Gezeitengrab - Elly Griffiths - E-Book
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Gezeitengrab E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Das Meer gibt alles wieder her, auch die Wahrheit? – Dr. Ruth Galloways dritter Fall. Am Fuße eines einsamen Kliffs in Norfolk werden bei Untersuchungen zur Küstenerosion Knochen gefunden. Die forensische Archäologin Dr. Ruth Galloway stellt fest: Sechs Menschen liegen an dieser unzugänglichen Stelle begraben, wahrscheinlich seit Jahrzehnten. Eine genaue Analyse ergibt: Die Männer waren Deutsche, wurden gefesselt und per Kopfschuss getötet. Ruth findet heraus, dass die Leichen aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Damals soll eine Heimwehr die Küste Norfolks verteidigt haben. Die ehemaligen Mitglieder schweigen – doch nach der Vernehmung stirbt einer nach dem anderen. Als die dritte Leiche vom Meer an den Strand gespült wird, ist Ruth klar, dass das kein Zufall sein kann. Jemand ist bereit, mit allen Mitteln zu verhindern, dass gut gehütetete Geheimnisse ans Licht kommen. «Traditionelle britische Krimikunst at its best!» Petra

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Seitenzahl: 508

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Elly Griffiths

Gezeitengrab

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Über dieses Buch

Am Fuße eines einsamen Kliffs in Norfolk werden bei Untersuchungen zur Küstenerosion Knochen gefunden. Die forensische Archäologin Dr. Ruth Galloway stellt fest: Sechs Menschen liegen an dieser unzugänglichen Stelle begraben, wahrscheinlich seit Jahrzehnten. Eine genaue Analyse ergibt: Die Männer waren Deutsche, wurden gefesselt und per Kopfschuss getötet.

Ruth vermutet, dass die Leichen aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Opfer eines Kriegsverbrechens? Oder Täter?

Zusammen mit DCI Harry Nelson begibt sie sich auf Spurensuche und findet heraus, dass eine Reihe von Anwohnern in den 40er Jahren Teil einer Heimwehr waren. Einer davon, ausgerechnet der Großvater von Nelsons Vorgesetztem, weigert sich, Auskunft über die Zeit zu geben, ein Blutschwur verbiete es ihm. Einen Tag später ist der alte Mann tot. «Luzifer» war sein letztes Wort. Kurz darauf stirbt auch sein Freund Hugh, der ebenfalls der Heimwehr angehörte.

Dann spült die Flut eine weitere Leiche an den Strand. Jemand ist bereit, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Geheimnisse ans Licht kommen …

Vita

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Ihre Tante erzählte ihr als Kind die Mythen und Legenden Norfolks, aber die Idee zur Figur von Ruth Galloway hatte sie, als ihr Mann seinen Job als Banker aufgab, um Archäologe zu werden. «Gezeitengrab» ist nach «Totenpfad» und «Knochenhaus» der dritte Kriminalroman mit der forensischen Archäologin Ruth Galloway.

Für Gabriella, die sich Halloween

ebenfalls erspart hat

Prolog

November

Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, gehen einen Krankenhausflur entlang. Man merkt ihnen an, dass sie nicht zum ersten Mal hier sind. Die Miene der Frau ist versonnen, voller Erinnerungen, der Mann blickt argwöhnisch, zögert kurz am Eingang zur Station. Die lange Verbotsliste an der Tür wirkt aber auch einschüchternd: keine Blumen, keine Mobiltelefone, keine Kinder unter acht Jahren, niemand mit Husten oder Schnupfen. Die Frau deutet auf das Handy-Verbotsschild – ein energisch durchgestrichener Umriss eines nicht mehr ganz aktuellen Modells –, aber der Mann zuckt nur die Achseln. Sie lächelt, ist solche Reaktionen von ihm offenbar gewohnt.

Sie drücken auf den Türöffner und werden eingelassen.

Schon drei Betten weiter bleiben sie stehen. Im Bett sitzt eine Frau mit braunem Haar und hält ein Baby im Arm. Sie stillt es nicht, betrachtet es einfach nur unverwandt, als wollte sie sich jeden Gesichtszug genau einprägen. Die Besucherin, blond und attraktiv, umarmt die junge Mutter und küsst sie auf die Wange. Dann beugt sie sich über das Baby, streift es dabei mit ihrem Haar. Das Baby öffnet unergründlich dunkle Augen, bleibt aber still. Der Mann hält sich noch im Hintergrund, doch jetzt winkt die blonde Frau ihn näher heran. Er küsst weder Mutter noch Baby, brummt nur eine Bemerkung, über die beide Frauen nachsichtig lachen.

Es ist nicht weiter schwierig, das Geschlecht des Babys zu erraten: Das ganze Bett ist von rosa Karten und Schleifen umgeben, dazwischen findet sich sogar ein schon etwas schlaffer Luftballon mit der Aufschrift: «Hurra, ein Mädchen!» Das kleine Mädchen selbst trägt allerdings einen marineblauen Strampler, so als wollte die Mutter sich von Anfang an gegen jegliches Klischee verwahren. Die blonde Frau nimmt das Baby auf den Arm, und es mustert sie aus seinen dunklen, ernsten Augen. Die Braunhaarige sieht zu dem Mann hin, wendet den Blick aber rasch wieder ab.

Als die Besuchszeit vorüber ist, verabschiedet sich die Blonde mit Geschenken und Küssen und streichelt dem Baby ein letztes Mal über den Kopf. Der Mann steht vor dem Bett und tritt von einem Fuß auf den anderen, hat es offenbar eilig, wieder wegzukommen. Die frischgebackene Mutter lächelt und hält ihr Baby im Arm, der ewige Inbegriff seligen Mutterglücks.

An der Tür dreht sich die blonde Frau noch einmal um und winkt. Der Mann ist bereits draußen.

Doch fünf Minuten später kommt er zurück, allein und schnell, fast im Laufschritt. Vor dem Bett bleibt er stehen. Die Frau drückt ihm wortlos das Baby in den Arm. Es verhält sich immer noch ruhig, doch die Frau weint.

«Sie sieht aus wie du», flüstert sie.

1

März

Es ist Ebbe. Im Licht des frühen Abends erstreckt sich der Sandstrand bis in weite Ferne, ein langes Band aus Gelb und Grau und Gold. Zwischen den Steinen spiegelt sich blassblauer Himmel in den Wasserlachen. Drei Männer und eine Frau gehen langsam den Strand entlang; hin und wieder bleiben sie stehen, um etwas am Boden näher zu betrachten, nehmen Proben, machen Fotos. Einer der Männer hält eine Art Stock in der Hand, den er in regelmäßigen Abständen in den Sand steckt. Sie passieren einen Felsen mit einem einsamen Leuchtturm, dessen kecker rot-weißer Anstrich bereits abblättert, und ein Strandstück, das seit kurzem vom Geröll eines Steinschlags versperrt ist, sodass sie zum Meer hin ausweichen und ein Stück durch das seichte Wasser waten müssen. Dahinter geht der lange Sandstrand in eine Reihe kleinerer Buchten über, halbrund wie aus dem weichen Sandstein herausgebissen. Die vier kommen jetzt langsamer voran, weil sie über tangglitschige Felsen und über Bruchstücke alter Wellenbrecher klettern müssen. Einer der Männer fällt ins Wasser, und die beiden anderen lachen, dass es in der stillen Abendluft widerhallt. Die Frau stapft einfach weiter, ohne sich umzudrehen.

Schließlich gelangen sie an eine Stelle, wo der Fels als kahle Landzunge weit ins Meer hineinragt. Die Klippen fallen hier steil ab und bilden eine v-förmige Bucht, die von der Flut wohl besonders schnell erreicht wird. Die Wellen, von weißer Gischt gekrönt, rasen nur so auf die schartigen Felsen zu, begleitet vom wilden Kreischen der Möwen. Hoch oben, am äußersten Rand der Klippe, steht ein graues steinernes Haus, das mit seinen Zinnen und dem runden Turm, der aufs Meer hinausschaut, entfernt an ein Spukschloss erinnert. Auf der Spitze des Turms flattert die britische Flagge.

«Sea’s End House», sagt einer der Männer und bleibt stehen, um kurz den Rücken zu strecken.

«Wohnt da nicht dieser Abgeordnete?», fragt ein anderer.

Die Frau ist am Rand der Bucht stehen geblieben und schaut zu dem Haus hinüber. Seine Zinnen wirken in der Dämmerung dunkelgrau, fast schwarz.

«Jack Hastings», sagt sie. «Er ist Europaabgeordneter.»

Obwohl sie von den vieren die Jüngste ist und äußerlich recht unangepasst wirkt – eine stachlige, dunkelrot gefärbte Kurzhaarfrisur, Piercings und Armeejacke –, behandeln ihre Begleiter sie sichtlich mit Respekt. Jetzt sagt einer von ihnen fast flehentlich zu ihr: «Wollen wir’s für heute nicht lieber gut sein lassen, Trace?»

Der Mann mit dem Stock, ein kahlköpfiger Riese, der überall nur Ted der Ire heißt, setzt hinzu: «Da drüben ist ein gutes Pub. Das Sea’s End.»

Die anderen unterdrücken ein Grinsen. Ted eilt der Ruf voraus, jedes Pub in ganz Norfolk zu kennen – eine beachtliche Leistung in einem Landstrich, der angeblich für jeden Tag des Jahres eine eigene Kneipe vorweisen kann.

«Gehen wir bis ans Ende des Strandes.» Trace zückt ihre Kamera. «Wir sollten noch ein paar Vermessungen vornehmen.»

«Die Erosion ist hier weit fortgeschritten», bemerkt Ted. «Das habe ich auch schon gelesen. Das Haus da, Sea’s End, gilt als gefährdet. Jack Hastings macht einen Mordsaufstand deswegen. Tönt ständig rum, jeder Engländer sei König im eigenen Heim.»

