ein Grund mehr, die Kooperation einzugehen. Wenn Tobias nicht übernimmt, wäre vielleicht Hausner eines Tages interessiert. Sollte sich Tobias aber doch noch dazu entschließen, wäre es in der Kooperation auch für ihn einfacher. Du weißt ja, die Jungen wollen …“
„Work-Life-Balance“, warf Gisela giftig ein.
„Kommenden Mittwochnachmittag treffen wir uns hier zu einer weiteren Gesprächsrunde, da würde ich dir die Hausners gerne vorstellen. Passt es dir um 15 Uhr? Thessa ist schon ganz wild darauf, dich kennenzulernen.“
Gisela nahm ihren Kalender zur Hand und warf ihm einen skeptischen Blick zu. „So, ist sie das? Dann will ich lieber nicht wissen, was du über mich erzählt hast.“
„Nur das Beste.“
„Schleimer. Wie sollte die Aufgabenaufteilung denn aussehen?“
„Michael wird sich um die IT-Angelegenheiten kümmern. Wie du weißt, ist das nicht gerade meine Stärke, auf diesem Gebiet haben wir etwas Aufholbedarf. Seine Frau Thessa ist Betriebswirtin. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Ressortzuständigkeit. Obwohl die Eigenständigkeit der Betriebe erhalten bleiben soll, wollen wir die Zusammenarbeit auch auf den Bereich der Mietenbuchhaltung ausweiten. Die genauen Details werden erst noch ausverhandelt. Bisher haben wir lediglich eine Grundsatzentscheidung getroffen.“
Eine Weile blieb es still, dann sagte Gisela ebenso laut wie prononciert: „Wa-rum?“
„Wie gesagt, als Einzelkämpfer ist es nicht einfach, auf dem Markt zu bestehen …“
„Wie du nicht müde wirst zu wiederholen“, warf sie scheinbar gelangweilt dazwischen.
„Ich finde das Gefühl, hinkünftig nicht mehr alles allein stemmen zu müssen, sondern Geschäftspartner zu haben, auf die man sich verlassen kann, durchaus befreiend.“
„Wenn ich seinerzeit so gedacht hätte …“
„Ich weiß, Gisela, aber die Welt hat sich weitergedreht, und du solltest mir zumindest zugestehen, die heutige Situation ein wenig besser einschätzen zu können.“
Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Ich weiß, dass du … nicht ganz blöd bist, deswegen verstehe ich es ja nicht. Himmelherrgott, du bist promovierter Jurist und ein gestandenes Mannsbild! Kommst eh mehr nach deinem Großvater väterlicherseits. Der würde sich im Grab umdrehen, schließlich ist der Betrieb seit Generationen im Familienbesitz.“
Andreas hatte an diesen Großvater keine Erinnerung mehr. Bei dessen Tod war er ein Kleinkind gewesen. Selbst Gisela kannte ihn nur aus Erzählungen. Die besagten allerdings, Großvater Wogner sei ein Hausherr der alten Schule gewesen. Aus heutiger Sicht würde man ihn wohl eher einen Despoten nennen. Außerdem hatte er an der Schieflage des Unternehmens, mit der Andreas’ Vater so vergeblich gekämpft hatte, ebenfalls seinen Anteil gehabt. Doch das waren alte Geschichten, deswegen antwortete Andreas nur: „Manchmal brauchen eben auch starke Männer verlässliche Freunde.“
„Wie verlässlich die sind, wird sich erst noch herausstellen.“
***
Als Gisela am Mittwochnachmittag in den Besprechungsraum rollte, war ihr Mund in einem kräftigen Zyklam geschminkt, sie trug einen kiwigrünen Blazer, dazu eine Bluse in den Farbtönen Kiwigrün bis Zyklam.
Andreas konnte sich zwar nicht erinnern, sie je ohne Lippenstift oder gar unfrisiert im Büro gesehen zu haben, doch heute hatte sie sich offenbar besondere Mühe gegeben. Sogar die Friseurin war da gewesen. Jedes Haar hatte seinen Platz und die Augenbrauen waren perfekt gezupft.
Er fand ja, eine Spur dezenter wäre auch nicht schlecht gewesen, wusste aber, dass sie grelle Farben seit jeher mochte. In seiner Schulzeit hatte sie einen knallorangen VW-Käfer besessen. Schockfarben nannte man das damals. Es war ihm jedes Mal peinlich gewesen, wenn sie ihn damit abholte, aber seine Schulkollegen fanden das Auto klasse.
