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Francis Oliver´s Szabo Eine Kriminalgeschichte, die es in sich hat! Herbst in London 1957. Der berühmte, kauzige, ungarische Privatdetektiv, Viktor Szabo, ist ein echter Schwerenöter und Hypochonder, der seinen Mitmenschen schwer auf die Nerven fällt. Dafür löst er alle Fälle mit Bravour. Eines Tages beordert ihn die Gräfin Fanny Duchamp, von Paris nach London, um Ihrer Nichte und Patentochter beizustehen, die ihren Ehemann, Lord Harrington vergiftet haben soll. Bald wird eine weitere Leiche gefunden und der nächste Mord ist bereits geplant. Kein leichter Fall für den Exzentriker, doch ein Viktor Szabo lässt sich nicht so leicht unterkriegen…
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Inhalt
Zum Buch:
Vorwort
Eine alte, neue Liebe
Flugzeuge sind auch nur Menschen
Züge und Nahrungsketten
Lügen, Gier & Pelzmäntel
Willkommen in London
Die Drachenlady
Wiedersehen mit Tiberius
Pest, Cholera, Ärzte und Advokaten
Im Knast, da gibt´s keine Freud… ein Hoch auf das Vielfraß!
Ziegen, Schnecken & eine exzellente Köchin
Genies sind auch nur gefüttert
Das Ding mit den Seidenstrümpfen
Wer ist Malcolm?
Die Haftanstalt Holloway & der Mord
Wallenstein & Die spanische Grippe
Der Henker und seine Adjutanten
Piekfeine Halunken haben auch Staub im Schrank
Die Hausherrin kehrt zurück
Spieglein, Spieglein……
Tiberius, das tapfere Schneiderlein
Jennings wird´s schon richten…
Und der Mörder ist…
Wildschein zum Dessert?
Danke
Eine Kriminalgeschichte, die es in sich hat!
Herbst in London 1957. Der berühmte, kauzige, ungarische Privatdetektiv, Viktor Szabo, ist ein echter Schwerenöter und Hypochonder, der seinen Mitmenschen schwer auf die Nerven fällt. Dafür löst er alle Fälle mit Bravour. Eines Tages beordert ihn die Gräfin Fanny Duchamp, von Paris nach London, um Ihrer Nichte und Patentochter beizustehen, die ihren Ehemann, Lord Harrington vergiftet haben soll. Bald wird eine weitere Leiche gefunden und der nächste Mord ist bereits geplant. Kein leichter Fall für den Exzentriker, doch ein Viktor Szabo lässt sich nicht so leicht unterkriegen…
TexteFrancis Oliver
Auflage 2022
Umschlag© by [email protected]
Bilder:
Depositphotos/Pixabay
Satz Katharina Georgi
Kontakt:
Francis Oliver
c/o autorenglück.de
Franz-Mehring-Str. 15
01237 Dresden
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Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie.
Der Autor übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.
Es besteht keine Absicht, diverse Orte, Firmen oder Markennamen sowie Personen des öffentlichen Lebens in irgendeiner Art und Weise zu schädigen oder negativ darzustellen.
Francis Oliver
Szabo
Giftmord im Herrenhaus
Krimi
Bunt und schön, wie der Blätterwald Herbst, ist unsere Welt, wenn man sie mit den richtigen Augen sieht.
Francis Oliver, Autorin
Szabo schüttelte den Kopf. In diesen Tagen gab es anscheinend nichts, was sein Interesse wecken konnte. Er legte die Tageszeitung zur Seite, goss sich noch eine Tasse heißen Kaffee ein und gab einen Teelöffel Zimt hinzu. Wie damals in Ungarn. Seine Mutter hatte es geliebt, ihren Kaffee so zu süßen. »Wie die feinen Leute«, hatte sie ihm immer wieder gesagt und dabei gelacht. Wie die feinen Leute. Wenn sie nur wüsste, was aus ihm geworden war. Ein bekannter und berühmter Mann, ein Meisterdetektiv, der es sich leisten konnte, die ganze Welt zu bereisen. Er lächelte. Wenn sie nur wüsste…
»Mr. Szabo? Ich habe das Bett gemacht und bringe nun Ihre Kleider in die Reinigung, wenn’s recht ist?« Marie-Antoine, seine Haushälterin, steckte ihre Nase durch den Türspalt.
Szabo nickte. »Selbstverständlich ist das in Ordnung, meine Liebe. Schließlich will ich ja gut aussehen, wenn ich meine alte Freundin, Gräfin Duchamp, heute Abend treffe, oder?«
Marie-Antoine verdrehte die Augen. Eitel wie eh und je, dachte sie und verließ darauf das Appartement im 5. Arrondissement der französischen Hauptstadt Paris. Szabo hingegen blieb am Frühstückstisch sitzen und überlegte gerade, ein weiteres Ei zu verspeisen, als das Telefon läutete.
»Wohin das Personal immer verschwindet, wenn es gebraucht wird…«, raunzte er und nahm den Hörer ab.
»Szabo hier. Wer spricht bitte? Ah, Fanny, meine Liebe. Ich hoffe, unser Termin heute Abend steht noch oder wollen Sie mir etwa absagen?« Gespannt auf die Antwort drückte er sein Ohr gegen die Hörmuschel des Telefons.
»Oh nein, mein Guter«, hörte er Fanny Duchamp sagen..
Er atmete auf. »Sehr gut. Was darf ich dann für Sie tun?«, fragte er höflich.
»Ich melde mich bei Ihnen, weil ich einen schlimmen Anruf erhalten habe. Aus London. Es ist wirklich ernst und es geht um meine Nichte. Es ist etwas Schreckliches, ja geradezu absurdes passiert. Ich fühle mich nicht gut.« Sie begann zu schluchzen.
»Oh meine Liebe. Wir werden das heute Abend besprechen, ja? Sie wissen doch, ich bin immer für Sie da. Bleibt es bei sieben Uhr?«
»Ja, Viktor. Ich wollte Sie nur schon einmal vorwarnen. Ich werde wohl etwas derangiert sein, wenn wir uns heute treffen. Nach so langer Zeit. Dann lege ich jetzt auf. Sie kommen heute Abend selbst oder soll ich Ihnen einen Fahrer schicken?«
»Ich komme selbstverständlich selbst, meine Gute. Dann bis heute Abend!« Er beendete das Gespräch und setzte sich zurück an den Frühstückstisch.
Es war im Sommer 1940, als er ihr das erste Mal begegnete. Sie konnte so herrlich tanzen, singen und lächeln. Was wäre wohl geschehen, wenn er ihr seine Liebe damals gestanden hätte? Als junger Mann mit vielen Träumen im Kopf und leeren Taschen? Womöglich hätte sie den Grafen Charles Duchamp nicht geheiratet und wäre natürlich dann heute auch keine Gräfin. Trotzdem freute er sich unbändig darauf, sie endlich wiederzusehen, nach all den Jahren. Er liebte Paris, lebte aber doch die meiste Zeit in England. Dort war sein Zuhause, weit weg von den oft traurigen und melancholischen Liedern und Klängen der französischen Sänger, die in den vielen Bars und Spelunken der Hauptstadt aufspielten. Heute würde er sie endlich wiedersehen, nach beinahe 15 Jahren der Sehnsucht und Abstinenz. Natürlich hätte er nach dem Tod ihres Mannes längst um ihre Hand anhalten können, doch es war wie ein Fluch, der ihn verfolgte. Charles Duchamp, Sprössling einer französischen Adelsfamilie mit großem Einfluss in Paris und Marseille, war vor 15 Jahren tödlich verunglückt. Er hatte bei einem Autorennen die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und war gegen einen Pfeiler gerast. Natürlich stand Szabo seiner großen Liebe Fanny zur Seite. Doch bald erforderte ein neuer Fall seine Anwesenheit und er musste vorzeitig abreisen. Möglicherweise war es die Einsamkeit, die Fanny Duchamp aus Paris vertrieb. Sie kaufte sich ein großzügiges Anwesen im Süden des Landes und verbrachte dort die meiste Zeit ihres Lebens.
Erst kürzlich war sie nach Paris zurückgekehrt, um verschiedene Angelegenheiten zu klären. Ihr plötzlicher Anruf vor wenigen Tagen, beunruhigte ihn. Und da war er nun: in Paris, der Stadt der Liebe, mit seiner alten Liebe, Fanny Duchamp.
Nach einem ausgiebigen Spaziergang und einem üppigen Mittagsmahl, verbrachte Szabo den restlichen Tag in einer Art Schönheitsschlaf, der ihn in tiefe und schöne Träume fallen ließ. Als er erwachte, dämmerte es bereits. Erschrocken sah er auf den kleinen Wecker, der auf seinem Nachtisch stand und stellte erleichtert fest, dass er noch gut zwei Stunden Zeit hatte, um sich herzurichten. Er nahm also ein ausgiebiges Bad, rasierte sich vorsichtig mit einer neuen Klinge und warf sich den flauschigen Bademantel über. Erfreut stellte er fest, dass Marie-Antoine ihm seine Kleidung bereits zurechtgelegt hatte. So trank er noch ein Schlückchen Rotwein und aß ein kleines Stück vom leckeren Camembert, den Marie-Antoine ihm heute Morgen auf dem Markt besorgt hatte. Entspannt griff er zu seinem Hemd, seinen Strümpfen und streifte diese über.
