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»Alles Neu« besang Peter Fox so schön auf ihrem Lieblingsalbum, und mit Anfang 30 wagt Marleen den Schritt in die Metropole, zurück ins Leben. Doch Berlin erschlägt sie. Und dann kommt ihre Freundin mit dieser Dating-App um die Ecke. Nach kurzem Zögern ist Marleen in ein Gefühlsnetz eingesponnen und verheddert sich immer mehr darin. Ist ihr Handy das Tor zum 7. Himmel oder zur Hölle? Die Antwort lauert bereits unter ihrem Bett. Achtung, Triggerwarnung! Dieser Psychothriller basiert lose auf einem wahren Kriminalfall.
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Prolog
IWillkommen in der Manege
IIHeißhunger
IIIFisch am Haken
IVDer Parasit
VHöhlenkoller
VIZerfleischen
VIIDer Feind an meinem Bett
IIXExpedition in die Hölle
IXDunkle Ecken
XLichtblitze
XIAußer Kontrolle
XIIDie Verwandlung
XIIITopografie des Terrors
Epilog
Berlin blickte nicht mehr auf und schloss die Augen, denn hier hatte man alles schon gesehen; auch wenn es so etwas auf der ganzen Welt nicht geben sollte, geben durfte. War es überhaupt von dieser Welt? Vielleicht war es nie wirklich in dieser Welt angekommen, und deswegen trug es so viel Hass in sich.
So hatte es sich aus der schützenden Dunkelheit der Dorfidylle gelöst und war in die Stadt gekommen. Es hatte sich deren grellen Lichtern ausgesetzt, nur um seinen unbändigen Hunger zu befriedigen. Es musste ein Opfer geben, es konnte nur das eine Opfer geben! Dieser Gedanke beherrschte all sein Tun. Sein Feldzug gegen den letzten Funken Menschlichkeit war getrieben von Besessenheit, einer krankhaften Obsession, dem einzigen Weg, sein inneres Chaos zu befrieden. Es war geduldig gewesen. Es wusste, wo sie wohnte. Es beobachtete ihre Wohnung, verleibte sich ihre Gewohnheiten ein und wartete auf die nächste Gelegenheit, mit aller Macht in sie hineinzudrängen. Und nun war es an der Zeit, zuzugreifen. All die Anstrengung hatte sich gelohnt. Der Weg war frei.
Es wartete nun nicht mehr da draußen im Schutz der Apathie. Es war bereits in die heilsame Atmosphäre ihrer Wohnung eingedrungen und zielte darauf ab, alles zu zerstören und ein ohnehin schon wackliges Leben in völliges Chaos zu verwandeln. Es hatte einen teuflischen Plan, vor dem der Höllenfürst selbst erschrecken musste. Aber es war wild entschlossen, koste es, was es wolle.
Berlin war anders als der kleine Heimatort im östlichen Niedersachsen. Hier konnte es sich nicht verstecken und geduldig im Schutz des Dickichts auf die nächste Gelegenheit warten, hier musste es handeln und schnell zugreifen. In der Metropole gab es kaum einsame Orte, alles war voll mit Menschen, alles war voll mit Licht. Es gab genug Lärm da draußen, der es aufschrecken ließ, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Hier wurde es selbst zum Verfolgten. So rückte hier der Autostrahler eines SUVs für Sekunden seine deformierte, monströse Gestalt ins Visier und entblößte seine wahre Natur.
In letzter Sekunde schlug es sich aus dem Scheinwerferlicht in den Schatten. Mit einem großen Satz landete es irgendwo hinter einem parkenden Auto. Hier war es sicher, zumindest kurz. Es keuchte, Schweiß perlte von seiner Stirn. Seine Kleidung klebte an seinem Körper, war durchtränkt von einem roten Saft, der es einst zurück ins Leben holte. Doch nun musste es diesen schnellstmöglich loswerden.
So etwas hätte in jedem Dorf, in jeder Kleinstadt einen Aufschrei provoziert, aus Angst, aus Entsetzen. Doch dieser verstummte in den vielen Winkeln, den Gassen, dem Moloch der Großstadt. Das war sein Glück. Die Stadt war abgelenkt. Berlin war auf sich selbst konzentriert, hatte sich in seiner eigenen Zerrissenheit verkeilt und verkannte die Gefahr, die inmitten seines Straßengeflechts ein neues Opfer suchte - und bereits gefunden hatte.