Gisela nickte den Anwesenden majestätisch zu. „Behalten Sie ruhig Platz.“
Es war ohnehin niemand aufgestanden. Michael Hausner errötete leicht, Ewald grinste und stand nun doch auf, um ihr die Hand zu schütteln. „Frau Wogner, schön, Sie zu sehen!“
„Herr Leitner, haben Sie Andreas die Sache mit dieser Kooperation eingeredet?“
Ewald nickte. „Zugegeben, aber Sie werden sehen, gnädige Frau, es ist eine Win-win-Situation.“
„Das wird sich erst noch weisen.“
Ohne auf diesen kleinen Disput einzugehen, sagte Andreas: „Gisela, darf ich dich mit Familie Hausner bekanntmachen.“
Michael war ebenfalls aufgestanden und hauchte einen Handkuss auf die ihm dargebotene Rechte. Das würde Gisela für ihn einnehmen, sie legte großen Wert auf solche Dinge, auch wenn sie etwas aus der Zeit gefallen sein mochten.
„Meine Mutter lässt Sie herzlich grüßen“, setzte Michael noch hinzu.
„Ihre Mutter? Ich erinnere mich an keine Hausverwaltung Hausner“, sinnierte Gisela.
„Die Kanzlei hieß damals nach meinem Großvater, Georg Heim.“
Gisela nickte. „An den erinnere ich mich. Lebt er noch?“
„Leider nein.“
„Und Ihre Mutter hieß … lassen Sie mich überlegen … Vilma?“
„Vera. Ich wusste nicht, dass Sie einander so gut kennen.“
„Wir haben einmal ein Haus an Ihre Verwaltung verloren. Ein ziemlich großes Eigentumsobjekt. Ihre Mutter hat die Unterlagen bei uns abgeholt und wir haben ein wenig geplaudert. Ich erinnere mich deshalb so gut daran, weil sie mir erzählt hat, sie hätte lieber Architektur studiert, als in der Hausverwaltung zu arbeiten. Genau wie mein Herbert. Arbeitet Ihre Mutter immer noch?“
„Meine Mutter hat schon nach meiner Geburt nur noch sporadisch ausgeholfen. Ich habe die Kanzlei direkt von meinem Großvater übernommen.“
„Lassen Sie sie grüßen. Ich würde mich freuen, sie gelegentlich zu treffen.“
Das versprach Michael. Dann war Thessa an der Reihe. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Schön, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.“ Es klang, als hätte sie es tatsächlich so gemeint.
Gisela nickte auch ihr huldvoll zu. „Aber sicher. Ich sterbe doch vor Neugier und will wissen, was Sie alles verändern wollen.“
„So wenig wie möglich, so viel wie notwendig“, parierte Thessa.
„Sie erlauben, dass ich vorerst skeptisch bleibe. Haben Sie nicht vor Kurzem auch die Hausverwaltung Stein geschluckt?“
„Sie sind ja bestens informiert“, antwortete Thessa lächelnd. „Geschluckt würde ich allerdings nicht sagen, wir haben uns fusioniert.“
„Stein hatte doch eine Tochter.“
Thessa nickte. „Judith. Ihr Mann hat die Kanzlei eine Zeit lang geführt, nach der Scheidung hat sich Judith zur Fusion entschlossen und macht nun das, was ihr wirklich Spaß macht.“
„Shoppen?“, fragte Gisela.
Thessa grinste. „Das vermutlich auch. Sie arbeitet in einem Hamburger Verlag und ist neuerdings mit dem Geschäftsführer verheiratet.“
„So, so.“
Man konnte Gisela anhören, dass sie noch lange nicht überzeugt war. Andreas lehnte sich zurück und ließ den Dingen ihren Lauf. Er musste nicht beweisen, wer in der Kanzlei das Sagen hatte, das wussten alle, also wollte er Gisela ihren Auftritt nicht verderben, so übertrieben der auch sein mochte. Er verdankte Gisela so vieles, und anders als seine Schwester Luisa hatte er das nie vergessen.
Kaum hatte Andreas das Telefonat mit seiner Mutter beendet, betrat Ulrike Lanner im Eilschritt sein Büro. „Sie wollten mich sprechen?“
„Ja, danke, dass Sie so schnell gekommen sind.“ Andreas wies auf einen der Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.
„Wie kommen Sie mit der Vermietung unseres Sorgenkindes voran?“, fragte er, nachdem sie ihm gegenüber Platz genommen hatte.
„Welches genau meinen Sie? Aktuell hätte ich zwei im Angebot. Die Dreizimmerwohnung am Gürtel und das Betriebsobjekt in Stadlau.“
„Ach ja, die Wohnung am Währinger Gürtel haben wir auch noch.
