Gewebewelten - Nicole Rensmann - E-Book

Gewebewelten E-Book

Nicole Rensmann

0,0

Beschreibung

Zwei Mädchen, drei Jungs – fünf unterschiedlichste Charaktere und eine Aufgabe, die sie gemeinsam bewältigen müssen. Bei der Aufräumaktion im Archiv finden sie einen Teppich, der sie zwingt die Wahrheit zu sagen und die Teenager in seine Welt zieht – eine Welt, die nur durch die eigenen Gedanken existieren kann. Das stellt sie vor eine Herausforderung, denn Timo ist ein arroganter Arsch, Lisa eine Zicke, Tobias isst unentwegt Süßigkeiten, René ist blind, und Jana hat Diabetes. Niemand weiß, wie sie dieses Abenteuer lebend überstehen sollen. Aber sie sind nicht allein, Mysterkilus Secritunum, ein alter weiser Mann, einst Hüter der Magie, lebt mit seinem Drachen Pedenius schon lange in der Teppichwelt. Doch seitdem die Teenager in seine Gedankenblase eingedrungen sind, ist nichts mehr wie es war. Und da sind noch die Handlanger des Todes, die Myst verfolgen, um seinen Lebensfaden zu durchtrennen. Ein packendes Fantasy-Abenteuer mit überraschenden Wendungen und einem Drachen, der einst ein Kater war. Für Leser ab 12 bis mindestens 101 Jahre.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 318

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

Nachwort

Weitere Atlantis-Titel

Nicole Rensmann

Gewebewelten

Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg Februar 2020 Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild, Umschlaggestaltung und Illustrationen: Timo Kümmel Korrektorat und Satz: André Piotrowski ISBN der Printausgabe: 978-3-86402-700-0 ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-712-3 Besuchen Sie uns im Internet:www.atlantis-verlag.de

1

Jana öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Schwärze. Sie hörte ihren Atem und hielt die Luft an. Stille. Der Geschmack von Blut brachte ihre Erinnerungen langsam zurück. Lisa hatte ihr einen Kinnhaken verpasst. Dabei hatte sich Jana auf die Zunge gebissen und war anschließend ohnmächtig geworden.

»Hört mit dem Mist auf, das ist nicht witzig!« Ihre Stimme klang ängstlicher, als sie es beabsichtigt hatte, ihre Zunge schmerzte bei jedem Wort. Kein Raunen, kein Kichern. Sie hatten das Licht ausgeschaltet und Jana im Keller zurückgelassen. Oder sie versteckten sich im Dunkeln, hielten sich den Mund zu und unterdrückten einen Lachanfall. Kinderkram! Vorsichtig betastete sie ihr schmerzendes Kinn. »Danke, Lisa«, flüsterte sie verärgert.

Jana stand auf. Der Boden schwankte, ihr wurde übel. Sie suchte Halt, doch da war nichts.

Sie tastete sich voran, fand weder Wände noch Regale. Gänsehaut kribbelte auf ihren Armen. Sie erschauderte vor Angst. Jana unterdrückte den Drang zu schreien. Im Geiste hörte sie das Gelächter, das sie zur Begrüßung empfangen würde, sobald sie panisch aus dem Raum stürzte. Vielleicht hockten sie auch vor der Tür und warteten nur darauf, dass sie um Hilfe schrie. Doch diese Freude wollte Jana ihnen nicht machen.

Lisa war eine hinterhältige Zicke. Nur sie konnte auf die Idee gekommen sein, Jana im Keller einzusperren. Nicht ohne die Hilfe von Timo, dem arroganten Schulsprecher, den Lisa vergötterte. Er ging mit ihr. Oder sie mit ihm. Das war keine eindeutige Beziehungskonstellation, in jedem Fall keine Liebe. Tobias hatten sie vermutlich mit Schokolade bestochen, damit er sie nicht verpfiff. Für Süßkram würde der von einer Brücke springen. Aber dass René bei solchen Spielchen mitmachte, überraschte Jana. Zusammen waren sie dazu verdonnert worden, den Archivraum aufzuräumen und zu streichen. Eine Strafarbeit, die ihnen bessere Kopfnoten verschaffen und Ärger mit den Eltern ersparen sollte.

Jana tastete sich in der Dunkelheit voran, ihr Puls rauschte in den Ohren.

Sie musste hier raus!

2

Das Licht erlosch, Sekunden nur. Dann flackerte die Leuchtstoffröhre wieder und leuchtete das Kellerarchiv aus.

Timo wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Was war das?«

»Kurzschluss oder so.« Lisa hockte noch immer auf dem Boden, streckte Timo eine Hand entgegen und ordnete mit der anderen die Haare. Doch Timo ignorierte die stille Bitte seiner Freundin, ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Sie zuckte mit den Achseln, sprang auf, strich sich die Hose glatt und zupfte das bauchfreie T-Shirt zurecht. Ihr Bauchnabelpiercing – ein Männchen mit beweglichen Gliedmaßen – glitzerte in der Mitte einer rotvioletten Blüte. Die Tätowierung hatte sich Lisa vor einem halben Jahr rund um den Bauchnabel stechen lassen. Der Anfang eines floralen Oberkörpertattoos, hatte sie geschwärmt, doch bisher war es bei dieser einen Blume geblieben.

Kurz bevor das Licht ausgegangen war, hatte sie sich auf Jana gestürzt und diese verprügelt.

»Wo steckt Jana jetzt?«, fragte Timo. Er schaute auf den Teppich, auf dem Jana vor wenigen Minuten gesessen und sie alle lautstark mit der Wahrheit konfrontiert hatte.

Und die Wahrheit hatte Lisa noch nie vertragen können. Doch Timo musste sich eingestehen, dass Jana recht hatte. Er liebte Lisa nicht und fragte sich häufig, warum er mit diesem Mädchen zusammen war. Er kannte die Antwort, wollte die Wahrheit aber nicht zugeben.

Vor ihrem Ausbruch hatte Jana wie paralysiert gewirkt, beinahe verträumt, und Timo war – zugegeben nicht zum ersten Mal – aufgefallen, wie hübsch sie aussah. Jana war introvertiert, diskutierte nie mit, hielt sich bei allem zurück und eckte nie an. Doch diesmal hatte sie verbal ausgeteilt, von der einstigen Schüchternheit war nichts geblieben. Das hatte Timo imponiert, er mochte Jana. Aber das würde er niemals zugeben. Kaum überraschend hatte Lisa reagiert, als sie sich kreischend auf Jana gestürzt hatte. Und dann ging das Licht aus, als hätte diese überspannte Situation die alten elektrischen Leitungen überlastet.