Bereits beim Hochziehen seiner Hose, stellte er allerdings entsetzt fest, dass mit seinem Beinkleid irgendetwas nicht stimmte, denn seine Hose war ihm plötzlich viel zu eng und selbst mit viel Mühe gelang es ihm nicht, den Knopf am Bund zu schließen. Er zerrte am Reißverschluss, der sich allerdings nur bis zur Mitte hin hochziehen ließ und stöhnte. Ein stechender Schmerz im Hüftbereich überkam ihn und ihm wurde speiübel. Wie konnte das passieren? Er wurde ganz rot im Gesicht und schwitzte dabei aus allen Poren. Eine halbe Stunde noch und das Taxi würde ihn abholen. Er fragte sich, ob es überhaupt möglich sein würde, Platz zu nehmen, ohne in eine Peinlichkeit zu geraten. Ärgerlich griff er zum Telefon und wählte die Nummer seiner treuen Haushälterin.
»Marie-Antoine? Was ist mit meiner Hose passiert?«, schrie er in den Hörer, ohne sich vorab zu melden.
Die Haushälterin, die Kummer mit ihm gewohnt war, reagierte, wie immer ruhig und gelassen.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Mr. Szabo. Als ich sie heute über den Sessel legte, schien alles in bester Ordnung zu sein.«
»In bester Ordnung? Sie wissen anscheinend nicht, wovon ich rede! Es ist nichts in bester Ordnung. Gar nichts! Was haben Sie mit meiner Hose angestellt?«, fuhr er sie an.
»Ich habe sie reinigen lassen, wie immer, Mr. Szabo. Sonst nichts.« Die Haushälterin wirkte verärgert.
»Und warum passt sie dann nicht, hä? Na, was sagen Sie nun?«, schnaubte Szabo am anderen Ende der Leitung.
»Das liegt aber bestimmt nicht an der Hose, wenn ich das bemerken darf, Mr. Szabo.«
»Also nicht an der Hose? An wem denn sonst, bitte? Vielleicht an mir?«
Marie-Antoine räusperte sich. »Sie haben vielleicht etwas zugelegt, Mr. Szabo. Nur ein wenig möglicherweise, aber eben genau da, wo es gerade zwickt. Wenn man älter wird…«
»Also das ist ja die Höhe!«, schimpfte Szabo sich sein Leid von der Seele. »Erst bin ich dick und nun auch noch alt! Was fällt Ihnen ein, Sie Haushälterin, Sie!«
Marie-Antoine versuchte es erneut: »Ich meine doch nur, dass die Hose etwas zu eng geworden ist. Vielleicht hätten sie diese vorher anprobieren sollen, dann wäre das Malheur jetzt nicht passiert. Ziehen Sie doch einfach eine andere Hose an. Mh?«
»Sie sind wohl völlig verrückt geworden? Ein Fall für die Irrenanstalt, oder was? Ich soll eine andere Hose anziehen? Und vielleicht noch eine andere Jacke? Ein anderes Hemd? Das ist unmöglich, in zwanzig Minuten holt mich der Fahrer ab. Hören Sie, unmöglich! Und das ist Ihre Schuld! Ich werde das bei Ihrem nächsten Gehaltsscheck berücksichtigen! In welcher verdammten Reinigung waren Sie denn?«
»In derselben, wie sonst auch, Mr. Szabo. Wie seit Jahren schon.«
»Ich werde diese Leute verklagen! Ausgerechnet heute Abend stehe ich ohne Hose da! So eine Unverschämtheit! Wir sehen uns, meine Liebe!« Wütend schmiss Szabo den Hörer auf die Gabel, und überlegte. Wenn er nun neu damit beginnen müsste, seine Garderobe abzustimmen, würde er das Taxi verpassen. Aber wenn er sich mit seiner Hose setzen würde, und das müsste er tun, denn er könnte ja schließlich nicht stehend essen in diesem Lokal, könnte seine Hose möglicherweise platzen. Doch Szabo wäre nicht Szabo, wenn er auch nur ansatzweise keine Lösung parat gehabt hätte. Er würde die Hose einfach offen lassen und mittig ein dünnes Gummiband benutzen, welches seitlich, mit zwei Sicherheitsnadeln versehen, die Hose halten würde, wenn er diese in den Stoff stecken würde. Nach wenigen Minuten hatte er das Problem gelöst, so schien es und er lächelte. Wie gut, dass er so clever war! Nun gut, er müsste die Jacke den ganzen Abend geschlossen halten, um das vermeintliche Malheur zu verdecken, aber diese Idee erschien ihm trotzdem als eine gute Lösung. Gerade, als er sich die Schuhe zubinden wollte, klingelte es. Das Taxi stand bereit. Er griff nach seinem Mantel und verließ fluchtartig sein Appartement.
Der Fahrer setzte ihn genau 5 Minuten vor der verabredeten Zeit ab, und er betrat etwas schwerfällig das Lokal. Dort wurde er freundlich begrüßt.
»Mr. Szabo. Wie nett. Sie waren lange nicht mehr bei uns. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
Szabo blickte sich um, doch er konnte die Gräfin nirgends entdecken.
Ohne den Empfangsmitarbeiter anzusehen, brummte er: »Ich war lange nicht mehr bei Ihnen, weil Ihre Schweinerippen so groß sind, wie Froschschenkel. Ihr Tomatenjuice nach Pampelmuse schmeckt und Ihr Service unglaublich ist. Und natürlich können Sie mir meinen Mantel abnehmen, oder soll ich ihn etwa beim Essen anbehalten?«
Der Mitarbeiter räusperte sich und tat, wie ihm geheißen wurde.
»Sie haben reserviert, Mr. Szabo?«, antwortete er freundlich.
»Selbstverständlich habe ich reserviert! Den besten Platz am Brunnen. Ein Tisch für zwei Personen. Bestens und exzellent eingedeckt. Ich erwarte eine alte Freundin, die den Wunsch geäußert hat, in diesem Lokal zu dinieren. Warum auch immer, es erschien ihr wichtig zu sein. Ich setze ergo heute Abend voraus, dass alles reibungslos klappt. Habe ich mich klar ausgedrückt, Monsieur?«
Der Mitarbeiter nickte. »Jawohl, Mr. Szabo. Ich geleite Sie nun zum Tisch. Wenn Sie mir folgen möchten?«
Er setzte sich in Bewegung und führte Szabo zu einem kleinen Tisch, nahe des kunstvollen, kleinen Springbrunnens, der sich inmitten des exquisiten Restaurants befand.
Ein Kellner im schwarzen Frack trat an den Tisch.
»Oh, Mr. Szabo. Schön, Sie zu sehen. Gefällt Ihnen der Tisch?«, fragte er freundlich.
Szabo drehte sich ihm zu. »Wieso fragen Sie mich das? Habe ich irgendwelche Kaufabsichten geäußert?«, gab er missmutig zurück und warf seinen Blick erneut suchend in den Raum.
Der Ober erstarrte. »Wie Sie meinen, Mr. Szabo. Ich werde Sie heute Abend bedienen und hoffe, Sie sind zufrieden mit dem Service.« Er versuchte zu lächeln.
Szabo hingegen blieb starr und ungerührt, nahm Platz und setzte eine strenge Miene auf. Wo blieb die Gräfin? Er schaute auf seine Taschenuhr. Zwei Minuten nach sieben! Wenn er eins aus tiefstem Herzen hasste, dann war es Unpünktlichkeit. Auf der Liste aller Todsünden kam Unpünktlichkeit direkt nach Ungehorsam und mangelnder Hygiene. Ungeduldig wippte Szabo auf seinem Stuhl hin und her. Es war bereits weit nach sieben, als er sie endlich erblickte. Trotz ihres Alters wirkte sie noch recht jugendlich und ihre Anwesenheit ließ den ganzen Raum in einem hellen Licht erstrahlen.
Mit weit geöffneten Armen lief sie auf ihn zu.
»Szabo, mein lieber, lieber Freund! Es ist so schön, Sie zu sehen.« Sie nahm ihn fest in die Arme und setzte sich dann.
»Sie sehen bezaubernd aus, Gräfin Fanny. Einfach bezaubernd. Dieses Kleid steht Ihnen wirklich ganz hervorragend.« Szabo lächelte.
»Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen, Viktor. Ich hatte noch ein wichtiges Telefonat zu führen. Sie wissen ja gar nicht, was ich die letzten Tage durchgemacht habe.«
Szabo strahlte. »Wir werden alles Weitere gleich in Ruhe besprechen, meine Liebe. Bitte beruhigen Sie sich und nehmen doch erst einmal Platz. Champagner mit einer Olive?«
Die Gräfin nickte und Szabo bat den Kellner an den Tisch.