Berlin war ungewohnt, aber kein Hindernis, im Gegenteil. Im Schutz des Großstadtlärms hörte man seine entmenschlichten Laute nicht. Da war das starke Röcheln, das schwere Atmen und sein innerer Aufschrei, als es sich am Ziel wähnte und sein Opfer unter seinem Körper begrub. Als es sie mit sich in den Abgrund zog – für immer und lebenslang.
»Du hast doch nichts zu verlieren!« Diese Worte hallten Marleen noch in den Ohren, nachdem sie die Wohnung ihrer Freundin bereits Richtung Tramstation verlassen hatte. Hatte sie das? Sie wusste in jedem Fall, dass es Lina nur gut mit ihr meinte und eigentlich nur helfen wollte. Brauchte sie denn Hilfe? Warum war alles so schwierig geworden? Und seit wann denn überhaupt? Wo war sie, als sich die Welt in Beziehungsgeflechten verheddert hatte? Oder hatte sie sich verheddert? Warum beschäftigten sie jetzt all diese Gedanken? Sie kam doch mittlerweile gut im Leben klar, allein, weg von alledem und ohne diesen düsteren Schatten an ihrer Seite.
Ihre Mutter hatte ihr damals beim Umzug geholfen, allein hätte sie das niemals geschafft. Sie hatten selten so viel gesprochen, auf ihren unzähligen Fahrten mit Mamas jagdgrünem Ford Escort. Und bei jeder Fahrt löste sich ihr altes Leben immer mehr in einem Neustart auf. Und nun, nach Monaten des Vergessens und der immerhin oberflächlich erlangten Souveränität, wieder zurück in die Abhängigkeit zu rutschen klang eigentlich nicht verlockend. Das war für ihre tapfere neue Welt sogar ein lebensbedrohliches Risiko. Durfte sie sich das also überhaupt vorstellen?
Aber irgendetwas fehlte. Nicht ein ganzer Kerl, eigentlich nur eine Umarmung, das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit. Eine schützende Hand fehlte ihr. Hatte sie das nicht eigentlich auch dank ihrer Freundinnen? Manchmal waren diese halt nicht da, nämlich gerade dann, wenn auch das Fernsehprogramm keinen Trost spendete und sich dort die schönen Menschen aus Hollywood zufällig begegneten, sich anschauten, es peng machte und sie sich trotz eifersüchtiger Exfreunde, widriger Lebensumstände oder einer Wagenladung naivem Glück logischerweise unsterblich ineinander verliebten. Dann fand ihr Blick den Weg vom Bildschirm zurück in ihre kleine Wohnung auf ihr kleines, mit samtweichen Lieblingskissen dekoriertes Sofa.
Der laute Aufschrei einer Hupe riss sie aus dem Gedankenkarussell. Sie blickte auf und erwischte dabei die glotzenden Augenpaare der Businsassen direkt vor ihr am Ampelübergang. Sie seufzte kurz, als sie ihr Gesicht in der Spiegelung des Busfensters entdeckte. Sich selbst zu sehen, das tat weh. Nachhaltig. Okay, vielleicht hatten ihre Freundinnen wirklich recht und sie sollte es einfach mal versuchen.
Als sie die Tramstation erreichte und auf die Anzeigetafel schaute, blinkten ihr neonorangene LEDs mit einer zusätzlichen Wartezeit von 20 Minuten entgegen. Okay, nicht in Panik verfallen, dachte sie. Die Zeit kann ich sinnvoller nutzen, denn mir unsinnige Gedanken zu machen. Sie holte ihr iPhone aus ihrer Michael-Kors-Shopper-Voyager Handtasche und tippte mit den frisch lackierten Fingernägeln ihren persönlichen sechsstelligen Pin ein.
Mit zwei flinken Fingerbewegungen war sie im App Store gelandet und suchte nach dieser Tinder App, die ihr ihre Freundin gezeigt hatte. Damit hatte Nina David gefunden, ihn gedatet, ihn geliebt, und jetzt waren sie zusammengezogen und warteten nur darauf, dass der nächste Test positiv ausfiel und sie wieder einen Haken machen konnten in ihrer unfassbar romantischen Karriere als Liebespaar. Ob ihr so etwas auch passieren könnte?