Innerhalb von wenigen Sekunden war der Spuk vorbei und Jana hätte neben Lisa auf dem Boden sitzen müssen. Die Nase blutig, vielleicht. Doch dort, wo sie gesessen hatte, lag nur ihr Haargummi auf dem Teppich – dem Teppich, den Jana zuvor unter einer Holzbohle entdeckt hatte.

Neben Timo stand Schoko-Tobi, er hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegt. Seine Wangenknochen mahlten. Er unterbrach das Kauen kurz, um eine weitere Ladung Bonbons in den Mund zu schieben.

Wie konnte ein einzelner Mensch diese Unmengen an Süßigkeiten in sich hineinstopfen, ohne innerhalb eines Monats zu platzen? Jetzt furzte er auch noch, vollkommen hemmungslos. Der Dicke widerte ihn an.

»Ich habe ein Prickeln auf der Haut gespürt. Unangenehm. Und Wärme, wie ein Sonnenstrahl.« Das war René, der Timo mit leeren Augen anstarrte. Seine Blindheit schärfte andere Sinne, aber Timo wusste, was er meinte. Die Dunkelheit hatte sie für einen Augenblick alle blind gemacht.

»Und hast du auch mitbekommen, wohin sich unsere Zuckerpuppe verkrochen hat?« Lisa bückte sich nach dem schwarzen Haargummi, mit dem sich Jana die taillenlangen, erdfarbenen Haare zurückgebunden hatte. Sie zog es auseinander und ließ es in den Raum schnappen, wo es unter einem der Regale verschwand.

René schüttelte den Kopf. »Ich habe die Tür nicht gehört.«

»Dann muss sie noch hier sein.« Mit erhobenem Kopf stolzierte Lisa an der ersten Regalreihe vorbei, klopfte auf die Metallverstrebungen und erzeugte ein kaltes Echo. »Komm raus, du blöde Kuh! Oder hast du Schiss?« Sie lachte.

Timo blickte zu Boden, er wollte Lisa nicht dabei zusehen, wie sie Jana verhöhnte. Lisa gehörte zu der Clique im Internat, die er brauchte, um zum Schulsprecher gewählt zu werden. Ein Feigling, das war er. In der Tat, Jana hatte mit jedem Wort die Wahrheit gesprochen.

»Angst hatte Jana nicht. Kein Stück.« Tobias grinste. »Sie hat richtig gut ausgeteilt.«

»Dir hat sie ja auch keine Komplimente gemacht, Fettsack. Aber du bist ja schon froh, wenn überhaupt einer mit dir spricht.«

Während Lisa den dicken Schoko-Tobi mit Worten verletzte, was sie besonders gut beherrschte, ging Timo zum Ende des Raums. Dort hatte Jana Ordner aus den Regalen geräumt und die Wandbehänge entdeckt. Drei Teppiche mit unterschiedlichen Mustern hingen an der Wand.

Einer stellte das gewebte Porträt einer alten Frau dar. Die hochgesteckten, weißen Haare hoben sich von dem tintenschwarzen Hintergrund ab. Eine orangefarbene Lilie verzierte den Dutt der Frau. Die schmalen, blassroten Lippen hatte die Alte zu einem Lächeln verzogen, als wisse sie, was hier geschehen war. Auf der krummen Nase klebte ein Kaugummi. Smaragdgrüne Augen blickten Timo geradewegs ins Gesicht und wirkten gespenstisch lebendig. Er wendete sich ab. Staub und Zeit hätten die Farben blass wirken lassen müssen, doch dieser Teppich schien frisch gesaugt, anders als der Wandbehang daneben.

Blaue und orangefarbene Fäden glitzerten wie das Meer bei Sonnenuntergang. Flach gewebt schmiegte er sich vom Boden bis zur Decke an die Wand. Für einen kurzen Moment glaubte Timo eine wellenförmige Bewegung zu erkennen. Er blinzelte. Ornamente, aus grauer und brauner Wolle, rahmten das Meer ein. Zaghaft wischte Timo mit den Fingern den Rand entlang. Staubwolken flüchteten zu den Seiten. Die Borsten krümmten sich unter seiner Berührung. Timo presste die Handfläche gegen den Teppich. Das kitzelte auf der Haut, er lächelte. Die Oberfläche fühlte sich nun warm und weich an – wie das Fell eines Tieres. Timo zuckte zurück.

Der dritte Teppich zeigte eine gewebte Landschaft. Mittig schwebte ein bunter Heißluftballon. In der Gondel standen Menschen und winkten ihm zu. Timo ertappte sich dabei, wie er die Hand hob und zurückwinkte.

Lisa und Tobi stritten über den Fettgehalt von Süßigkeiten. Timo kehrte zu den anderen zurück.

Dort lag ein vierter Teppich, den Timo nur mit Mühe, und dank Renés und Tobias’ Hilfe, in den Vorraum des Archivs gezogen hatte. Jana hatte ihn unter einer gebrochenen Holzlatte des Fußbodens entdeckt, nachdem sie René aufgeholfen hatte. Er war über ein paar Akten gestolpert.

Sie hatten den Teppich zur Hälfte ausgerollt. Auch dieses Stück war mit handwerklichem Geschick angefertigt. Silberne und goldene Fäden durchwoben moosfarbenes Garn und bildeten miteinander geometrische Formen und Schlangenlinien. Fransen klebten wie ineinander verschlungene, silberfarbene Spinnenbeine an der einen Saumseite des Teppichs.

»Habt ihr das auch gespürt? Dieses Prickeln, diese Wärme, diesen elektrischen Schlag?«, wollte René wissen. Anscheinend hatten weder Lisa noch Tobias auf ihn geachtet. Typisch.

»Das war nur ein Stromausfall, draußen herrscht ein Gewitter wie beim Weltuntergang.« Tobias schmatzte. »Jana wird ratzfatz aus der Tür gerannt sein. Wer will ihr das verübeln, wenn du sie verprügelst wie eine Wahnsinnige?« Mit Schweinsäuglein gaffte er Lisa an. Die ignorierte ihn, nahm seine Bemerkung jedoch zum Anlass, noch einmal auf Jana herumzuhacken. »Siehste, Timo? Sag ich doch. Die ist abgehauen und lässt uns mit dem Scheiß allein!«

»Die Tür ist nicht aufgegangen, das hätte ich gehört«, konterte René.

