Giordano Bruno - Leben, Werk und Wirkungsgeschichte - Guido Schmidlin - E-Book

Giordano Bruno - Leben, Werk und Wirkungsgeschichte E-Book

Guido Schmidlin

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Beschreibung

Das Giordano Bruno-Buch ist weit ausgreifend in seiner Anlage. Nicht nur wird die philosophische Vorgeschichte von Brunos Denk-Projekt freigelegt: die Abwertung der Aisthesis, die Ablehnung der aristotelischen Tradition und die neue Etablierung der Mathesis im Namen Platons. Und nicht nur wird der zeitgenössische Kontext packend dargestellt: Da findet man Giordano Bruno bei den Paracelsisten auf Schloss Elgg oder sieht ihn durch schlammige Londoner Straßen zu einer Debatte stapfen, da werden die feingesponnenen Intrigen des Inquisitors Bellarmin schmerzhaft genau nacherzählt. Stärker noch steht im Zentrum die genaue und erhellende Lektüre der zentralen Schriften Brunos. Und vor allem wird dann eine Nachgeschichte geschrieben: von der Rezeption Brunos durch Descartes, Spinoza und Lessing - bis zu Schellings Dialog "Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge", einem verrückt schwierigen philosophischen Text, mit dessen Interpretation und Klärung Schmidlins Buch seinen Abschluss findet.

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Vorwort

Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Guido Schmidlin (1930 – 2010) hat in den letzten Jahren seines Schaffens drei Werke zu einem Abschluss gebracht, an die er lange Zeit seine ganze intellektuelle Kraft, sein Wissen und seine Fähigkeiten verwendet hatte. Das erste der Werke, die er nach der Beendigung seiner – bis heute noch an manchen Orten wirksamen – Lehrtätigkeit in Winterthur fertigstellte, war die Darstellung des Lebenswerks von Walter Robert Corti und die Herausgabe seiner Schriften. 2002 erschienen im Haupt Verlag in Bern die 5 Bände: Heimkehr ins Eigentliche, Der Mensch im Werden Gottes, Walter Robert Corti – Der Weg zum Kinderdorf Pestalozzi, Walter Robert Corti – Ethische Forschung und Ein Dorf für die leidenden Kinder.

Die zweite grosse Unternehmung war die Übersetzung des lyrischen Werks von Mario Luzi ins Deutsche. Guido Schmidlin begann damit Ende der Fünfziger Jahre in Florenz, wo er als Lehrer an der Schweizer Schule in Kontakt trat mit Mario Luzi, der ihn im Gespräch als seinen Übersetzer ins Deutsche autorisierte. Ein Jahr vor seinem Tod brachte Guido Schmidlin das grosse Projekt der Übertragung sämtlicher Gedichte von Mario Luzi ins Deutsche zum Abschluss. Michael Krüger veranlasste die Herausgabe von ausgewählten wichtigen Texten im Hanser Verlag: Zehn Luzi-Übersetzungen erschienen in Akzente (Heft 4/August 2007), hundert ausgewählte Gedichte im Band Mario Luzi: Auf unsichtbarem Grund (Edition Akzente 2010).

Das dritte Opus Magnum ist bis jetzt unveröffentlicht geblieben. Es handelt sich um das Buch über Giordano Bruno, das wir, Stefan Schmidlin und Heiner Weidmann, hier vorlegen: eine grossangelegte Darstellung jener philosophischen Umbrüche und Verschiebungen, die in der Philosophie mit der schwierigen Durchsetzung des kopernikanischen Weltmodells einhergingen, – und um eine neu geschriebene Entstehungsgeschichte der modernen Metaphysik.

Für dieses Unterfangen war Guido Schmidlin wie kaum ein anderer gerüstet. Seit seiner Untersuchung Hölderlins Ode: Dichterberuf gehörte er zu den führenden Hölderlin-Forschern und Kennern des Deutschen Idealismus. Mit seinem Versuch zur dichterischen Vernunft (Bern: Francke Verlag, 1973) legte er einen philosophisch-poetologischen Entwurf vor, in dem er kühne intermediale und intertextuelle Verbindungen herstellte und neue Konstellationen zwischen Philosophie, Literatur und bildender Kunst zum Vorschein brachte und beschrieb.

Auch das Giordano Bruno-Buch ist weit ausgreifend in seiner Anlage. Nicht nur wird die philosophische Vorgeschichte von Brunos Denk-Projekt freigelegt: die Abwertung der Aisthesis, die Ablehnung der aristotelischen Tradition und die neue Etablierung der Mathesis im Namen Platons. Und nicht nur wird der zeitgenössische Kontext packend dargestellt: Da findet man Giordano Bruno bei den Paracelsisten auf Schloss Elgg oder sieht ihn durch schlammige Londoner Strassen zu einer Debatte stapfen, da werden die feingesponnenen Intrigen des Inquisitors Bellarmin schmerzhaft genau nacherzählt. Stärker noch steht im Zentrum die genaue und erhellende Lektüre der zentralen Schriften Brunos. Und vor allem wird dann eine Nachgeschichte geschrieben: von der „Rezeption“ Brunos durch Descartes, Spinoza und Lessing – bis zu Schellings Dialog „Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge“, einem verrückt schwierigen philosophischen Text, mit dessen Interpretation und Klärung Schmidlins Buch seinen Abschluss findet.

Dieses Werk, das also weit mehr ist als eine Monografie zu Giordano Bruno, ist weit davon entfernt, sich in die laufende Forschung reibungslos einordnen zu lassen. Berücksichtigung neuester Publikationen, Zitierung nach der momentan besten Textlage, Verweise auf Leute, deren Wohlwollen günstig wäre, – daran fehlt es sehr oft. Wer das bedauert, soll aber nicht vergessen, dass so ein Werk unter den einschränkenden Anforderungen des akademischen Betriebs gar nicht hätte entstehen können. Nicht nur erscheint bei der geforderten Kadenz der (sich in der Regel wiederholenden) Publikationen eine „Versenkung“ in eine Sache so altmodisch wie dieses Wort: auch das Denkprojekt selbst – die Darstellung der „Epochenschwelle“ zu Beginn unseres heutigen Denkens – liegt so weitab der aktuell geförderten Forschungsschwerpunkte.

So trifft das Buch, das aus einer über viele Jahre sich hinziehenden Denkarbeit und unter Investition des grossen Teils eines Menschenlebens entstanden ist, jetzt, wo wir es veröffentlichen, nicht den Ton der aktuellen wissenschaftlichen Konversation. Wir stellen es hin wie einen erratischen Block, an dem von jetzt an jeder vorbeikommen muss, der sich mit Giordano Bruno beschäftigt. Manchen mag er wie ein versprengter Findling vorkommen, der als Hindernis am Wegrand liegt, aber den Verkehr auf der breiten Strasse dann zum Glück doch nicht wirklich behindert. Anderen wird er vielleicht die Richtung des weiteren Weges leicht, aber merklich verändern.

Heiner Weidmann

Der hier publizierte Text von Schmidlins Bruno-Buch ist bisher unveröffentlicht, abgesehen von zwei Kapiteln, die leicht verändert in den Nova Acta Paracelsica abgedruckt worden sind:

Guido Schmidlin, Giordano Bruno und die Zürcher Alchemisten und Paracelsisten, Nova Acta Paracelsica, N. F. 8 (1994), S. 57 – 86.

