Ginster - Siegfried Kracauer - E-Book + Hörbuch

Ginster Hörbuch

Siegfried Kracauer

4,8

Beschreibung

Ein »Drückeberger« als Held: Ginster ist 25, als der Erste Weltkrieg ausbricht, ein begabter Frankfurter Architekt. Der patriotischen Begeisterung seiner Zeitgenossen steht er skeptisch gegenüber, und so verwendet er einige Mühe darauf, sich immer wieder vom Kriegsdienst zurückstellen zu lassen – das Vaterland braucht seine Architekten schließlich nicht an der Front, sondern zu Hause, wo etwa Granatfabriken und Ehrenfriedhöfe für die gefallenen Soldaten zu planen sind.
Doch dann ereilt auch Ginster der Gestellungsbefehl. Weit weg von den Schlachtfeldern lernt er, mit militärischer Präzision ein Bett zu bauen, zu schießen und »gegen die Feinde Kartoffeln zu schälen«. Und es festigt sich in ihm die Überzeugung, dass all diese Übungen nicht dem Krieg dienen, sondern der ganze Krieg ein Vorwand für die Übungen ist.
Im Frankfurt des Ersten Weltkriegs spielt dieser Roman, der den literarischen Ruhm seines Autors begründete. Es ist das faszinierende Porträt eines Mannes, dessen Haltung zur Welt und ihren Widersprüchen oft mit Chaplin und Keaton verglichen worden ist.

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Zeit:4 Std. 21 min

Veröffentlichungsjahr: 2013

Sprecher:Michael Rotschopf

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Ein »Drückeberger« als Held: Ginster ist 25, als der Erste Weltkrieg ausbricht, ein begabter Frankfurter Architekt. Der patriotischen Begeisterung seiner Zeitgenossen steht er skeptisch gegenüber, und so verwendet er einige Mühe darauf, sich immer wieder vom Kriegsdienst zurückstellen zu lassen – das Vaterland braucht seine Architekten schließlich nicht an der Front, sondern zu Hause, wo etwa Granatfabriken und Ehrenfriedhöfe für die toten Soldaten zu planen sind.

Doch dann ereilt auch Ginster der Gestellungsbefehl. Weit weg von den Schlachtfeldern lernt er, mit militärischer Präzision ein Bett zu bauen, zu schießen und »gegen die Feinde Kartoffeln zu schälen«. Und es festigt sich in ihm die Überzeugung, daß all diese Übungen nicht dem Krieg dienen, sondern der ganze Krieg ein Vorwand für die Übungen ist.

Im Frankfurt des Ersten Weltkriegs spielt dieser Roman, der den literarischen Ruhm seines Autors begründete. Es ist das faszinierende Porträt eines Mannes, dessen Haltung zur Welt und ihren Widersprüchen oft mit Chaplin und Keaton verglichen worden ist.

Siegfried Kracauer, 1889 in Frankfurt am Main geboren, wurde als Redakteur der Frankfurter Zeitung zu einem der wichtigsten Feuilletonisten der zwanziger Jahre. 1930 veröffentlichte er seine bahnbrechende soziologische Studie Die Angestellten. Ginster, Kracauers erster Roman, erschien 1928. 1933 emigrierte Kracauer nach Frankreich, 1941 schließlich nach New York, wo er 1966 starb. Die Ausgabe seiner Werke in neun Bänden, herausgegeben von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, liegt im Suhrkamp Verlag vor.

Siegfried Kracauer

Ginster

Roman

Suhrkamp

Der Roman erschien erstmals 1928 im S. Fischer Verlag.

Die Textfassung entspricht derjenigen, die im 2004 erschienenen Band 7 der Gesamtausgabe von Siegfried Kracauers Werken enthalten ist.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Erste Auflage dieser Ausgabe 2013

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, 2013.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-73088-1

www.suhrkamp.de

Für L. zur Erinnerung anMarseille1926 und 1927

I

Als der Krieg ausbrach, befand sich Ginster, ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann, in der Landeshauptstadt M. Er hatte hier nach bestandenem Doktorexamen vor einer Woche eine Stellung angetreten. Der Doktor wäre überflüssig gewesen, aber Ginster liebte die mit einem Examen verbundene Spannung und wollte im Bewußtsein, den Titel rechtlich erworben zu haben, später gleichsam inkognito ohne ihn leben. Die Stadt M. war Ginster zu einer Art von Gewohnheit geworden, über vier Jahre hatte er in ihr zugebracht. Eigentlich hieß er gar nicht Ginster, der Name war ihm aus der Schule geblieben.