»Dann hat sie sich in Luft aufgelöst.« Tobias fantasierte. »So muss es gewesen sein.« Er klatschte in die Hände. »Zack, puff und weg!«

»Du bist genauso dämlich wie Jana.« Lisa verdrehte die Augen und widmete sich ihren Fingernägeln. Ein Aufschrei ließ René zusammenzucken, Tobias hörte für wenige Sekunden auf zu kauen. Nur Timo ignorierte sie, denn er ahnte, welch persönliche Katastrophe diesen Aufschrei rechtfertigte.

»Mein Fingernagel ist abgebrochen! Das ist Janas Schuld. Diese Bitch, ich hasse sie. Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

Mit einem Ruck öffnete sich die Kellertür. Erleichtert über die Ablenkung und in der Annahme, dass Jana anscheinend doch aus dem Raum verschwunden war und nun zurückkehrte, drehten sie sich alle zur Tür. Der lockere Spruch, der Timo in den Sinn kam, blieb ihm jedoch im Halse stecken. Nicht Jana, sondern Stonehenge stand im Türrahmen.

Stonehenge hieß gebürtig Oliver Siebert, der Direktor führte das Internat mit strenger Hand, die Schüler fürchteten ihn. Er machte keinen Unterschied zwischen den Schülern, unabhängig davon, ob sie ein Handicap hatten oder nicht. Denn das Internat in Dänemark war eine Schule mit Inklusion. Hier lebten Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zusammen. Stonehenge behandelte alle gleich und das wiederum schätzten die Schüler an ihm.

Den wenig schmeichelhaften Spitznamen hatte er vor Jahren von den Schülern verliehen bekommen. Seine versteinerten Gesichtszüge hatte er – wie Gerüchte besagten – einer verpatzten Schönheits-OP zu verdanken.

»Fürs Rumstehen gibt es weder gute Noten noch Freifahrtscheine. Im Foyer stehen zwei Eimer Farbe.« Er wandte sich zum Gehen, dann stutzte er: »Wo ist Jana Malek?«

Darauf wussten sie keine Antwort.

»Findet sie. Diese Arbeit müsst ihr zusammen bewerkstelligen. Ich habe euch fünf aus gutem Grund für diese Aufgabe eingeteilt. Sie wird nur honoriert, wenn ihr sie gemeinsam erledigt. Und gute Kopfnoten könnt ihr alle gebrauchen, nicht wahr?«

Die schwere Eisentür knallte zu, Stonehenge ließ Ratlosigkeit und Wut zurück.

3

Die Arme ausgestreckt, die Augen weit aufgerissen, tastete sich Jana blind durch die Dunkelheit. Sie fürchtete, gegen eine Wand zu laufen oder sich an einem Regal zu stoßen. Der Schemel, den sie zur Seite gestellt hatte, damit die Jungs den Teppich im Vorraum ablegen konnten, musste in der Nähe stehen. Jana ging vorsichtig, fühlte mit den Schuhspitzen vor, um nicht über den zusammengerollten Teil des Teppichs zu stolpern. Doch sie fand ihn nicht.

Das Bumm-Bumm-Bumm ihres Herzens hämmerte bis zum Hals. Trotz der wachsenden Panik nahm sich Jana vor, gelassen aus dem Keller zu spazieren. Wenn es ihr nur endlich gelingen würde, die Tür zu finden.

Jana hatte das Gefühl, seit Stunden im Kreis zu laufen, und doch wusste sie, dass nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein konnten. Sonst hätte doch wenigstens René sie rausgelassen?!

Panik schnürte ihr die Luft ab. Stille, bis auf das Wummern ihres Herzens, das nun auch ihren Körper und den gesamten Raum auszufüllen schien. Welchen Raum?

»Ihr habt gewonnen! Helft mir. Bitte! Ich habe Angst!«

Keine Antwort. Ihr Schluchzen verhallte im Nichts.

* * *

»Ich habe sie nicht gefunden.« Lisa kehrte als Letzte ins Archiv zurück. Sie hatte sich die Haare gekämmt und die Lippen nachgezogen. Aber nach Jana hatte sie sicherlich nicht gesucht.

»Wir müssen Stonehenge die Wahrheit sagen.« Tobias warf sich eine Handvoll Gummibärchen ein und erstickte weitere schlechte Ideen im Keim.

»Und was willst du ihm sagen?« Timo tippte sich mit dem Zeigefinger vor die Stirn. »Der hält uns doch für bescheuert.«

»Dieses Miststück versaut wieder alles.« Lisa lehnte an der Wand und betrachtete ihre Fingernägel.

Tobias kaute, schluckte und pulte sich mit dem Zeigefinger Gummibärchenreste aus den Zähnen.

»Und was ist die Wahrheit? Ich habe nur die statische Ladung gespürt. Die Tür ist nicht geöffnet worden. Jana muss hier sein.« René legte den Kopf schief und wandte sich nach rechts, dann links. Er horchte nach Geräuschen, die sie nicht wahrnahmen.

»Und warum hast du dann im Gebäude nach ihr gesucht, René, wenn du davon überzeugt bist, Jana würde sich hier verstecken?« Ohne Spott sprach Lisa selten.

»Weil ich mich auf eure Augen verlassen habe.«

»Wenn ihr es Stonehenge nicht sagen wollt, dann bin ich dafür, dass wir den Keller aufräumen. Irgendwann taucht sie schon wieder auf.« Tobias packte sich ein paar Ordner und brachte sie aus dem Archiv in den Flur.

»Da mach ich nicht mit. Wenn Jana sich drückt, müsst ihr meinen Teil auch erledigen«, maulte Lisa.

»Dann schlag doch was Besseres vor!« Timo ertrug sie nicht mehr. Wäre sie doch anstelle von Jana verschwunden!

»Ihr seid die Streber, lasst euch was einfallen!« Mit der dünnen Schuhsohle ihrer Sandalen fuhr Lisa über den Teppich, bückte sich, schnippte eine Fluse fort und setzte sich dorthin, wo Jana zuvor gesessen hatte.