Guido Schmidlin, Apokalypse als Versprechen: Raphael Eglis Vision der ‚Instauratio magna‘, Nova Acta Paracelsica, N. F. 26 (2012/13), S. 53 – 68.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Zeitgenössische Rezeption

Bruno im Umkreis der Zürcher Alchemisten

Opus alchymicum

Instauratio magna scientiarum

Dädalus

Die Rosenkreuzer

Schatten der Ideen

Minimum und Kontinuum

Die italienischen Dialoge

La cena de le cereni

De la causa, principio e uno

De gli eroici furori

De l'infinito, universo e mondi

Spaccio della bestia trionfante

Der Prozess

Die Streitsache

Der Verlauf der Gerichtsverhandlungen

Bruno vor der Inquisition

Asinità

Postume Rezeption

Bruno und Descartes

Die kopernikanische Revolution der Denkungsart

Bruno und Spinoza

Spinozas Descartes-Interpretation

Von der Verbesserung des Verstandes

Brunos Dialog „De la causa“ und Spinozas „Kurze Abhandlung von Gott“

Die Umlenkung der Leidenschaften durch den amor intellectualis Dei

Von der Gewissheit der Propheten

Spinoza und Lessing

Schelling und Bruno

Schelling und Bruno

Philosophie der Kunst

Hölderlin-Exkurs

Schellings Dialog von 1802: "Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge.“

Philosophie der Mythologie und Offenbarung

Epilog

1. Einleitung

Das vorliegende Buch versteht sich als Deutungsversuch der geistesgeschichtlichen "Epochenschwelle" des 16.Jahrhunderts. Seine Deutung orientiert sich letztlich an psychoanalytischen Motiven und möchte die epochale Weltbildverschiebung der sogenannten "kopernikanischen Wende" als archetypisch gelenkten kollektiven Heilungsprozess erklären.

Diese angedeutete "soteriologische" Idee sollte hermeneutisch aus dem Paradigma der "kopernikanischen Wende" des 16. Jahrhunderts selbst entwickelt werden. So wird als zentrales Motiv im philosophischen Werk Giordano Brunos, des ersten Denkers der "kopernikanischen Wende", die Sorge um die Heilung der menschlichen Seele von der Melancholie, in welche sie durch den Einfluss der bösen Gestirne eines verkehrten Weltbildes geraten ist, herausgearbeitet, und es wird versucht, die massgebende Bedeutung der Rolle des Philosophen als "Arzt der Kultur" für die "kopernikanische" neuzeitliche Metaphysik bei Bruno und bei seinen Nachfolgern einsichtig zu machen.

Die Rezeption des kopernikanischen heliozentrischen Weltsystems und die Umformung der prima philosophia in eine diesem gemässe Gestalt durch Giordano Bruno ist der Gegenstand des ersten und zweiten Teils der Untersuchung. Der erste Teil geht den historischen Fakten und Vorgängen der "kopernikanischen" Wende nach, soweit sie Brunos philosophisches Werk direkt betreffen. Im zweiten Teil wird Brunos prima philosophia in der Fassung, die sie in den Londoner Dialogen erhalten hat, systematisch rekonstruiert. Der dritte Teil behandelt die Wirkungsgeschichte Brunos. Das Interesse gilt dabei vor allem der Rezeption Brunos durch Schelling.

Das Hauptstück des dritten Teils bildet demnach die Interpretation von Schellings Dialog "Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge". Schelling würdigt darin Giordano Bruno als den Begründer der neuzeitlichen Philosophie. Im Anschluss an die Interpretation des Dialogs - diese verlangt neben der Interpretation der Bruno-Interpretation Schellings auch die Interpretation der frühen Fassung von dessen eigenem philosophischen System - wird ein Blick geworfen auf die "positive Philosophie" des späten Schelling, seine "Philosophie der Mythologie und Offenbarung". Als für die Rezeptionsgeschichte Giordano Brunos nachweisbar relevante Philosophen kommen des weiteren Descartes, Spinoza und Lessing in Betracht. Sie stehen für die sukzessiven Momente der Ausgestaltung der pantheistischen Theologie der neuzeitlichen Metaphysik, die mit Giordano Bruno beginnt und mit dem späten Schelling um die Mitte des 19. Jahrhunderts endet.

Die "psychoanalytische" Ausrichtung der Untersuchung, die letztlich auf ein vertieftes Verständnis der geschichtlichen Epochenbildung im allgemeinen ausgeht, zielt also darauf ab, unter Anwendung hermeneutischer Mittel in einer authentischen Interpretation der "kopernikanischen" Metaphysik Brunos und Schellings ihre eigene Legitimation zu finden. Sie möchte sich verstehen als eine mögliche Weiterbildung von Motiven der Metaphysik der Neuzeit, welche nach der astronomischen "kopernikanischen Wende" aufkamen. Die Entdeckung des Unbewussten durch Freud und die religionsgeschichtliche Anwendung dieser Entdeckung durch C. G. Jung bilden nur eine weitere Phase der noch nicht zur Ruhe gekommenen "kopernikanischen Wende".

Ernst Cassirer machte in seinem (A. von Warburg gewidmeten) Werk aus dem Jahre 1927 "Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance" der Verkennung der epochalen Leistung Giordanos Brunos ein Ende. Er erkannte in ihm den Fortsetzer der von Platon ausgehenden Metaphysik des Nicolaus Cusanus und den Innovator, dem es gelang, die im Entstehen begriffene "kopernikanische", d. h. mathematische Naturwissenschaft in sein Denken aufzunehmen. So erscheint Bruno bei Cassirer als der Vorläufer von Galilei, Descartes, Spinoza und Leibniz. Schon bei Dilthey, in den Bruno gewidmeten Kapiteln von "Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation", war eine neue systematische Aufmerksamkeit auf Brunos Philosophie festzustellen. Mit Bruno begann nach Dilthey die Geschichte des neuzeitlichen Pantheismus, die schliesslich im System von Schellings Spätphilosophie kulminierte; in Brunos "grossen Divinationen" zeichnete sich nach Dilthey zuerst in Umrissen ab, was im System Spinozas für die Folgezeit bis hin zu Schelling und Schopenhauer wegleitend werden sollte. In Spinozas "Ethik" entdeckt Dilthey die Grundgedanken Brunos, erkennt er "Bruno in Spinoza". (S.333, Bd. II, Ges. Schriften 1957).

Ernst Cassirer verdanken wir auch den Hinweis auf die grosse Bedeutung von Schellings Spätphilosophie, der "Philosophie der Mythologie". Zwar vermochte auch er das lang verkannte Spätwerk nicht auf Anhieb zu würdigen. Noch 1920 im dritten Band von "Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit" fällt er ein generelles Verdikt über dasselbe. Die entscheidende Selbstkorrektur findet sich jedoch im 1950 postum veröffentlichten vierten Band desselben Werkes. Schelling wird jetzt gewürdigt als der Entdecker des "für das Verständnis des Mythos grundlegenden Prinzips", das durch den Einbezug der Phänomene des Unbewussten in die Psychologie und Anthropologie zu einer sukzessiven Revolutionierung der Geisteswissenschaften führen sollte.

Die Neubewertung des späten Schelling durch Cassirer ist ermöglicht durch seine eigene Hinwendung zur Erforschung des mythischen Denkens im zweiten Band der "Philosophie der symbolischen Formen" (1924). Cassirer geht in der "Einleitung", die schon mit dem Titel "Das Problem einer „Philosophie der Mythologie“" den Bezug zu Schelling betont, zustimmend auf Schellings Auffassung der Mythologie ein, die er im Wesentlichen mit ihm teilt. In den zwanziger Jahren liess Cassirer die ausschliessliche Orientierung an Kant fallen und öffnete sich dem "irrationalen" Problem des "unbewussten Denkens", der "Tiefenseele" als Urheberin der Gegenstände, denen er sich in den ersten beiden Bänden der "Philosophie der symbolischen Formen" zuwendet: Sprache und Mythos, die beiden Symbol-Schöpfungen des Unbewussten. Cassirer stand in dieser Zeit in engem Kontakt und in fruchtbarer Zusammenarbeit mit den Forschungen der Bibliothek Warburg in Hamburg.