Alle betrachten das graue Haus oben auf dem Felsen. Von den Außenmauern des runden Turmes ist es nur noch ein knapper Meter bis zum Abhang. Die Reste eines Zauns ragen verwegen ins Leere.

«Hinter dem Haus war mal ein richtiger Garten», sagt Craig, einer der beiden anderen Männer. «Mit Laube und allem Drum und Dran. Mein Großvater war Gärtner dort.»

«Der Strand verschlickt auch immer mehr», meint Trace. «Bei dem schweren Sturm im Februar ist eine Menge Geröll runtergekommen.»

Sie sehen in die schmale Bucht hinunter. Am Fuß der Felsen erstreckt sich ein von Steinen bedecktes Strandstück, dahinter geht es steil zum Meer hinab. Kein sonderlich einladender Ort: Man kann sich kaum vorstellen, dass Familien hier Picknick machen, Kinder mit Eimern und Schäufelchen im Sand spielen, Erwachsene in der Sonne liegen.

«Sieht nach Felssturz aus», bemerkt Ted.

«Kann gut sein», sagt Trace. «Machen wir trotzdem unsere Messungen.»

Sie geht voran den Strand entlang, so nah wie möglich an der Felswand. Von Sea’s End House geht ein steiler Pfad zum Meer hinab, oberhalb der Gezeitenmarke liegen Fischerboote vertäut, doch die Flut kommt immer näher.

«Hier führt kein Weg mehr vom Strand weg», sagt der Mann, dessen Großvater als Gärtner gearbeitet hat, «nicht, dass wir nachher von der Flut eingeschlossen werden.»

«Das ist doch nicht tief», erwidert Trace, «da können wir durchwaten.»

«Aber die Strömung ist tückisch», warnt Ted. «Gehen wir lieber gleich einen trinken.»

Trace schenkt ihm keine Beachtung: Sie fotografiert die Felswand, die schwarzen und grauen Sedimente, zwischen denen hin und wieder ein leuchtend roter Streifen hervorsticht. Ted steckt seinen Stock in den Boden und bestimmt die Koordinaten. Der dritte Mann, Steve, geht weiter bis zu einer Stelle, wo sich eine Spalte im Fels zu einer Höhle erweitert hat. Steine, wahrscheinlich weitere Überreste des Felssturzes, versperren den Eingang. Steve klettert über das Geröll, schlittert über die lockeren Steine.

«Pass auf», ruft Trace, ohne sich umzudrehen.

Das Meer ist lauter geworden, es donnert jetzt auf das Land zu, und die Seevögel kehren in ihre Nester hoch in der Felswand zurück.

«Wir sollten lieber umkehren», sagt Ted noch einmal, doch da ruft Steve vom Felsen herunter: «He, schaut euch das mal an!»

Die anderen kommen näher. Steve hat sich eine Schneise durch das Geröll gebahnt und hockt jetzt in der höhlenartigen Vertiefung dahinter. Eine tiefe Nische, fast schon ein Durchgang, zu dessen beiden Seiten der Fels dunkel und bedrohlich in die Höhe ragt. Steve hat ein paar größere Brocken beiseitegeräumt und betrachtet jetzt etwas, das halb vergraben im sandigen Boden liegt.

«Was ist das?»

«Sieht aus wie ein Arm», stellt Ted ungerührt fest.

 

Detective Sergeant David Clough isst. Das ist an sich nichts Besonderes. Clough isst den lieben langen Tag fast ununterbrochen, angefangen mit einem Frühstück von McDonald’s über diverse Mars-Riegel zwischendurch, einen Instant-Nudel-Snack zu Mittag, ein Sandwich und ein Stück Kuchen als Stärkung am Nachmittag bis hin zu dem Pint Bier und dem Curry, das er sich zum Abendessen gönnt. Trotz allem bleibt er bewundernswert schlank, ein Umstand, den er selbst mit «Fußball und Rumvögeln» erklärt. Neuerdings hat er allerdings eine Freundin, was wohl mindestens einer der beiden Aktivitäten einen Riegel vorschiebt.

Clough hat einen anstrengenden Tag hinter sich. Sein Chef ist in Urlaub, und insgeheim hat er gehofft, dass Norfolk just in dieser Woche von einem Serienmörder heimgesucht würde, den David – oder künftig: Sir David – Clough, der Superpolizist, eigenhändig zur Strecke bringen könnte. Stattdessen musste er sich mit zwei Einbrüchen herumschlagen, einem versuchten Autodiebstahl und einem alten Knacker, der tot auf seinem Treppenlift gefunden wurde. Nicht gerade die Neuauflage von Miami Vice.

Sein Handy meldet sich mit der nervigen Titelmelodie der Simpsons.

«Trace! Hallo, Süße.»

Detective Sergeant Judy Johnson, die sich – wenn auch nur unter Protest – das Büro mit Clough teilt, steckt sich pantomimisch den Finger in den Hals. Clough schenkt ihr keine Beachtung und verdrückt den letzten Rest seines Blaubeermuffins.

«Du musst herkommen, Dave», sagt Trace am Telefon. «Wir haben Knochen gefunden.»

Clough springt unverzüglich auf, steckt sein Handy ein, stürmt zur Tür und ruft Judy zu, sie solle mitkommen. Die Gesamtwirkung leidet etwas darunter, dass er die Autoschlüssel vergessen hat und noch einmal umkehren muss, um sie zu holen. Judy sitzt mit steinerner Miene an ihrem Schreibtisch.

«Was heißt hier ‹mitkommen›? Du hast mir nichts zu befehlen.»

Clough seufzt. Das ist wieder mal typisch Judy, hier rumzumosern und ihm damit die einzige Chance zu verderben, diese Woche noch ein bisschen Action zu sehen. Seit sie letztes Jahr befördert wurde, nimmt sie sich nach Cloughs Meinung ein bisschen viel heraus. Zugegeben, sie ist keine schlechte Polizistin, aber sie meckert ständig wegen irgendwelcher Kinkerlitzchen an ihm herum: ein unbearbeitetes Formular, ein verpasster Termin, ein nicht protokollierter Anruf. Mit Papierkram fängt man keine Verbrecher, kontert Clough dann im Stillen, hütet sich aber, das laut zu sagen. Judy hat nämlich ganz schön Haare auf den Zähnen.

Jetzt versucht er, dieselbe Miene aufzusetzen wie der Boss, wenn er besonders gereizt ist.

«In Broughton Sea’s End wurden menschliche Überreste gefunden. Wir müssen da schleunigst hin.»

Judy rührt sich immer noch nicht vom Fleck.

«Und wo genau wurden sie gefunden?»

Das kann Clough nicht beantworten. Er war viel zu sehr mit Durchstarten beschäftigt, um Fragen zu stellen. Finster blickt er Judy an.

«Das war doch Trace am Telefon, oder? Hat sie die Knochen gefunden?»

«Ja. Sie macht da irgendwelche Vermessungen an den Felsen, was weiß ich.»

«Archäologische Vermessungen?»

«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie Knochen gefunden hat. Menschliche Überreste. Also, kommst du jetzt mit, oder willst du mich lieber den ganzen Tag mit Fragen löchern?»

 

Als sie endlich in Broughton Sea’s End ankommen, hat die Flut natürlich längst eingesetzt, und es ist zu gefährlich, hinunter an den Strand zu gehen. Clough wirft Judy einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie komplett ignoriert.

Trace und Steve warten oben am Felsen auf sie, ganz in der Nähe der Zufahrt zu Sea’s End House. Unter ihnen reicht die Flut bis an den steilen Zugangspfad heran, die Wellen klatschen gegen den Stein. Am anderen Ende der Bucht ragt eine weitere Felswand auf, dunkel und kerzengerade und durch die Flut jetzt unerreichbar.

«Ihr habt ganz schön lange gebraucht», begrüßt Trace Clough. «Ted und Craig sind schon ins Pub vorgegangen.»

«Ted der Ire?», fragt Clough. «Der sitzt doch sowieso immer im Pub.»

Judy zückt ihr Notizbuch und schaut gleich zwei Mal auf die Uhr, bevor sie die genaue Zeit notiert. Das nervt Clough unbeschreiblich.

«Wo genau wurden die Knochen denn gefunden?», fragt sie.

«Zwischen den Felsen ist eine Spalte», erklärt Steve. «So eine Art Höhle.» Er ist ein drahtiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauem Haar, das er zum Pferdeschwanz gebunden trägt. Der typische Archäologe, denkt Clough.

«Und wie haben Sie sie entdeckt?», fragt Judy.

«Ich wollte mir einen Steinschlag genauer ansehen und habe dazu ein paar größere Gesteinsbrocken weggeräumt. Darunter lagen sie. Wahrscheinlich hat der Felssturz auch ein Stück Boden mit weggerissen.»

«Liegen sie oberhalb der Gezeitenmarke?», fragt Judy weiter. Unten in der Bucht schlagen inzwischen die ersten Wellen an die Felswand.

«Für den Moment vermuten wir, dass sie durch das Geröll vom Steinschlag ausreichend geschützt sind», sagt Trace.

«Allerdings nicht bei einer Springflut», meint Steve. «Die reicht hoch hinauf.»

«Und wenn wir die Steine wegräumen und einen Graben anlegen», sagt Trace, «erreicht das Wasser sie mit Sicherheit.»

Sie betrachten die Wellen, die jetzt mit unglaublicher Geschwindigkeit hereinbrechen, Tümpel zwischen den Steinen miteinander verbinden, Reste von Wellenbrechern unter sich begraben und die ganze kleine Bucht in einen schäumenden, gischtweißen See verwandeln.