»Herr Ober. Bitte kredenzen Sie uns doch eine gute Flasche Champagner und eine Schale mit schwarzen, entkernten Oliven, die bitte glatt und nicht zusammengefallen daherkommen. Dazu eine Schale mit mildem Zitronenwasser und eine Extra-Serviette für die Finger. Vielen Dank. Bitte entfernen Sie sich nun.«
Der Kellner, der gerade dabei war, den Nachbartisch abzuräumen, blickte irritiert in die Runde. »Sprechen Sie mit mir, Mr. Szabo?«, fragte er und zog dabei seine Augenbrauen weit nach oben. Szabo blinzelte.
»Mit wem sonst, bitte? Sie sind doch der Ober, oder?«
Dieser nickte. »Ja, selbstverständlich, Mr. Szabo. Ich bin gleich wieder zurück«, gab er kleinlaut zu verstehen und rollte mit den Augen. Szabo, der diese Geste durchaus wahrgenommen hatte, hielt ihn zurück.
»Gefällt Ihnen etwas nicht?«, fragte er scharf. Doch der Kellner setzte seine Bewegung ohne ein weiteres Wort fort und brachte bald darauf den bestellten Champagner, Oliven und alle anderen Dinge, die Szabo gefordert hatte. Tief in seinem Inneren fragte er sich, warum um diesen kleinen, dicken und unverschämt bornierten Mann einen derartigen Wirbel veranstaltet wurde, doch er fand keine Antwort.
Szabo indes bestrafte den armen Kerl mit ungnädigen Blicken und ließ an seiner Abneigung ihm gegenüber keinerlei Zweifel aufkommen. Auch die Gräfin konnte ihn wenig besänftigen. Er beugte sich vor und wollte gerade die Oliven begutachten, als er einen ungewöhnlich merkwürdigen Ton vernahm und gleich darauf ein heftiges Stechen im Unterbauch verspürte. Dabei entwich ihm ein lautes Stöhnen. Entsetzt griff Fanny nach seinem Arm und schüttelte ihn.
»Viktor, mein Gott, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen plötzlich so blass aus«, fragte sie besorgt. Doch was wäre ein Mann, der nicht einmal ansatzweise große Schmerzen aushalten könnte, in der Anwesenheit seiner heimlichen Liebe? Cholera und Pest hatte er überstanden, die spanische Grippe, Typhus in allen Formen, Gelbfieber, geheimnisvolle Erkrankungen des Ostens. Auch wenn sein Leibarzt immer andere, profanere Erklärungen für seinen Siechtum parat zu haben schien; er wusste es besser als dieser elendige Doktor Wallenstein. Und nun, das war klar, steckte er erneut in einer verzwickten Situation. Ein Blick nach unten verriet ihm den Grund seiner Schmerzen. Das Gummiband hatte nach endlosen Dehnungen nachgegeben und war gerissen. Wie peinlich, nun müsste er hier für alle Zeiten sitzen bleiben, wenn die Hose im Laufe des Abends noch mehr aus dem Leim zu gehen drohte. Er zog daraus nur eine denkbare Verhaltenstaktik: Er dürfte nichts essen und nichts trinken; ganz einfach! Sein Magen knurrte. Allein der Gedanke, in einem Restaurant verhungern zu müssen, quälte ihn.
»Viktor! Nun sagen Sie doch etwas«, Fanny griff nach seinem Arm.
Der Ober brachte ein Glas Wasser. »Monsieur, ich habe hier etwas Wasser. Nehmen Sie doch bitte einen Schluck.«
Doch Szabo winkte ab. Mit Schrecken dachte er daran, was wohl passieren würde, wenn er die Toilette aufsuchen müsste. Er hatte nichts, mit dem er seine Hose halten konnte.
»Trinken Sie, Viktor, bitte. Es wird Ihnen gleich besser gehen«, bat ihn Fanny und lächelte.
Das ganze Restaurant schien sich wie ein Kreisel zu drehen und Szabo wurde ganz schwindelig. Der Hunger plagte ihn, doch etwas essen würde nur noch mehr den Stoff der Hose beanspruchen. Es war also so weit. Heute würde er sterben, verhungern, weil seine Hose ihm im Stich gelassen hatte. Im Beisein seiner großen Liebe, Fanny Duchamp.
»Es geht mir gut, meine Liebe, wirklich!«, stöhnte Szabo und versuchte zu lächeln. »Ich mag nur kein Wasser trinken, das ist alles. Immerhin schwimmen dort ja bekanntlich die Fische. Und ihre Hinterlassenschaften… Aber wenn Sie…«
Fanny lächelte. »Ich trinke lieber meinen Champagner, mein Lieber. Geht es Ihnen etwas besser?«
Szabo biss die Zähne fest aufeinander und hätte dabei beinahe einen Kieferkrampf riskiert. Doch er versuchte standhaft zu bleiben: »Fanny, Sie wollten mich sprechen in einer wichtigen Angelegenheit. Wie kann ich Ihnen helfen, meine Liebe?«
Die Gräfin lehnte sich zurück. Tränen füllten ihre blauen Augen.
»Es ist so schrecklich, Viktor, so schrecklich. Meine Nichte wird des Mordes an ihrem Ehemann, Lord Harrington verdächtigt«, schluchzte sie verzweifelt. »Sie müssen wissen, dass sie unschuldig ist. Niemals könnte sie einen Menschen töten. Dazu wäre sie wirklich nicht fähig. Ich möchte Sie bitten, sich ihrer anzunehmen. Wenn es jemand schafft, dann sind Sie es. Bald ist es so weit und das Gericht wird sie sicher schuldig sprechen. Die Menschen haben sie bereits vorverurteilt, wegen ihrer Schönheit und ihrer Jugendlichkeit. Ihr Mann war ja so viel älter, als sie es war! Auf sie wartet der sichere Tod durch den Strick.«
Die Gräfin schluchzte. Szabo reichte ihr ein Taschentuch.
»Weinen Sie nicht, Fanny. Ich helfe Ihnen! Ich habe gerade keinen wichtigen Fall, den ich bearbeite und niemals würde ich Ihnen etwas abschlagen. Gerne übernehme ich den Fall. Ich brauche allerdings noch mehr Informationen. Ja?«
Fanny wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann begann sie zu erzählen. Szabo hörte aufmerksam zu. Dabei zwickte ihn die Nadel jedes Mal, wenn er sich nach vorn beugte, doch er versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Trotz seines Appetits, bestellte er nur eine kleine Vorspeise und eine Mandelcreme zum Dessert und vermied es viel zu trinken, um sich nicht zu blamieren. Als sich das Dinner dem Ende neigte, wurde ihm bewusst, dass nun noch eine letzte, aber entscheidende Hürde zu nehmen war. Er bediente sich beinahe der akrobatischen Kunst, um nicht noch auf den letzten Metern seine Hose zu verlieren. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Ohne es zu wollen, begann er erneut zu schwitzen und wurde dabei ganz rot im Gesicht. Er erhob sich langsam und spreizte dabei seine Beine, versuchte dann seinen Rücken nach vorn zu drücken und lief dabei, ähnlich wie ein Roboter, zum Ausgang. Die Gäste im Lokal musterten ihn dabei und einige lachten über seinen eigenartigen Gang. Hungrig geleitete er Fanny zu ihrem Wagen und fuhr dann mit einem Taxi nach Hause.
Als er außer Sichtweite war, steckte das Personal grinsend die Köpfe zusammen. »Das war also Szabo, DER Szabo?«, fragte ein junger Kellner.
Der ältere Ober nickte. »Ja, wir haben ihn hier lange nicht mehr gesehen, Gott sei Dank! Der Typ ist unerträglich und hat an allen Dingen etwas zu beklagen. Aber, ja. Er war es wirklich«, klärte er den Kollegen auf.
Dieser lachte: »Was für ein alter Knacker, der kommt bestimmt nicht wieder. Streitsüchtig, hat kaum etwas gegessen und kann auch nicht mehr laufen. So hat es bei meiner Urgroßmutter auch angefangen.«
»Oh, tatsächlich? Und wie geht es ihr heute?«, fragte der Ober.
»Nun. Sie liegt brav und stocksteif in einer Kiste auf dem Ostfriedhof«, sagte der junge Kollege und lief grinsend in die Küche.
Am nächsten Morgen, nach einer langen und schlaflosen Nacht, hatte Szabo sich entschieden, noch am selben Tag die Rückreise nach London anzutreten. Marie-Antoine hatte ihm ein prächtiges Frühstück gezaubert und die Sorgen, des gestrigen Tages schienen fast vergessen zu sein.
»Mr. Szabo? Ich gehe auf den Markt und auch in die Schneiderei, wenn Sie wollen. Dann nehme ich Ihren Anzug mit!«, rief die Haushälterin aus dem Korridor.
»Von mir aus. Allerdings wird Ihnen das nicht viel nutzen, meine Liebe!«, rief Szabo vom Frühstückstisch zurück.
Marie-Antoine hängte ihren Mantel zurück an den Kleiderhaken und trat in das angrenzende Esszimmer, in dem Szabo gerade in sein drittes Croissant biss.
»Und warum, wenn ich fragen darf? Meinen Sie der Camembert kommt alleine zu uns geflogen?«, fragte sie und verschränkte dabei ihre Arme.