Die vorliegende Untersuchung schreibt der Tatsache, dass Schelling in seinem Dialog "Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge" Giordano Bruno als den Begründer der neuzeitlichen Metaphysik für sich in Anspruch nimmt, mehr Bedeutung zu, als dies bisher der Fall war. Im Jahr der Entstehung des Dialogs "Bruno", 1802, fühlte sich Schelling, inmitten des geistigen Kreises von Weimar, als Dozent an der Jenaer Universität und Gesprächspartner der führenden Köpfe der Frühromantik, auf der Höhe der Zeit. Er sah die Stunde gekommen und glaubte sich berufen, dieser Zeit die ihr entsprechende Metaphysik und damit zugleich der altüberlieferten Metaphysik die endgültige systematische Form zu geben. Der Dialog "Bruno" ist Schellings erste vollumfängliche Systemskizze, die alle Teile seiner Philosophie, die er bis anhin in gesonderten Studien bearbeitete, in ihren Um- und Grundriss zusammenfügt. Es handelt sich deshalb bei Schellings Berufung auf Bruno nicht um die rhetorische Geste des Spätergeborenen, sich eine lange Ahnenreihe zu geben, sondern um Einsicht, um ein plötzliches Gewahrwerden der epochalen Leistung von Giordano Bruno. Wie Platon in seinem kosmologischen Spätdialog dem Pythagoräer Timaios als Hauptredner das Wort lässt, um an Pythagoras als den Begründer der von ihm weitergeführten mathematischen Betrachtung des Kosmos zu erinnern, wie Giordano Bruno selbst den platonischen "Timaios" der literarischen Form nach zum Vorbild seiner kosmologischen Londoner Dialoge nimmt, so tritt in Schellings Dialog Giordano Bruno auf als der Archeget des neuzeitlichen metaphysischen Pantheismus. Das tiefe Verstehen Schellings kommt aus der von ihm noch immer mit Bruno geteilten geistigen Erschütterung, welche der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild für den neuzeitlichen Menschen bedeutete.

Bruno und Schelling stehen für die früheste, keimhafte und die späteste, ausgereifte Systemgestalt der neuzeitlichen "kopernikanischen" Metaphysik. Die Parallelisierung der beiden Konzeptionen gestattet es, die innere Dimension der Metamorphose zu ermessen, welche diese Metaphysik im Verlauf von zwei Jahrhunderten erfuhr. Die Tatsache ihrer sukzessiven Ausbildung lenkt den Blick auf Fragen ihres geschichtlichen Wesens und damit auf das Problem ihrer Rolle bei der Entstehung der geschichtlichen Epoche der Neuzeit, schliesslich, wie angedeutet, auf die allgemeine geschichtsphilosophische Frage nach den Gründen der geschichtlichen Epochenbildung.

In Schellings Werk nimmt der Pantheismus, der mit Giordano Brunos Gleichsetzung von Gott und unendlichem Universum einsetzte - deus sive natura - eine Wendung hin zur Geschichtsphilosophie. Schelling brachte die rationale Theologie der Metaphysik mit den in der Geschichte von den Religionen erzeugten Gottesvorstellungen zur Deckung und versuchte zu zeigen, dass der spekulative Pantheismus das Resultat nicht nur der philosophischen Spekulation, sondern auch das Ziel der religionsgeschichtlichen Entwicklungen sei, die zuletzt alle in eine menschheitliche "philosophische Religion" einmündeten. Er sah seine persönlichste Berufung darin, den Anschein der rohen Unvernunft, der in der Vielfalt der religionsgeschichtlichen Phänomene, in ihrem "Polytheismus", zu herrschen scheint, zu beseitigen:

eben in dieser scheinbaren Unvernunft Vernunft, in dem sinnlos Scheinenden Sinn zu entdecken, und zwar nicht, wie dies bisher allein versucht worden ist, vermöge einer willkürlichen Unterscheidung, so nämlich, dass irgend etwas, das man sich als vernünftig oder sinnvoll zu behaupten getraute, als das Wesentliche, alles übrige aber bloss als zufällig erklärt, zur Einkleidung oder Entstellung gerechnet wurde. (Bd. 6 S. 222)

Die in diesem Satz ausgesprochene Absicht und das wahrhaft epochale Unterfangen ihrer tatsächlichen Umsetzung in einer "Philosophie der Mythologie und Offenbarung" impliziert letztlich auch das Eingeständnis des Philosophen, dass der rationale Logos der Philosophie eine metamorphe Gestalt des irrationalen Mythos sei.

Schelling stellt in seinem umfangreichen Spätwerk, in seiner "zweiten", "positiven", d. h. geschichtlich-empiristischen Philosophie die Genealogie des abendländischen absoluten Monotheismus dar, der aus dem griechischen Polytheismus und aus dem zu diesem in Opposition stehenden jüdischen Monotheismus zu gleichen Teilen hervorging. Daran fügt er die Deutung der Metaphysik und ihrer rationalen Theologie als Voraussetzung für die notwendige Transformation des christlichen Offenbarungsglaubens in die geahnte und voraus entworfene "philosophische Religion" der Menschheit. Schellings soteriologische Geschichtsphilosophie integriert die Gesamtheit des christlichen Heilsdramas in den grösseren Zusammenhang einer menschheitlichen Anthropogonie.

Mit seinem späten geschichtsphilosophischen Unternehmen löst Schelling das Versprechen ein, das schon in seinen frühen Systementwürfen mehr oder weniger explizit enthalten und ausgesprochen war, nämlich, im Anschluss an Kants "Kritik der Urteilskraft", die Welt der Erfahrung nach dem kausalen mathematischen und nach dem ästhetisch-teleologisch-organisch-genetischen Naturbegriff, anders gesagt: Gott, Natur und Geschichte in einem einzigen System zu vereinigen.

Die mythologische Einbildungskraft und das rationale Wissen erscheinen in dieser "genealogischen" Betrachtungsweise als zwei "Potenzen" ein und desselben Bewusstseins. Psychoanalytisch gesprochen behauptet Schelling die funktionale Einheit des unbewussten und des bewussten Denkens. Wenn die moderne Metaphysik-Kritik das metaphysische Denken unter Sinnlosigkeits-Verdacht stellt, so sollte man diesem Verdacht vielleicht begegnen wie Schelling demjenigen gegenüber der Mythologie, wie S. Freud demjenigen gegenüber der Symbolik des Traumes, wie C. G Jung dem gegenüber der Alchemie der vorwissenschaftlichen Jahrhunderte, wie die neuere Ethnologie dem gegenüber den Verhaltensmustern der archaischen Menschheit - mit der Aufforderung also , "in dieser scheinbaren Unvernunft die Vernunft, in dem sinnlos Scheinenden Sinn zu entdecken."

Auch Brunos "kopernikanische Wende der Denkungsart", seine neue Anordnung der Prinzipien der prima philosophia, hat eine explizit religionsgeschichtliche Komponente. Wenn Bruno für sich das Recht der "libertas philosophica" beansprucht, geht es ihm nicht nur darum, dem besseren Weltverständnis der kopernikanischen Astronomie zum Sieg zu verhelfen, sondern es geht ihm auch darum, die dogmatischen Zwänge des mythischen Bewusstseins seiner Zeit aufzulösen, wie Lukrez von Epikur sagte, dass er die Menschen von der Götterangst befreit habe. Die von Bruno eingenommene Haltung des religiösen Aufklärers, diejenige der europäischen Aufklärung der auf ihn folgenden Jahrhunderte präfigurierend, wird durch Schellings innovatorische Erweiterung des Gebietes der Philosophie um den Bereich der religiösen Imagination nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt und legitimiert. Zugleich wird deutlich, dass durch diese Erweiterung, die nicht bloss die wissenschaftliche Identifikation eines neuen Gegenstandes bedeutet, sondern die sich selbstbezüglich auf die Differenzierung der Potenzen der menschlichen Intelligenz bezieht, das philosophische Bewusstsein selbst eine Modifikation erleidet. Es nimmt zur Kenntnis, dass es in ihm selbst sich mit seinem andern, dass es als ratio sich mit der imaginatio, als Logos mit dem Mythos zu schaffen macht.