Trace schaut auf die Uhr. Seit seiner Ankunft hat sie Clough nicht eines Blickes gewürdigt; er ist sich nicht sicher, ob sie sauer ist, weil er so spät dran war, oder ob sie einfach nur die professionelle Archäologin gibt. Für ihn ist es etwas völlig Neues, mit einer Karrierefrau zusammen zu sein und dann auch noch einer mit Punkfrisur, Zungen-Piercing und Doc Martens. Kennengelernt haben sie sich bei einem anderen Fall, in den Trace verwickelt war und bei dem es ebenfalls um Archäologie und vergrabene Knochen ging. Clough weiß noch genau, wie sehr er sich von Anfang an zu ihr hingezogen fühlte, als er sie beim Graben sah, die Muskeln, die sich an ihren schlanken Armen abzeichneten. Auch jetzt findet er diese Muskeln – und das Piercing – noch ungeheuer sexy. Er selbst kann nur hoffen, die Tatsache, dass er kein Buch mehr angefasst hat, seit er im Englischunterricht bei Von Mäusen und Menschen auf halber Strecke aufgegeben hat, durch sein Sixpack ausreichend wettzumachen.

Judy setzt ihre Befragung fort. «Und ihr seid sicher, dass es menschliche Knochen sind?»

«Ziemlich», antwortet Trace. Sie fröstelt ein wenig. Die Sonne ist längst untergegangen, und es ist windig geworden.

«Wie alt?»

«Das weiß ich nicht. Dafür bräuchten wir Ruth Galloway.»

Trace, Clough und Judy wechseln einen Blick. Jeder von ihnen verbindet eigene Erinnerungen mit Ruth Galloway. Nur Steve zeigt keine Reaktion auf den Namen. «Ist das nicht diese Forensikerin? Ich dachte, die hat aufgehört.»

«Sie war im Mutterschaftsurlaub», sagt Judy. «Aber ich glaube, inzwischen arbeitet sie wieder.»

«Sie sollte lieber daheimbleiben und sich um ihr Kind kümmern», meint Clough etwas unbedacht.

«Sie ist alleinerziehend», faucht Trace ihn an. «Ich nehme mal an, sie braucht das Geld.»

«Was habt ihr überhaupt hier am Strand gemacht?», lenkt Judy hastig ab.

«Wir machen im Auftrag der Universität eine Studie über Küstenerosion. Dafür vermessen wir alle Strände im Nordosten Norfolks. Ein paar interessante Funde haben wir auch schon gemacht. Faustkeile aus der Frühsteinzeit in Titchwell, einen römischen Armreif in Burgh Castle, jede Menge Wracks. Steve hat gerade die Felswand hier begutachtet, als er die Knochen in der Höhle dahinter entdeckt hat.»

«Wie könnt ihr denn solche Sachen finden?», will Judy wissen, während sie über den Küstenpfad zurückgehen. «Wenn das Meer immer näher kommt, müsste es doch eigentlich alles zudecken.»

Clough ist froh, dass Judy die Frage gestellt hat. Genau das wollte er auch wissen, hat sich aber nicht getraut zu fragen, weil er vor Trace nicht blöd dastehen möchte.

«Flutwechsel», antwortet Trace knapp. «Der Sand verschiebt sich, teilweise verschlickt er, aber andere Bereiche werden freigelegt. Die Kieselbänke rücken weiter nach hinten. So kommen Dinge zum Vorschein, die vergraben waren.»

«So wie unsere Knochen», ergänzt Steve. «Ursprünglich wurden sie sicherlich weit oberhalb der Gezeitenlinie vergraben, aber das Wasser kommt immer näher. Es trägt das Land ab. Und dann ist ein Teil des Felsens runtergekommen.»

«Konnten Sie sie gut sehen?», fragt Clough.

«Nein», antwortet Steve. «Die Flut kam viel zu schnell. Wir wollten nicht riskieren, auf der falschen Strandseite eingekesselt zu werden. Aber auf den ersten Blick würde ich sagen, dass wir da mehr als eine Leiche haben.»

Clough und Judy sehen sich an. «Und es sind definitiv Menschen?»

«Meiner bescheidenen Meinung nach schon.»

«Wir haben noch was gefunden», sagt Trace, die grundsätzlich keine bescheidenen Meinungen hat.

Inzwischen sind sie beim Pub angekommen. Das Schild, taktloserweise die Darstellung eines Mannes, der von einem Felsen stürzt, quietscht im auffrischenden Wind. Durchs Fenster sehen sie Ted, der ein Pintglas zum Mund führt. In dem gelblichen Licht, das durch das Fenster nach draußen fällt, hält Trace etwas hoch, das entfernt an Isoliermaterial erinnert: ein kleines Knäuel aus weichen gelblichen Fasern.

«Was ist das?», fragt Judy.

«Watte?», vermutet Clough.

«Stinkt ein bisschen», meint Steve. Und tatsächlich geht von dem Knäuel ein starker Schwefelgeruch aus.

«Großartig.» Clough reibt sich die Hände. «Der Boss wird begeistert sein.»

«Wo steckt Nelson überhaupt?», fragt Trace.

«Im Urlaub», sagt Clough. «Am Montag ist er wieder da. Wahrscheinlich zählt er schon die Tage.»

Judy muss lachen. Nelsons Abneigung gegen Urlaub ist auf dem Revier legendär.

2

Detective Chief Inspector Harry Nelson sitzt mit einem Glas Bier in der Hand am Pool und hängt düsteren Gedanken nach. Es ist Abend, und die Lichterketten in den Bäumen glitzern auf der stillen Wasseroberfläche. Nelsons Frau Michelle sitzt neben ihm, führt aber gerade mit der Frau am Nebentisch ein angeregtes Gespräch über Strähnchen und wendet ihm daher den Rücken zu. Michelle ist Friseuse, es handelt sich also um ihr Fachgebiet, und Nelson weiß nur zu gut, dass ihr Monolog so schnell kein Ende finden wird. Sein eigenes Fachgebiet – Mord – eignet sich da sehr viel weniger für einen guten Gesprächseinstieg.

Als Nelson Michelle erzählt hat, dass er noch eine Woche Urlaub übrig hat, schlug sie vor, irgendwo hinzufahren, «nur wir zwei». Zu dem Zeitpunkt fand er die Idee eigentlich gar nicht schlecht. Laura, ihre ältere Tochter, ist im September ausgezogen, weil sie jetzt studiert, und die siebzehnjährige Rebecca würde kaum eine ganze Woche nur mit ihren Eltern verbringen wollen. «Außerdem», meinte Michelle, «will sie sicher nicht so viel Unterricht versäumen.»

Das hat Nelson nur ein zweifelndes Brummen entlockt. Seiner Ansicht nach ist Rebecca sowieso so gut wie nie in der Schule; ihr Abschlussjahrgangsleben scheint fast vollständig aus rätselhaften «Freistunden» und noch viel rätselhafteren «Exkursionen» zu bestehen. Auch ihre Hauptfächer sind für ihn Bücher mit sieben Siegeln. Psychologie, Medienkunde und Umweltwissenschaft. Psychologie? Davon hat er bei der Arbeit schon mehr als genug. Sein Chef, Gerry Whitcliffe, tanzt regelmäßig mit irgendeinem spillerigen Psychologen an, der dann ein «Täterprofil» erstellen soll. Am Ende kommt dabei jedes Mal heraus, dass sie nach einem Einzelgänger mit Minderwertigkeitskomplex suchen, der anderen Leuten gerne weh tut. Na, vielen Dank auch, das hätte Nelson gerade noch selbst herausgefunden, auch wenn er keine anderen Qualifikationen hat als ein langes Berufsleben bei der Polizei und einen Schulabschluss mit Hauptfach Werken. Medienkunde ist anscheinend nur eine andere Bezeichnung für Fernsehen, und was zum Geier soll denn bitte Umweltwissenschaft sein? Michelle behauptet zu wissen, dass es dabei um den Klimawandel geht, aber ihn führt sie nicht hinters Licht. Sie sind beide mit sechzehn von der Schule abgegangen: Was höhere Schulbildung angeht, leben ihre Kinder in einer ganz anderen Welt.

Nelson wäre gern nach Schottland gefahren, vielleicht auch nach Norwegen, aber er musste seine Urlaubswoche bis Ende März nehmen, und Michelle wollte in die Sonne. Und die einzige Sonne, die sich im März finden lässt, wenn man nicht ewig weit fahren will, ist offenbar auf den Kanaren, daher hat Michelle eine Woche Vollpension in einem Vier-Sterne-Hotel auf Lanzarote gebucht.

Das Hotel ist tatsächlich ganz schön, und die Insel besitzt einen ganz eigenen, aschegrauen Reiz, doch für Nelson war es eine Woche in der Vorhölle. Gleich am ersten Abend kam Michelle mit einem anderen Paar ins Gespräch, Lisa und Ken aus Farnborough. Nach zehn Minuten hatte Nelson alles gehört, was er je über Kens Stelle als IT-Berater und Lisas Leben als Kosmetikerin hätte wissen wollen. Er wusste, dass sie zwei Kinder im Teenageralter hatten, die gerade bei Lisas Eltern, Stan und Evelyn, waren, dass sie lieber Chinesisch als Indisch aßen und George Michael für den größten lebenden Entertainer hielten. Er wusste, dass Lisa gegen Avocados allergisch war und Ken am Reizdarmsyndrom litt. Er wusste, dass Lisa immer mittwochs zum Salsa ging und Ken ein Golfhandicap von 13 hatte.

«Und wie viele Kinder haben Sie?», fragte Lisa und richtete ihren eindringlichen, kurzsichtigen Blick dabei auf Nelson.

«Drei», antwortete Nelson knapp. «Drei Töchter.»

«Harry!» Michelle beugte sich vor, und ihre Goldketten klingelten aneinander. «Wir haben zwei Töchter, Lisa. Demnächst vergisst er noch, wie er heißt.»