»Pass auf, gleich macht es Zoom und du bist auch weg«, sagte Tobias grinsend und schob sich ein Schokodrops in den Mund. Die Taschen seiner Cargohose schienen die gesamte Produktion der Süßwarenfirma seiner Eltern zu enthalten. Timo wartete auf Lisas Schimpftiraden, die sie über Schoko-Tobi ergießen würde wie einen heißen Topf Fett. Doch sie schwieg und weinte. Ein Druckmittel, mit dem Lisa viele ihrer Probleme regelte. Vor einem Jahr hatte er die Absicht dahinter noch nicht erkannt. Damals hatte sie ihn auf Knien angefleht, sie nicht zu verlassen. Seitdem klebte er an ihr und nutzte ihre Connections für seine schulische Karriere, zum fragwürdigen Stolz seines Vaters.

»Ich kann nichts dafür, dass ich so bin. Ihr drängt mich doch dazu! Ich wollte nie die Bitch sein, die alle fertigmacht.«

Diese Verzweiflung klang ehrlich. Timo wusste mit echten Tränen nicht umzugehen. Zum Glück nahm sich Schoko-Tobi der weinenden Lisa an, hockte sich zu ihr auf den Teppich und gab ihr ein Bonbon. Schokolade, ausgerechnet.

Nun würde Lisa ihn ankeifen, ihr nicht zu nahe zu kommen und mit dem Zeug zu verschwinden, doch stattdessen nahm sie den süßen Trost an und bedankte sich.

Die schüchterne Jana hatte sie alle beschimpft und war verschwunden. Lisa heulte sich die Augen aus und Tobias gab ihr von seinem Süßigkeitenvorrat ab, den Lisa dankend annahm. Drehten denn jetzt alle durch?

4

Keine Wände, keine Tür, keine Regale. Nichts, was Jana ertasten könnte. Nirgends Licht, alles still. In Jana wütete ein Sturm, genährt von Panik. Wo war sie?

Keine Wände.

Alle Ausgänge verschlossen und jede Ritze zugeklebt.

In absolute Leere verdammt.

Nichts.

Zurückgelassen in der Dunkelheit.

Allein.

War sie tot?

Jana blieb stehen, ließ die schmerzenden Arme sinken und sackte in sich zusammen, kauerte auf dem Boden, umklammerte ihre Beine, wiegte sich hin und her.

Sie weinte. Die Angst fühlte sich übermächtig an. Die Verzweiflung schmeckte salzig. Tränen rannen an ihren Wangen hinab.

»Lasst mich raus. Bitte. Lasst mich hier raus!«

* * *

Timo rollte den Teppich zwei, drei Lagen weiter aus, setzte sich schräg hinter Lisa darauf und strich über das Gewebe. »Komisches Teil.«

»Find ich nicht«, widersprach Lisa.

»Du bist sauer.«

»Ich bin nicht sauer. Ich bin traurig und enttäuscht. Ich möchte nicht länger die Zicke sein.«

René lachte. »Was haben sie denn mit dir gemacht?« Er tastete sich auf sie zu, strich über Lisas Kopf und verwuschelte ihre Frisur. Das hätte vor Kurzem einen Schreikrampf ausgelöst, jetzt seufzte Lisa nur. Ein leises Seufzen für das Heiligtum Nummer zwei – Nummer eins waren Lisas Fingernägel –, das René absichtlich durcheinandergebracht hatte. Timo schüttelte den Kopf. Was war hier los?

René grinste, setzte sich neben Tobias und strich mit beiden Händen über den Teppich. Zärtlich, als sei es der Rücken seiner Freundin – Exfreundin. Sie hatte ihm kürzlich den Laufpass gegeben. Er hatte fremdgeknutscht, erzählten sich die Stimmen auf dem Schulflur.

»Fühlt sich in der Tat merkwürdig an, metallisch.«

»Wenn jetzt Stonehenge reinkommt, sind wir erledigt.« Vor Aufregung vergaß Tobias, sich Bonbons in den Mund zu stecken.

»Ich mag sie«, sagte Timo, riss die Augen auf und wunderte sich über die Worte, die über seine Lippen gekommen waren. Alle drehten sich zu ihm um. »Wen?«, fragten die drei gleichzeitig.

Das würde er niemals sagen. Und doch drängte dieses eine Wort aus ihm heraus. Er schlug die Hände vor den Mund. Nein! Niemand durfte das jemals erfahren. Timo atmete erleichtert durch, als Lisa überraschend das Thema wechselte. »Die Zicke zu spielen, ist anstrengend. Aber davon habt ihr keine Ahnung. Jana hatte recht. Tobias, du bist ein Fettkloß. Irgendwann macht es bumm und du bist weg.« Sie klatschte in die Hände, der Ton schallte von den Wänden und jagte Timo eine Gänsehaut über den Rücken.

»Sicher.« Tobias blieb unbeeindruckt, zog ein Bonbon aus der Tasche, betrachtete es und schob es wieder zurück. Das hatte es auch noch nie gegeben.

Eine Stimme flüsterte zu Timo.

Du musst es sagen. Nur wer die Wahrheit spricht, erhält Zugang zu mir.

Hastig drehte er sich um, Lisa knetete ihre Finger, René strich über den Teppich und Tobias sinnierte vor sich hin. Wer hatte das gesagt?

»Sollen wir Wahrheit oder Pflicht spielen?«, fragte Lisa.

»Was? Wie kommst du darauf?« Timo fühlte sich in die Enge getrieben und kämpfte gegen den Drang an, ein Wort auszusprechen, die Antwort auf eine Frage zu geben, die anscheinend niemand gestellt hatte.

Ohne dass jemand eine Reihenfolge vorgab, sprachen sie nacheinander.

»Ich fühl mich hilflos.« – René.

»Ich will die Fabrik meiner Eltern nicht übernehmen.« – Tobias.

»Du liebst mich nicht.« – Lisa.

»Jana.«

Die Wahrheit.

Wahrheit schmerzt. René schrie als Erster.

5

Dieser Ort, ein Schwamm, der Janas Schluchzen und das stetige Bumm-Bumm-Bumm ihres Herzens aufsog und wieder über ihr auswrang. Es gab nur Jana und ihre Verzweiflung. Sonst nichts.