Auf dem Hauptplatz stauten sich die Massen, es war heiß, blauer Himmel. Alle warteten, Ginster wußte nicht worauf, er hatte ins Freie fahren wollen, weniger der Natur wegen, als um in ihr gewesen zu sein, wenn er abends im Café saß. Der trägen Hitze mochte am ehesten das Café in der Vorstadt entsprechen. Vor Jahresfrist, als Ginster es zum erstenmal aufgesucht hatte, war er vom Kellner aus einer Sofaecke mit der Bemerkung vertrieben worden, daß hier der Schachklub tage. Seit jener Zeit bevorzugte Ginster das Café, ohne den Schachklub je anzutreffen. Es befriedigte Ginster, daß der Kellner einem Klub die Treue hielt, der niemals kam.

Die Masse stand reglos auf dem Platz. Der helle Nachmittag lud dazu ein, auf ihren Köpfen spazieren zu gehen, die wie Asphalt glühten. Ginster wurde durch die Vorstellung erschreckt, daß das Kopfpflaster plötzlich auseinanderbrechen könnte. Tränen liefen ihm über die Backen. Große Massenaufgebote zwangen ihn so zum Weinen wie Kinostücke und Romane, an deren Ende zwei junge Menschen sich miteinander verbanden. Auch Menschenansammlungen schienen ihm eine Bürgschaft des Glücks. Einmal war es in der länglichen Gestalt des Zeppelin am Horizont aufgetaucht, und über den allgemeinen Jubel hatte er schluchzen müssen. Bei Tragödien brachte er es nicht zu einer einzigen Träne.

Ein Tosen begann, das Pflaster zerfloß, Telegrammtexte liefen um. Ginster bewunderte die Technik, alles teilt sich heute so schnell mit. Der Krieg war erklärt worden, die Gesichter trieften vor Schweiß. Hochs wurden ausgebracht; es trommelte. In der Nachmittagssonne leuchteten die Kirchenfassade, eine Hauswand und ein grünes Dach. Die Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Licht ermüdete Ginster. Bald freuen sie sich über das schöne Wetter, bald sind sie mit anderen Dingen beschäftigt.

Von Kriegen hatte Ginster nur in der Schule gehört. Sie lagen weit zurück und waren mit Jahreszahlen versehen. Mehr als für Schlachten und Friedensschlüsse interessierte er sich für geistige Strömungen ohne Datum und das Volksleben. In der Mathematik fesselte ihn der Unendlichkeitsbegriff, was fangen die Asymptoten im Unendlichen an. Aber die Lehrer bestanden auf Kriegen. Unser oberster Kriegsherr – aus den Schulbüchern schlug das Wort in die Hitze und dröhnte über den Platz. Ginster war betäubt, der Lehrer erhob sich vor ihm. Ich verstehe nichts von Kriegen, schrie er in seiner Ohnmacht den Lehrer an, lassen Sie mich doch fort. Als er vor Jahren sich in Berlin aufgehalten hatte, war er abends oft auf den Bahnhof Friedrichstraße gegangen, immer zu einer bestimmten Stunde, wenn die großen Schnellzüge nach dem Osten abfuhren. Berlin-Myslowitz stand auf den Schildern geschrieben. Kleine graue Männer und Weiber mit Tuchballen besetzten die Holzbänke, die Lichter in den Wagen brannten trüb. Myslowitz gab es nicht. Mochte Ginster noch so traurig gewesen sein – wenn der Zug entschwand, wußte er sich geborgen, schlenderte über die Friedrichstraße und las dann die Zeitung. Statt des abscheulichen Zuges stand einmal ein blitzblanker weißer in der Halle. Die kleinen Leute waren von den Bahnsteigen weggefegt. In dem erleuchteten Mittelwagen tafelte, von Militärs umgeben, ein Mann in Galauniform. Er lachte und hob das Glas, eine glänzende Luftspiegelung, die sich lang im Dunkel erhielt. Ginster selbst fuhr immer dritter Klasse. Die Galauniform im weißen Zug machte jetzt Krieg.