Ohne seiner Angestellten eines Blickes zu würdigen, griff Szabo nach der Tageszeitung, die noch immer unberührt auf dem Mahagoni-Tisch lag.
»Sicherlich nicht. Aber das habe ich auch nicht gemeint«, bemerkte er etwas barsch.
»Und was meinen Sie dann bitte? Ich habe gestern erst ein Kilo Käse eingekauft. Für mein Omelett heute Mittag brauche ich mindestens ein Pfund. Und heute Morgen hat er sich plötzlich in Luft aufgelöst.« Sie schüttelte mit dem Kopf.
»Nein, hat er nicht!«, bemerkte Szabo und blätterte in der Zeitung. »Nach meinem Malheur gestern, hatte ich Hunger, als ich heimkam. Das ist ja wohl verständlich, oder? Immerhin habe ich fast nichts gegessen in diesem scheußlichen Restaurant. Und das ist Ihre Schuld, meine Liebe!«
Marie-Antoine trat an den Tisch und riss Szabo die Zeitung aus der Hand.
»Ist es nicht, Mr. Szabo. Und es ist auch nicht die Schuld der Reinigung, wenn Sie es genau wissen wollen. Sie haben einfach zugenommen, das ist alles. Trotzdem muss die Hose ja repariert werden, oder?«
»Eben nicht, meine Liebe! Und hören Sie auf, mir vorzuwerfen, ich hätte zugenommen. Mir passt jede Hose, jede Jacke. Ergo: warum ausgerechnet die Hose nicht, die Sie gestern haben reinigen lassen? Mh?« Er sah sie an und stellte fest, dass sie leicht errötete.
Ihre Augen blitzten. »Ach so? Ich wette mit Ihnen, dass Ihnen eben nicht jede Hose passt! Um 10 Franc!«
»Diese Wette nehme ich an.« Er erhob sich und lief ins Schlafzimmer, gefolgt von Marie-Antoine, die beinahe siegessicher lächelte.
»Ich bestimme aber, welche Hose, wir entnehmen«, stellte die Haushälterin resolut fest und öffnete den breiten, hölzernen Kleiderschrank.
»Zuerst diese da. Die taubenblaue. Die haben Sie zuletzt getragen, als Sie der Premierminister auf diese seltsame Party eingeladen hatte. Sie wissen schon. Die Party mit den barbusigen Frauen.« Sie schüttelte sich.
»Die waren nicht barbusig, sondern trugen kleine, glitzernde Sternchen auf ihren Brüsten«, versuchte Szabo sich zu verteidigen. »Niemals wäre ich dort erschienen, wenn sie nackt gewesen wären. Die Brüste, meine ich. Und ja. Ich werde sie probieren.«
Marie-Antoine stöberte inzwischen weiter in seiner Wäsche.
»Und hier, die maisgelbe Jacke. Die haben Sie getragen, beim Bankett mit dem römischen Minister. Wissen Sie noch? Da war ich dabei. Es war herrlich. Die Italiener sind regelrechte Meisterköche«, schwärmte sie. »Und dann habe ich hier noch die karierte Jacke und die elfenbeinfarbene Hose. Das hellblaue Hemd, die beiden weißen, den Rollkragenpullover und die braune Strickjacke. Ich lege Ihnen alles hier auf das Bett.«
Sie drehte sich um und wollte den Raum gerade verlassen, als ihr noch etwas einfiel: »Die Wette gilt aber nur, wenn ich Sie in den Sachen sehe. Sonst schummeln Sie wieder, wie beim Schach, letzten Samstag«, sagte sie streng und spazierte aus dem Raum.
»… schummeln Sie wieder, wie Samstag«, äffte Szabo sie nach und griff zum ersten Kleidungsstück. Seine Wahl fiel auf die Strickjacke und den Pullover, den er überstreifte. Er passte, ebenso, wie die Jacke. Zufrieden drehte er sich vor dem Spiegel hin und her und grinste. Okay. Der Pullover war vielleicht ein wenig eng und die Jacke würde er sowieso offen tragen. Er rief nach seiner Haushälterin, die nach wenigen Sekunden sein Schlafzimmer betrat.
»Und, meine Liebe? Was sagen Sie nun?«, feixte der Meisterdetektiv.
Sie grinste. »Viel zu eng. Sie sehen aus, wie eine Leberwurst in einer Zwangsjacke, Mr. Szabo. Es ist wie ein Unfall. Man kann weder hinsehen noch wegsehen!«, kommentierte Marie-Antoine sein Aussehen. »Ziehen Sie bitte die taubenblaue Hose an. Die haben Sie vor einem Jahr getragen. Ich bin mir nun völlig sicher, dass diese zu eng ist.«
Sie verließ den Raum erneut und Szabo tat, wie ihm gesagt wurde. Trotz aller Mühen und Anstrengungen musste er zugeben, dass dieses Kleidungsstück seinen Zweck nicht mehr ganz so erfüllte, wie es sollte. Egal, wie er sich auch bemühte; er schaffte es nicht den Reißverschluss zu schließen und gab letztlich erschöpft auf. Marie-Antoine betrat das Zimmer.
»Na? Wie ich bereits angenommen habe, Mr. Szabo. Sie haben zugenommen! Wundert mich nicht. Ein Kilo Käse…« Sie schüttelte mit dem Kopf.
Szabo rollte mit den Augen. »Ich hatte Hunger. Nochmal. Ich konnte im Restaurant nichts essen, meine Liebe. Und ich habe nicht zugenommen. Da mir meine gesamte Garderobe, bis auf wenige Kleidungsstücke nicht mehr passt, welche ausschließlich hier in Paris hängen, schließe ich daraus, dass die Reinigung meine Sachen falsch behandelte. Tiberius hätte mir bestimmt etwas gesagt, als er mich kürzlich vermessen hat. Meine englischen Anzüge sitzen nämlich alle perfekt! Perfekt! Und Tiberius ist zweifelsohne nicht nur der beste Schneider auf der Welt, sondern auch ein enger Freund!« Szabo zog eine Schnute.
Marie-Antoine seufzte. »Ich bekomme jedenfalls 10 Franc von Ihnen, Mr. Szabo. Wenn Sie unbedingt wollen, dann wechseln wir eben die Reinigung. Ich muss nun auch los, sonst bekomme ich keinen Käse mehr. Sie können mir das Geld auf den Tisch legen, ich stecke es mir später ein. Ich bringe noch Wein mit.«
Dann verließ die Haushälterin kopfschüttelnd die Wohnung. Szabo blieb allein zurück. Schockiert über das gerade Erlebte, warf er seinen Bademantel über und setzte sich zurück an den gedeckten Frühstückstisch. »Das gibts doch gar nicht!«, murmelte er und nippte am Kaffee. Er musste dringend London erreichen und mit Tiberius sprechen. Er überlegte. Sollte er dieses Mal fliegen, oder doch den Zug nehmen? Aufgrund der Dringlichkeit und dem Wunsch, möglichst schnell seinen Schneider zu erreichen, entschloss er sich, per Flugzeug zu reisen. Er griff zum Telefon, nahm sich ein weiteres, frisch gekochtes Ei aus dem Korb, den Marie-Antoine ihm bereitgestellt hatte, pellte und salzte es und wählte anschließend die Nummer einer bekannten, französischen Fluggesellschaft. Er fragte sich, ob man sich noch an ihn erinnerte, da er an unbändiger Flugangst litt, die ihn bereits in einige peinliche Situationen gebracht hatte. Wie sich aber bald herausstellte, konnte sich die erste Gesellschaft, die er anwählte, noch gut an seinen ehemaligen Passagier erinnern. Das erste Telefonat endete daher sehr abrupt: »Mr. Szabo! Nein… Hören Sie. Nein und nein! Ich habe keinerlei Möglichkeiten und nun… nun lege ich auf! Ihnen noch einen ganz entzückenden Tag.«
Ärgerlich schmiss er den Hörer auf die Gabel. Was für eine blöde Pute! Szabo konnte sich noch exakt an den Flug erinnern. Die Sitze waren derart unbequem, dass er es vorgezogen hatte, zu stehen. Bei der Landung war er dann nach vorn gefallen und prallte dabei auf eine ältere Dame, die vor ihm saß. Versehentlich verletzte er sie am Kopf. Obwohl er zweifelsohne die größere Verletzung erlitten, und auf einen Schädelbruch bestanden hatte, stellte der Arzt, der beide Passagiere anschließend untersuchte, bei ihm keinen fest. Auch mitgeführte Literatur, die haarklein alle Symptome eines Schädelbruches ausführlich beschrieb, konnte den Arzt nicht umstimmen. Stattdessen diagnostizierte er bei der älteren Dame, die Szabo unabsichtlich getroffen hatte, eine leichte Gehirnerschütterung und sie wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Er hingegen wurde kaum beachtet und für sein Verhalten sogar gerügt. Er würde diese Gesellschaft einfach aus seinem Notizbuch streichen und somit auch aus seinem Gedächtnis verbannen.