«Entschuldigung.» Nelson wandte sich wieder seinem Krabbencocktail zu. «Zwei Töchter, neunzehn und siebzehn.»

An diesem Abend war das Gespräch nur noch ein weiteres Mal zum Erliegen gekommen.

«Und was machen Sie beruflich, Harry?», fragte Ken.

«Ich bin Polizist», gab Nelson zur Antwort und machte sich energisch daran, sein Steak zu zersäbeln.

 

«Ein Glück», meinte er zu Michelle, als sie später wieder auf dem Zimmer waren. «Jetzt müssen wir wenigstens nie mehr mit diesen fürchterlichen Leuten reden.»

«Wie meinst du das?» Michelle hatte sich in ein Handtuch gehüllt und steuerte die Dusche an.

Nelson zögerte mit der Antwort; er wollte sie nicht zu sehr verärgern, weil er auf Sex in der ersten Urlaubsnacht setzte. «Na ja, wir haben doch nicht gerade viel mit ihnen gemeinsam, oder?»

«Ich mochte sie.» Michelle drehte das Wasser auf. «Und ich habe uns für morgen mit ihnen zum Minigolf verabredet.»

Damit war es entschieden. Sie spielten Minigolf mit Lisa und Ken, sie sahen sich zusammen die Sehenswürdigkeiten an, abends aßen sie an benachbarten Tischen, und einmal, am grässlichsten Abend von allen, waren sie in einer Karaoke-Bar. Die Hölle, sinniert Nelson jetzt, während er den Vor- und Nachteilen von Gold im Vergleich zu Rot mit einem Schuss Honig lauscht, kann keine schlimmeren Strafen bereithalten, als mit einem Programmierer aus Farnborough «Wonderwall» im Duett singen zu müssen.

«Wir müssen unbedingt wieder zusammen Urlaub machen.» Ken beugt sich zu Nelson herüber. «Lisa und ich wollten nächstes Jahr vielleicht nach Florida.»

«Wir waren dort mal in Disneyland», sagt Michelle. «Als die Mädchen noch klein waren. Das war toll, stimmt’s, Harry?»

«Erste Sahne.»

«Na, dann wär’s doch an der Zeit, noch einmal ohne Kinder hinzufahren», meint Ken. «Wieso sollen immer die den ganzen Spaß haben?»

Nelson mustert ihn mit steinerner Miene. «Harry ist ein echter Workaholic», erklärt Michelle. «Er kann sich ganz schlecht entspannen.»

«Polizist sein ist bestimmt auch sehr anstrengend», sagt Lisa. Mit leichten Variationen sagt sie das jedes Mal, wenn von Nelsons Arbeit die Rede ist.

«Kann man wohl sagen», brummt Nelson.

«Harry hat ein hartes Jahr hinter sich.» Michelle gibt ihrer Stimme einen mitleidigen Unterton.

Auch das kann man wohl sagen, denkt Nelson, als sie das Restaurant am Pool endlich verlassen, um in der Hotelhalle noch einen Kaffee zu trinken. Das Jahr hat ihm zwei Kindsmörder und mindestens drei Spinner beschert und dazu noch eine äußerst merkwürdige Beziehung, wie er sie nie zuvor erlebt hat. Beim Gedanken an diese Beziehung springt er unvermittelt auf. «Ich muss mir mal die Beine vertreten», sagt er. «Vielleicht rufe ich auch kurz bei Rebecca an.» Der Handyempfang ist im Freien sehr viel besser.

Draußen umrundet Nelson zweimal den Pool und denkt darüber nach, welche Verbrechen er Ken wohl anlasten könnte. Dann zieht er sich in die Dunkelheit der sogenannten italienischen Terrasse zurück, einem etwas trostlosen Ort, der mit leeren Amphoren und pittoresken Säulenfragmenten vollgestellt ist.

Er öffnet seine Kontakte und klickt sich durch die Namen mit R.

«Hallo», sagt er dann. «Wie geht’s dir?»

 

Streng genommen geht es Doktor Ruth Galloway gerade nicht besonders gut. Phil, ihr Vorgesetzter an der University of North Norfolk (UNN), hat darauf bestanden, um fünf Uhr nachmittags noch eine Planungssitzung abzuhalten. Mit dem Ergebnis, dass Ruth nun zum dritten Mal in dieser Woche zu spät bei der Tagesmutter ankommt. Als sie mit quietschenden Reifen vor dem Reihenhaus in King’s Lynn hält, kann sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihr Name längst auf einer ominösen Schwarzen Liste von Rabenmüttern stehen muss. Die Tagesmutter, eine gemütliche, etwas ältere Frau namens Sandra, für die sich Ruth nach vielen ermüdenden Gesprächen und Sichtungen von Unterlagen entschieden hat, zeigt Verständnis: «Das macht doch nichts, Kindchen. Ich weiß ja selbst, wie das auf der Arbeit ist.» Trotzdem hat Ruth Schuldgefühle. Irgendwie weiß sie nie genau, wie sie mit Sandra umgehen soll. Sie ist nicht im eigentlichen Sinn eine Freundin, aber sie ist auch keine Studentin oder Unikollegin. Einmal hat Ruth mitbekommen, wie eine andere Mutter – Sandra betreut noch zwei weitere Kinder – in der Küche mit Sandra plauderte. Es ging um ihren Mann, der ja so unordentlich sei, und um ihre anderen Kinder, die keine Hausaufgaben machen wollten und sich weigerten, Gemüse zu essen, und es klang alles so nett und freundlich, dass Ruth am liebsten mitgeplaudert hätte. Aber sie hat nun mal keinen Mann und keine anderen Kinder. Und ihre Arbeit als forensische Archäologin mit Spezialisierung auf uralte Knochen eignet sich auch nicht gerade für ein gemütliches Plauderstündchen in der Küche.

Als die vier Monate alte Kate ihre Mutter sieht, fängt sie an zu brüllen.

«Das ist ganz normal», meint Sandra. «Das ist nur die Erleichterung, dass Mama wieder da ist.»

Ruth kann in dem Gebrüll allerdings nur wenig Erleichterung oder auch nur Zuneigung ausmachen, während sie versucht, Kate in ihren Kindersitz zu verfrachten. Für sie klingt es einfach nur stinksauer.

Bei ihrer Geburt war Kate groß, eher lang als schwer. «Ist Ihr Mann sehr groß?», hat die Hebamme sich erkundigt, als sie Ruth das rotgesichtige Bündel in den Arm legte. Die Antwort auf diese Frage blieb Ruth erspart, weil in dem Moment ihre Eltern eintrafen, direkt aus Eltham, mit Blumen und einem Exemplar Meine ersten Bibelgeschichten im Gepäck. Eigentlich hätte Ruths Mutter bei der Geburt dabei sein sollen, doch dann haben die Wehen während einer Halloween-Party bei Ruths gutem Freund und Teilzeit-Druiden Cathbad eingesetzt.

Cathbad brachte Ruth ins Krankenhaus, noch in den weißen Gewändern, die er zu Ehren der guten Geister angelegt hatte. «Beim ersten Kind dauert es immer ewig», versicherte er ihr. «Woher willst du das denn wissen?», schrie Ruth unter Schmerzen, die ihr ebenso unerträglich wie endlos vorkamen. «Ich habe immerhin eine Tochter», erklärte Cathbad würdevoll. «Aber die hast nicht du geboren», brüllte Ruth, «sondern deine Freundin!» Doch Cathbad schenkte ihrem Brüllen, ihren Flüchen und den Beteuerungen, dass sie alle Männer hasse und ihn ganz besonders, keine Beachtung. Er bewarf sie mit ein paar Kräutern, umrundete das Bett und murmelte Zaubersprüche, und schließlich beschränkte er sich darauf, einfach ihre Hand zu halten.

«Das dauert noch Stunden», verkündete die Hebamme fröhlich. Doch dann kam Kate genau zehn Minuten nach Mitternacht zur Welt, ersparte sich Halloween und war dafür pünktlich zu Allerheiligen.

«Ich halte ja nichts von diesem katholischen Schnickschnack», meinte ihre Mutter, als Ruth ihr das erzählte. Ruths Eltern sind Wiedererweckte Christen und der festen Überzeugung, dass unter allen Glaubensrichtungen sie allein die Wahrheit kennen – eine Illusion, die sie, wie Ruth ihnen leicht beweisen könnte, mit sämtlichen anderen Religionen teilen, schon seit der Zeit, als die Assyrer erstmals anfingen, ihren Vorfahren Tongefäße mit ins Grab zu geben, für alle Fälle.

Als Ruth das verkniffene Gesichtchen ihrer Tochter betrachtete, war sie überrascht von dem spontanen Gefühl, sie bereits zu kennen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber das jedenfalls nicht. In den Büchern stand etwas von Mutterliebe, von Euphorie und Freude und spontanem Milcheinschuss. Doch Ruth war viel zu erschöpft, um euphorisch zu sein. Sie war sich in dem Moment nicht einmal sicher, ob das, was sie empfand, Liebe war. Sie spürte nur, dass sie ihr Baby kannte: Das war kein Fremdling, das war ihre Tochter. Dieses Gefühl trug sie über die Qualen des Stillens, das absolut nichts mit den idyllischen Schilderungen der Bücher gemeinsam hatte, über die Einsamkeit, die sie sofort überwältigte, sobald ihre Eltern aus der Tür waren, und durch die schlaflosen Nächte und die zombiehaften Tage, die darauf folgten. Sie kannte ihr Baby. Sie saßen gemeinsam im selben Boot.