In dem Menschenstrom wurde Ginster mitgeschleift. Herren mit dicken Schlipsen, Studenten und Arbeiter sprachen sich an. Unsere Armeen, sagten sie. Wir sind überfallen worden, wir werden es den andern schon zeigen. Sie waren auf einmal ein Volk. Ginster dachte an Wilhelm Tell, das Wir wollte ihm nicht über die Lippen. Die Sonne war weg, eine Frau trug eilig ihr Kind. Der Junge schrie. Dicke Schlipse konnte Ginster nicht leiden, der Krawattennadeln wegen, die in ihnen steckten, und wegen der Schädel über den Krawatten. Bei einem Barbier hatte er beobachtet, wie ein Schädel rasiert wurde, ganz glatt, eine Billardkugel. Das war jetzt alles ein Volk. Ginster hatte niemals Völker kennengelernt, immer nur Leute, einzelne Menschen. Als Student war er in der Schweiz allein auf einen Gletscherberg gestiegen, hinter einer Führerpartie her, weil er mit den Spalten nicht Bescheid wußte. Da ihn die Besitzer des Führers fühlen ließen, daß es unschicklich sei, Fußstapfen zu benutzen, die er nicht bezahlt hatte, überholte er sie kurz vor dem Gipfel. Zwei Herren oben, die ihn ohne Begleitung ankommen sahen, huldigten auf französisch seiner Kühnheit. Sie stammten aus Marseille; echte Franzosen. Später schickten sie ihm eine unleserliche Ansichtskarte mit dem Blick auf den Marseiller Alten Hafen. Zu jener Zeit hatte sich Ginster viel mit Hochtouren abgegeben; der Fels fühlte sich schön kalt an, und war man unten im Tal, so machte der schlappe Gang mit dem Eispickel auf die Bevölkerung Eindruck. Durch die unaufhörliche Anwendung von Fachausdrücken war ihm schließlich das Klettern verleidet worden. In seiner Klasse war auch ein Engländer gewesen, ein langer Kerl, der ihm bei der Examensarbeit englische Vokabeln unbemerkt auf einem Zettelchen übermittelt hatte. Der Engländer war nun ausgelöscht.

Ginster bewohnte in M. ein Studentenzimmer. In dem Stockwerk waren außer ihm ein Eisenbahnassessor, eine Schneiderin und ein Student eingemietet. Das Gesicht des Assessors, das aus Scheitel und Schnurrbartspitzen bestand, sah wie eine begabte Kinderzeichnung aus. Im Frühling mischten sich abends die Lieder aus dem Wirtsgarten unten mit dem Duft der Kastanienbäume vor dem Fenster. Die Zusammenstellung war Ginster so zuwider, daß er schon oft hatte ausziehen wollen – am liebsten in ein Hotel. Aber die Furcht, beim Zimmersuchen in Trübsinn zu verfallen, das erst seit kurzem angebrachte bunte Glasdach am Hauseingang und vor allem die Wirtin hielten ihn stets zurück. Die Wirtin hieß Ulla. Sie setzte sich aus drei übereinander angeordneten Kugeln zusammen, die sich in einen Kegel einbeschreiben ließen. Der Kopf, die kleinste Kugel, hatte die Röte einer Tomate, und lachte die Frau, so beschrieb ihre Schürze über dem Bauch die Bewegungen einer Schiffsschaukel. Wenn Ginster nichts mit sich anzufangen wußte, stellte er sich auf die Straße und beobachtete, wie die Figur von ihren Einkäufen oder dem Gespräch mit einer Nachbarin herangerollt kam. Sie war statisch unmöglich, der Kegel mußte nach vorne überkippen. Ihr Mann Pankraz, ein Herrschaftskutscher, hatte die Dürre einer Stecknadel, die bei den häufigen Streitszenen immer wieder zerbrach. War sie entzwei gegangen, so stemmte Ulla die Hände um die Mittelkugel und drehte sich wie ein Kreisel.

»Es ist Krieg«, sagte Ginster nach der Heimkehr zu ihr.

»Der Assessor hat gestern nacht ein Frauenzimmer mitgehabt, mir macht er nichts weis, zwei Gläser habe ich besorgen müssen und feine Sachen vom Delikatessengeschäft. In dem Geschäft ist auch nicht alles sauber, das gibt noch eine schöne Geschichte. Wenn er meint, sich alles herausnehmen zu dürfen, der Herr Assessor, ist er im Irrtum. Aber schick hat er ausgesehen in seinem neuen Anzug, und geschimpft hat er, weil ich erst so spät vom Schneider gekommen bin. Vorhin war er zu Hause, er freut sich, hat er gesagt, morgen muß er einrücken, die Uniform hätten Sie sehen sollen, die er ausgepackt hat, funkelnagelneu, nichts kann ihm schnell genug gehen, er ist doch Reserveoffizier, die Leute werden nichts zu lachen haben, aber bei der Eisenbahn ist’s nicht so schlimm. Ulla, hat er gesagt, richten Sie die Montur fix her und halten Sie mir das Zimmer frei, bis ich wieder im Land bin, der Krieg wird nicht lang dauern, es ist einmal eine Abwechslung, das viele Sitzen war ich schon über. Ein Dreimarkstück hat er mir gegeben, nobel ist er, der Herr Assessor, das Saumensch darf mir nicht mehr über die Schwelle …«