Er versuchte es erneut, bei einem anderen Unternehmen, obwohl er sich beinahe sicher war, dass auch hier, der ’kleine’ Vorfall nicht in Vergessenheit geraten sein könnte.
Eine weibliche Stimme meldete sich freundlich: »Air France, Fluggesellschaft, herzlich willkommen. Wie darf ich helfen?«
»Viktor Szabo hier. Ich brauche einen Flug heute Abend oder morgen ganz früh von Paris nach London. Ist bei Ihnen noch etwas frei?«
Die freundliche Stimme am Ende der Leitung machte eine Pause. »Wie ist nochmal der verehrte Name?«
»Viktor Szabo. Ich bin bereits mit Ihnen geflogen.«
»Mh ja. Das sehe ich gerade auf Ihrer Karte. Der letzte Flug war nicht so gut, wie ich erkennen kann. Geht es Ihnen wieder besser?«
»Ich verstehe nicht.«
»Nun, wir können Sie nur an Bord nehmen, wenn es Ihnen wieder gut geht, Monsieur.«
»Wieso, was fehlt mir denn?«
»Was hat denn der Arzt gesagt?«
»Welcher Arzt?«
»Na der, den Sie konsultieren sollten.«
»Ich war bei keinem Arzt, Madame. Mir fehlt nichts! Könnten wir jetzt…«
»Entschuldigen Sie, Mr. Szabo, aber ohne ärztliche Bescheinigung können wir Sie nicht mitnehmen. Es ist zu Ihrem Besten!«
Ärgerlich pellte Szabo ein weiteres Ei aus der Schale. »Ich habe mich wohl verhört, verehrte Dame! Wenn Sie mein Bestes wollen, reservieren Sie mir sofort einen Platz in Ihrer Maschine.«
»Nein, bedaure. Ich habe einen Vermerk in der Akte, der ganz klar besagt, dass Sie erst eine Bescheinigung eines Arztes vorlegen müssen, bevor Sie an Bord dürfen. Seien sie froh, dass es nicht noch strenger gehandhabt wurde. Ihnen hätte sogar ein Flugverbot drohen können.«
»Und was soll in dieser Bescheinigung stehen?«
»Das Sie völlig normal sind.«
»Ich bin normal. Normaler geht es nicht!«
»Monsieur, nicht in diesem Ton. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen.«
»Dann buchen Sie mir endlich einen Platz!«
»Monsieur. Nochmal. Ohne Arzt kein Platz. Wegen Ihnen wäre beinahe die Maschine abgestürzt.«
»Wegen mir?« Szabo erinnerte sich. »Ihr Pilot war betrunken!«
»Ja, das stimmt. Aber das war er nur wegen Ihnen.«
»Wegen mir?«
»Ja, sehr wohl. Weil Sie verbal auf ihn losgegangen sind und er sich beruhigen musste.«
»Ich bin verbal auf ihn losgegangen, weil der Co-Pilot stundenlang mit einer Kollegin die Toilette blockierte!«
»Das ist kein Grund. Die Stewardess hatte einen Weinkrampf und der Co-Pilot erlitt beinahe einen Herzinfarkt nach Ihrer Attacke.
»Ich musste dringend meine Notdurft verrichten. Wo soll ich das bitte sonst machen? Soll ich etwa die Klappe öffnen, während des Fluges?«
»Sehen Sie, da ist das Problem. Sie würden während des Fluges die Fluggäste gefährden und die Tür öffnen. Das ist zu gefährlich. Also ohne psychologisches Gutachten lasse ich Sie nicht an Bord. Tut mir leid, Monsieur!«
Ein erneutes Knacken in der Leitung sagte Szabo, dass auch dieses Gespräch beendet war. Unverständnis machte sich in ihm breit. Er griff abermals nach dem guten, alten Adressbuch und wählte die Nummer einer anderen Gesellschaft.
»Bon Air Fluggesellschaft. Wie kann ich helfen?«
»Szabo, Viktor Szabo am Apparat. Ich möchte bitte einen Flug buchen von Paris nach London. Nichtraucher, erste Klasse und ein Fensterplatz.«
»Einen Moment bitte.«
Szabo seufzte.
»Monsieur Szabo. Viktor Szabo? Oui?«
»Ja, Viktor Szabo.«
»Geboren am 18. Juni 1899 in Budapest? Oui?«
»Ja und hören Sie bitte mit Ihrem „Oui“ auf, meine Dame. Ich bin Engländer! Ein ungarischer Engländer!«
»Oui. Wie geht es Ihrem Magen, Monsieur?«
»Meinem Magen geht es hervorragend, danke. Warum fragen Sie?«
»Nun, bei den letzten Flügen haben Sie sich mehrfach übergeben und dabei nicht unerheblichen Schaden angerichtet. Sie erinnern sich?«
Szabo stöhnte. Oh ja. Er konnte sich gut erinnern.
»Ja, das stimmt, aber ich habe den Schaden bezahlt.«
»Oui, mais- es gab eine Menge an Passagieren, die erst nach dem Aussteigen bemerkt hatten, dass noch Reste Ihres Mageninhaltes an ihren persönlichen Sachen klebten. Eine Dame hat uns sogar verklagt; in ihrer teuren Dauerwelle hing ein Rest Thunfisch, wie sich herausstellte. Und diese Schäden sind eben nicht bezahlt.«
»Gut, gut, übernehme ich. Könnten Sie mir nun bitte meinen Flug buchen?« Szabo wurde ungeduldig.
»Oui. Mais non. Ich darf das leider nicht tun, Monsieur. Auf Ihrer Karte befindet sich ein rotes Kreuz.«
»Und was bedeutet das bitte?«
»Das wir Sie leider nicht mehr mitnehmen können. Es tut mir sehr leid, oui!«
Fassungslos und genervt legte der Meisterdetektiv auf und grübelte vor seinem nächsten Anruf nach, ob er möglicherweise weitere Fauxpas inszeniert hatte. Hm, da war noch dieser Pudel im Flugzeug. Welche Fluggesellschaft war das nochmal? War das auf der Strecke Paris-London? Nein! Das war Madrid. Ja. London nach Madrid. Er seufzte. Es half nichts und er gab sich geschlagen. Nun würde er eben doch wieder den Zug nehmen. »Ich bin eben ein Mann mit Bodenhaftung«, kommentierte er seine Entscheidung und griff abermals zum Telefon.
»Bahnhof-Vermittlung? Bahnhof Gare Du Nord- bitte und schnell! Ich möchte einen Zug reservieren!«
Einen Moment später meldete sich eine junge Stimme: »Fahrkartenreservierung. Etienne Dulac am Apparat. Wie ist Ihr Name bitte?«
»Mein Name ist Viktor Szabo. Ja, der berühmte Detektiv!« Szabo lächelte.
»Mh, jaa, also Szabo. Ich brauche ihren Beruf nicht, um Ihnen ein Ticket zu reservieren, Monsieur. Aber ihre Adresse und ihre Passnummer!«
»Meine Liebe. Ich bin Viktor Szabo- man kennt mich. Glauben Sie mir, ich brauche Ihnen meinen Pass nicht vorzulegen. Ich habe quasi Diplomatenstatus!«
Doch die junge Dame der französischen Bahngesellschaft ließ sich nicht beirren.
»Monsieur. Bitte geben Sie mir Ihre Passnummer. Ich stelle Ihnen danach gerne ein Ticket aus. Wohin möchten Sie denn fahren?«
»Madame. Szabo wird nirgends hinfahren, wenn Sie mich noch ein weiteres Mal nach meiner Identität fragen! Ich sagte Ihnen ja schon, ich bin Mr. Szabo, der berühmte und geschätzte und noch dazu weltbekannte Detektiv. Wie alt sind Sie, liebes Kind? Ihre Unwissenheit ist ja beinahe pathologischer Natur!«
Es knackte in der Leitung.
»Monsieur, einen Moment bitte…« Die junge Dame schien mit jemandem zu sprechen. »Ja, hier ist ein Mann, der sagt, er wäre ein Detektiv, Monsieur Bernard, und er weigert sich, seine Passnummer zu nennen…«
Szabo lauschte: »Hallo? Ist noch jemand in der Leitung?« Er wurde ungehalten und schimpfte: »Zuerst fertigen Sie meine Reise ab, Madame. Mir ist völlig egal, wer gerade neben Ihnen steht, hören Sie!«
Einen Augenblick später meldete sich eine tiefe Männerstimme: »Mr. Szabo? Mein Name ist Christian Bernard, ich bin der Leiter der Reservierungsabteilung. Entschuldigen Sie bitte, diese Einmischung, aber mir wurde eben mitgeteilt, dass Sie ihre Passnummer nicht nennen möchten und nun- leider können wir Ihnen dann kein Ticket reservieren, Monsieur. So leid es mir tut.«
Szabo schnaubte. »Hören Sie, Monsieur Bernard. Mir ist es völlig egal, welche Position Sie innehaben, in ihrer obsoleten Abteilung. Mein Name ist Mr. Viktor Szabo- der große Detektiv und ich möchte telefonisch eine Fahrkarte reservieren von Paris, Gar du Nord, nach London. Selbstverständlich 1.Klasse und mit eigener Waschgelegenheit an Bord und natürlich heute Abend! Ist das nun klar?«
Szabo schwitzte und zog aus seiner Brusttasche ein weißes Taschentuch hervor, um sich den Schweiß von der Stirn abzutupfen. Diese Franzosen! Immer das Gleiche mit ihnen. Er hatte seinen Pass lange nicht mehr vorzeigen müssen. Er war berühmt, wie die Bardot, wie Piccolini oder Delon oder Greta Garbo und diese deutsche Schauspielerin, deren Namen ihm gerade nicht in den Sinn kommen wollte.