Schöne Wohnung, unattraktiver Standort. Da hilft vermutlich nur beten. Was macht das Betriebsobjekt?“
„Dem würde ein kurzes Gebet auch nicht schaden. Interessenten gäbe es schon, nur der Denkmalschutz macht jeden Umbau kompliziert und teuer.“
Ihre Antworten überraschten ihn nicht sonderlich. Das alles wusste er. Seine Fragen dienten auch eher dazu, das unangenehme Gespräch, das er gleich mit ihr führen musste, noch ein klein wenig hinauszuzögern.
„Ich verstehe ja, dass man schöne alte Gebäude erhalten soll, aber dieser alte Kasten ist einfach nur hässlich“, setzte Ulrike hinzu.
„Das sehe ich ganz ähnlich. Warum ich Sie sprechen wollte. Sie verfolgen ja sicher die bevorstehende Gesetzesänderung, mit der …“
„Mit der man einen Berufsstand einfach ausradiert“, beendete Ulrike seinen Satz mit ungewohnter Heftigkeit. „Ich verfolge sie sogar sehr genau. Sieht aus, als würden unsere Politiker diesmal Nägel mit Köpfen machen.“
„Ja, so sieht es aus. Ausradieren stimmt zwar nicht ganz, es ist ja nur ein Teil der Maklerschaft betroffen …“
„Genau genommen all jene, die sich bisher mit der Vermietung von Wohnungen beschäftigt haben. Das sind nicht wenige. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass der eine oder andere Eigentümer uns weiterhin beauftragen und die gesamten Vermittlungskosten übernehmen wird, aber von denen werde ich nicht leben können.“
Andreas nickte. Wie die meisten ihrer Kollegen erhielt Ulrike zwar ein Fixum, doch der weitaus größere Teil ihres Einkommens bestand aus Vermittlungsprovisionen.
„Heißt das, Sie wollen uns verlassen?“, fragte er. Im Grunde war es genau das, was er ihr hatte sagen wollen.
„Geh, Schmarren. Wir müssen einfach nur g’scheit nachdenken, wie wir mit der Sache umgehen.“
Andreas empfand plötzlich etwas wie Erleichterung. Das war zwar vollkommen unlogisch, weil er ihr doch etwas völlig anderes nahelegen wollte, fühlte sich aber erstaunlich gut an. Dabei hatte er nicht die geringste Ahnung, was beim G’scheit-Nachdenken herauskommen sollte – aber es war ja auch erst Anfang Februar. Bis zum Sommer könnte ihnen doch etwas einfallen.
„War’s das?“, fragte Ulrike. „Ich müsst nämlich die Geli abholen.“
„Selbstverständlich. Aber wir sollten das Thema nicht aus den Augen verlieren. Vielleicht reden wir nochmals darüber.“
„Auf jeden Fall. Anfang der Woche ist es bei mir zwar immer schlecht, aber …“
„Was halten Sie davon, wenn wir am Wochenende bei einem Winterspaziergang gemeinsam nachdenken?“, unterbrach Andreas.
Ulrike war bereits an der Tür. „Jo, gern. Wenn ich Geli mitnehmen kann.“
„Aber natürlich. Sonntagmittag? Ich hole Sie ab.“
„Na dann, bis Sonntag. Die genaue Adresse …“
„Entnehme ich dem Personalakt.“
Sie zwinkerte ihm zu. „Auch eine Möglichkeit. Einfacher wär, ich schick sie Ihnen aufs Handy. Samt Anfahrtsplan.“
Dann winkte sie ihm zu und ging.
Wie war er denn jetzt darauf gekommen, dachte Andreas. Vermutlich, weil ihm vor einem weiteren einsamen Sonntagnachmittag graute. Außerdem würden sie gemeinsam über eine Lösung des Maklerproblems nachdenken. Allein dieser Umstand stimmte ihn fröhlich – wenngleich wider alle Vernunft. Sobald die Vermieter für die gesamte Vermittlungsprovision aufkommen müssten, würde ein Großteil des Geschäfts wegbrechen. Daran würde g’scheit nachdenken leider nichts ändern.
Egal. Zumindest hatte er eine Verabredung. Allerdings mit einer Mitarbeiterin. Ob das klug war?
Nächster Punkt. Er musste seine Schwester Luisa anrufen, das hatte er vorhin seiner Mutter versprochen, und er hatte so eine Ahnung, dass dieses Gespräch nicht sonderlich harmonisch verlaufen würde. Das Verhältnis zwischen ihm und Luisa war kompliziert. Vielleicht weil Luisa – anders als er – bei der Mutter aufgewachsen war. Sicher hatte sie in der Kindheit wenig Freundliches über Vater und Gisela gehört, aber das war noch lange kein Grund, sich später kein eigenes Bild zu machen. Schließlich war Luisa erwachsen – und das nicht erst seit gestern.