»Ich bleibe heute abend zu Hause.«

»Sie werden auch in den Krieg müssen, da gibt’s nichts. Vorgestern ist der Student ausgezogen, der Russe, Ausländer nehme ich nicht mehr. Tote wird’s geben, hat der Assessor gesagt. Vielleicht werden auch die Mieten teurer. Mein Mann fährt einen General, ein Trottel ist er. Glauben Sie, ich hätte kein Kind haben können? Das ganze Geld wird versoffen. Ulla, Sie sind eine brave Frau, hat der Assessor gesagt. Seien Sie vorsichtig mit dem Trinken, die Brunnen sind vergiftet, heißt’s überall. Der Student war sicher ein Spion … Ich gehe ja schon.«

Ginster sah zum Fenster hinaus, die Straße war leer, nichts verändert. Er dachte, daß er kein Auftreten habe. Der Assessor trat auf. Man dürfe Untergebene nicht vertraulich grüßen, hatte ihm ein Bekannter gesagt. Wenn der Bekannte in eine Bank oder ein Verwaltungsgebäude kam, ging er einfach am Portier vorbei und wurde sofort vom Generaldirektor empfangen. Niemals würde er, Ginster, zum Generaldirektor gelangen. Sollte er noch in die Stadt? Die großen Ferien hatten begonnen, alle Menschen waren verreist. Ginster betrachtete den Schreibtisch mit den paar Büchern darauf. Der Schreibtisch, der Seitengeländer hatte, wurde von dem Spiegel des Kleiderschranks zurückgeworfen, in dem auch das Waschbecken erschien. Die Gegenstände, die sonst unsichtbar waren, tauchten aus ihren Verstecken auf und sperrten ihn ein. Er fürchtete sich vor dem Waschbecken, die Seitengeländer waren Barrieren. An einem Feiertag war er allein in der Wohnung gewesen und hatte einen Schauerroman verschlungen. Der Angst, die damals über ihn gekommen war, erinnerte er sich heute noch. Kaum, daß er sich dem Zimmerinventar hatte entreißen können, um das Treppenhaus zu gewinnen. Die Stiege wand sich im Dunkeln, aber das neue Glasdach davor leuchtete blau und rot. Es trommelte aus der Ferne. Als öffne sich ihm ein Schlitz, so brach das Geräusch der Menge ab und zu leise durch; klein wie der Mond, der groß ist. Ginster blieb. Sein Nachthemd hatte einen Riß.

Im Villenviertel lag Herrn Allingers Haus, mit dem Blick auf die Felder, Schienenstränge, Fabriken und Gaskessel, ein friedliches Häuschen, in einem Gärtchen, der Kinder wegen, die alle blond waren. Herr Allinger hatte Ginster für einen Schwimmbadentwurf verpflichtet, den er mit ihm gemeinsam im Interesse einer keramischen Firma ausarbeiten wollte, zu der er geschäftliche Beziehungen unterhielt. Er war ein Kunstgewerbler, den es zur gemächlichen Erzeugung von Landschaftsbildern hinzog. Auf die gemalten Wiesen paßte er selber. Meist ging die Sonne unter. Für private Auftraggeber ersann er Porzellanteller und Kaffeekannen, die sich mit Vorbedacht wölbten. Sie glichen englischen Damen, die allein Italien bereisen und auf einer Bank an einem abgelegenen Zypressenörtchen Romane lesen. Die Metallgegenstände trugen Spuren von Hammerschlägen, die persönliche Liebkosungen waren. Seine Frau wusch die Blumen und Kinder mit einem Gartenhut auf dem Kopf. Daß es im Umkreis des Häuschens regnen könne, schien unmöglich. In den Zimmern war man bei den Geschirren zu Besuch, Buben und Mädchen schlüpften aus Kübeln. Das Atelier hatte die Größe und Reinheit eines Mustergestüts. Auf den Fensterbrettern standen reihenweise fein gespitzte Kohinoors – kleine, gelbe Füllen, die in dem Nordlicht gediehen. Hier schuf inmitten echter Whatmanbögen und bläulich glänzender Pauspapiere, die über eine Art von Wäschemangel rollten, Herr Allinger seine Gebilde. Im Vergleich mit den ausgeführten Gefäßen, die in nichts verrieten, daß sie vorher gezeichnet worden waren, wirkten die Entwürfe als riesige Übertreibungen; ihre Linienzüge erinnerten an die Reiserouten von Dampfergesellschaften.