Der Leiter der Reservierung ließ nicht locker: »Mr. Szabo, ich versuche es Ihnen verständlich zu machen. Wir haben in letzter Zeit viel mit Identitätsdiebstählen zu tun und müssen daher die Sicherheitsvorkehrungen beachten. Wenn Sie also Ihre Passnummer nicht nennen möchten, dann müssen Sie persönlich am Gare du Nord erscheinen und dort am Schalter eine Fahrkarte kaufen. Sie können sich aber viel Zeit sparen, wenn Sie Ihre Sturheit nun aufgeben würden. Ihre Fahrkarte liegt dann gleich zur Abholung bereit. Ich darf Sie daran erinnern, dass heute Freitag ist und die Schlangen am Schalter entsprechend lang sein dürften. Es gibt leider keine andere Möglichkeit. Ich würde Ihnen daher raten, mir nun entweder die Passnummer zu nennen oder sich schleunigst in Bewegung zu setzen, da die 1. Klasse des Zuges sehr begehrt ist. Die Anzahl der Kabinen mit einer eigenen Waschkapazität ist ebenfalls sehr begrenzt. Nun also? Wie wünschen Sie es, Monsieur?«
Es war bereits dunkel, als sich Szabo endlich auf dem Bahnsteig mit der Nummer 5 im Gare du Nord eingefunden hatte. Auch wenn er heute klein beigegeben hatte, was machte das schon, hatte er doch die letzte Fahrkarte ergattert, die ihm eine angenehme Reise in Aussicht stellte. Vielleicht war Claude an Bord. Claude war ein wahrer Künstler in seinem Beruf als Schaffner. Der Zug war für ihn eine Bühne, auf der er überzeugte und sicher auftrat. Seinen Gästen gab er das Gefühl, einzigartig und besonders willkommen zu sein und er bemühte sich nicht nur ständig, ihnen die Reise an Bord des Zuges so angenehm, wie möglich zu machen, nein, es gelang ihm auch ganz hervorragend. Doch so sehr auch Szabo nach ihm Ausschau hielt, konnte er ihn nirgends entdecken. Enttäuscht bestieg er den Zug mit Fahrziel London, über Calais, eine düstere Industriestadt am Ärmelkanal, um dann mit der Fähre nach England überzusetzen. Lediglich die Passagiere des Schlafwagens und die Gepäckwaggons wurden dabei verschifft, nachdem der Zug zuvor in mehrere Segmente zerlegt wurde, um den Wasserdruck auszugleichen. Durch speziell erbaute Docks war es so möglich, mithilfe spezieller Fähren, einen Zug zu verschiffen. Pünktlich um 22 Uhr ertönte das laute Tuten des Zuges und die Reise ins Land der Angelsachsen konnte endlich beginnen! Obwohl er sich wie ein kleiner Junge freute, bald wieder englischen Boden zu betreten, beschlich ihn, direkt nach Ankunft in seiner Kabine, ein eigenartiges Gefühl von Kälte und Verdruss, welches sich bei ihm immer kurz vor einem Unheil einstellte. Er hob seinen Koffer auf die kleine Ablage oberhalb der Garderobe und öffnete die Tür zur Waschgelegenheit. Er nahm die Lavendelseife, die auf der Ablage darauf wartete, benutzt zu werden und wusch sich seine Hände, setzte sich auf das Bett, öffnete den Kragen seines schneeweißen, gestärkten Hemdes, löste die Krawatte und knöpfte die beigefarbene Weste auf. So war es besser. Es war ein wenig zu warm im Abteil, was sicherlich einen erheblichen Mangel darstellte und gerügt werden musste. Sein Magen knurrte laut. Seine letzte Mahlzeit lag bereits Stunden zurück. Marie-Antoine hatte ihm ein leckeres Omelette zubereitet, mit reichlich Camembert und Thymian, wie er es am liebsten mochte. Szabo ließ sich auf das Bett fallen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er dachte an den neuen Fall in London, den er angenommen hatte. Die Sorgen, die sich Fanny um ihre Nichte machte, schienen begründet zu sein. Die Lage war ernst. Ihre Nichte, Lady Catrin Harrington, ein reizendes und junges Ding, hatte unter mysteriösen Umständen ihren Ehemann, Lord Harrington verloren. Besser gesagt, war er verblichen, was so viel bedeutet, wie „dahingeschieden“ und was zunächst auch keinen Anlass zur Besorgnis gab. Der Lord hatte seinen zeitlichen Zenit bereits weit überschritten und hatte die letzten Tage seines Lebens in einer ganz unverfänglichen Seitenlage in seinem Bett zugebracht. Somit war sein Tod zunächst keine Überraschung, wäre da nicht ein eifriger Polizist gewesen, der sich einbildete, dass es sich bei der Todesursache um einen Mord, in sozusagen bester Gesellschaft, handelte. Kurzerhand wurde ermittelt und es wurden tatsächlich einige Ungereimtheiten entdeckt, die Anlass dazu gaben, die Leiche des Verstorbenen zu exhumieren, um die Umstände des Todes von Lord Harrington zu untersuchen. Bei dieser Autopsie wurde festgestellt, dass Lord Harrington an einer Dosis Gift gestorben war. Sofort wurde Lady Harrington in den kleinen Kreis der Verdächtigen aufgenommen, die außer ihr aus nur zwei weiteren Personen bestanden: Der Pflegekraft, einem Mädchen vom Lande mit irischen Wurzeln und einem Cousin von Lord Harrington, der sich seit einiger Zeit auf dem Anwesen aufhielt. Da die Familie Duchamp einen untadeligen Ruf besaß, war es der Familie unmöglich, diese Angelegenheit nicht zu beachten. Die Londoner Polizei war allerdings wenig gesprächsbereit und gab der Gräfin keine weiteren Auskünfte; schon gar nicht per Telefon.
Szabo erhob sich. Zuerst musste er unbedingt etwas essen. Er richtete sich seine Krawatte und verließ sein Abteil in Richtung des Speisewagens. Vielleicht würde Claude ja doch noch auftauchen.
Im Speisewagen angekommen, erwischte er tatsächlich den letzten freien Platz und setzte sich zügig in einen der vielen, roten Veloursessel, nahm die Speisekarte zur Hand und stopfte die schneeweiße Stoffserviette in seinen Kragen.
Der Kellner der britischen Bahngesellschaft war gerade damit beschäftigt, den Nachbartisch abzuräumen, als er das wiederholte Räuspern eines Gastes vernahm, der gerade erst Platz genommen hatte.
Er kommentierte die Geräusche mit einem: »Ich bin gleich bei Ihnen, mein Herr!«, ohne sich weiter umzudrehen, und lief mit einem vollen Tablett in die Bordküche. Steven, der Koch wartete bereits auf ihn. Aufgeregt zeigte er mit dem Finger auf den neuen Gast im Speisewagen und begann zu stottern: »T-T-Tom, das das i-i-ist der T-T-Typ, von dem ich D-D-Dir schon erzählt habe!« Er lugte verstohlen durch den Brokatvorhang, der die Bordküche vom Gästeraum trennte.
»Ach ja? Du meinst, dieser arrogante Detektiv?«, fragte Tom zurück.
»Ja, ge-genau. Der f-f-f-fährt oft mit u-u-uns und hat ein rotes K-K-Kreuz auf der Karte. Ein rotes K-K-Kreuz! K-K-Keiner hat ein rotes K-K-Kreuz auf seiner K-K-Kundenkarteikarte. Der hat mir noch g-g-g-gefehlt heu-heute! Wir haben k-k-k-kaum noch W-W-W-Wein und viele G-G-Gerichte sind b-b-bereits aus«, gab Steven angespannt zurück.
Doch Tom winkte ab: »Ach, das wird schon! Ich werde ihn in die Schranken weisen- es gibt keinen Gast, mit dem ich nicht fertig werde!«, lachte er. Mit einem Tuch über dem Arm und einem breiten Lächeln trat er an den Tisch des Meisterdetektivs, der bereits ungeduldig auf ihn wartete.