Die epochalen Denker wie Bruno und Schelling überwinden in sich und für ihre Zeit die unbewussten Projektionen der jeweiligen Weltbilder ihrer Zeit, unbewusst numinose und somit für absolut seiend gehaltene Objektivationen werden in die Aktivität des schöpferischen Ich zurückgeholt und werden in dessen Subjektivität wieder zu formbarem Stoff. Die originellen Denker befreien das kollektive Bewusstsein vom Zwang herrschender Archetypen und revolutionieren so das Weltbild der Epoche. Die Übermacht des dominanten Archetypus kann aber niemals von der bewussten Tätigkeit des "welthistorischen Individuums" allein und ausschliesslich gebrochen werden. Es hat, wie jedes Individuum, als Monade am Bewussten und am Unbewussten in gleichem Masse Anteil. So kann der Weltbildwechsel der Aufklärung nicht zur Alleinherrschaft der ratio führen, sondern er wird zwar das Ich seine Freiheit gegenüber dem "niedersteigenden Archetyp" erfahren lassen, dessen Macht im Abnehmen ist, weil der aufsteigende Archetyp sie ihm entzieht. Dem aufsteigenden Archetyp aber als dem zukunftsvollen weiss sich das im Übergang, in der "Wende", freigewordene Bewusstsein geneigt und es wendet sich ihm frei-bewusst zu in bild- und ideenschaffender Selbstbejahung.

2. Zeitgenössische Rezeption

Bruno im Umkreis der Zürcher Alchemisten

Dass Giordano Bruno sich in Zürich aufhielt, steht fest. Die näheren Umstände seines Aufenthaltes sind aber wenig geklärt und werfen Fragen auf, zu deren Beantwortung im folgenden einige Vorschläge erscheinen. Nicht zu bezweifeln ist die Aussage, die der Buchhändler Brictanus beim venezianischen Prozess am 26. Mai 1592 machte:

Io conosco il detto Giordano Bruno Nolano; e l’ho conosciuto prima a Francoforte già da tre anni sono, e doppo a Surigo in terra de Sguizzeri, ed ultimamente qui a Venezia... E doppo in Sorigo lo trovai per passagio a caso e li parlai… ed in Surigo liggeva, per quanto lui mi disse, a certi dottori non so che lezioni se fossero lezioni de filosofia o d’altra scienza, perché non gli domandai, né mi fu detto da lui né da altri. 1

Einige zusätzliche Spuren sind zu nennen. Eine autobiographische Anspielung von Bruno findet sich in der “Summa terminorum metaphysicorum”2 im Abschnitt XLV Ubi: der Begriff des Ortes, heißt es da, werde gebraucht: nempe tamquam in loco communi, quomodo sum Tiguri vel in Germania vel in domo3. Auch der Herausgeber der Summa, Raphael Egli, zur Zeit ihrer Erstveröffentlichung in Zürich im Jahre 1595 Diakon am Grossmünster, bezeugt die Gegenwart Brunos indirekt, wenn er im Vorwort seine persönliche Eigenart schildert:

Stans pede in uno, quantum calamo consequi possis, simul et dictare et cogitare; tam rapido fuit ingenio et tanta vi mentis4.

Schliesslich erklärt sich aus dem Zürcher Aufenthalt Brunos die Widmung des Werkes “De imaginum, signorum et idearum compositione”, erschienen in Frankfurt im Herbst 1591:

D. Heinrico Eincellio Elcoviae Domino5. Heinrich Hainzel war von 1590 bis 1597 im Besitz des eine knappe halbe Tagereise von Zürich entfernten Schlosses Elgg6.

Auffällig ist der Umstand, dass Bruno selbst seinen Aufenthalt in Zürich beim venezianischen Prozess verschweigt und dass er, nach dem Gerichtsprotokoll zu schliessen, darauf hin auch nicht weiter befragt wird. Es verstand sich wohl von selbst: Zürich lag als Zwischenstation am Weg von Frankfurt nach Venedig, wenn Bruno die Alpen auf einem der Bündnerpässe überquerte; die Reise ging dann von Zürich aus weiter über Chur und Chiavenna. In einer andern Hinsicht ist aber die Tatsache, dass Bruno während des Prozesses seinen Zürcher Aufenthalt nicht erwähnt, von Bedeutung. Noch immer hält sich in der Bruno-Biographik die Annahme, er sei von Zürich aus im Frühjahr 1591 ein zweites Mal nach Frankfurt zurückgekehrt. Ein solche Rückkehr ist nach der Verweigerung des Gesuchs Brunos, bei seinem Verleger Wechel in Frankfurt Wohnsitz nehmen zu dürfen7, von Seiten der Stadt Frankfurt und nach der plötzlichen Abreise im Februar 91, die vermutlich durch die Androhung der Ausweisung durch den Frankfurter Rat veranlasst war, unwahrscheinlich.

Der Verleger deutet in einer an Brunos Statt verfassten kurzen Vorrede auf prekäre Umstände bei diesem unvorhergesehenen Aufbruch: Bruno muss seine Arbeit an der Korrektur des Druckes der lateinischen Trilogie vor Abschluss des ersten Teiles im Stich lassen. Er wird dann auch die Widmung an Herzog Heinrich Julius von Braunschweig erst in dem ein halbes Jahr später im Herbst 91 veröffentlichten 3. Teil anbringen.

Die Auffassung, Bruno sei nochmals von Zürich nach Frankfurt zurückgegangen, wird schon von Christoph Sigwart8, der die Verhältnisse zum ersten Mal gründlich untersuchte, bezweifelt. Die Herausgeber der lateinischen Werke folgten ihm jedoch nicht, obwohl Sigwart sich auf die Zeitangaben, die Bruno beim Prozess macht, berufen kann. Sie hielten sich an die Aussage Brunos, er habe die briefliche Einladung nach Venedig von Mocenigo in Frankfurt erhalten, was auch der Aussage des Briefschreibers entspricht, er habe diese an die Frankfurter Adresse, das Kloster der Karmeliter, geschickt. Der zuletzt erwähnte Umstand hat aber wenig Gewicht: der Brief Mocenigos konnte Bruno ebensogut über Frankfurt in Zürich erreichen. Dass Bruno selbst Zürich nicht erwähnt und im vorliegenden Fall dafür Frankfurt einsetzt, ist an sich bei der vor den Richtern gebotenen Vorsicht nicht erstaunlich, kann aber als tieferen Grund noch zusätzlich den Plan einer späteren Rückkehr in die Schweiz, nach Zürich oder Basel, vielleicht über Zürich nach Basel, haben. So wäre der Name der Stadt Frankfurt, den Bruno vor Gericht anführt, als er davon spricht, er habe die Absicht gehabt, Italien wieder zu verlassen und wieder in den Norden zurückzugehen, was durch den Überfall Mocenigos eben vereitelt worden sei, stellvertretend für die geeignetste Stadt seiner Wahl eingesetzt9.