Ginster trat etwas später als sonst ins Atelier. Schälchen und Gläser blinkten wie immer, er empfand ihre Feinheit als unzart. Sie hätten aus den Zeitschriften stammen können, in denen sie dann wiedergegeben wurden. Zugleich beneidete er sie um ihre Glasur. Herr Allinger stand untätig im weißen Zeichenkittel am Fenster; der Kittel war frisch gewaschen.

»Die Menge hat noch am späten Abend gestern die Scheiben im Café Imperial eingeschlagen«, sagte er, »eine ausländische Kapelle konzertierte im Café. Es waren schöne große Scheiben.«

»Gerade eben ließ ich mich rasieren«, erzählte Ginster. »Der Gehilfe fragte mich, ob ich ein Fremder sei. Ich mußte meinen Stammbaum entwickeln, sonst hätte er mich vielleicht geschnitten. Die Leute hängen jetzt alle miteinander zusammen, und jeder weiß etwas Neues.«

Herr Allinger schwieg. Seine matten Augen blieben hinter der entschieden vorspringenden Nase zurück. Wahrscheinlich wurde sie auch einmal matt. Er hatte früh geheiratet, die Frau war älter als er, nun saß er eingeklemmt zwischen ihrer Rüstigkeit und seinen eigenen Sachen. Auf dem Zeichentisch war ein neuer blanker Bogen eingespannt. Sie hatten heute mit dem Schwimmbad anfangen wollen.

»Ich habe mir überlegt«, äußerte Ginster, »die Eingänge und Vorräume sollten ganz unscheinbar gehalten werden. Man macht jetzt überall monumentale Portale, und dahinter kommt nichts mehr. Die modernen Bahnhöfe sind der passende Ort für Trauerfeste im großen. Wie man in ihnen eine Fahrkarte vierter Klasse verlangen kann, begreife ich nicht. Das Schwimmbad dürfte nur Nebeneingänge haben. Die meisten Leute, die es benutzen, steigen gewöhnlich doch nur über Lieferantentreppen in die Geschosse.«

Herr Allinger nahm einen der Bleistifte zur Hand, der ihm beflissen entgegenhüpfte. »Als ich heute nacht schlaflos lag, kam mir die Ausstattung der Schwimmhalle in den Sinn. Es müssen sich Muster auf den Wandplatten herumziehen, die das Wassergekräusel wiederholen. Von der Wirkung der Lichtreflexe verspreche ich mir viel. Die Pfeilerflächen sind glatt zu halten, damit sie spiegeln. Ihre Helle könnte mit Wandnischen kontrastieren, aus denen von Delphinen Glanzlichter springen. Der Kassenraum wird vielleicht als Oval auszubilden sein, ich liebe die Ecken nicht.« Der Bleistift beschrieb weiche Kurven, ohne den neuen Bogen zu berühren.

Wie Ginster einfiel, hatte er in einem Schwimmbad schwimmen gelernt. »Mein Lehrer hieß Treiber. Er hängte mich an eine Angelrute und ließ mich ins Wasser herunter. Lauter Knaben, die schon schwimmen konnten, schossen um mich herum. Dann wurde ich frei. Ich schwamm gern auf dem Rücken und sah ins Glasoberlicht. Wir müssen in der Decke über dem Bassin ein großes Kaleidoskop einlassen, das durch eine Maschinerie in Bewegung gesetzt wird und in immer anderen farbenprächtigen Figuren sprüht …«

»Vorläufig hängen wir an der Angelschnur.«

Allingers Frau war ins Atelier gekommen, mit einem Jungen, Hans oder Karl, der ein Holzschwert umgebunden hatte. Ein Bekannter habe antelefoniert, daß ihm soeben die Marschorder zugegangen sei.

»Der erste Mobilmachungstag«, sagte Herr Allinger.