»Mein Herr. Was darf ich Ihnen kredenzen? Haben Sie sich etwas Schönes aus der Karte ausgesucht?«
Pikiert blickte Szabo auf. »Also zunächst empfinde ich es als positiv, dass ich heute noch bedient werde und, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, nehmen Sie bitte folgende Bestellung auf. Ich hätte gerne die Hühnerpoularde mit dem gedünsteten Gemüse, dazu Prinzesskartoffeln mit etwas frischem Schnittlauch darüber gestreut und einen Chardonnay. Mein Nachtisch soll aus der roten Grütze mit heißer Vanillesauce bestehen und einem Stück Apfelküchlein ohne Rosinen. Dazu hätte ich gerne ein Glas frisches Wasser mit leicht perligen Ablauf und vorwegnehme ich den gebackenen Ziegenkäse mit der Honigvinaigrette.« Er schlug die Karte zu und lehnte sich zurück, ohne Tom eines Blickes zu würdigen. »Vielen Dank. Das war auch schon alles«, ergänzte er seine Bestellung und zupfte dabei an seiner Serviette.
Tom schluckte. »Aha. Ja. Oh. Sir, leider sind einige Ihrer Bestellungen, die wirklich eine vorzügliche Wahl sind, vergriffen. Es ist bereits spät und …«
Szabo setzte sich auf: »Ich habe mich anscheinend verhört! Vergriffen? Wie soll ich das bitte verstehen?«
Tom setzte erneut an. »Nun, es ist so. Die Mahlzeiten, die Sie eben bestellt haben, sind alle aus, bis auf die Grütze. Die wäre allerdings ohne Vanillesauce, denn die ist ebenfalls aus. Darf ich Ihnen Vorschläge machen, über Gerichte, die noch verfügbar sind?«
Szabo rutschte auf seinen Sessel hin und her. Er hatte Hunger und sein Magen knurrte. Um ihn herum saßen zufriedene Gäste mit köstlichen Hühnerpoularden, Grütze, Apfelküchlein und reichlich Ziegenkäse. Seine Augen blitzten den Kellner an.
»Und was ist das?« Er zeigte auf einen Tisch am Fenster. »Diese Gäste dort essen doch auch Poularde, oder?«
Tom atmete schwer. »Ja, Sir, aber das war die letzte Poularde. Also. Ich mache Ihnen nun einige Vorschläge. Wie wäre es mit einer leckeren Bockwurst mit Senf, dazu Brot und Schmalz und ein kleines Stück Schmelzkäse mit Zwiebeln? Chardonnay ist ebenfalls aus. Aber dazu passt ein frisches Bier vom Fass! Mh?« Tom versuchte zu lächeln, obwohl es in ihm brodelte. Plötzlich und für den Kellner unerwartet, riss sich Szabo seine Serviette aus dem Kragen und sprang von seinem Sitz auf.
Wütend zischte er: »Genug ist genug! Ich möchte bitte mit dem Zugchef sprechen, und zwar schnell, bevor ich hier verhungert bin, verstanden? Ich bin doch kein Hund, der Würste isst und welchen Vergleich stellen Sie zwischen einem Ziegenkäse und einem Schmelzkäse an? Kennen Sie überhaupt den Unterschied zwischen den beiden Varianten? Wenn ich Ziegenkäse sage und Schmelzkäse meine, dann wäre die Unterhaltung ad absurdum geführt, da Schmelzkäse, noch dazu gebacken und mariniert, keinesfalls auch nur ansatzweise Ziegenkäse ist und somit als ein mögliches Ersatzmittel für ein nicht vorhandenes Lebensmittel völlig ungeeignet ist. Der Unterschied zwischen einem guten Chardonnay und einem Bier ist derart unartig, dass mir keine Worte einfallen, die auch nur ansatzweise meinen Verstand in die missliche Situation versetzen können, die nun eingetreten ist. Diese Kreation der unzumutbaren Abfolge aufgesagter Speisen grenzt an eine pathologische Grausamkeit, die ich, und das muss hier in aller Deutlichkeit angeführt werden, noch bei keinem Serienmörder erlebt habe. Sie sind schlimmer als jeder Mörder und Schwerverbrecher, der mir je untergekommen ist, Sie Creton!« Szabo schnaubte.
Tom, dessen Lächeln eher wie das einer erfrorenen Forelle wirkte, stand wie versteinert am Tisch. Seine Beine versteiften sich und er hatte das starke Gefühl, dass sich seine Nackenhaare langsam aufstellten. Es dauerte etwas, bis er seine Sprache wiederfand und sich aus seiner Steifheit lösen konnte. Die Gäste des Speisewagens waren allesamt verstummt und warteten nun gespannt darauf, wie das Gefecht zwischen Ober und Gast nun weiter geführt werden würde. Momentan war die Mehrzahl der Anwesenden zwischen Mitleid für den Kellner und der Genialität des Gastes hin- und hergerissen. Die Punkte im Schlagabtausch waren daher etwa gleich- wobei die Damen wohl eher für den Kellner stimmten, allein schon aus rein femininen und mütterlichen Instinkten.
Mit zitternder Stimme sagte Tom schließlich: »Das tut mir leid, Sir, dass Sie mich für einen Serienmörder halten.« Er atmete durch. »Aber, wer weiß das schon? Vielleicht bin ich ja ein Serienmörder, der sich nachts heimlich in die Abteile, kleiner, dicker, alter Männer schleicht und diese heimlich und hinterrücks erdolcht. Vielleicht bin ich der Nachkomme von Jack the Ripper, der auf Beute wartet? Oder ich bin der Geist, der durch die Gänge des Zuges wandelt, verkleidet, als Oberkellner, der seinem düsteren Geschäft nachgeht und des Nachts hilflose Opfer jagt? Wer weiß das schon, mein Herr? Also Würstchen?«, fragte er immer noch leicht verstört und versuchte, den Klang seiner Stimme zu festigen.
Eigentlich wäre jetzt der passende Moment gewesen, in dem das Publikum ringsherum in Jubelgeschrei und Applaus verfallen sollte, zumindest die Damen, die Tom anfangs noch mit Punkten verteidigt- und so gegen Szabo entschieden hatten. Doch nichts davon trat ein. Alle saßen gespannt und erregt auf ihren Sesseln und Bänken und starrten in Richtung der beiden Streithähne. Ihre Blicke offenbarten eine gewisse Angst, die ihnen deutlich anzumerken war. Schweißperlen rannen in kleinen Bächen aus ihren Poren und erfüllten den Raum mit einem Dampf, der die Scheiben des Speisewagens beschlagen ließ. Szabo starrte auf den Tisch, auf dem sich nach wie vor, kein Teller mit leckeren Speisen befand, sondern lediglich eine zusammengeknüllte, weiße Stoffserviette, die er zuvor, leicht verärgert, als Zeichen seiner Unzufriedenheit, abgelegt hatte. Wenn er das „Würstchenangebot“ nun annehmen würde, dann würde er damit entschieden gegen die eigenen, auferlegten Regeln verstoßen und sich zum Kasper machen. Er könnte den Speisewagen einfach verlassen, wenn damit keine weitere Schmach verbunden wäre. Damit allerdings hatte er sich in eine Zwangslage versetzt, ganz unabsichtlich, die nun eine Entscheidung forderte: Entweder Würstchen oder gehen. Während sein Gehirn ratterte, welche Möglichkeit ihn am besten aussehen lassen würde, erhoben sich reihenweise die Gäste des Speisewaggons und zogen sich in ihre Schlafquartiere zurück. Somit erschloss sich eine dritte Möglichkeit. Er könnte, wie eine Spinne im Netz, in Ruhe darauf warten, dass alle Gäste ihr Dinner beendeten und sich dann ebenfalls zurückziehen. Diese Variante, die zunächst, als die beste Lösung erschien, hatte nur einen gewaltigen Haken: Er hatte Hunger. Sein Magen knurrte laut. Weiterhin bestand aber auch kein Zweifel daran, dass er ohne Nahrungsaufnahme die anstehende Nacht keinesfalls überstehen würde. Es gab schließlich keinen Kühlschrank, aus dem man sich nachts heimlich bedienen konnte. Oder doch? Immerhin war er zahlender Gast. Das war doch etwas. Er überlegte. Wenn er die Situation genau betrachtete, hatte er alles dabei, was er brauchte, um seinen Magen zu füllen: Eine Taschenlampe, eine Sicherheitsnadel und zwei Nagelfeilen. Und eigentlich hatte er doch keine Wahl: Verhungern oder Mundraub begehen. Er tupfte sich vergnügt die Lippen ab, blieb heroisch sitzen, bis alle Gäste verschwunden waren, wartete darauf, dass der Oberkellner sich in die Bordküche bewegte und verschwand just in diesem geeigneten Moment durch die Schwingtür, die die anderen Waggons und den Speisewagen voneinander trennte und lief eiligen Schrittes zu seinem Abteil. Die würden sich wundern. Wenn morgen alle zum Frühstück kämen, würden sie entsetzt das Gleiche vorfinden, wie er an diesem schrecklichen Abend: Keinen Käse, keinen Aufschnitt, keinen Speck und auch keine Eier! Bei diesem Gedanken überkam ihn eine Art Lustgefühl, welches sich bis in seine kleinen Finger zog, bis diese kribbelten. Erb würde nun einfach nur abwarten, bis es endlich still war im Zug. Er lauschte. In einem der Nachbarabteile wurde eine Tür geöffnet und er hörte Schritte. »Eine Frau«, dachte er. Trotz des Teppichbodens bildete er sich ein, Schritte zu hören, wie es nur von einem Damenschuh herrühren konnte. Dann verstummte das Geräusch plötzlich. »Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet?«, dachte sich Szabo. Er öffnete die hölzerne, kleine Tür zu seiner Waschgelegenheit, griff nach seinem Mundwasser und begann zu gurgeln, so wie es immer tat, bevor er zu Bett ging. Und so konnte er nicht hören, was draußen auf dem Gang besprochen wurde: »Tu es einfach. Du bist hier doch nicht umsonst eingesprungen«, flüsterte eine Stimme. »Jetzt ist die beste Gelegenheit dazu. Das Problem mit ihrem Vater ist bereits geregelt. 20 Millionen Pfund, nur für sie? Ich hasse dieses Kind. Noch ist es einfach, sie zu beseitigen. Du kümmerst dich um alles, wie besprochen! Und ich sorge dafür, dass sie noch mal zur Toilette geht, um die ausgemachte Uhrzeit. Und sei vorsichtig!« Dann verstummte die Stimme und es wurde wieder ruhig auf dem Gang.