Minuten, Stunden, Tage – sie hatte ihr Zeitgefühl verloren – weinte sie, schwieg, haderte. Doch dann ergänzte ein Rauschen Janas Gefühlskonzert. Sie stand langsam auf, lauschte, starrte in die Dunkelheit. Das Gesicht tränennass, die Hände feucht. Nässe durchweichte ihre Sneakers und tränkte den Saum ihrer Jeans.

Wasser? Besser Cola, in ihrem Zustand brauchte sie Zucker. Vielleicht stand sie in einem Bad aus Zitronenlimonade. Milch? Jana hasste Milch. Sie kicherte. Verrückt.

Jana bewegte sich keinen Schritt weiter, bückte sich, tauchte eine Hand in die Flüssigkeit, roch, schmeckte. Salzig.

Ein schwacher, vom Boden ausgehender Schimmer durchbrach die Finsternis. Die Flüssigkeit leuchtete, ihr Körper spiegelte sich darin schemenhaft. Doch Schatten der Regale, die im Archiv gestanden hatten, gab es nicht. Keine Tür. Keine Wände.

Das Wasser stieg Zentimeter für Zentimeter weiter.

Sie würde ertrinken! Doch sie schrie nicht länger um Hilfe, das hatte sie aufgegeben. Keiner würde kommen und sie aus diesem Loch befreien. Aber ihr Herz klopfte noch schneller und Schwindel ließ sie taumeln.

Im matten Licht der glänzenden Wasseroberfläche watete sie vorsichtig durch die salzige Flüssigkeit, die ihr nun bis zu den Waden reichte. Jana wischte sich durchs Gesicht und die letzten Tränen fort.

Das Rauschen verstummte in einem leisen Tröpfeln. Jetzt würde sie nicht ertrinken, aber verhungern und verdursten. Wie viele Tage konnte ein Mensch ohne Nahrung und Wasser aushalten? 48 Stunden oder mehr? Was die Flüssigkeitszufuhr betraf, da war sich Jana nicht sicher, aber jeder gesunde Mensch hielt es mehrere Tage ohne Nahrung aus.

Doch Jana war nicht gesund.

* * *

Ihre Schreie stoppten jäh, als sie aus dem freien Fall in eine Lache stürzten.

»Was? Wieso?« Renés Stimme drückte die Überraschung aus, die alle anderen empfanden. Zeitgleich sprangen Timo, René und Tobias auf, Wassertropfen spritzten zu allen Seiten. Nur Lisa schien darauf zu warten, dass ihr jemand aufhalf, doch keiner der Jungs kümmerte sich um sie.

»Was ist das hier?«, schrie Lisa. »Diese Schmerzen. Das halte ich nicht aus.«

»Ich hoffe, die kommen nie wieder«, stöhnte Timo und krümmte sich. Für wenige Sekunden hatte er geglaubt, er müsse sterben, wenn der Schmerz, der seinen gesamten Körper, seinen Geist beherrscht hatte, nicht bald endete. Und dann war es mit einem Mal vorbei.

»Verdammter Mist, so was Grausames habe ich noch nie gespürt! Als wäre mein Körper zusammengepresst und irgendwo ausgespuckt worden.« René bückte sich und ließ die Flüssigkeit durch seine Hände gleiten, er fühlte, er roch daran, er leckte, doch er konnte nicht sehen, dass leuchtende Wasserperlen aus seiner Hand tropften. Die anderen sahen es und verstanden dennoch nicht.

»Salzig.«

»Ist das ein Wasserrohrbruch? Wir müssen hier raus, bevor der Druck des Wassers die Metalltür versperrt«, rief Timo. »Los!« Er watete ein paar Schritte durch das Wasser, wechselte dann die Richtung.

Lisa stand endlich auf. Glitzernde Tropfen perlten von ihrer Hose ab. »Und wo ist die Tür?«

»Bleibt ruhig. Ich kann sonst nichts hören.« René neigte den Kopf zur Seite. Er lauschte.

»Was nützt es, wenn du was hörst? Wir ertrinken gleich!« Lisa klammerte sich an Timos linkem Arm fest und hüpfte von einem Fuß auf den anderen, als könnte sie springend der steigenden Flut entkommen.

»Psst! Hier weint jemand, weiter entfernt. Es kommt von dort.« René zeigte in eine Richtung, dann in die andere. »Oder von dort. Hört ihr das nicht?«

»Ich höre Wasserrauschen.« Kleine Wellen klatschten gegen Timos Knie. »Lisa, bleib stehen!« Sie gehorchte und betrachtete die mit einem phosphoreszierenden Stoff versetzte Flüssigkeit. Die Oberfläche leuchtete.

»Das ist unheimlich.« Ihre Fingernägel bohrten sich in Timos Arm, sie biss sich auf die Unterlippe und schien kurz vor einem hysterischen Anfall. Timo auch.

»Salzwasser, wenn Renés Geschmackssinn nicht getrübt ist. Und leuchtendes dazu. Ich hätte in Physik besser aufpassen sollen«, sagte Tobias. Sein Mund stand still, er kaute nichts. Überraschenderweise. Im Schatten der glänzenden Wasseroberfläche sah er wie ein dicker Geist aus. Unheimlich.

»Lass mich los, Lisa. Du reißt mir noch den Arm ab.« Timo wand sich aus Lisas Umklammerung und trat ein Stück von Lisa weg, um sich anschließend durch die ansteigenden Wassermassen zu kämpfen, auf der Suche nach dem Ausgang. »Hier muss doch irgendwo die Tür sein.«

»Leute, wenn ihr irgendwas seht, wäre es nett, wenn ihr mich mitnehmen könntet, ich bin völlig orientierungslos«, sagte René, der sich trotz dieser aussichtslosen Situationen ruhig anhörte.

»Denkst du, wir nicht? Meinst du, nur weil du blind bist, hast du ein Sonderrecht auf Rettung?« Lisas Stimme bebte – mehr Furcht als Wut.

»Reg dich ab, Lisa. Mein Gefühl sagt mir, dass wir uns nicht mehr im Archiv befinden.« René wischte sich über die Nase.

»Und wo dann?«, fragte Timo.

»Irgendwo im Nirgendwo.«

»Du hast ein Gefühl? Na großartig! – Timo, bring mich hier raus!« Lisa bat nicht, sie befahl.

Doch Timo reagierte nicht auf Lisa, er war mit seiner eigenen Furcht beschäftigt. Das musste ein schlechter Traum sein. In wenigen Minuten würde er aufwachen, spätestens jedoch, wenn ihm das Wasser bis zum Hals stand.