Hinten am Horizont lag Rauch: Eisenbahnzüge. Der Himmel war wolkenlos. »Mir ist es immer, als ob ich trommeln höre«, meinte Ginster. Er hatte in dem Haus verkehrt, ehe er von Allinger angestellt worden war. Beide starrten gleichzeitig auf den weißen Bogen, über den die Reißschiene lief. Herr Allinger wies mit einer unbestimmten Gebärde zum Fenster hinaus. »Aus dem Schwimmbad wird nichts werden.« Dann unvermittelt: »Was wollen Sie tun? Bleiben Sie in M.?« Ginster empfand Mitleid mit dem Mann; alle die Kännchen und Wiesen. Er erhielt sein Gehalt ausbezahlt. Die Frau trug eine Gießkanne, der Hans oder Karl jagte ein Schwesterchen mit dem Holzschwert in den Garten. Ginster ging weg. Nun war er in M. nur noch zu Gast.

Daheim fand er die Wohnungstüre zugesperrt. Die Sicherheitskette mußte vorgeschoben worden sein, nur ein schmaler Spalt öffnete sich. Er schellte einmal, zweimal. Am hellen Nachmittag; der Unfug. Die Tür war mit den Visitenkarten der Aftermieter bespickt, auch auf der Tür nebenan saßen Kärtchen. Ginster nahm sich vor, einmal sämtliche Visitenkarten im Haus zu zählen. Er war noch nie bis zum obersten Stockwerk gelangt. Der Kopf der Wirtin zeigte sich in dem Spalt.

»Bei den Zeiten«, sagte sie und entfernte langsam die Kette, »man weiß nie, wer sich einschleichen will. Seien Sie vorsichtig, Ulla, hat der Assessor gesagt. Über die Schneiderin spreche ich nicht. Mir kann es recht sein. Es ist schon gut, daß es manchmal Kriege gibt …«

Von dem Körper getrennt, ragte der Kopf beziehungslos über den Treppenpodest. Er war größer als sonst und mit Tüchern umwickelt. Die Reliefkarte einer fruchtbaren Provinz, von einem Lehrling grellrot bemalt. Chausseen und Abzugsgräben durchfurchten das Gelände, aus dem sich eine unbesteigbare Bergmasse erhob. Es fehlte nicht an Aussichtstürmchen und Wäldern. Um in die Mitte der Augen zu gelangen, waren Teiche zu überqueren. Die gefärbte Plastik bewegte sich auf und ab und schien immer näher zu rücken, während Ginster zusammenschrumpfte. Er lag betäubt am Chausseerand in irgendeinem Winkel des Landes.

»Meine Zimmer kriege ich immer wieder los, auch wenn Sie nach Hause fahren, das ist mir ganz gleich. Aber zahlen müssen Sie bis zum Ersten. Die Rechnung ist schon geschrieben. Der Herr Assessor …«

»Warum nach Hause …« Ginster hatte nur halb hingehört.

»Sie werden ja sehen. Ich bekümmere mich um nichts. Meinetwegen können Sie auch hier bleiben. Das Saumensch, heute war sie schon wieder da.«

Auf dem Tisch lag eine Karte von der Mutter. Sie schrieb, daß Ginster sofort zurückkommen möge, da ihm Herr Allinger doch vermutlich kündigen werde. »Es ist schrecklich, wie wir überfallen worden sind. Die Engländer sind jetzt auch dabei, ich hatte es mir gleich gedacht. Onkel meint, daß der Krieg lange dauern könne, zweifelt aber nicht am guten Ausgang. Du mußt sehen, daß Du zu Hause etwas verdienst, in M. kannst Du auf keinen Fall bleiben. Packe Deine Sachen gut zusammen. Für die Bücher wirst Du eine Holzkiste gebrauchen.« Unter NB.: »Denke Dir, Otto hat sich freiwillig gemeldet!«