Etwa zwei Stunden später, als es auf dem Gang ruhig geworden war, öffnete eine kleine dickliche Person vorsichtig die Tür eines Abteils und trat, das Gesicht mit einer Serviette verhüllt, in die Dunkelheit des Ganges, in Richtung des Speisewagens, der nur durch Notlampen spärlich beleuchtet war. Wie eine Katze schlich sie, langsam und vorsichtig, durch den nicht enden wollenden Gang und öffnete leise die Türen. Sie lief vorbei an den kleinen Tischen, roten Veloursesseln und Bänken. Die Bordküche war abgeschlossen; eine kleine Falttür trennte alle nur denkbaren Köstlichkeiten vom Rest des Zuges. Die Person blickte sich um und versuchte es zuerst mit der Sicherheitsnadel. Doch das Schloss ließ sich nicht öffnen. Dann eben die Nagelfeile. Nach wenigen Versuchen hatte sie es endlich geschafft und das ersehnte Paradies öffnete seine Pforten. Knurrende Magengeräusche verfolgten klangvoll die Szene.
»Diese blöde Serviette!« Szabo riss sich seine Gesichtsmaske herunter und betrat nun die heiligen Hallen der Bordküche und schaltete die Taschenlampe ein. Da! Der Kühlschrank stand, wie ein Abbild von Adonis, direkt vor ihm und rief ihm leise zu: »Öffne mich, öffne mich!« Ohne zu zögern, kam er dieser stillen Aufforderung nach. Was er vorfand, stillte seine Gier nach gutem Essen vollends: Ein Rest kalter Braten, mit der Aufschrift „Personal“, Gemüse, Vanillepudding und etwas Grütze, fertig dekorierte Käseplatten für den Frühstückstisch, Fisch in Form von Makrelen und marinierten Sahneheringen, ebenfalls hergerichtet für die morgendliche Gier der Reisenden, jede Menge Würstchen, Äpfel, Himbeeren, Weintrauben, ein kleines Steak, wenig Wildfleisch mit Pflaumensauce, Eier und eine angebrochene Flasche Riesling. Wenn er jetzt noch die Vorratskammer finden würde, wäre er dem Speisenhimmel ganz nah. Das Wasser, das gerade in seinem Mund zusammenlief, tropfte, von ihm unbemerkt, auf die Arbeitsplatte der kleinen Küche. Doch bei dem Anblick der leckeren Speisen und der Vorfreude auf einen exzellenten Gaumenschmaus, hüpfte sein Herz und schlug ganz wild in seiner Brust. Brot. Wo war das Brot? Er überlegte. Das musste doch irgendwo sein. Doch, so sehr er auch suchte, er konnte es nirgendwo entdecken. Dafür fand er Walnüsse, die er als Beilage zum Käse ebenso gut wie Brot verwenden konnte. Er nahm sich einen Teller aus dem Schrank, fügte ein Weinglas dazu und bediente sich königlich. Der Riesling war einfach nur köstlich, leicht gekühlt und trocken passte er perfekt zu Hering und Käse. Als Nachtisch hatte er sich Grütze und Vanillepudding ausgesucht, die er zusammen mit ein paar einsamen Weintrauben, in eine Schüssel gab. Ein kleiner, weiterer Teller war bestückt mit Wildfleisch und einem Rest kalten Braten. Er schlang sich eine Serviette um den Arm und trug gekonnt alle Teller in den Speisewagen. Die Taschenlampe diente ihm wunderbar als Kerzenersatz. Er setzte sich, schloss die Augen und verinnerlichte alle sauren, salzigen und süßen Verführungen, die er im Kühlschrank gefunden hatte. Seine Auswahl glich einer perfekten Geschmacksexplosion, die er in allen sinnlichen Formen auskostete. Ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit und völliger Glückseligkeit überkam ihn, wie er es lange nicht mehr erlebt hatte. Als er nach einer Weile feststellte, dass Magen, aber auch Speiseröhre bis zum Bersten gefüllt waren und Fleisch auf Hering traf, sobald er schluckte, musste er den Kampf aufgeben. Doch zufrieden, wie er nun war, stellte er fest, dass er bis auf einen Viertel Sahnehering und wenigen Nüssen, alles verspeist hatte. Er schloss die Augen. Seine Hose, die bereits vorher am Bund gespannt hatte, schnürte ihn nun regelrecht ein und schmerzte ihn etwas. Er war ja eh auf dem Weg nach London und musste zu Tiberius. Ja, ja, Tiberius! Er konnte sich sein Gesicht vorstellen, wie sein alter Freund und Schneider, mit einem Maßband um den Hals, die Augen rollte. »Viktor, mein lieber, lieber, alter Freund und Gefährte! Eines Tages wirst du dich zu Tode essen. Ich meine, mir ist das ja beinahe egal, ich meine natürlich, die ständigen Änderungen, die ich vornehmen muss! Aber Du brauchst dringend eine Diät. Schau, ich bin beinahe 63 Jahre alt und bin top in Form!« Wieso musste Szabo gerade jetzt an ihn denken, nach diesem zu Recht begangenem Mundraub? Irgendetwas schien ihm immer etwas die Laune zu verderben, nach einem großen Festmahl, und in letzter Zeit erschien sein schlechtes Gewissen in Form seines treuen Freundes Tiberius, der akustisch zur ernährungsbedingten Enthaltsamkeit aufrief. Szabo stand auf und ließ etwas Luft ab, die ihm ganz plötzlich aus der Körpermitte entwich. Er putzte sich den Mund ab, griff nach der Weinflasche und dem Glas und ging behäbig in Richtung seines Schlafgemaches zurück. Er war glücklich, satt und müde. Welches Gefühl war schöner als das absoluter Wonne und Seligkeit, gepaart mit einem Tropfen Weißwein? Er schlich gerade den Gang herunter, als er plötzlich ein Geräusch vernahm. Zuerst konnte er es nicht deuten. Es war wie ein „Plops„, geheimnisvoll und dunkel im Ton, so, als hätte jemand eine Flasche Wein geöffnet und sich dabei laienhaft angestellt. Dann folgte wieder absolute Stille, bis auf das gleichmäßige Geräusch des Ratterns der Räder, die den Zug durch die Nacht begleiteten. Das Abteil, aus welchem dieses merkwürdige Geräusch zu vernehmen war, lag nur zwei Abteile neben ihm. Er verharrte dort noch einen kurzen Moment, bevor er beschloss nun endlich zu Bett zu gehen. Der Wein machte ihn zusehends müder und erschöpft ließ er sich endlich auf das weiche Bett fallen und schlief sofort ein. Er hörte nicht, wie nebenan die Abteiltür geöffnet wurde, vernahm nicht, wie eine Person einen leblosen Körper durch den Gang zog, vorbei an den Tischen und Sesseln des Speisewagens und ein Fenster öffnete. Er bekam nicht mit, wie der Wind durch die Gänge pfiff und auch nicht, wie ein Körper durch ein geöffnetes Fenster geworfen wurde und schließlich seine letzte Ruhestätte im Gleisbett fand.
Am nächsten frühen Morgen herrschte, wie immer, ein reges, frühes Treiben an Bord. Geputzt und gestriegelt saßen die Gäste des Night Ferry´s im Speisewagen zwischen wenigen Eiern, abgezähltem Speck, Porrige, Tee, Toast und Kaffee. Dabei schnatterten sie wie Gänse wild durcheinander, so dass eigentlich nur ein Gewirr von Stimmen; jeder Tonlage zu vernehmen war. Szabo, der aufgrund seiner nächtlichen Orgie gut, aber wenig geschlafen hatte, trat leicht ermüdet dazu und setzte sich auf einen Fensterplatz. Der englische Nebel, der den kompletten Zug einhüllte, gab ihm ein Gefühl von Vertrautheit. Die nächtliche „Fressorgie“ hatte ihn obsiegen lassen! Dessen war er sich bewusst und lächelte geheimnisvoll. Wo nur der Ober blieb? Er streckte sich und gähnte. Seine innere Ruhe wurde jäh beendet, als ein gut gekleideter Mann an seinen Tisch trat.