»Das war Stonehenge. Der erteilt uns eine Lektion, wetten? Und hat uns unter Drogen gesetzt.« Das übertrieben starke Nicken ließ Tobias wie einen fetten Mops aussehen.

Lisa hielt sich wieder an Timo fest und bohrte ihre Fingernägel schmerzhaft in seinen Oberarm. Nun hätte er erwachen müssen, doch der Traum blieb.

»Hat der Blindfisch recht? Sind wir nicht mehr im Archiv? Ist das ein Abwasserkanal? Gibt es hier Ratten?« Mit jedem Wort wurde Lisas Stimme leiser.

»In einem Abwasserkanal stinkt es nach Fäkalien und Lösungsmittel«, meinte René. »Hier riecht es muffig.« Er schnüffelte lautstark. »Fast wie der Teppich?!«

»Den Muffgeruch rieche ich«, bestätigte Tobias.

»Nach Keller und altem Gewebe«, stellte auch Timo fest.

»Ich rieche nichts. Ihr spinnt.« Diesmal klammerte Lisa sich nicht an Timos Arm, sondern hielt sich an seiner Taille fest. Ihre Pupillen waren geweitet, als habe sie tatsächlich Drogen genommen. Das würde erklären, was sie sah und spürte, aber nicht, dass alle anderen das Gleiche erlebten.

»Lisa, lass mich los!«

Sie gehorchte, langsam. Dann zog Timo sein Smartphone aus der Hosentasche und Lisa schrie vor Begeisterung auf.

»Ja, ruf die Polizei, die Feuerwehr! Hol uns hier raus! Mein Held.« Sie wollte ihn küssen, doch Timo drehte den Kopf weg.

Das Display blieb dunkel.

»Und?«, fragte Tobias.

»Es funktioniert nicht.« Er drückte die An/Aus-Taste. Nichts. Das Smartphone blieb tot.

»Bestimmt hast du das Teil wieder nicht aufgeladen«, zeterte Lisa.

»Die Dinger geben auch schon mal ihren Geist auf«, mischte sich René ein.

»Aber doch nicht jetzt!«, schrie Lisa, raufte sich die Haare und wiederholte flüsternd: »Doch nicht jetzt.«

»Wer hat sonst noch sein Handy dabei?« Timo steckte das Smartphone zurück in die Hosentasche.

»Keine Handys, hieß es«, sagte René.

»Und daran habt ihr euch gehalten?«, fragte Timo überrascht. »Du auch, Lisa?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Jana, hat ihres bestimmt dabei. Die genießt doch Sonderrechte.«

6

Janas Smartphone verfügte über einen Notfallknopf, mit dem sie die Krankenstation benachrichtigen konnte, wenn es ihr nicht gut ging. Doch der Akku war leer gewesen, sie hatte ihr Handy an die Steckdose neben ihrem Bett angeschlossen, bevor sie ins Archiv gegangen war. Keine Chance auf Rettung.

Verhungern würde sie nicht, auch nicht verdursten. Aber sie würde ins Koma fallen, nachdem sie erst frieren, dann schwitzen und am Ende fantasieren würde. Ein sicheres Zeichen, bei dem ihre Freunde sofort reagiert hätten: »Jana, iss was!« Ihre beste Freundin hatte immer Traubenzucker für sie in ihrer Handtasche oder dem Rucksack. Doch Jana hatte im Internat keine besten Freunde.

Fruchtsaft, Cola oder Gummibärchen brachten ihren Zuckerhaushalt kurzfristig auf Kurs. Dann brauchte sie Kohlenhydrate. Wie viele, das konnte sie nur ahnen. Nichts von alldem hatte sie mitgenommen. Schlampig, hätte ihre Mutter gesagt, nachlässig, ihr Vater. Ihre Psychologin hätte einen Fachbegriff für ihre Vergesslichkeit gehabt und einen pubertierenden Kriegsangriff gegen sich selbst diagnostiziert. So was in der Art. Jana hatte ihre Krankheit dieses Mal ignoriert, das war nach zehn Jahren doch auch erlaubt, oder nicht?! Jetzt bereute sie es. Ihre nassen Schuhe quietschten bei jedem Schritt. Das matt glänzende Wasser spendete ihr Licht und weichte ihre Kleidung ein. Beine und Füße fühlten sich eiskalt an.

In der rechten Tasche ertastete Jana ein kleines Quadrat. Sie wischte sich die nassen Finger am Shirt ab und zog ein Plättchen Traubenzucker aus der Hosentasche ihrer Jeans, die sie am Morgen von der Wäscheleine genommen hatte.

Die Folie hatte den schnell löslichen Zucker in der Waschmaschine zum größten Teil geschützt. Nur die Ecken hatten sich aufgelöst. Der rote Faden hatte sich leicht geöffnet, sodass Jana den Anfang mit zittrigen Fingern aufziehen konnte. Die Folie löste sich von selbst und fiel ins Wasser. Der Traubenzucker schmeckte schal. Aber er sorgte dafür, dass ihr Blutzuckerspiegel nicht unter komatöse Werte sank. Für einen schnellen, kurzen Moment.

Einmal musste die Notfallspritze bei ihr eingesetzt werden. Ihre Eltern wussten davon nichts. Sie hatten auf Kreta gefeiert, während Jana bei ihrer Oma geblieben war. Oma war es auch gewesen, die Jana die Spritze in den Oberschenkel gerammt hatte, nachdem sie aufgrund einer schweren Unterzuckerung ins Koma gefallen war. Jana selbst hatte erst am nächsten Tag erfahren, was geschehen war. Drei Tage hatte sie im Krankenhaus bleiben müssen. Ihre Jeans hatte vom Einstich ein winziges mit Blut umrandetes Loch zurückbehalten und auf ihrem Oberschenkel hatte sich ein blauer Fleck von der Größe einer 2-Euro-Münze gebildet. Zwei Tage hatte sie an Kopfschmerzen und Übelkeit gelitten. Keine schöne Erinnerung.

Doch die Notfallspritze lag im Kühlschrank auf ihrem Zimmer, sie nutzte ihr nichts. Und Oma war nicht da. Oma war vor vier Jahren gestorben. Sie vermisste sie sehr.

Jana zitterte, drehte sich um die eigene Achse, die hell leuchtende Flüssigkeit spritzte an ihren Armen hoch. Jana zuckte zusammen – kalt – und verschränkte die Arme vor der Brust.