Nur wenige Minuten dauerte es, bis die App geladen war und der erste sympathisch wirkende Kerl ihr tief in die Augen schaute. Heilerziehungspfleger Tim erfüllte mit seinen 29 Lenzen und Hipster-Bart in jedem Fall den Auftrag, dass sich Marleen weiter in den virtuellen Liebeskosmos vorkämpfen wollte. Sie wischte nach rechts und hatte direkt ein Match. Komisch, dachte sie, ich habe doch noch gar kein Profil ausgefüllt.
Ihre Gedanken wurden vom Eintrudeln der Tram Richtung Warschauer Straße zumindest kurz unterbrochen. Sie erschrak fast. Hatte sie die Tram gar nicht kommen sehen? So vertieft war sie in die Gestaltung ihres neuen, virtuellen Spielzimmers. »Puh!« Sie beschloss, das Handy zurück in die Handtasche zu stecken und erst daheim wieder zu nutzen.
Wenig später klackte ein Schlüssel im Schloss und eine Hand suche durch den Türspalt den Lichtschalter. Die Energiesparlampe brauchte etwas Zeit, aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwachen. Mit leichter Verzögerung legte das zunächst schwache Licht eine recht kleine, aber gemütliche Zweiraumwohnung frei. Die orange-braunen Lieblingsstiefeletten blieben im Eingangsbereich des kleinen Flurs, die Handtasche fand ihren Weg auf das liebevoll dekorierte Sofa, auf dem sie sogleich Platz nahm. Eine bessere Bühne für ihr Profilfoto konnte sie sich gar nicht ausdenken, aber sie sah trotz des schummrigen Lichtes müde und abgekämpft aus, was der Selfie-Modus im Handydisplay schonungslos aufdeckte.
Zugenommen hatte sie auch, seitdem sie vor acht Monaten unbedingt mit dem Rauchen aufhören musste. Sollte sie sich vielleicht doch lieber ohne Profilfoto durch das Tinder-Wunderland bewegen? Nicht, dass Tim sein Match direkt wieder auflösen wollte, wenn man sie auf den Bildern erkannte. Sie bemerkte, wie ihr Selbstwertgefühl mit jedem Gedankengang weiter und weiter in den Keller rutschte. Ein Teufelskreis würde sie erwarten, sie konnte noch aussteigen, bevor sie einstieg. Doch sogleich suchte sie in ihren Fotos nach einem passenden Bild, das Tim ansprechen könnte. Und, wer hätte es gedacht, sie wurde schnell fündig.
Der Urlaub in Spanien mit ihrem Ex-Freund erlaubte damals noch viel Strahlkraft in ihren Augen. Die Sonne tat ihren Dienst und der Sangria ebenso. Das war jetzt schon mehr als zwei Jahre her. Damals schlicht sich die Saat des Teufels in ihr Leben ein und »Er« war geboren.
Seitdem hatte sich viel verändert, er hatte sich verändert, sie hatte sich verändert. Letzten Endes hatten sie sich nicht mehr wiedererkannt, sich nichts mehr zu sagen, sich gar nicht mehr gesehen. Sie hatten sich nicht einmal morgens begrüßt oder verabschiedet oder über den Tag verteilt irgendwelche Liebesbekundungen ausgetauscht, nicht einmal via Handy App, keine Emoji mit Kussmund, keine Emoji mit roten Wangen, irgendwann nicht einmal mehr den Daumen hoch. Dann war er einfach weg, auch wenn er in Gedanken noch da war: erst oft, dann nur gelegentlich, dann nicht mehr so sehr. Aber eigentlich konnte sie sich an sein Gesicht schon lange nicht mehr erinnern, nur an das Gefühl, nicht allein sein zu müssen.
Damals war sie auch einsam, aber jetzt bestimmte Einsamkeit ihr Leben. Und es gab diese Momente, auch nach allem, was passiert war, dass sie die Stille weniger aushalten konnte als den Schmerz, den »Er« ihr zugefügt hatte. Sie hatte sich nie geritzt oder so, aber sie war auch nie wirklich mit sich zufrieden gewesen. In schlimmen Momenten hatte sie die Gedanken mit dem Rascheln aus einer kleinen Pappschachtel und dem Klick-Klack eines Feuerzeuges übertönen können und sich anschließend in einer Rauchwolke vor sich selbst versteckt. Sie war keine Genussraucherin gewesen. Nein, sie hatte den Geruch als Kind nicht ausstehen können. Aber Thomas hatte geraucht, und dann hatte sie eben auch angefangen.