Die Plausibilität der Annahme, Bruno sei direkt von Zürich aus nach Venedig gereist und demnach von Ende Februar bis Juli oder August 1591 in Zürich geblieben, wird erhöht durch weitere Faktoren, die sich aus der Situation seines Zürcher Aufenthalts ergeben. Am 12. April erwähnt Brunos Schüler Hieronymus Bessler in einem Brief, der die letzten Tage Brunos in Helmstedt und seine dortigen Studien und laufenden Arbeiten betrifft, ein Werk “ad imagines quod attinet”, womit offensichtlich “De imaginum compositione” gemeint ist10.

Das Werk muss also in den Monaten danach entstanden sein und dürfte erst in der Zürcher Zeit seinen Abschluss gefunden haben. Da es im Herbst 1591 zusammen mit Teil 2 und 3 der Trilogie bei Wechel erschien, muss erklärt werden, wie das Manuskript in die Hand des Verlegers in Frankfurt gelangen konnte. Bruno braucht nicht selbst sein Überbringer gewesen zu sein. Anfangs Mai 1591 liess Heinrich Hainzel, dem das Werk gewidmet ist, seinen jüngeren Bruder Peter Hainzel zusammen mit dem Tutor, dem Zürcher Hebraisten Kaspar Waser, unter dessen Obhut er seit zwei Jahren schon in Basel studiert hatte, nach Schloss Elgg kommen. Am 24. Mai brachen die beiden auf zu einer im ganzen zwei Jahre dauernden Reise, zuerst nach Norden, bis nach London und Edinburgh, dann nach Süden, bis Rom und Neapel.

Am 4. Juni waren sie, wie im Itinerar vermerkt ist11, in Frankfurt am Main. Auch der Text der Widmung der Trilogie an Herzog Heinrich Julius konnte bei dieser Gelegenheit dem Verleger überbracht werden. Die beiden jungen Reisenden hätten die Manuskripte auf Schloss Elgg aus der Hand Brunos selbst entgegengenommen. Dass die Reise von Hainzel und Waser mit dem Schicksal Brunos in einem nicht zufälligen Zusammenhang steht, geht weiter aus der Tatsache hervor, dass sie um die Zeit des Jahreswechsels 92/93 in Venedig weilten, zum Zeitpunkt also, da Bruno von Venedig nach Rom überführt werden sollte, und dass sie kurz darauf (über Padua) ebenfalls in Rom anlangten. Ihr mehrwöchiger Aufenthalt in Rom dürfte ihnen Gelegenheit verschafft haben, sich vom Ergehen Brunos in der römischen Gefangenschaft ein genaues Bild zu machen.

So zeigt sich, dass bei der Annahme eines längeren Aufenthalts Brunos in Zürich, bis in den August des Jahrs 1591 hinein, sein Aufbruch nach Venedig ein von der verbreiteten Auffassung, es habe sich um ein kopfloses Unternehmen gehandelt, recht verschiedenes Ansehen gewinnt. In überzeugender Weise hat Giovanni Aquilecchia die Intentionen Brunos bei seiner Rückkehr nach Italien gedeutet12. Die Tatsache, dass Bruno nach seiner Ankunft zunächst nur kurze Zeit in Venedig in „camera locanda“ für sich wohnte und sich alsbald für Monate nach Padua begab, ist nach ihm “indice che non già la casa del Mocenigo, bensì l’Università patavina fu la meta reale del suo ultimo viaggio”. Es ergibt sich so ein einsichtiger Ablauf für die Lebensgeschichte dieser Jahre: auf die Lehrtätigkeit in Helmstedt folgt der Aufenthalt in Frankfurt, auf einige Wochen veranschlagt, wie das Gesuch Brunos an den Rat der Stadt bezeugt, die genügen mochten, um den Druck der Trilogie zu begleiten.

Nach der erzwungenen vorzeitigen Abreise setzte Bruno die Route, die man im ganzen als seinen Rückweg nach Italien bezeichnen mag, fort. Er benötigte aber den langen Aufenthalt in Zürich für die Vorbereitung der Vorlesungstätigkeit in Padua, wohin ihm sein Schüler Hieronymus Bessler vorausgereist war, der in dieser Zeit die künftigen Hörer Brunos, vorwiegend deutsche Studenten, auf seine Ankunft vorbereiten konnte13. In Padua war der Lehrstuhl für Mathematik seit vier Jahren verwaist, so dass eine Ernennung Brunos zum Dozenten im Bereich des Möglichen lag. Dass diese nicht erfolgte oder in Aussicht gestellt wurde, dürfte dazu geführt haben, dass Bruno seine Vorlesungstätigkeit in Padua so bald wieder abbrach und sich nach Venedig begab. Ein Jahr später wurde der während vier Jahren vakante mathematische Lehrstuhl mit Galileo Galilei wieder besetzt. Auch im Frühjahr 1592, als Bruno wieder in den Norden zurückzukehren gedachte, scheint Hieronymus Bessler ihm als Quartiermacher vorauszureisen. Im April immatrikulierte er sich an der Universität Basel14.

Zwischen den Zürcher Freunden Brunos und einem Kreis von Gelehrten in Basel bestanden enge Kontakte. Bruno fand für seine Italienpläne in Zürich den denkbar besten Boden. Man hatte hier die Thronbesteigung von Henri IV. mit grosser Anteilnahme verfolgt, von einem Mitglied der Gruppe von Professoren am Carolinum, vor denen Bruno seine Vorlesungen hielt, wurde die helvetische Gratulationsadresse zur Thronbesteigung verfasst, von Wilhelm Stucki, dem häufigsten Gesprächs- und Briefpartner Heinrich Hainzels15. Dieselbe politische Gesinnung herrschte zu dieser Zeit in Venedig16, die protestantischen Schweizerstädte und Graubünden hielten die Kommunikationswege zwischen Frankreich und Venedig offen. Graubünden hatte 1554 mit der Republik eine Kapitulation abgeschlossen. Die Verhandlungen führte Friedrich von Salis. Seither befand sich in Venedig ein bündnerischer Konsul. Fünfzig Jahre später, 1603, kam dann die förmliche Allianz zustande, zu deren vertraglicher Regelung die Offenhaltung der Pässe und andererseits die Niederlassungsfreiheit und die religiöse Duldung der Protestanten gehörte. Henri IV. war der eifrigste Förderer des Bündnisses.

Der Weg, den Bruno von Zürich nach Venedig nehmen musste, führte über Chiavenna, wo der italienische Pfarrer Scipio Lentulus amtierte. Er war mit Raphael Egli, wie unter anderem ein Briefwechsel dieser Jahre zeigt, eng befreundet und in beständigem Kontakt; er war selbst früher aus der Gefangenschaft in Neapel geflohen, zuerst nach Genf, dann, über eine Zwischenstation in Piemont, nach dem Veltlin gelangt und seit 1569 Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Chiavenna17. Bruno hatte also hier einen Rückhalt und hätte jedenfalls in beiden Reiserichtungen eine offene Tür und gebahnte Wege angetroffen.

Raphael Egli versah Brunos “Summa terminorum metaphysicorum” bei der Herausgabe mit einer Widmung an Friedrich von Salis, Sohn des Johannes und Enkel des genannten Unterhändlers in Venedig. Bei der grossen Bedeutung, die Bruno selbst seinen Widmungen verlieh, ist auch hinter derjenigen Raphael Eglis an den jüngeren Friedrich von Salis ein guter Grund zu vermuten. Egli spricht diesen als seinen Schüler an und attestiert ihm, anspielend auf den logischen Inhalt der “Summa”, eine ausgezeichnete, frühreife logische Befähigung. In der Zeit seiner Lehrtätigkeit an der Schule für die Söhne der in den Südtälern amtierenden bündnerischen Komissare in Sondrio, deren Gründer und Leiter er war, hatte auch Egli einen Abriss der Logik verfasst18.