Langsam kämpfte sie sich durch die flussähnlichen Wassermengen. Doch die Umgebung änderte sich nicht, Jana stieß auf keine Wand, keine Tür, nur auf ein großes dunkles Nichts, in Schemen getaucht dank der fluoreszierenden Wasseroberfläche. Schatten gab es hier zu viele. Doch keiner ähnelte ihr. Sie zwang sich, voranzugehen und den Verstand auszuschalten, was ihr erstaunlich gut gelang. Denken erzeugte Wahnvorstellungen und die daraus entstehende Panik wüsste sie nicht niederzukämpfen. Ihre Beine schmerzten, die Füße spürte sie kaum noch. Jeder Schritt glich einem Marathon.

Ihre Augenlider fielen zu. Jana schreckte auf.

Nicht einschlafen! Weitergehen!

Ihr Flüstern hielt sie wach.

Die Gedanken – kaum zu kontrollieren. Die Angst wuchs mit den bunter werdenden Bildern im Kopf. Jana wollte nicht darüber nachdenken, was ihr zustieß, falls Sie keinen Ausgang fand. Und schon war es geschehen. Was wäre, wenn?

Sie dachte an ihre Oma, die ihr immer Kakao und einen selbst gebackenen Keks hingestellt hatte, wenn sie von der Schule gekommen war. Jana lächelte matt. Die Erinnerung verblasste zu schnell.

Weitergehen! Weiteratmen! Augen auf! Nicht einschlafen!

Jana dämmerte vor sich hin, ihr Kopf sank zur Seite.

Und weitergehen. Das Kinn berührte die Brust – nicht einschlafen! –, der Körper zuckte zusammen. Der Adrenalinstoß riss ihre Augen auf. Ihr Herz pochte schmerzhaft.

Geh weiter! In diesen kürzer werdenden Wachzuständen fürchtete sich Jana vor dem Wasser, durch dessen glitzernde Oberfläche sie nichts erkannte. Golden und silbern. Schön. Und furchtbar undurchsichtig.

Ihre Gedanken wanderten in die Tiefe, dorthin, wo die Lichttropfen keinen Zugang hatten. Dunkle Ecken, kalte Schluchten. In jedem Buch, in jedem Film wartete das Böse im Wasser auf den richtigen Moment, um den Protagonisten anzufallen. Jana war dieser Protagonist. Allein. Und in Gefahr.

Die Oberfläche kräuselte sich und zog Hakennasen, als müsse sie Jana zunächst erschnuppern, bevor die größer werdenden Wellen sie zu erschlagen drohten.

Jana rannte. Doch das Wasser hinderte sie voranzukommen, riss an ihrer Kleidung, ertränkte Hoffnung und Mut.

Schaum auf den Wellen. Tollwütig verschlangen sie Jana. Wassermonster griffen nach ihr, zerrten an Armen und Haaren und Jana in die Tiefe.

Sie schrie, stürzte, kämpfte sich hoch, spuckte Wasser.

Hände, aus Wasser geformt, mit silbergold lackierten Nägeln legten sich über ihren Mund, erstickten ihre Schreie und zogen sie in die Fluten. Ihre Tritte und Hiebe teilten das Wasser, als sei dies nichts weiter als ein elementarer Geist.

Ein Geist!

Ihre Augen, eben noch weit aufgerissen, schlossen sich.

Nur ein Geist, dachte sie. Du bist nicht da, du bist nicht wirklich. Geh weg! Du bist nur ein dummer, nichtsnutziger Wassergeist.

Jana tauchte auf und schnappte nach Luft.

Hektisch drehte sie sich im Kreis, wischte Leuchttropfen von ihren Armen und ihrem Gesicht. Nur sie selbst war es, die das Wasser in Aufruhr brachte.

Stillstehen. Atmen. Ruhig.

Das Wasser reichte ihr bis zu den Knien. Nicht hoch genug, um darin zu ertrinken. Alles war gut. – Nichts war gut!

Jana zitterte vor Kälte und Angst – und schlimmer noch, vor Unterzuckerung.

Wie ein bleierner Anzug legte sich die Erschöpfung über Janas Körper. Ihre Beine schmerzten, jeder Schritt war eine Qual. Ihre Muskeln verkrampften. Das Wasser schien mit Treibsand unterlegt zu sein, in dem sie zu versinken drohte. Ihre Tränen wollten nicht enden.

Warum hatten sie ihr das angetan?

7

»Jetzt riecht es nach Kakao.« René schnupperte lautstark. »Ja, und nach Weihnachten«, ergänzte er.

»Selbst gebackene Plätzchen, danach riecht es«, meinte Tobias, doch dann veränderte sich seine Stimme. »Scheiße, was ist das denn? Ich glaube, ich versinke.« Tobias schrie: »Leute! Ich versinke wirklich!«

»Was? Du spinnst.« Timo schüttelte den Kopf.

»O Scheiße! Sieh doch!« Lisa klammerte sich erneut an Timo. »Er versinkt, hörst du, er versinkt!« Sie rüttelte an seinem Arm. »Schau doch!«

»Quatsch, der Boden ist stabil.« Die Arme ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt, trampelte René mit den Füßen. Kaltes Wasser spritzte zu den Seiten. Lisa kreischte. »Hör auf damit, René!« Er blieb stehen.

Auch Timo spürte festen Boden unter den Füßen, das Wasser stieg weiter an, durchweichte seinen Hosenbund. Timo schubste Lisa zur Seite und watete auf Tobias zu, der bis zur Brust im Wasser stand.

»Los, steh auf und mach hier keinen Mist, Tobias!«

»Hilf mir!« Eine Welle schwappte gegen sein Kinn. Er hustete, spuckte, hielt sich an Timo fest.

»Was ist mit ihm?« Anhand der Geräusche erriet René, was vor sich ging. Sein Gesicht drückte Fassungslosigkeit aus.

Tobias’ Kopf lag wie eine Boje auf der Wasseroberfläche.

»Du musst ihm helfen! Der stirbt!« Lisa beugte sich nach vorne und erbrach sich in die phosphoreszierende Flüssigkeit – die einzige Lichtquelle an diesem Ort.

»Was ist los?«, rief René.