In all den Jahren sollte sie doch begriffen haben, wie die Dinge damals gelaufen waren. Nicht Gisela hatte seine Mutter hinausgeekelt, Mutter hatte Vater verlassen, als der geschäftlich mit dem Rücken zur Wand stand.
Aber das würde Luisa nie zugeben. Das wollte sie einfach nicht verstehen. Wenn er an die unschöne Szene vom Stephanitag dachte, war er versucht, den Anruf zu unterlassen. Dennoch tippte er ihre Nummer und verabredete sich für den nächsten Abend. Immerhin würde sie allein kommen. Seinen Schwager Alois, diesen langweiligen Erbsenzähler, konnte er noch weniger ausstehen.
Nur seine Nichte Steffi war ganz anders. Intelligent, freundlich und humorvoll. Von ihren Eltern hatte sie diese Gene schon einmal nicht geerbt. Vielleicht hatte sie sich deshalb entschieden, nicht in Wien zu studieren. Erst war sie in Berlin gewesen, dann in London und nun war sie sogar in den Vereinigten Staaten. Kostete sicher eine Stange Geld. Dass ausgerechnet Luisa und ihr sauertöpfischer Alois die Kosten trugen, konnte Andreas sich kaum vorstellen. Mutter? Warum nicht. Sie hatte von den Großeltern geerbt und ihr zweiter Mann, Ferdi, hatte sie sicher auch nicht unversorgt zurückgelassen. Aber das war nicht sein Bier.
***
Andreas hatte sich einmal mehr vorgenommen, alles zu tun, um den Familienfrieden – der seit Luisas unsäglichen Aussagen am zweiten Weihnachtsfeiertag ziemlich gestört war – wiederherzustellen. Er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er es war, der Luisa und ihren Alois eingeladen hatte. Warum eigentlich? Nur weil die beiden zu Vaters Begräbnis gekommen waren?
Doch kaum saß er Luisa zehn Minuten gegenüber, sagte er unwirsch: „Deine Anschuldigungen hättest du dir jedenfalls sparen können. Sie waren ebenso geschmacklos wie falsch.“
„Was habe ich denn gesagt? Nichts als die Wahrheit. Gisela hat nicht nur unsere Familie auf dem Gewissen, sie wird uns auch um unser Erbe betrügen.“
„Luisa, bitte, das ist doch kompletter Unsinn. Gisela …“
„Ich erkläre es dir gern noch einmal“, unterbrach ihn Luisa. „Vielleicht verstehst du es eines Tages ja doch noch. Gisela hat Vater erst alles aus der Hand genommen und nun vermacht sie das Geld, das uns zustünde, eines Tages … irgendjemand anderem.“
„Wem genau?“
„Was weiß ich? Vielleicht dem Tierschutzverein.“
„Seit wann ist Gisela denn so tierlieb?“, fragte er spöttisch und nahm einen Schluck Bier, ehe er begütigend hinzufügte: „Luisa, das ist Blödsinn. Was immer Gisela eines Tages mit ihrem Vermögen anstellen wird, es ist ihr gutes Recht darüber zu verfügen.“
„Wie kannst du so etwas sagen? Ohne unsere Familie wäre sie nichts!“, fauchte Luisa.
Andreas wurde nur selten wütend, doch seine Schwester schaffte es immer wieder spielend, ihn auf die Palme zu bringen.
Er atmete tief durch, ehe er fragte: „Wer genau ist unsere Familie in diesem Zusammenhang? Wenn du unsere Mutter meinst, so hat die am allerwenigstens zum Vermögensaufbau beigetragen, eher im Gegenteil, und …“
„Hör auf, auf unserer Mutter herumzuhacken!“, fuhr Luisa dazwischen. „Unsere Mutter hatte es schwer genug. Alleingelassen mit zwei kleinen Kindern …“
„Mir kommen gleich die Tränen“, warf Andreas sarkastisch ein.