Ruths Mutter war erfreut über die Namenswahl: «Ach, die Abkürzung von Catherine, nach deiner Tante Catherine aus Thornton Heath.» – «Das ist aber keine Abkürzung», erwiderte Ruth und musste bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal feststellen, dass die Leute ihr plötzlich nicht mehr richtig zuhörten, wenn sie etwas sagte. Das war ein Schock für Ruth – schließlich war sie ihr ganzes Arbeitsleben lang Universitätsdozentin gewesen; Menschen zahlten dafür, ihr zuzuhören. Aber wenn sie jetzt nicht gerade über das Baby sprach, war es, als klappte sie einfach nur den Mund auf und zu wie ein Fisch im Aquarium.

Auch Cathbad gefiel der Name: «Nach Hekate, der Göttin der Zauberkunst. Eine große Magierin.» Und Ruths Freund Max, Experte für römische Geschichte, schlug in dieselbe Kerbe: «Hekate wird ja oft auch als Hebamme bezeichnet.» Das war Ruth durchaus bekannt, doch Kate hieß weder nach Hekate noch nach Tante Catherine und erst recht nicht nach der heiligen Katharina von Siena, wie ein weiterer Bekannter, seines Zeichens katholischer Priester, vermutete. Sie hieß einfach Kate, weil Ruth den Namen mochte. Er war schön, aber nicht zu ausgefallen, und kraftvoll, ohne hart zu wirken. Man konnte sich problemlos einen Doktortitel davor oder die Abkürzung «MP» dahinter vorstellen, gleichzeitig war er aber niedlich genug für ein Baby.

Für den Moment allerdings brüllt die künftige Frau Doktor Kate Galloway auf dem Rücksitz unbeirrt weiter, während Ruth den Wagen in Richtung Heimat steuert. Sie wohnt außerhalb von King’s Lynn, an der Küste Nord-Norfolks, allerdings nicht in einer der zahllosen pittoresken kleinen Ortschaften, sondern in einem abgelegenen Haus mit Blick auf die einsame, aber wunderschöne Landschaft, die als Salzmoor bekannt ist. «Jetzt, wo das Baby da ist, bleibst du aber nicht mehr in diesem schrecklichen Haus?» Das war die erste Frage ihrer Mutter. «Warum denn nicht?», hat Ruth zurückgefragt.

Sie liebt das Haus, liebt den Blick, der sich hinter dem Salzmoor im Nichts verliert, sie liebt die Weite des Himmels und das Rauschen des Meeres und die Vogelschwärme, die den abendlichen Himmel verdunkeln, die Flügelspitzen ins Rosarot der untergehenden Sonne getaucht. Aber der Winter war hart, das muss sie zugeben. Die Weihnachtstage hat sie bei ihren Eltern in London verbracht und war heilfroh, als sie wieder fahren konnte, weil sie es satthatte, vor jeder Mahlzeit zu beten und mit ihrer Schwägerin über Kalorienangaben zu reden. Doch als sie und Kate wieder daheim waren, allein in dem kleinen Haus, und der Wind vom Meer heranbrauste, verspürte Ruth eine leichte, dadurch aber nicht weniger reale Angst. Sie waren ganz auf sich allein gestellt – sie saßen tatsächlich gemeinsam im selben Boot. Ruths Haus steht zwischen zwei weiteren, von denen eines unbewohnt ist und das andere Wochenendurlaubern gehört, die immer seltener kommen, seit die Kinder erwachsen sind. Die nächsten Nachbarn wohnen im Dorf, gut anderthalb Kilometer die dunkle, ungeschützte Straße entlang, die sich ein ganzes Stück über dem flachen Marschland erhebt, und auch im Dorf stehen die meisten Häuser den Winter über leer.

Den ganzen Januar über haben Ruth und Kate das Haus so gut wie nie verlassen. Ruth hielt sich mit dem Kultursender Radio 4 über Wasser – die tägliche Doppelfolge von The Archers war für sie ein Quell der Freude – und sah Kate zu. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass so ein Baby sich von Tag zu Tag verändert. Eines Tages konnte Kate plötzlich lächeln – meist lächelte sie Flint an, Ruths Kater –, am nächsten glucksen, und bei einer freudigen Gelegenheit schlief sie sogar die ganze Nacht durch. Wenig später fing sie an, ihre Mutter mit Ganzkörperzappeln und fröhlichem Strampeln zu begrüßen. Wahrscheinlich hatte das Ruth letztlich vor dem Durchdrehen bewahrt.

Als im Februar Cathbad zu Besuch kam, um mit einer Imbolc-Feier den Frühlingsanfang zu begehen – etwas verfrüht vielleicht, nachdem draußen noch Schnee lag –, überraschte er Ruth mit der Frage, wann sie eigentlich wieder arbeiten wolle. Ihr Einsiedlerdasein war zu ihrer einzigen Realität geworden, ihre Welt auf vier Wände und einen Computerbildschirm geschrumpft. Doch als Cathbad die Arbeit erwähnte, merkte sie plötzlich, wie sehr sie das alles vermisste. Sie vermisste ihre Studenten und ihre Kollegen, doch vor allem vermisste sie die archäologische Tätigkeit, die angestrengte Suche nach Fundstücken, die jahrhundertealten, von Knochen und Bodenproben aufgegebenen Rätsel, die Freude am Entdecken. Und so hatte Ruth Kate bei ihrer Freundin Shona geparkt, die zu diesem Anlass offenbar einen ganzen Spielzeugladen leer gekauft hatte, und ihren Chef Phil aufgesucht. Anschließend war sie nach Hause gefahren, hatte im Internet etwas arbeitstaugliche Kleidung bestellt – ihre Kleider aus der Zeit vor der Schwangerschaft waren aus unerfindlichen Gründen alle zu eng – und sich darangemacht, Kate abzustillen und an die Flasche zu gewöhnen. Das entpuppte sich als derart mühevolle und emotional fordernde Aufgabe, dass es Ruths neugewonnene Entschlossenheit noch einmal auf eine harte Probe stellte. Aber sie hielt durch, und Anfang März war sie wieder im Dienst.

 

Ruth hört schon seit Jahren mit Begeisterung die Sendung Woman’s Hour, doch sie begreift erst jetzt, warum dort immer so viele Beiträge über das «tägliche Jonglieren» kommen und über die aussichtslosen Bemühungen, «alles» zu haben. Mit ein bisschen Einsatz war es durchaus machbar, ein funktionierendes Betreuungssystem einzurichten. Die emotionalen Auswirkungen hatte Ruth allerdings nicht einkalkuliert. Sie fühlte sich schrecklich schlecht, weil sie Kate im Stich ließ, aber als sie zum ersten Mal wieder ihr Büro betrat, ihr eigenes Büro mit ihrem Namen an der Tür, war sie so erleichtert, dass sie beinahe losgeheult hätte, obwohl sie, insgesamt gesehen, nicht zu Tränen neigt. Wenn sie Kate einmal zu spät abholt, kommt sie sich vor, als hätte sie sich sämtlicher Verbrechen an der Menschheit schuldig gemacht. Sie sehnt sich danach, ihr Baby wieder bei sich zu haben, aber wenn sie es dann hat, überfällt sie eine Art Panik. Wird sie da jemals wieder rauskommen? Oder sitzt sie jetzt für immer in der Mama-Falle?

Sie parkt ihre klapprige Rostlaube vor dem Haus. Der Bewegungsmelder springt an und taucht den verwilderten Garten und das umliegende, vom Wind niedergedrückte Gestrüpp in helles Licht. Kate ist inzwischen eingeschlafen, und Ruth ist froh darüber, auch wenn es bedeutet, dass sie wahrscheinlich vor Mitternacht nicht noch einmal einschläft. Sie trägt den Kindersitz samt Baby ins Haus und stellt ihn mitten ins Wohnzimmer auf den Boden. Flint kommt heran und schnuppert an Kates Gesicht, und Ruth hebt ihn hoch und trägt ihn weg. Ihre Mutter hat zahllose Geschichten von Katzen auf Lager, die sich auf Säuglinge gesetzt und sie erstickt haben, doch Flint legt bisher nur eine gleichbleibend distanzierte Freundlichkeit an den Tag, und Ruth hält zu große Stücke auf ihn, um ihm finstere Motive zu unterstellen. Sie gibt ihm zu fressen, dann macht sie sich einen Tee und einen Toast und freut sich auf eine Stunde Ruhe.

Kaum hat sie sich hingesetzt, klingelt das Telefon. Es ist Nelson.

«Hallo. Wie geht’s dir?»

«Gut. Von wo rufst du an? Bist du wieder da?»

Freudloses Lachen am anderen Ende. «Nein, nein, ich bin noch hier auf diesem mistigen Lanzarote und muss mir anhören, was der größte Langweiler der Welt über Festplatten zu erzählen hat.»

«Klingt doch lustig.»

«Du machst dir keinen Begriff.»

Einen Moment lang herrscht kostspielige Ferngesprächsstille.

«Wie geht’s Katie?»

«Sie heißt Kate.»

Ein ungeduldiges Brummen. «Geht’s ihr gut?»

«Bestens. Sie schläft gerade.» Von ihrem Platz aus kann Ruth sehen, wie sich Kates kleiner Brustkorb hebt und senkt. Inzwischen sieht sie nicht mehr alle zehn Minuten nach, ob ihre Tochter noch atmet, aber doch noch jede Stunde.

«Und die Tagesmutter? Läuft es gut mit ihr?»

«Mein Gott, du hast sie doch sogar polizeilich überprüft. Zwei Mal.»

«Bei so einer Überprüfung findet man nie alles.»

«Es läuft sehr gut. Sie ist weder eine Mörderin noch eine Kinderschänderin. Alles bestens.»

Wieder entsteht eine Pause, während sie beide an Menschen zurückdenken, die am Ende nicht waren, was sie zu sein schienen. Ruth hat der Polizei bei den Ermittlungen in zwei Mordfällen geholfen, und beide Male ging es um Kinder.

«Morgen komme ich wieder nach Hause.»

Doch Ruth weiß, dass «nach Hause» nicht zu ihr nach Hause heißt.