»Tobias ertrinkt.« Lisa schluchzte und presste beide Fäuste gegen den Mund. René fasste sich an den Kopf: »Scheiße! Timo, du musst ihm helfen!«

»Mach du das doch.« Timo hatte keine Lust, den Helden zu spielen.

»Ich kann nichts sehen, du Arsch, schon vergessen? Es wäre schön, wenn du den Dicken rausholst und ihr den Ausgang finden könntet, bevor uns allen das Wasser bis zum Hals steht.«

Wertvolle Sekunden, ausgefüllt mit dummem Geschwätz, die ein Menschenleben fordern würden.

»Der verarscht uns doch nur. Versinkst du etwa?«

»Nein, aber ich rieche seine Angst.«

»Das kann genauso gut meine Scheißangst sein oder die Kotze von Lisa.«

»Ich mach keinen Mist, Leute, meine Beine stecken fest. Scheiße, jetzt helft mir endlich!«

»Timo. Du bist immer nur auf deinen Vorteil aus, aber wenn du Tobias jetzt nicht hilfst, hast du sein Leben auf dem Gewissen. Tauch jetzt!« Die Augen leer, das Gesicht von Verachtung gezeichnet, drohte René mit den Fäusten. Aber Timo fürchtete sich nicht vor René.

Tobias’ Kopf tauchte unter.

* * *

Weinkrämpfe zermürbten Janas Kräfte. Sie zählte bis fünf – 1 … 2 … 3 … 4 … 5 –, schloss die Augen und verdrängte die Tränen. Sie brachte ein Lächeln zustande, ein Lächeln, das außer ihr niemand wahrnahm. Müde ging sie weiter geradeaus und summte die Melodie von »Somewhere over the rainbow«.

* * *

Als Jahrgangsstufensprecher hatte Timo geschworen, sich für die Schwächeren einzusetzen. Blabla. Die Wahl sollte ihm seine Beliebtheit bestätigen und seinen Vater stolz machen. Timo verabscheute sich. Timothy Kreidler, mutig, smart, beliebt und unantastbar, war ein arrogantes Arschloch. Seine Kameraden, Lisa, sein Vater und die meisten Lehrer drängten ihn dazu. Aber er wollte nicht für Schoko-Tobis Tod verantwortlich sein.

Timo tauchte.

8

Das Wasser reichte Jana bis zur Brust, nirgends gab es eine Plattform, auf der sie hätte Schutz suchen können: kein Tisch, kein Stuhl, kein Ausweg. Sie blieb stehen, wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Nass. Ihre Kleidung war durchtränkt mit phosphoreszierender Flüssigkeit unbekannter Herkunft. Die Haut auf den Armen glänzte und ihre Haare klebten am Kopf. Zitternd vor Kälte und Erschöpfung, weinte sie erneut, mit letzter Kraft kreischte Jana: »Ich will hier raus!«, und schlug auf das Wasser ein.

* * *

Timo hatte nicht ausreichend Luft geholt, er musste zurück an die Oberfläche. Als er auftauchte und Sauerstoff in seine Lungen sog, verschluckte er sich an dicken Regentropfen, die in seine Luftröhre gelangten. Er hustete und glaubte für einen kurzen Moment zu ersticken, die Augen begannen zu tränen, bis er wieder richtig atmen konnte. Vom Himmel – Decke, Ende, oben – platschten dicke Tropfen und durchbrachen die Wasseroberfläche.

Lisa kreischte und René rief in endlosen Wiederholungen: »Hast du ihn? Hast du ihn? Hast du ihn?«

»Nein, verdammter Mist! Hol du ihn doch!«

»Ich kann nicht sehen. Und nicht schwimmen.« René klang verzweifelt und das brachte Lisa zum Schweigen. Sie starrte René an. Ihr blasses Gesicht, von der Wasseroberfläche schattenhaft beleuchtet, die Schminke abgewaschen, der Blick ernst – wirkte beinahe schön, wenn die aufgerissenen Augen nicht ihre Angst widergespiegelt hätten.

Timo holte tief Luft und tauchte, bevor Lisa ihre Boshaftigkeit zurückerlangen und René als Loser bezeichnen konnte. Der würde diese Beschimpfung nicht hinnehmen. Vor diesem Schlagabtausch de luxe verzog sich Timo lieber.

Tobias schien nicht nur eingesunken, er war auch ein gutes Stück von seinem ursprünglichen Standort fortgetrieben worden. Beides schien irrational. Sie steckten in einer Flut, hervorgerufen durch einen Rohrbruch. Salzwasser mit leuchtender Oberfläche? Alles Blödsinn! Und doch entsprach dieser Blödsinn all dem, was Timo mit Augen und Mund wahrnahm seit Janas Verschwinden.

Jana hatte René geholfen, als er beim Aufräumen im Archiv gestürzt war. Sie hätte auch Tobias geholfen.

Jana.

Sie war der schüchternste Mensch, den Timo je beobachtet hatte, und er beobachtete sie im Unterricht häufig. Er saß zwei Reihen hinter ihr. Sein Herz klopfte schneller. Noch zwei, drei Schwimmzüge. Endlich erreichte er den Dicken, der bis zum Becken im Boden feststeckte. Die Augen weit aufgerissen. Er bewegte sich nicht. Tobias war tot. Zu spät. Zu spät!

Doch als Timo dicht vor Tobias’ Gesicht schwamm, griff dieser nach Timos Armen und zerrte daran. Die Lippen fest aufeinandergepresst, schien er zu wissen: Holte er nun Luft, würden sich seine Lungen ein letztes Mal füllen – nicht mit Sauerstoff, sondern mit Wasser. Tobias würde qualvoll ertrinken. Auch Timos Luft wurde knapp. Er brauchte Sauerstoff, musste zurück, riss sich los, schwamm nach oben, tauchte auf, achtete nicht auf Renés und Lisas Geschrei. Dicke Regentropfen punktierten die Wasseroberfläche. Er atmete, holte tief Luft, tauchte ab. Nur der Sauerstoff in Timos Lungen könnte Tobias retten. Vielleicht. Bei der Vorstellung, Schoko-Tobis Lippen auf seine zu pressen, wurde ihm speiübel. Aber der Gedanken an eine Leiche, die im Wasser trieb, projizierte panische Gedanken, die er schnell verdrängte. Er konnte den Dicken nicht draufgehen lassen. Aber seine Kumpels durften das nicht erfahren. Niemals. Sie würden ihn verspotten.