„Sie hat Vater Knall auf Fall verlassen und ist unter das Dach ihrer Eltern geflüchtet. Unser Großvater hat dann nichts unversucht gelassen, Vater endgültig fertigzumachen.“
„Warum wohl?“
„Gute Frage. Das habe ich nämlich bis heute nicht verstanden. Wenn also jemand Schuld auf sich geladen hat, dann unsere Großeltern. Aber auch das ist egal, denn sie sind längst tot.“
„Das sagst du doch nur, weil du Opa nicht gemocht hast.“
„Dazu hat er mir auch keinen Grund gegeben.“
„Außerdem sind das nichts als Vermutungen.“
„Irrtum, meine Liebe, das sind Tatsachen, die sowohl du als auch unsere Mutter nur allzu gern vergesst.“
„Du hältst dich wohl für die personifizierte Objektivität. Dabei kennst du doch nur Giselas Geschichten. Die menschliche Wahrnehmung ist bekanntlich ungemein subjektiv.“
„Wem sagst du das“, warf Andreas spöttisch ein. „Aber ich beziehe mich ohnehin nicht nur auf Giselas Geschichten, sondern vor allem auf die, die unser Vater immer und immer wieder erzählt hat, obwohl er dabei nicht allzu gut weggekommen ist.“
„Mutter schwört, sie hatte nicht den leisesten Schimmer, wie es um seine Finanzen tatsächlich stand. Er hat sie getäuscht, sie und die Familie. Das ist die Wahrheit!“
„Das ist vielleicht ihre Erinnerung, ob es die Wahrheit ist, lassen wir einmal dahingestellt. Denn wie du eben selbst festgestellt hast, ist die Kluft zwischen Wahrheit und Wahrnehmung nicht unbeachtlich. Außerdem mache ich es Mutter heute nicht mehr zum Vorwurf. Sie war jung, unerfahren und stand unter dem Einfluss ihrer Familie. Aber das alles ist lange her.“
„Ändert aber nichts daran, dass Giselas Verwandtschaft eines Tages unser Vermögen einheimsen wird. Oder weißt du, wem sie alles vererben wird?“
„Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass sie und Vater mir vor zwanzig Jahren einen Betrieb übergeben haben, den es ohne Giselas Zutun nicht mehr gegeben hätte. Und nur zur Erinnerung. Du hast zum Ausgleich das Zinshaus in der Varnhagengasse bekommen, das Vater und Gisela gemeinsam besaßen.“
„Unsinn. Gisela gehörte bloß ein Drittel. Wie kam sie überhaupt dazu? Das Haus war doch seit Generationen im Besitz unserer Familie.“
Andreas wunderte sich einmal mehr, dass Luisa, seit es ums Erbe ging, die Wogners als unsere Familie bezeichnete. Rechtlich stimmte das zwar, faktisch hatte Luisa sich nie als eine Wogner gefühlt. Doch er ging nicht darauf ein und antwortete sachlich: „Vater hatte das Haus der Bank als Sicherstellung für einen Betriebsmittelkredit angeboten, den er dann nicht bezahlen konnte. Zum Glück hat Gisela wenige Monate zuvor von ihrer Großmutter ein altes Haus geerbt. Sie hat es verkauft und mit dem Geld den Kredit zurückbezahlt. Damit hat sie den Betrieb letztendlich gerettet und dafür hat Vater ihr ein Drittel des Hauses überschrieben.“
„Ja, ja, aber du weißt selbst, dass dieses Haus kaum Ertrag abwirft.“
Er nickte. „Und warum wirft es keinen Ertrag ab? Weil du nicht bereit bist, zu investieren. Ohne Fleiß kein Preis, wie Gisela sagen würde. Auch meine Hausverwaltung wirft nur Ertrag ab, wenn ich dafür arbeite. Darüber hinaus erhalten wir aus Vaters Erbe je ein Drittel. Tu also nicht so, als wären wir leer ausgegangen.“
„Gisela hätte – zumindest – auf ihren Anteil verzichten müssen. Vater hatte doch nur noch ein Zinshaus.“
„Dazu etwas Bargeld und das Haus seiner Eltern. Ach Luisa, lass es doch gut sein.“
Aber das kam für Luisa offenbar nicht infrage, schon fuhr sie fort: „Jetzt willst du mir sicher gleich einreden, dass wir damit gut bedient sind und du von Giselas Testament nichts weißt?“
„Ich habe sie nie danach gefragt, also haben wir nie darüber gesprochen.“ Noch bevor Luisa etwas einwerfen konnte, setzte er hinzu: „Nur damit wir uns richtig verstehen, ich werde sie auch nicht danach fragen.“
Luisa zog die Augenbrauen hoch und seufzte dramatisch. „Ich wollte es ja nicht glauben, aber vermutlich hat mein Alois doch recht. Du wirst schon einen Grund haben, warum du Gisela immer verteidigst.“
Wie immer, wenn Andreas wirklich wütend war, sprach er leise und langsam. „Verstehe ich das richtig? Du unterstellst mir, mich mit Gisela zu verbünden, um dich zu übervorteilen?“ Er hatte das Gefühl, gleich vor Wut zu platzen.
Luisa zuckte mokant mit den Schultern.
„Weißt du was?“, zischte er. „Glaub doch, was du glauben willst. Wenn du wieder zur Vernunft gekommen bist, kannst du mich ja anrufen.“
Dann knallte er einen Geldschein auf den Tisch, riss seinen Mantel vom Haken und stürmte aus dem Lokal.