«Es ist ziemlich kalt in Norfolk», meint sie, wie um ihm einen Dämpfer zu versetzen.

«Sag bloß. Es ist doch immer kalt in diesem beschissenen Norfolk.»

Er legt auf, und Ruth bleibt auf dem Sofa sitzen und hängt komplizierten und unangenehmen Gedanken nach. Als kurze Zeit später Trace anruft und ihr erzählt, dass sie in Broughton Sea’s End ein Massengrab gefunden hätten, ist sie fast erleichtert.

3

Der nächste Tag ist ein Samstag, und Ruth geht mit Ted und Trace bei Ebbe den Strand von Broughton Sea’s End entlang. Kate ist den Vormittag über bei Sandra. «Überhaupt kein Problem», hat Sandra versichert, doch Ruth findet es trotzdem problematisch. Mit den Werktagen kann sie umgehen, so ist es ja vereinbart, aber Wochenenden laufen außer der Reihe, und Ruth hat einen Horror davor, andere Leute um Gefälligkeiten zu bitten. Sie findet es schrecklich, irgendwo anzurufen und mit diesem ganz speziellen, schmeichlerischen Ton in der Stimme zu sagen: «Ich hätte da eine Bitte … Würden Sie vielleicht … Das ist meine Rettung … Sie sind ein Schatz!» Da spart sie sich den ganzen Schnickschnack lieber und erledigt die Sache selbst. Aber sie muss zunehmend feststellen, dass man als berufstätige Mutter nicht darum herumkommt, um Gefälligkeiten zu bitten. Entsprechend schlecht gelaunt stapft sie jetzt durch den Sand.

Es ist ein trüber Morgen. Weiter landeinwärts hält sich der Nebel noch, doch so nah am Wasser ist die Luft kalt und klar. Der Weg ist anstrengend, er führt über Kiesbänke und Felsen voller winziger, scharfschaliger Miesmuscheln. Ted ist geradezu unanständig gut gelaunt, wenn man bedenkt, dass er noch nichts getrunken hat. Er weist auf ungewöhnliche Felsformationen hin, findet ein Stück Katzengold und eine vom Meer ganz glatt geschmirgelte Münze, wirft verirrte Krebse ins Wasser zurück und schreibt seinen Namen in den Sand. Trace hingegen schweigt und macht sich nur hin und wieder Notizen. Sosehr das Ruth auch auf die Nerven geht, sie ist doch froh, keinen Smalltalk machen zu müssen.

Als sie die Landzunge erreichen, ragt Sea’s End House über ihnen auf, ein grauer Umriss vor dem grauen Himmel. Da der Nebel den Rest der Küste schluckt, sieht es aus, als triebe es auf dem Meer wie ein dem Untergang geweihter Dampfer, der mit gleißenden Lichtern auf den Eisberg zuhält.

«Willkommen am Ende der Welt», sagt Ted ungebrochen fröhlich.

Ruth schaut zu den Felsen hinauf. Der Stein wirkt weich und sandig und bröckelt an den Rändern, als hätte jemand daran herumgeknabbert. «Sandstein», sagt sie.

«Genau», pflichtet Ted ihr bei. «Der ganze Küstenbereich hier besteht aus Sandstein. Darum ist die Erosion ja auch so weit fortgeschritten.»

«Hier war mal ein Wellenbrecher», sagt Trace, «aber der ist schon seit Jahren verschwunden. Da drüben sieht man noch die Reste.»

Sie schauen alle zum Meer, wo in knapp hundert Metern Entfernung zwei, drei größere Felsblöcke aus dem Wasser ragen wie riesige Trittsteine.

«Das Dumme ist», sagt Ted, «dass die meisten der Schutzmauern noch von den Viktorianern gebaut wurden. Die Felsen dahinter waren einfach zu steil. Und als die Wellenbrecher weg waren, gab es keine Sandbänke mehr oder sonst irgendwas, was der Flut die Kraft genommen hätte.»

«Da hätte man doch was machen können», meint Trace. «Vor fünfzig Jahren wäre noch Zeit genug gewesen.»

Ted zuckt die Achseln. «Das ist halt der Klimawandel», sagt er mit vergnügtem Lächeln. «Weltweit steigt der Meeresspiegel, und wir können absolut nichts dagegen tun.»

Ruth geht auf die Felswand zu. Sie sieht sofort, dass der Steinschlag noch nicht lange her sein kann: Steine und Geröll sind bis auf den Strand gefallen, und die Felsoberfläche ist von grauen und schwarzen Adern durchsetzt.

«Hier drüben», sagt Ted.

Im entlegensten, unzugänglichsten Winkel der ganzen Bucht befindet sich eine Spalte in der Felswand, ein schmaler Einschnitt, der direkt hinter dem struppigen Gras am Rand des Strandes anfängt. Obwohl er noch halb von Gesteinsbrocken verdeckt ist, sieht Ruth, dass ein Teil der Steine bereits entfernt wurde. Vorsichtig geht sie näher heran. «Sieh dir erst alles an», pflegte ihr Mentor, Erik Anderssen, immer zu sagen. «Sieh dir alles an, dokumentiere es und dann erst fang an zu graben. Den ersten Eindruck kannst du durch nichts ersetzen.» Ruth fotografiert die Felswand und das Geröll und skizziert eine Karte in ihrem Notizbuch. Anschließend räumt sie zusammen mit Ted die größeren Steine weg. In dem schmalen Spalt zwischen den beiden Felswänden ist der Sand teilweise abgetragen und gibt den Blick auf etwas frei, was zunächst fast aussieht wie weiteres Gestein, ganz glatt und weiß.

Knochen.

Ruth beugt sich vor. Auf den ersten Blick erkennt sie, dass es mehrere Tote sein müssen. Die Knochen liegen übereinander, doch sie sieht mindestens drei Oberschenkelknochen, lang und kräftig, was nahelegt, dass es sich um männliche Leichen handelt. Außerdem riecht es leicht nach faulen Eiern. Einen Moment lang wird Ruth ein wenig schwindelig, sie muss an andere Massengräber denken, an Knochen, von der Sonne gebleicht. Sie holt tief Luft. Sie muss den Fund einzeichnen, die genaue Lage der Knochen auf der Karte markieren. «Oft» – auch das stammt von Erik – «ist die Ausrichtung das Entscheidende.»

«Was hältst du davon?», fragt Ted hinter ihr.

«Es sind mehrere Leichen», sagt Ruth. «Wir müssen den Gerichtsmediziner verständigen.»

«Dann glaubst du also, sie sind neueren Datums?», fragt Ted.

«Durchaus möglich.»

Ruth glaubt, Haare und Zähne zu erkennen – ein Hinweis darauf, dass die Knochen nicht allzu alt sind. Andererseits hat sie selbst erst im Jahr zuvor eine vollständig erhaltene Leiche in torfigem Moorboden entdeckt, die, wie sich herausstellte, mehr als zweitausend Jahre alt war. Doch Torf ist alkalihaltig und konserviert, während Sand säurehaltig ist. Wenn man in sandigem Boden gräbt, findet man so gut wie nie menschliche Überreste, weil alle Knochen längst zerfressen sind. Dass diese im Sand vergrabenen Knochen noch so relativ gut erhalten aussehen, legt nahe, dass sie ziemlich zeitgenössisch sind.

«Dave wollte dem Gerichtsmediziner am Montag Bescheid sagen», sagt Trace betont beiläufig.

Ruth mustert sie neugierig. Dann stimmt es also, dass Trace mit Dave Clough zusammen ist? Na, jedem das Seine.

Laut sagt sie: «Das sollten wir aber besser heute machen.»

«Ist am Montag nicht auch der große Boss wieder da?», meint Ted. «Vielleicht wollen Sie ja auf ihn warten.»

«Der hat dann sicher noch Jetlag», sagt Trace. «Wahrscheinlich kommt er nicht vor Dienstag ins Büro.»

«Er ist doch nur auf Lanzarote», sagt Ruth.

Einen Moment lang schweigen alle.

Ruth klettert über die Mauer aus Geröll. Der Spalt zwischen den Felsen ist nur einen knappen Meter breit und wird nach hinten zu noch schmaler. Es ist deutlich kühler dort, und es riecht modrig. Ruth fröstelt, nicht nur wegen der Kälte. Wer vergräbt Leichen an einem so unzugänglichen Ort? Jemand, der nichts Gutes im Schilde führt, darauf könnte sie wetten. Sie hat ihre Ausrüstung dabei, will aber noch nicht mit Graben anfangen. Sieh dir einfach alles an, sagt die Stimme in ihrem Kopf. Falls Trace die Flut richtig einschätzt, wird dieses Grab komplett zerstört, sobald sie das Geröll wegräumen. Umso wichtiger ist es, sich gleich genaue Notizen zu machen. Die Toten sind von Norden nach Süden ausgerichtet. Ihre Position ist allem Anschein nach anatomisch korrekt, sie liegen ausgestreckt, Rücken an Rücken. Mit ihrer Kelle kratzt Ruth noch ein wenig mehr Sand weg. Da liegen eindeutig zwei Tote, wahrscheinlich sogar mehr.

«Wie viele sind es denn?» Ted schaut ihr über die Schulter.

«Ich bin mir nicht sicher. Mindestens vier.»

«Vier Tote, die vor nicht allzu langer Zeit hier vergraben wurden», sagt Ted. «Man sollte meinen, das hätte einer gemerkt.»

«Stimmt», sagt Ruth. Sie hat noch etwas anderes entdeckt, behält das aber einstweilen für sich. Die Leichen sind gefesselt: Die Hände wurden ihnen auf dem Rücken zusammengebunden.