Klick-Klack, auch als Thomas gar nicht mehr da war. Dann erzählte ihr eine Arbeitskollegin von den schlimmen Konsequenzen. Ihre Mutter gesellte sich in Gedanken dazu. Und war nicht ihr Onkel an Lungenkrebs verstorben? Zudem durfte im Büro nicht geraucht werden. Sie musste immer drei Treppen herunterlaufen und stand dann meist allein im kalten Schatten des mehrstöckigen Versicherungsgebäudes, in dem sie nun arbeitete.
Das wurde ihr mit all den Gedanken in ihrem Kopf irgendwann so sehr zur Last, dass sie einen Arzt aufsuchte, der ihr dringlich empfahl, das Rascheln ganz sein zu lassen und ihre Gedankengänge mit professionellen Gesprächen zu übertönen. Das kam für sie in dem Moment nicht mehr in Frage. Das wäre eine Art Schuldeingeständnis gewesen. Immerhin war Thomas derjenige, welcher das Problem hatte, nicht sie, oder? Um es sich selbst zu beweisen, hatte sie den blauen Dunst selbst bezwungen: Bewaffnet mit guten Sprüchen, Coaching-Videos, Nikotinpflastern und letzten Endes mit Leckereien aus der Konditorabteilung des nahegelegenen Discounters.
Beim fünften Anlauf ging diese Strategie auf. Das war jetzt fast ein Dreivierteljahr her, da war sie acht Kilo leichter, vielleicht mehr. Irgendwann hatte sie selbst den Gang zur Waage nicht mehr geschafft. Sie hatte sich in den heimischen vier Wänden versteckt und alles in Frage gestellt. Zum Glück war das nur ein kurzer Moment. Eigentlich war sie stark.
Und deswegen war sie jetzt auch stark genug, ein Foto aus ihrem schönsten Urlaub seit Jahren zu posten, Thomas an ihrer Seite wegzuschneiden und stattdessen etwas Weichzeichner hinzuzufügen. So gefiel sie sich – irgendwie. All diese Erinnerungen, all diese Gedanken. So hatte sie fast vergessen, ihren Mantel auszuziehen. Ihr wurde etwas warm und so schälte sie sich, weiterhin gedankenverloren und sitzend, aus dem Mantel, den sie einfach über den Stuhl warf, der nahe der Friheten-Couch stand. All ihre Aufmerksamkeit galt nun dem Ausfüllen ihres Profils, damit ihr bloß kein Fehler unterlief. Das Foto war bereits hochgeladen und wirkte auf sie sehr entspannt, ausgelassen, sympathisch und absolut nicht angestrengt und nachdenklich. Dazu wollte sie jetzt den passenden Profiltext erfinden.
»Genieße das Leben, genieße den Tag … so, als könne es dein letzter sein.« Ach nein, so etwas klang viel zu pathetisch.
Sie löschte den Text wieder und entschied sich für einen Sinnspruch, den sie in Teenagertagen schon für gut befunden hatte: »Nutze den Tag!« Das passte jetzt, und das passte irgendwie immer und sollte fürs Erste reichen.
Ihr Magen machte sich bemerkbar, und ihr fiel ein, dass sie noch gar nicht zu Abend gegessen hatte. Sie legte ihr Handy auf den Wohnzimmertisch und erhob sich. Auf dem Weg zur Küche nahm sie in einem Schwung den Mantel vom Stuhl und hängte ihn ordnungsgemäß an den Kleiderhaken im Flur. Ihre Lieblingsdesignerhandtasche stellte sie direkt darunter ab.
Nach einiger Zeit schon füllte ein angenehm süßlich-scharfer Geruch die kleine Wohnung. Das Brutzeln des Erbseneintopfs verbreitete zudem eine wohlige Atmosphäre, die an ihre Kindheit erinnerte. Sie öffnete den Kühlschrank und nahm sich eine Coke-light-Dose zur Hand, zögerte kurz und stellte sie wieder zurück. Sie nahm stattdessen den seit vier Tagen offenstehenden Weißwein aus der Kühlschranktür und dazu passend ein Rotweinglas aus dem Hängeschränkchen über der Spüle. Das darf sie heute, es gab doch etwas zu feiern: Ein wichtiger Schritt in ihre Zukunft, vielleicht eine gemeinsame Zukunft, vielleicht sogar mit Tim.