Wie konnte sie ihm unterstellen, sie zu hintergehen? Auch wenn sie einander nicht besonders nahestanden, musste Luisa doch wissen, dass er das nie tun würde.
Ob Mutter dahintersteckte? Die beiden schienen ihm ein Herz und eine Seele zu sein und wohnten neuerdings auch wieder im gleichen Haus. In jener Villa in Döbling, die einst den Großeltern gehört hatte und mit der Andreas keine allzu guten Erinnerungen verknüpfte.
Herbert Wogner rieb sich die Augen. Bald Mitternacht. Der Kopf tat ihm weh und seine Augen brannten. Das war aber auch schon das Einzige, was bei seinen nächtlichen Überlegungen herausgekommen war. Er sollte endlich nach Hause fahren. Karin würde bereits schlafen und nicht erbaut sein, wenn er so spät kam. Hoffentlich weckte er sie nicht oder gar den Kleinen.
Warum, zum Kuckuck, fehlte der Kanzlei plötzlich so viel Geld? Noch dazu Treuhandgeld. Wenn das ruchbar wurde, wäre er erledigt.
Hatte sein Vater Bescheid gewusst und nichts unternommen? War das möglicherweise sogar der Grund für seinen Herzinfarkt gewesen? Das konnte doch nicht sein! Sein Vater war ein Mann der Tat gewesen. Einer, der immer sofort handelte, manchmal auch ohne über die Folgen nachzudenken. Eher anzunehmen, dass er die ganze Tragweite nicht mehr überblickt hatte.
Neben seinem Vater hatte Herbert in der Hausverwaltung stets nur eine Nebenrolle gespielt. Diese Rolle war ihm durchaus angenehm gewesen. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe wäre ohnehin nicht denkbar gewesen, denn Herbert war das krasse Gegenteil seines Vaters. Er überlegte sehr, sehr genau, bevor er etwas unternahm. Zu genau, wie sein Vater stets behauptet hatte.
Seit dessen Tod spielte Herbert nun die Hauptrolle. Die hatte er nie angestrebt, aber es war nicht zu ändern, schließlich trug er Verantwortung für die Familie.
Apropos Familie. Seine Schwiegereltern durften auf keinen Fall von seinem Dilemma erfahren. Als Karin ihn gestern darauf aufmerksam gemacht hatte, dass das Geschäftskonto überzogen war, hatte er die Sache heruntergespielt, ihr versichert, es handle sich lediglich um einen kurzfristigen Liquiditätsengpass. Dabei hatte er schon länger bemerkt, dass das Geld zum Monatsende knapp wurde. Irgendwo musste die Kohle doch hingekommen sein.
Er hatte sich die alten Bilanzen angesehen, war aber daraus nicht schlau geworden. Er war nun einmal kein Buchhalter, er brauchte Hilfe. Allein würde er es nicht schaffen.
Vielleicht sollte er einen Verwalter einstellen, oder einen Buchhalter. Noch besser – einen Kanzleileiter. Einen, der das Geschäft im kleinen Finger hatte, vielleicht auch etwas modernisieren würde und der ihn entlastete. Sie arbeiteten immer noch wie vor dem Krieg. Doch der war zwanzig Jahre vorbei und die Welt war nicht stehen geblieben.
Ein Kanzleileiter würde das Budget zwar vorerst belasten, doch auf Dauer wäre er sicher eine nützliche Investition. Sobald die Sache hier wieder lief, könnten sie neue Kunden akquirieren. Sein Freund Brenner würde ihm dabei behilflich sein, der kannte in Wien jede Menge wichtiger Leute.
Das war ein guter Plan, so würde er es machen.
Sobald der Kanzleileiter gefunden und einigermaßen eingearbeitet war, sollten sie sich um die Sanierungsabrechnungen kümmern. Vielleicht steckte das fehlende Geld in den immer noch nicht abgerechneten Sanierungsverfahren. In letzter Zeit waren die Preise wieder ordentlich gestiegen. Möglicherweise waren die Sanierungskosten einfach höher gewesen als erwartet, vielleicht mussten sogar Nachtragsdarlehen aufgenommen werden.
Das Allerwichtigste aber war, dass niemand von seinem Liquiditätsproblem erfuhr, der Neue erst recht nicht, sonst war der gleich wieder weg. Er würde erst einmal abwarten, ob der Mann vertrauenswürdig war, dann konnte er es ihm immer noch sagen – so nach und nach.