Zum erstenmal spürte Ginster die Nähe des Krieges. Der ermordete Erzherzog war ihm gleichgültig gewesen, Ottos Meldung betraf ihn selbst. Otto war jünger als er, erst zwanzig; eigentlich hatte er für Kriege ebensowenig Begabung wie Ginster. Wenn Otto sich freiwillig stellte, mußte sich auch Ginster mehr mit dem Krieg befassen. Seit der Kriegserklärung waren die Menschen verrückt, niemand sprach mehr von wichtigen Dingen. Vielleicht ging Otto aus Begeisterung mit, er wollte das Vaterland verteidigen, wie es allgemein hieß. Man muß sich also begeistern, sogar Otto ist hingerissen. Ginster war über seine eigene Schlechtigkeit traurig. Zum Glück fiel ihm ein, daß er schon bei mehreren Gelegenheiten ähnliche Gefühle wie die Ottos in sich vorgefunden hatte. Er liebte zum Beispiel Militärmusik. Wenn am Sonntag die Wachtparade vor der Residenz aufzog, lief er immer ein Stück nebenher. Auf dem Residenzplatz wurden auch Tauben gefüttert, gezähmte Tauben für das Publikum, das sich durch die Verteilung von Brosamen zerstreuen und zugleich wohltätig erweisen konnte – aber Ginster kümmerte sich nicht um die Täubchen, sondern entzückte sich an den kriegerischen Märschen und dem Paradeschritt der Kompanie. Eine gewisse Enttäuschung bereitete ihm stets die Unterbrechung der Musik durch das Trommeln und Pfeifen. Solange die Trompeten schmetterten, träumte er von girlandengeschmückten Städten und dem Jubel der Menge. Der Gedanke, selbst in einer Uniform mitzumarschieren, lag ihm allerdings fern. Eindeutig zu seinen Gunsten sprach ein Vorfall in Genua vor etwa zwei Jahren. Auch damals war es eine Kapelle gewesen, der er das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, zu verdanken hatte. Er hatte sich in Genua zu Beginn einer Ferienreise mit einem Studienkollegen namens Linke verabredet, der von Hamburg aus über Afrika im Lloyddampfer eintreffen wollte. Linke war ein kleiner schwarzer Mann, der Ginster in allen praktischen Dingen seine Protektion angedeihen ließ. Ginster wartete auf der Mole, als das Schiff langsam einlief. Um ihn herum wurde italienisch und französisch gesprochen. Mit einem Male hörte er Musik, heimische Klänge. Die Bordkapelle spielte Studentenlieder und patriotische Weisen. Mitten in der Fremde, deren Fremdheit er noch übertrieb, um sich abenteuerlicher vorzukommen, wurde er in die Heimat versetzt. Er war gerührt wie über eine schöne Ansichtskarte, die ihm bewies, daß man seiner gedachte. Linke stand am Fallreep, in eine karierte Reisemütze und einen neuen Ulster gehüllt. Ginster bewunderte ihn, wie er so selbstverständlich da oben stand, ein Gruß aus der Heimat, fast schon ein Engländer mit der Pfeife. Die Überlegenheit des Weltreisenden haftete ihm noch bei der Begrüßung an. Auf die Frage, wie es in Afrika gewesen sei, antwortete er mit Auskünften über den Tonnengehalt des Dampfers. Das Schiff trug einen vaterländischen Namen.

Anderen Tages beschloß Ginster, sich freiwillig zu melden. Es war notwendig; nicht nur Ottos wegen, sondern weil etwas geschehen mußte. Er erkundigte sich nach der Kommandantur. Auf der Straße mischte er sich in Unterhaltungen. »Durch unseren Einmarsch in Belgien werden wir mit den Franzosen leichtes Spiel haben« – ohne Zögern behauptet. Genau genommen, wollte er nur beobachten, ob ihm solche Dinge überhaupt zu sagen gelängen, man mußte sich üben. In der letzten Zeit war er mehrmals zugegen gewesen, wie andere Personen unter Beifall ähnliche Urteile abgegeben hatten. Kaum äußerte er seine Meinung – eine Meinung, von der er voraussetzen durfte, daß sie dem Bedürfnis der Leute entsprach –, so wurde ihm mit Mißtrauen begegnet. Das Publikum sah ihn erstaunt an, und einer bemerkte, daß die Franzosen auch nicht so ohne wären. Allgemeine Zustimmung ward ihm zuteil. Hätte Ginster die gleiche Ansicht vertreten, er wäre vermutlich der Polizei ausgeliefert worden. So ging es ihm häufig. Wenn er sich zu den üblichen Überzeugungen bekannte, wurden sie sofort preisgegeben, um den gegenteiligen Anschauungen das Feld zu räumen. Ein Messergeschäft lag an seinem Weg. Jeden Tag betrachtete er die blitzende Auslage: den Zug der hängenden Tranchierscheren, die Rasierzeuge, die schönen Zahnzangen und die Degenpaare, die sich kreuzten. Für die Vorder- und Backenzähne gab es verschiedene Zangen, das geringste Instrument hatte seinen besonderen Zweck. Ginster vergaß über dem Glanz der gehäuften Stahlformen die durch ihren Gebrauch zugefügten Schmerzen. Der Staub wich vor den Klingen zurück, und nicht ein einziges Rostfleckchen trübte ihre spiegelnden Flächen. Was auch später mit ihnen geschah: sie konnten an Vollkommenheit nur verlieren. Darum unterließ es Ginster immer wieder, sein altes schartiges Taschenmesser durch ein neues zu ersetzen. Hatte er aber irgend einen metallischen Gegenstand erworben, so lebte er ununterbrochen für seine Blankheit bis zu dem Augenblick, in dem der erste Fleck dem Reiben widerstand. Ihn anzusehen, vermied er dann lange Zeit.