 

Unten am Strand gibt es keinen Handyempfang, deshalb gehen Ruth, Ted und Trace den Steilpfad zum Sea’s End House hinauf. Oben angekommen, ist Ruth ganz außer Atem. Sie hat nach der Geburt ihre Figur wieder – unglücklicherweise, denn eigentlich hatte sie auf eine andere gehofft. Vor der Schwangerschaft wog sie neunundsiebzig Kilo, jetzt sind es fast zweiundachtzig. Im Allgemeinen stört sie das nicht allzu sehr. Sie trägt grundsätzlich nur dunkle, weite Kleidung und schaut so wenig wie möglich in den Spiegel. Es stört sie aber ungemein, sich so untrainiert zu fühlen, vor allem, wenn Trace den steilen Pfad gazellengleich hinaufspringt und jetzt bereits eine Nummer in ihr iPhone tippt.

«Cool!» Ted deutet auf das Telefon.

«Ganz nützlich für die Arbeit», wiegelt Trace ab.

Ruth, die nie das Bedürfnis verspürt hat, etwas anderes als ein ganz schlichtes Handy zu besitzen, mustert sie skeptisch. Obwohl man es ihr nicht ansieht, stammt Trace aus einer der reichsten Familien von Norwich. Die wenigsten Archäologen können sich von ihrem Gehalt ein iPhone leisten.

Doch auch die allerneueste Technik zeigt sich den Anforderungen von Broughton Sea’s End nicht gewachsen.

«Nichts», verkündet Trace abfällig.

«Da kommt jemand», sagt Ruth. Ein Mann in einer Wachsjacke hält zielstrebig auf sie zu. Zwei trübsinnige Cockerspaniels folgen ihm auf dem Fuß.

«In Deckung», brummt Ted.

Doch die Eingeborenen erweisen sich als friedfertig.

«Kann ich Ihnen helfen?», fragt der Mann. «Hier kriegt man beim besten Willen kein Netz. Wir sind das vergessene Land.» So, wie er das sagt, klingt es, als wäre er im Grunde stolz darauf.

«Wir sind Archäologen», verkündet Trace großspurig. «Und wir müssen wirklich dringend telefonieren.»

Ruth kann die Denkblase, die sich über dem Kopf des Mannes bildet, förmlich sehen: Wie kann denn etwas dringend sein, was mit Archäologie zusammenhängt? Befassen sich solche Leute nicht mit der Vergangenheit – mit lange verstorbenen Leichen, antiken Kunstgegenständen, verstaubten Museumsstücken? Wieso also stehen diese drei hier keuchend und meerwasserfeucht in seiner Einfahrt und wollen dringend telefonieren? Doch was die Denkblase auch immer behaupten mag, die Sprechblase bleibt unvermindert höflich. «Sie können gerne das Telefon im Haus benutzen», sagt der Mann, «kommen Sie mit.»

Schweigend folgen sie ihm ins Haus, und die beiden Cocker trotten folgsam hinterher. Aus der Nähe wirkt Sea’s End House noch sehr viel mehr wie ein Spukschloss mit seinen grauen Steinmauern, den kleinen Stabwerkfenstern und einem eisenbeschlagenen Portal, das eher zu einer Burg passen würde. Letzteres führt in eine gewaltige holzgetäfelte Eingangshalle. Ein Buntglasfenster malt grüngoldene Flecken auf die Bodendielen, und von der Wand blickt der ausgestopfte Kopf eines Hirsches missmutig auf sie herab. Ruth fühlt sich sofort an ein Privatinternat erinnert, was umso erstaunlicher ist, als sie selbst auf einer Gesamtschule im typischen Sechziger-Jahre-Stil war. Fast riecht sie schon das Schulessen: Kohl und verkochtes Lammfleisch.

«Nette Hütte haben Sie da», sagt Ted.

Der Mann antwortet mit einem ironischen Grinsen, dann führt er sie weiter durch eine Tür in der Holztäfelung, einen steinernen Gang entlang und in eine geräumige Küche. Die Dienstbotenräume, denkt Ruth.

Außerdem denkt sie, dass eigentlich sie den Anruf tätigen sollte, doch Trace hat schon nach dem Hörer gegriffen, sodass Ruth und Ted nichts anderes übrigbleibt, als mit ihrem neuen Freund vor einem Küchentisch zu stehen, der locker zwanzig Personen Platz bieten würde.

«Darf ich mich vorstellen? Ich bin Jack Hastings.»

Jack Hastings? Während sie ihm die Hand gibt, zerbricht sich Ruth den Kopf über den Namen. Sie ist sich sicher, ihn schon mal gehört zu haben. Ist der Mann Schauspieler? Arbeitet er an der Universität? Ist er der Wetterfrosch aus den Nachrichten?

Aber zum Glück gibt es ja Ted, der immer sagt, was er denkt. «Sie sind doch dieser Abgeordnete, stimmt’s?»

«Europaabgeordneter», berichtigt Hastings lächelnd.

«Ich hab neulich im Fernsehen gesehen, wie Sie gegen die Franzosen gewettert haben.»

Hastings lächelt weiter. Er hat ein sehr charmantes Lächeln – wahrscheinlich setzt er es deshalb so häufig ein. «Wir Briten wettern seit Jahrhunderten gegen die Franzosen. Das ist Teil einer langen Tradition.»

Ruth hat den Eindruck, dass Hastings großen Wert auf lange Traditionen legt. Er ist ein attraktiver Mann um die sechzig, rotblond und etwas kleiner als der Durchschnitt. Seine mangelnde Körpergröße macht er durch eine betont aufrechte Haltung wett: Ruth hat noch nie einen Mann gesehen, der sich so gerade hält, das Kinn leicht nach oben gereckt, das Gewicht auf den Fußballen. Fast wippt er auf den Zehenspitzen, während er ihnen da in der Küche gegenübersteht; er hat die Augenbrauen hochgezogen, und sogar seine Haare stehen ein bisschen in die Höhe.

Hinter sich hört Ruth Trace sagen: «Ja, ich geb sie Ihnen», und kann sich einer gewissen Befriedigung nicht erwehren. Sie nimmt den Hörer und erklärt dem Gerichtsmediziner, dass die Knochen nach ihrer Einschätzung weniger als hundert Jahre alt sein müssen. Nein, es besteht keine unmittelbare Gefährdung durch die Flut; ja, die Polizei ist bereits informiert. Der Gerichtsmediziner verspricht, die Genehmigung auszustellen, damit die Bergung am Montag beginnen kann.

Als Ruth aufgelegt hat und sich umdreht, sitzen Trace und Ted am Küchentisch, und Hastings ist beim Teekochen. Ted grinst sie an, Trace weicht ihrem Blick aus.

«Darf ich Sie auch noch nach Ihrem werten Namen fragen?», erkundigt sich Hastings freundlich.

«Ruth. Doktor Ruth Galloway.»

«Einen Tee, Doktor Galloway?»

«Gerne.»

«Mit Milch und Zucker?»

«Nur mit Milch.»

«Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Teebeutel? Meine alte Mutter, die bei uns lebt, besteht immer darauf, eine richtige Teekanne zu nehmen, mit Teesieb und Kannenwärmer und allem Chichi, aber das ist mir einfach zu viel.»

«Also, ich steh auf Chichi», sagt Ted mit dem breiten irischen Akzent, den er mitunter aufsetzt.

Hastings lacht herzlich. «Und?», sagt er dann, «wollen Sie mir erzählen, was Sie da unten am Strand gefunden haben?»

Ruth würde ihm am liebsten sagen, dass ihn das nichts angeht, aber Trace will ihre Autorität zurückgewinnen. «Wir gehören zu einer Forschergruppe, die sich mit den Auswirkungen von Küstenerosion im Norden von Norfolk befasst.»

Jack Hastings’ Miene verdüstert sich. «Kommen Sie mir bloß nicht mit Erosion.»

Hatten wir gar nicht vor, denkt Ruth, aber Hastings ist schon nicht mehr zu stoppen.

«Mein Grundstück verschwindet Tag für Tag ein bisschen mehr. Allein in den letzten drei Jahren so viel wie in den fünfzig Jahren zuvor. Ich habe fast einen Kilometer Land verloren. Jeden Morgen gehe ich nach draußen, um nachzusehen, was nach der Nacht von meinem Garten noch übrig ist. Drei Stationen der Küstenwache sind schon ins Meer gefallen. Der Martello-Turm ist verschwunden, der Leuchtturm schwer baufällig. Wir können nicht mal mehr das Rettungsboot zu Wasser lassen, weil die Rampe nicht mehr da ist. Aber kümmert das die Stadtverwaltung? Nein! Verdammte Sozis!»

Dieser Bemerkung entnimmt Ruth, dass Jack Hastings wohl nicht die Interessen der Labour-Partei vertritt.

«Es kostet eben einen Haufen Geld, das Meer einzudämmen», gibt Ted zu bedenken.

«Richtig, aber wo soll das enden?», erwidert Hastings, sichtlich bemüht, sich wieder zu beruhigen. «Als Nächstes werden die Broads überflutet. Dann verschwindet ganz Norfolk.»

Ruth muss kurz daran denken, wie Nelson sich über diese Prognose freuen würde. Laut sagt sie: «Wohnen Sie denn schon lange hier, Mr. Hastings?»

«Mein ganzes Leben lang. Mein Vater hat dieses Haus in den Dreißigern erbaut.»

«In den Dreißigern?» Trace ist erstaunt. «Es sieht aber älter aus.»

«Nein. Später Jugendstil, tut mir leid. Mögen Sie Pfefferkuchen? Meine Frau backt sie selber, sie sind wirklich lecker.» Ruth nimmt sich einen Pfefferkuchen, Trace winkt schaudernd ab. Wahrscheinlich würde sich ihre tägliche Kalorienzufuhr dadurch verdoppeln.

Ruth hofft bereits, die Aussicht, Norfolk könnte im Meer versinken, hätte Hastings vielleicht von dem wichtigen Telefonat abgelenkt, doch da unterschätzt sie den Politiker in ihm. Mit strahlendem Lächeln wendet er sich wieder Trace zu.