***
Als Gisela das Café am Genochplatz, in dem sie sich mit Herbert Wogner getroffen hatte, verließ, war es schon nach sechs, doch immer noch angenehm warm. Sie beschloss, das Geld für die Straßenbahn zu sparen und zu Fuß nach Hause zu gehen. Dafür würde sie sich auf dem Heimweg eine Tüte Eis gönnen. Außerdem ließ es sich beim Gehen gut nachdenken.
Das Vorstellungsgespräch war gut gelaufen. Sie zweifelte nicht daran, die Stelle als Kanzleileiterin zu bekommen. Warum auch nicht? Sie war gut, hatte eine gediegene kaufmännische Ausbildung, besaß neuerdings sogar eine Gewerbeberechtigung und einen Führerschein. Sie konnte die Kanzlei ebenso gut reorganisieren und leiten wie ein Mann. Das würde sie beweisen, gerade weil Frauen in leitender Position immer noch selten waren.
In der Anwaltskanzlei ihres Onkels war sie jahrelang mit der Verwaltung von Zinshäusern beschäftigt gewesen. Anfangs unter dessen Anleitung, doch in den letzten Jahren, als Onkel Franz immer öfter krank gewesen war, hatte sie sämtliche Verwaltungsagenden selbstständig erledigt. Sie konnte das – und die Hauseigentümer hatten sich mit der Zeit auch an sie gewöhnt.
Ihrem zukünftigen Chef schien es egal zu sein, dass sie eine Frau war. Offenbar war er nicht nur ein sympathischer Mann, sondern auch ein moderner. Dazu war er groß und stattlich. Wie alt konnte er wohl sein? Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig, also etwa in ihrem Alter. Endlich einer von den Fortschrittlichen, die Frauen etwas mehr zugestanden als Kinder, Küche und Kirche. Gisela hatte nichts gegen Kinder, hielt sich gerne in der Küche auf und ging regelmäßig zur Kirche. Doch all das war ihr nicht genug. Obwohl ihre Eltern Bauern waren, hatte sie ihre Zukunft nie auf einem Bauernhof gesehen, sondern an einem Schreibtisch. Sie wollte Karriere machen. Ein „karrieregeiles Weib“ hatte ihr Verlobter Heinz sie deshalb genannt. Das war dann allerdings ihr letztes Gespräch gewesen.
Ihr Vater nannte sie neuerdings „unsere Karrierefrau“. So wie er es sagte, klang es ein wenig abfällig, dennoch wusste sie, dass er im Grunde stolz auf sie war. Da ihr Bruder eines Tages den Hof übernehmen würde, war es den Eltern ganz recht, dass Gisela ihr Leben anders plante.
Wenn sie also schon das Glück hatte, dass ihre Eltern ihr einen Schulabschluss mit Matura ermöglicht hatten, wollte sie auch etwas daraus machen.
Einen weiteren Teil ihres Glücks verdankte sie Tante Gusti und Onkel Franz.
Die beiden waren kinderlos und meinten, es wäre einfach selbstverständlich, dass Gisela bei ihnen wohnte. Die Wohnung wäre schließlich groß genug. Das stimmte wohl, doch waren sie auch Giselas Eltern dankbar, dass diese sie während des Krieges und in den mageren Jahren danach nach Kräften mit Lebensmitteln versorgt hatten.
Gisela mochte beide, Tante Gusti ganz besonders. Sie war Vaters Schwester, aber so anders als die Frauen aus Untersiebenbrunn. Tante Gusti hatte in Wien eine Hauswirtschaftsschule besucht und bald darauf ihren Franz kennengelernt. Der war Jusstudent und der Sohn eines Beamten. Arm, aber vornehm, wie Giselas Vater stets sagte.
Jedenfalls war Gusti klug genug gewesen, sich ihre Schwiegermutter nicht zur Feindin, sondern zur Freundin zu machen. An ihrer Seite hatte sie gelernt, was man als Anwaltsgattin wissen musste. Auf dem Feld war Gusti nie eine große Hilfe gewesen, dafür konnte sie fantastisch kochen, so ganz anders, als Gisela es gewohnt war, wusste, wie man einen Tisch richtig deckte, und sie konnte nähen. Das allein machte sie Gisela sympathisch. Tante Gusti machte aus alten Kleidern neue, hatte nach dem Krieg aus Decken Mäntel genäht und aus alten Stoffresten Puppenkleider.
Dass Gisela während ihrer Zeit an der Handelsakademie bei den beiden wohnen konnte, ersparte ihr das Internat und ihren Eltern eine Menge Geld.
Nach der Matura hatte Onkel Franz ihr einen Posten in seiner Anwaltskanzlei angeboten. Gisela hatte angenommen, war bis zu seiner Pensionierung geblieben und an seiner Seite zur erfahrenen Hausverwalterin geworden.