In dem schattigen Torbogen der Kommandantur standen schwatzende und rauchende Gruppen. Männer in Lodenhütchen, Schaftstiefeln und Werktagsanzügen. Auf manchen Hüten wippte vergnügt eine Feder wie ein Vögelchen, das jederzeit auffliegen kann, wenn es will. Die Arbeitsröcke hatten es an einem gewöhnlichen Vormittag selten so schön. Das Bewußtsein, einen Gratisfeiertag zu haben, steigerte noch das gesunde Aussehen der Männer, deren braune Landfarbe freilich gegen das Giftgrün ihrer Hütchen nicht aufzukommen vermochte. Militärpersonen unterhielten sich ohne Förmlichkeit mit den Leuten. Niemals hätte Ginster geglaubt, daß eine Vermischung des Militärs mit den Zivilisten stattfinden könne. Das Militär war eine Klasse für sich, die in strenger Absonderung von der Zivilbevölkerung lebte. Am liebsten wäre er umgekehrt, die viele Gesundheit strengte ihn an. Um die Lage zu erschweren, rauschte auch noch der Assessor in seiner funkelnagelneuen Montur vorbei. Ehe sie Ginster sich einprägen konnte, war er verschwunden.

Das Folgende ereignete sich schnell. Treppe und Gänge mit Hütchen besetzt. Hinauf, hinab, gradaus, linksum. Ein Zimmer Nr. 327. Lauter Männer im Zimmer, eine Litewka am Tisch. Ginster: »Verzeihung, ich wollte nur fragen, ob ich mich freiwillig melden kann, Eisenbahner, gestatten Sie höflichst.« Noch einmal gefragt. Die Litewka: »Was wollen Sie?« Noch einmal gefragt. Ginster wird wie eine Ware flüchtig überschlagen. Soll warten, käme später schon dran. Die Männer flüstern. Verbeugung, draußen wieder giftgrüne Hütchen. Rechtsum, gradaus, hinauf, hinab. Torbogen. Straße.

Es zwitscherte in den Bäumen, jetzt konnte er in Ruhe zu Mittag essen. Mehr ließ sich nicht tun; auch Otto hatte nicht mehr getan. Auf die Eisenbahner war er durch Ulla gekommen. Er hatte sie auch in der heimlichen Erwartung gewählt, daß dort nur kräftige Leute verwandt werden könnten. Kräftig war er bestimmt nicht. Für den Fall der Einstellung hatte er damit gerechnet, daß Eisenbahnschwellen nur hinter der Front geschleppt werden. Die Zeitungen meldeten: Große Kämpfe im Gang. Seit Ginster im Zimmer 327 gewesen war, fühlte er sich mit den Heeren verknüpft. Die Männer mit den Hüten schienen sich lediglich um Militärgebäude zu sammeln. Morgen müsse er packen; die Kiste für seine Bücher nicht zu vergessen. Vor dem Wiedersehen mit Otto war ihm bang.

II

Ginster stammte aus F., einer historisch gewachsenen Großstadt, an einem Fluß, zwischen Mittelgebirgen. Wie andere Städte auch, nutzt sie ihre Vergangenheit zur Hebung des Fremdenverkehrs aus. Kaiserkrönungen, internationale Kongresse und ein Bundesschützenfest fanden in ihren Mauern statt, die schon längst in öffentliche Anlagen umgewandelt sind. Dem Gärtner ist ein Denkmal gesetzt. Einige christliche und jüdische Familien führen ihre Entstehung auf Ahnen zurück. Auch Familien ohne Herkunft haben es zu Bankfirmen gebracht, die Beziehungen mit Paris, London und New York unterhalten. Kultstätten und Börse sind nur räumlich voneinander getrennt. Das Klima ist lau, die nicht im Westend wohnhafte Bevölkerung, zu der Ginster gehörte, kommt kaum in Betracht. Da er überdies in F. aufwuchs, wußte er von der Stadt weniger als von anderen Städten, die er nicht kannte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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