«Und was haben Sie heute entdeckt? Eine Leiche?»

«Vier sogar», antwortet Trace patzig.

Für einen Moment sagt keiner etwas. Ted lümmelt mit breitem Grinsen auf seinem Stuhl. Ruth fixiert Trace mit zornigem Blick, was die aber kein bisschen beeindruckt. Und Jack Hastings sieht sekundenlang völlig ausdruckslos drein, als hätte man ihm allen weltmännischen Charme vom Gesicht gewischt. Ruth fällt auf, wie hell seine Augen sind; sie wirken fast farblos unter den rotblonden Brauen. Dann knipst er sein Lächeln wieder an, und seine Miene wird warm und lebhaft.

«Vier Leichen! Das ist aber ungewöhnlich. Wo haben Sie die denn gefunden?»

«Es handelt sich um eine polizeiliche Ermittlung», sagt Ruth. «Wir sind nicht befugt, darüber zu reden.»

Jetzt hört sie sich selbst schon an wie eine Polizistin. «Nicht befugt, darüber zu reden»! Ihr ist bereits aufgefallen, wie oft Nelson und Konsorten auf solche Phrasen zurückgreifen. Aus Ruths eigenem Mund klingen sie aber irgendwie nicht richtig.

Hastings allerdings nickt einsichtig. «Natürlich nicht. Aber falls ich Sie irgendwie unterstützen kann …»

«Sie haben uns schon sehr geholfen», sagt Ruth.

«Wie gesagt, ich wohne schon mein ganzes Leben hier. Es gibt kaum etwas im Dorf, was ich nicht wüsste.»

Wieder wird es still, während alle darüber nachdenken, wie dann jemand vier Leichen vor Hastings’ Haustür vergraben konnte, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte.

«Können Sie sagen, wie lange sie schon dort liegen, Ruth?», fragt Hastings schließlich.

Ruth registriert, dass er sie jetzt beim Vornamen nennt und offenbar als Autorität anerkennt. Sie registriert aber auch, dass er die wichtigste Frage überhaupt gestellt hat.

«Das wissen wir erst, wenn wir die Skelette geborgen und ein paar Untersuchungen durchgeführt haben», antwortet sie.

Hastings greift das umgehend auf. «Dann sind es also nur Knochen?»

«Das kann ich Ihnen nicht beantworten», sagt Ruth. «Die Polizei wird bald hier sein und das Areal absperren. Am Montag fangen wir mit den Ausgrabungen an.»

«Ich stelle Ihnen Sea’s End House gerne als Basislager zur Verfügung», sagt Hastings. «Die meiste Zeit sind Stella und ich sowieso allein hier. Und Mutter natürlich. Da wird das Haus schnell ein bisschen groß.»

Ruth denkt bei sich: Und warum ziehen Sie dann nicht aus? Vor allem angesichts der Tatsache, dass Ihr Haus Stück für Stück im Meer versinkt.

«Die Kinder sind längst aus dem Haus», fährt Hastings mit wehmütigem Lächeln fort. «Jetzt sind nur noch wir alten Knacker und die Hunde übrig.» Er tätschelt den nächstbesten Cocker, der hingebungsvoll zu ihm aufblickt.

«Wie viele Kinder haben Sie denn?», fragt Ted.

«Drei. Alastair, Giles und Clara. Die Jungs sind beide verheiratet und haben bereits eigene Kinder. Clara ist die Jüngste. Sie ist gerade mit dem Studium fertig geworden und weiß noch nicht recht, was sie weiter mit sich anfangen soll.»

«Sie können ihr schon mal ausrichten, dass man mit Archäologie nicht reich wird», meint Ted.

Hastings lacht. «Oh, Clara möchte die Welt retten. Sie war gerade erst in Afrika, hat dort Latrinen ausgehoben und weiß der Himmel, was noch alles.»

«Klingt nach einem tollen Mädchen», sagt Ruth. «Wir sollten uns langsam auf den Weg machen.»

«Wir haben es doch nicht eilig», sagt Trace. «Die Polizei ist ja noch gar nicht da.»

«Aber ich muss meine Tochter von der Tagesmutter abholen.»

Als Ruth aufschaut, sieht sie gerade noch Traces abfällig-amüsierten Blick.

4

«Vier Skelette, sagen Sie?»

«Laut Ruth Galloway mindestens vier.»

Es ist Montag, und Nelson ist aus dem Urlaub zurück. Eigentlich hat er für neun Uhr eine Teamsitzung einberufen, doch die verhindert gerade sein Chef, Superintendent Gerald Whitcliffe, der «auf ein Wort» in Nelsons Büro gekommen ist und sich jetzt auf Nelsons schönen, makellosen Erledigungslisten abstützt.

«Ich dachte mir, Harry, ich gebe Ihnen ein kurzes Briefing.»

Briefing? Was zum Geier soll denn das sein? Manchmal kommt es Nelson so vor, als sprächen sein Chef und er zwei verschiedene Sprachen, was mit Sicherheit nicht nur daran liegt, dass Nelson ursprünglich aus Blackpool stammt und Whitcliffe aus Norwich. Aber keinesfalls wird er Whitcliffe den Triumph gönnen, ihn um eine Übersetzung zu bitten.

«Die Sache könnte nämlich ein wenig heikel werden.»

«Inwiefern?»

«Nun, die Leichen liegen direkt vor dem Haus von Jack Hastings.»

Nelson meint den Namen zu kennen, aber er ist noch nicht wieder richtig im Arbeitsmodus. Lanzarote ist zwar nicht am anderen Ende der Welt, hat sich aber doch so angefühlt. Michelle und Lisa haben Adressen ausgetauscht, und für die Osterferien ist ein weiteres Treffen der beiden Paare geplant.

«Wer ist Jack Hastings?»

Whitcliffe lacht nachsichtig. «Auf welchem Planeten leben Sie bloß, Harry? Das ist dieser Europaabgeordnete, der die ganze Zeit jammert, dass sein Haus demnächst im Meer versinkt und die Regierung nichts dagegen unternimmt. Er wohnt in Broughton Sea’s End, in dem großen, festungsartigen Haus oben auf dem Felsen. Haben Sie seinen Dokumentarfilm nicht gesehen? König im eigenen Heim?»

«Muss ich wohl verpasst haben.»

«Jedenfalls liegen unsere Knochen genau am Fuß dieses Felsens. In der Bucht neben Hastings’ Haus.»

«Und wo ist das Problem? Er wird doch wohl nicht unsere Ermittlungen behindern?»

Das sagt Nelson mit einer gewissen Ironie, eingedenk einiger anderer einflussreicher Bekannter von Whitcliffe, die sich der Polizei gegenüber nicht immer aufgeschlossen gezeigt haben. Doch Whitcliffe kriegt das gar nicht mit. Er versteht nie, wenn Nelson einen Witz macht; er hält das einfach für typisch nordenglisches Verhalten.

«Selbstverständlich nicht. Trotzdem müssen wir dafür sorgen, dass wir streng nach Vorschrift vorgehen. Wir können uns da keine Mauscheleien leisten.»

«Ich mauschele doch nie», sagt Nelson. Das meint er jetzt tatsächlich als Witz.

 

Eine Stunde später sind Nelson und Clough im Wagen unterwegs nach Broughton Sea’s End. Normalerweise fährt der rangniedrigere Beamte, aber Nelson hält es auf dem Beifahrersitz nicht aus, und Clough hat die Hände lieber zum Essen frei, und so brausen sie jetzt in Nelsons schmutzig weißem Mercedes mit siebzig die kurvige Küstenstraße entlang.

«Und, Boss?», fragt Clough, während die Nordküste Norfolks unscharf und verschwommen an ihnen vorbeifliegt: Campingplätze, Pubs, Dünen, Kurzgolfplätze. «Glauben Sie, wir haben’s wieder mit einem Serienmörder zu tun?»

«Ich ziehe keine vorschnellen Schlüsse», sagt Nelson.

«Trotzdem», fährt Clough hastig fort, um Nelsons traditionellem Vortrag über die Gefahren vorschneller Schlüsse zu entgehen, «das ist doch irgendwie seltsam. Vier Skelette in einem Grab. Und dann noch an einem so abgelegenen Ort. Die meiste Zeit kommt man da wegen der Flut doch gar nicht hin.»

«Im Moment wissen wir noch gar nichts. Nachher sind die Skelette wieder aus der Scheißsteinzeit.» Nelson erinnert sich noch lebhaft an seine erste Begegnung mit Ruth Galloway. Er hatte sie hinzugezogen, um eine Leiche zu begutachten, die am Rand des Salzmoors gefunden worden war. Nelson vermutete, dass es vielleicht ein ermordetes Kind sein könnte, und in gewisser Weise hatte er damit auch recht behalten. Nur war dieses Kind bereits seit mehr als zweitausend Jahren tot.

«Trace sagt, Ruth hält die Knochen für relativ zeitgenössisch», sagt Clough.

«Ruth hat auch nicht immer recht», brummt Nelson.

Prompt sieht er, als sie am Strand von Sea’s End halten, als Erstes Ruth, tadelnswerterweise mit Baby im Tragetuch.

«Warum in aller Welt hast du denn Katie mitgebracht?»

«Die Tagesmutter ist krank», sagt Ruth.

«Was denkst du dir bloß dabei? Ist doch viel zu kalt für ein Baby.»

«Sie ist gut eingepackt.»

Tatsächlich sieht Katie aus wie ein kleiner Eskimo. Sie trägt einen dieser Ganzkörperanzüge mit eingebauten Füßlingen und Handschuhen. Und schläft tief und fest.

«Ich hatte keine Zeit, noch etwas anderes zu organisieren», sagt Ruth.

«Was ist mit Shona?»