Mit seinem Nachfolger hatte sie sich hingegen gleich am ersten Tag angelegt. Der wollte sie glatt zur Tippse degradieren.
Nicht mit Gisela Müller! Die wollte Karriere machen – und eines Tages würde ihr auch noch ein Mann über den Weg laufen, der das akzeptierte. Einer, der sie so mochte, wie sie war. Eine moderne, erfolgreiche Frau.
Gisela freute sich auf die neue Aufgabe und schritt kräftig aus. Endlich kam das Eisgeschäft in Sicht. Heute würde sie sich eine große Tüte genehmigen. Schließlich hatte sie etwas zu feiern.
***
Zwei Wochen später trat Gisela ihren neuen Posten an.
Die Hausverwaltung Wogner hatte ihren Sitz in Stadlau. Das war besonders praktisch, so konnte sie in der schönen Jahreszeit mit dem Rad zur Arbeit fahren. Zumindest so lange, bis sie endlich ein Auto ihr Eigen nannte. Darauf sparte sie verbissen.
Die Kanzlei war im Erdgeschoss untergebracht. Alles war düster und wirkte verstaubt. Verglichen mit dem vornehmen Stadtbüro ihres Onkels sah es hier erbärmlich aus, doch darauf hatte Herbert Wogner sie bereits vorbereitet und angekündigt, dass die Kanzlei bald übersiedeln würde.
Zu Giselas Erstaunen erwartete sie an ihrem ersten Arbeitstag nicht ihr Chef, sondern dessen Mutter. Sie entschuldigte ihren Sohn mit einem wichtigen Termin, wies Gisela ihr neues Reich zu und ging. Sah aus, als wäre sie von der Idee einer Kanzleileiterin nur wenig begeistert.
Gisela sah sich um. Sie war in einer Art Veranda untergebracht. Außer einem alten Schreibtisch, einem Sessel und einem Regal war der kleine Raum leer.
Was sollte sie jetzt tun? Warten?
Kam nicht infrage. Sie war als Kanzleileiterin eingestellt, also würde sie Führungskompetenz beweisen, sich selbst mit den weiteren Mitarbeitern bekanntmachen und sich ein wenig umsehen.
Als Herbert Wogner endlich in die Kanzlei kam, war Mittag längst vorbei. Gisela hatte in der Zwischenzeit eine Liste von Verbesserungsvorschlägen angefertigt, die ihres Erachtens vordringlich zu erledigen waren. Doch Wogners erste Frage lautete: „Waren Sie schon Mittagessen?“
Da sie verneinte, rief er: „Wunderbar, dann gehen wir erst einmal essen.“
Dagegen hatte Gisela nichts einzuwenden und da er ihr nach dem Essen aufmerksam zuhörte, sich Notizen machte und versprach, gleich am nächsten Tag alles in die Wege zu leiten, hatte sie auch nichts dagegen, an diesem Tag nicht mehr ins Büro zurückzukehren.
So beendete sie ihren ersten Arbeitstag zwar im Gastgarten, doch in dem guten Glauben, etwas Sinnvolles geleistet zu haben.
***
Da Herbert Wogner am nächsten Morgen noch nicht im Büro war, machte sich Gisela erst einmal daran, die Haus- und Mieterakten neu zu organisieren. Sie hatte gestern gesehen, dass die Ordner keinerlei Unterteilungen aufwiesen und dermaßen überfüllt waren, dass ein Teil der Unterlagen herausfiel, wenn man den Ordner nur aus dem Regal zog. So konnte kein Mensch vernünftig arbeiten.
Es wurde Mittag, Nachmittag – von ihrem Chef keine Spur. Als sie sich bei seiner Mutter erkundigte, wo er denn sei, sagte die nur: „Ich weiß es nicht, aber er ist immer viel unterwegs. Daran werden Sie sich gewöhnen müssen.“
Na bravo. Dabei hatte er ihr doch versprochen, dass sie gleich heute mit dem Abarbeiten ihrer Liste beginnen würden.
Herbert Wogner sah sie erst am darauffolgenden Tag wieder. Da berichtete er voller Stolz, dass er sich am Vortag bereits um neue Schränke umgesehen hätte.
„Sie wollen neue Schränke anschaffen?“
„Sie haben mich doch darauf aufmerksam gemacht, dass viele Ordner geteilt werden müssen. Also brauchen wir nicht nur neue Ordner, sondern auch neue Schränke.“
Das stimmte prinzipiell, doch Gisela hielt die Schränke in der Zwischenzeit nicht mehr für das drängendste Problem. Aber gut, eines nach dem anderen – er war der Chef. Also fragte sie: „Wann werden die Schränke denn geliefert?“