Fredericus von Salis muss dort sein Schüler gewesen sein, da sein Vater, der in der Widmung ebenfalls erwähnte Johannes, in den Jahren 83/84 als Vikar des Veltlins amtete und sein zehnjähriger Sohn demnach die Schule in Sondrio besucht haben wird. Vielleicht war er es, der Bruno im August des Jahres 1591 über einen der Bündnerpässe nach Chiavenna geleitete. Im Zeitpunkt der Edition der “Summa”, im Jahre 1595, weilte Friedrich von Salis aber in Paris und stand in seiner Eigenschaft als Almosenier des Königs in naher Verbindung zum Hof von Henri IV. Dadurch erhält die Widmung ein zusätzliches Interesse: Egli sagt darin, nach einem langen Gespräch, das er mit Vater und Sohn Salis im Herbst des Jahrs 1594 über Bruno geführt habe - “multus sane de Iordano sermo” - verlange dessen Werk nun vom Sohne dringend, als hätte es darauf ein Anrecht, dass es unter seinem besonderen Schutz an gebildete Leser weitergegeben und empfohlen werde - “hoc ipsum veluti munus, quasi quodam iure suo, a me flagitare visum est, quod tuo patrocinio literatis hominibus commendaretur”. Die Pflicht zur Widmung dürfte vor allem die Pflicht des mit der Widmung Bedachten meinen, sich beim König zugunsten des eingekerkerten Giordano Bruno bei Papst Clemens VIII. zu verwenden19. So würde auch Eglis Bemerkung, dass sich Bruno in der Summa nicht sehr weit von Aristoteles entferne - “non magnopere a doctrina Peripateticorum abhorrentem” - als captatio benevolentiae verständlich und würde sich weiter der Umstand erklären, dass in der Ausgabe von 1595 der wichtige Teil “Praxis descensus seu applicatio entis”, welcher der Inquisition Anlass zu weiteren Anklagen hätte geben können, weggelassen ist.

Der Inhalt des Gesprächs Eglis mit den Herren von Salis im Herbst 1594 in Graubünden dürfte sich vor allem auf die Möglichkeiten bezogen haben, das Schicksal Brunos in Rom im Gefängnis der Inquisition zu beeinflussen. Wenn die verschiedentlich geäusserte Vermutung zutrifft, dass es sich bei der “Summa terminorum metaphysicorum” um jenes Werk - oder um eine Vorstufe davon - handle, das Bruno dem Papst zu widmen gedachte20, verstärkt sich noch der Bezug zu Papst Clemens VIII. Für eine Intervention des Königs wäre die Summa dienlich gewesen. Auch Friedrich von Salis, dessen Verständnis und Liebe zu Brunos Werk Egli ausdrücklich erwähnt, hatte um diese Zeit in Paris, nach dem Vorbild des Königs den Glaubenswechsel vollzogen. Es zeigt sich, wie das Vorgehen Eglis bei seiner Edition auf die Situation, in der sich Bruno befand, Rücksicht nahm und wie er sie auf Brunos eigenes Verhalten vor der Inquisition abstimmte. Dabei kann man mit der stets vorhandenen Möglichkeit rechnen, dass über Chiavenna und Venedig auch Nachrichten von den Zürcher Freunden zu Bruno nach Rom gelangten und umgekehrt.

1 p.74In: V. Spampanato, Documenti della vita die Giordanoo Bruno, Documenti veneti, Firenze 1933.

2 Jordani Bruni Nolani Opera latine conscripta, 3 vol, Napoli 1879-91

3 ... nämlich im gewöhnlichen Sinn, wie ich in Zürich oder in Deutschland oder zuhause bin.

4 Op. lat. I, 3, p. 5 ..wie im Fluge, so schnell du mit der Feder folgen konntest, diktierte und dachte er zugleich, von so raschem und kraftvollem Geist war er.

5 Op. lat. II, 3, p. 89

6 In einem Brief an Wilhelm Stucki, der wie Raphael Egli Professor am Zürcher Carolinum war, verbindet Hainzel die Lage des Schlosses, das er „eremum meum“ nennt (in eremo meo habitans innocens et omnibus innoxius), mit der Devise: lathe biosas. (ZB Zürich, Msc., Simmlersche Sammlung, Bd. 159, Brief vom 16. März 1591). Zu dieser Zeit weilte Bruno bereits in Zürich oder schon auf Schloss Elgg. Christoph Sigwart, der sich zuerst mit Brunos Zürcher Aufenthalt näher befasste, musste feststellen: „Leider ist es mir nicht gelungen in dieser Correspondenz eine Äusserung über Bruno zu entdecken.“ (Kleine Schriften, Erste Reihe, Freiburg i. Br., 2.Auflage 1889, S.124). Dieses negative Resultat gilt auch für meine diesbezügliche Nachforschung im Jahre 1993.

7 Senatsprotokoll vom 2. Juli 1590: Jordanus Brunus supplici scripto a senatu petit, ut sibi liceat aliquot septimanarum spacio in aedibus Wecheli typographi commorari. (Op. Lat. III, XVIII)

8 Christoph Sigwart, Die Lebensgeschichte Giordano Brunos, Tübingen 1880, S. 28 ff.

9 veneti Documenti

10 Op. lat. III, XIV/XV

11 Msc. L 461, ZB Zürich

12 Giordano Bruno, Praedilectiones geometricae et Ars deformationum. Testi inediti a cura di Giovanni Aquilecchia, Roma 1964, Nota introduttiva, p. XI /XII

13 l. c. p. XIII

14 Op. Lat., p. XXXVI

15 Msc. S 245, ZB Zürich

16 Vgl. F. A. Yates, Collected essays, vol. II, Bruno and Campanella on the French monarchy, London 1983, p.133

17 Vgl. Emil Camenisch, Geschichte der Reformation und Gegenreformation in den italienischen Südtälern Graubündens, Chur 1950. Ferner: Giampaolo Zucchini, Scipione Lentolo, Pastore a Chiavenna. Notizie dal suo inedito epistolario 1567-1599; in: Riforma e società nei Grigioni, Valtellina e Valchiavenna tra ' 500 e ' 600, Milano 1991

18 Vgl. N. v.Salis, Die Convertiten der Familie von Salis-Soglio, Luzern 1892

19 Op. lat. I, 4, p. 6

20 G. Aquilecchia im Vorwort zur Ausgabe der „Praedilectiones geometricae“ und E. Canone in seiner „Nota su Raphael Egli“ in der Neuausgabe der „Summa terminorum“, Roma 1989

Opus alchymicum

Es wäre falsch, den Aufenthalt Brunos in Zürich nur als Station auf dem Wege nach Padua zu betrachten, vielmehr ist ihm die Stadt zu einem weiteren Ort seiner “kopernikanischen” Lehrtätigkeit im nordischen Exil geworden. Unter den in Frage kommenden Empfängern von Brunos neuen Lehren ragt der spätere Chorherr und Professor für Theologie am Carolinum Raphael Egli hervor. Durch seine frühere Tätigkeit als Schulleiter in Sondrio und die damit gegebene Kenntnis der italienischen Verhältnisse ist er für den näheren Umgang mit Bruno prädestiniert. Dies gilt aber vor allem auch von seinen alchemistischen Interessen. Er ist das führende Mitglied eines Kreises von alchemistisch tätigen, sich auf Paracelsus berufenden Gelehrten und Ärzten, deren Verbundenheit mit Paracelsus und seinem Werk noch auf einer Tradition persönlicher Kontakte beruht. Bartlome Schowinger, bei dem Paracelsus in St.Gallen während seines dortigen Aufenthalts 1531/2 wohnte, lebte bis zum Jahre 158521. Von seinen Söhnen, mit denen Egli in Verbindung stand, wurde die paracelsische Tradition des gelehrten Handelsherrn, des “divis philosophus”22 weiterhin hochgehalten.

Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zwischen Bartlome Schowinger und dem Schaffhauser Bürgermeister Johann Conrad Meyer23, zu dessen Freundeskreis wieder Raphael Egli und Heinrich Hainzel gehörten. Meyer stand in freundschaftlichem Kontakt mit Basilius Amerbach in Basel, wo in den Jahren 1591/92 auch der jüngere Bruder von Hainzel studierte. In Basel erschienen gerade in diesen Jahren, von 1589 bis 91, die Bände der Huserschen Paracelsus-Ausgabe. Durch Raphael Egli befand sich Bruno im Jahre 1591 in Zürich in einem dichten Beziehungsgeflecht im Zeichen des Paracelsus. Alchemistische Experimente wurden mit besonders grossem Aufwand auf dem Schloss Hainzels in Elgg, aber auch in den nahen Städten durchgeführt; sowohl Raphael Egli, wie Hainzel, wie Johann Conrad Meyer gerieten deswegen in den kommenden Jahren in finanzielle Verlegenheiten. Metalle aus den Bündner Bergwerken standen für die Forschungen zur Verfügung; mit dem Schloss Elgg war das Bergwerk am Gonzen bei Flums in den Besitz Heinrich Hainzels übergegangen.

Was hat Bruno im Kreis dieser Gelehrten, die auch die Zuhörer seiner Vorlesungen waren, gelehrt? Wie stellte er sich zur paracelsischen Medizin und zur paracelsischen Naturphilosophie, welcher seine Gesprächspartner anhingen? Hat diese unter seinem Einfluss eine ”kopernikanische Wendung” genommen? Hat Bruno seinerseits bei der Ausarbeitung seines Systems von seinen paracelsischen Freunden Anregungen empfangen? Der Umstand, dass sich Bruno in Zürich im Kreis von Anhängern des Paracelsus bewegt, bringt es mit sich, dass hier seine medizinischen Interessen in den Vordergrund treten. Bis zuletzt hatte Bruno in Helmstedt nach dem Zeugnis Besslers24 an der Medicina Lulliana gearbeitet. Im Sinne eines Vergleichs der lullischen Kunst mit der Medizin des Paracelsus könnte also die generelle thematische Linie von Brunos Forschungen in Zürich verlaufen sein.

Einige Daten legen eine derartige Vermutung nahe. Derselbe Brief von Hainzel an Kaspar Waser, der schon angeführt wurde im Zusammenhang mit der Reise von Waser und Peter Hainzel nach Frankfurt und Venedig, enthält auch die Bitte, Waser möchte die opera omnia Lulli in Basel für Heinrich Hainzel kaufen und nach Elgg bringen lassen25. In der Schobingerschen Bibliothek in St. Gallen, die für Bruno, Raphael Egli, Heinrich Hainzel leicht zugänglich war, befinden sich nach dem Katalog von 1545 folgende Titel von Raimundus Lullus: Arbor scientiae venerabilis, Ars inventiva veritatis, Contemplationes volumen I, Philosophia amoris eiusdem, Proverbia, Sacri Doctoris R. Lulli de secretis Naturae sive de quinta essentia libellus, Introductionum magnae artis generalis rev. doctoris ad omnes scientias utilissimum. Ferner sind im Schobingerschen Katalog verzeichnet: Arnoldi de Villa Nova Medici Opera (vermutlich identisch mit Arnaldi de Villa Nova medici acutissimi opera nuperrime revisa, una cum ipsius vita recenter hic apposita de philosophorum lapide); Wundarznei des Paracelsus; Agrippa von Nettesheim: In artem brevem Raimundi Lulli Commentaria, De occulta philosophia, De incertitudine et vanitate scientiarum declamatio invectiva; Albrecht Dürers Bücher von der Malerei; Marsilii Ficini Florentini Medici atque philosophi celeberrimi De Vita libri tres26. Auf die Frage des Inquisitors beim Venezianischen Prozess, ob Bruno häretische Bücher gelesen habe, antwortete er:

Io ho letto libri di Melantone, di Lutero, di Calvino e de altri eretici oltremontani, non già per imparar la loro dottrina né per valermene, stimandoli io più igoranti di me, ma li ho letti per curiosità; e questi libri mai li ho tenuti appresso di me, intendendo de quelli che ex professo trattano de materie contrarie e repugnante alla fede catolica, ché bene ho tenuto appresso di me altri libri de auttori dannati, come di Raimondo Lullio ed altri che hanno trattato di materie filosofiche27.

Welche Einstellung Bruno zu den angedeuteten Fragen hatte, als er in Zürich als Lehrer wirkte, lässt sich aus entsprechenden Ausführungen in früheren Werken, vor allem in der “Frankfurter Trilogie” ablesen. Von Bedeutung ist auch, dass er gerade jetzt während der Zürcher Zeit hauptsächlich von der Arbeit an seinem “lullischen” Hauptwerk “De imaginum compositione” beansprucht war, das er dem Schlossherrn von Elgg, dem praktischen Alchemisten und Betreiber des Bergwerks am Gonzen, Heinrich Hainzel, auch widmete. Über sein Verhältnis zu Paracelsus spricht sich Bruno in der “Oratio valedictoria” aus, indem er ihn mit Albertus, Cusanus, Copernicus als vierten in die Reihe der von ihm als Vorläufer beanspruchten deutschen Philosophen nennt28.

Da es sich bei Brunos Namensnennungen dieser Art nie um eine Berufung auf Autoritäten handelt, sondern um die Würdigung der einschlägigen Vorarbeit und des Ansporns, den er von einem Vorgänger empfangen durfte, folgt auf die Erwähnung jedes der vier Philosophen je auch eine kritisch-einschränkende Anmerkung: Albert ist zu sehr von der Autorität des Aristoteles eingenommen, Cusanus war in seiner Sicht eingeengt durch die Verpflichtungen seines geistlichen Amtes, Kopernikus war eher Mathematiker als Physiker, und Paracelsus entbehrte der “sobrietas”. Damit ist das Stichwort für Brunos Arbeit unter den Paracelsisten in Zürich gegeben: “mathematische”, “kopernikanische” Nüchternheit.

Der Name des Raimundus Lullus könnte dann für Brunos eigene aufklärerische Tendenz stehen, die ihn immer beherrscht, nicht nur dann, wenn sie thematisch wird, wie im “Spaccio della bestia trionfante” als Austreibung des “mythologischen Tiers” aus der Astronomie. Bruno hebt an der zitierten Stelle der Oratio die vier für ihn massgebenden Ansätze hervor, die er bei seinen Vorläufern fand und denen er sich verpflichtet weiss. Seiner gründlichen Schulung durch den Aristotelismus verdankte Bruno die begriffliche Schärfe, die ihm in der permanenten Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles selbst zugute kam. Auch er war, nicht weniger als Albertus und Thomas, Zeit seines Lebens ein Kommentator des Aristoteles, wenn auch in der Absicht der “Destruktion” des aristotelischen Weltbildes.

Von Cusanus übernahm Bruno den zentralen Begriff der “Grenze”, den Gedanken der Disproportionalität, der “Inkommensurabilität” von Unendlichem und Endlichem und damit die an der Mathematik orientierte Denkweise, die in kontradiktorischen Gegensätzen denkt und nicht nach Analogie und Idee im Sinne der Verzweigung von Gattung und Art wie bei Aristoteles verfährt.

Kopernikus befreite ihn durch das heliozentrische System von der Prävalenz der Wahrnehmung oder der sinnlichen Qualität. Paracelsus zuletzt vermittelte Bruno einen nichtaristotelischen Materie-Begriff, materia prima nicht als blosse Möglichkeit, als Bestimmbarkeit ohne eigene Bestimmtheit, sondern als bestimmende Kraft, sich äussernd in den drei ursprünglichen, den Elementen noch vorausliegenden Prinzipien, sal, mercurius und sulphur. Bruno bezeichnet mit den vier Namen seiner Vorgänger vier Komponenten seines Systems: die Kritik an den aristotelischen Kategorien und den damit verbundenen Wechsel in der Lehre vom Universum, den Übergang zur mathematischen Denkweise, die Anwendung derselben in der Astronomie und in der Chemie, die neue Auffassung der Materie als schöpferisches Prinzip oder als Kraft.

Ausführlicher äussert sich Bruno über Paracelsus an zwei Stellen seines Werkes: in “De lampade combinatoria Lulliana”, zur Zeit der Lehrtätigkeit in Wittenberg 1587 publiziert, und in “De monade”. An der ersten Stelle geschieht es im Zusammenhang einer ausdrücklichen Absichtserklärung, die Methode des Lull weiter auszubauen, wie dies schon Duns Scotus und Cusanus getan hätten und wie dies auch Paracelsus, mehr als er in seinen Werken eingestehe, getan habe; obwohl Bruno den Undank des Paracelsus Lull gegenüber vermerkt, dass er aus dem Leichentuch des Lull sich seinen Mantel und seine helvetischen Beinkleider geschneidert habe, ohne ihre Herkunft einzugestehen, feiert er die Leistung des Paracelsus, dem erst die Saat des Lull aufgegangen sei, da er dessen Methode zu neuer Anwendung gebracht habe: ad praxim revocans universa29.

Die Lehre von der Beziehung von Körper und Seele, die Lehre von der anima mundi oder von der Kraft des Feuers, und von den drei Prinzipien: sulphur, mercurius, sal - sei Paracelsus jedenfalls mit Lull gemeinsam. Es ist der Punkt, wo die Lehre des Aristoteles von der prima materia und von den vier (oder fünf) Elementen schon aufgegeben ist und damit auch das aristotelisch-ptolemäische kosmologische Paradigma und die aristotelische Methode der Naturforschung grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Die zweite Stelle, in “De monade”, im fünften Kapitel, das von der “tetras” handelt, gibt zu erkennen, auf welchem Weg Bruno zu einem neuen Begriff der Materie gelangte und was ihm dabei sein beständiger Umgang mit praktizierenden Alchemisten und Ärzten bedeutete:

Considera nos hic materiam primam non simpliciter ad physicae aristotelicae amussim capere, quae ad omnes naturales formas aeque respicit, et ab omnibus aeque distat. Sed ubi cum Chymicis sermocinamur, primam et indefinitam in genere illorum intellegimus. Aristotelicam illam ratio et intelligentia sola comprehendit: hanc vero natura percipit et usus, ubi spiritus ad substantiam inclinat mineralem: sicut alibi ad substantiam plantae, alibi ad substantiam animalis, alibique ad aliam disponitur atque disponit30.

Der Passus enthält die klare Absage an die spekulative Methode der Naturphilosophie und erklärt das Experiment zum konstitutiven Bestandteil der Forschung. An einer andern Stelle wird eine Aussage des Telesius zur Beschaffenheit des Feuers, obwohl inhaltlich zutreffend, von Bruno deswegen relativiert, weil sie nur spekulativ und nicht experimentell zustande kam31.

Im anschliessenden sechsten Kapitel von “De monade”, über die “pentas”, äussert sich Bruno ausführlich über magische Praktiken in der Medizin, im besonderen geht es um ein selbst magisches Gegenmittel gegen bösartige Einwirkungen magischer Art. Bruno verteidigt den usus des Paracelsus auf diesem Gebiet, insofern damit Heilerfolge tatsächlich erreicht werden, und verurteilt einerseits die Ablehnung desselben durch die “aristotelischen” Ärzte, anderseits kritisiert er den Gebrauch grober Magie und den blossen Aberglauben. Er gesteht denen, die nach dem Prinzip vorgehen, nichts zu gebrauchen, dessen Ursache sie nicht kennen, ein gewisses Recht zu, aber ebenso erinnert er daran, dass auch Hippokrates und Galen auf sogenannt magische Therapien zurückgegriffen hätten. Für Bruno liegt das Entscheidende darin, dass alle Wirkungen nach natürlichen Prinzipien erfolgen (fiat ordine provenire)32. Dazu passt auch die Antwort, die Bruno beim Prozess auf die Frage nach seinen magischen Beschäftigungen gibt:

Quanto alli libri di coniurazioni ed altri simili, io sempre li ho disprezzati e mai li ho avuti appresso di me, né li ho attribuito efficacia alcuna; quanto poi alla divinazione, particularmente quella che è dalla astrologia giudiziaria, ho detto e avuto ancor proposito di studiarla per vedere se aveva verità o conformità alcuna. E questo mio proponimento l’ho communicato a diversi, dicendo di aver atteso a tutte quante le parti della filosofia e d’ essere stato curioso in tutte le scienze eccetto che nella giudiziaria; e avendo commodità ed ozio, volevo attendere a quella, trovando loco solitario e quieto; il che non ho fatto ancora e già mai proposto di fare se non a questi tempi incirca.33

Im römischen Prozess antwortet Bruno auf dieselbe Frage mit ähnlichen Worten, doch zusätzlich bezeugt er, was die Magie betrifft, sein vorwiegend medizinisches Interesse:

Non ho havuto intentione di propagare detta scientia e communicare detto libro 34, ma solo haverlo presso di me, sin che fossi informato della forma, e teorica della scientia, perchè la prattica mai mi piacque eccetto secondo quella parte ch’appartiene alla Medicina, alla quale potissimum conferisce questa scientia ...35

Bruno beruft sich zur Begründung seines Rechtes auf freie Forschung auf einen Satz von Thomas von Aquin aus dem Kommentar zu “De anima”: “Omnis scientia est de genere bonorum”. Ausführlicher erscheint dasselbe Zitat in dem Werk “De Magia”, dessen Interesse sich ganz auf den medizinischen Aspekt der Magie richtet:

tametsi nullum magiae genus noticia et cognitione sit indignum, quandoquidem omnis scientia est de genere bonorum sicut dicit Aristoteles in prooemio De anima, cui Thomas cum aliis magis contemplativis theologis astipulatur, omnis tamen a profano et scelesto vulgo et multitudine procul fieri oportet, quandoquidem nihil ita bonum est, quod per impium et sacrilegum et per se scelerosum hominum genus in perniciem potius quam in utilitatem consortis generis convertatur36

Und ein drittes Mal ist der Satz des Thomas zitiert in “De monade”, im schon erwähnten Zusammenhang der magischen Therapien des Paracelsus, ergänzt durch den verheissungsvollen Zusatz:

Quod ubi compertum fuerit et apertum, doctiorum theologorum iudicium non formidabunt medici37.

Durch die strikte Beschränkung der magischen Praktiken auf den medizinischen Zweck werden diese einer rationalen Kontrolle unterworfen. Wo der Heilerfolg ihren Wert oder Unwert offenbart, verlieren sie ihren willkürlichen Charakter. Die angeführten Zeugnisse zum Verhältnis Brunos zur paracelsischen Medizin und Alchemie führen zum Schluss, dass Bruno sich in den alchemistischen Kreisen als Neuerer verstand, als obliege es ihm, in diesem Bereich etwas der kopernikanischen Wende in der Astronomie Vergleichbares zu vollbringen. Ein erster Schritt der Abkehr von der aristotelisch-galenischen Medizin war durch Paracelsus vollzogen worden, ihm sollte nun ein zweiter folgen auf dem Weg, der schliesslich zur Ausbildung der wissenschaftlichen Chemiatrie führte.

Die Leitfrage, die der chemiatrischen Forschung dieser Zeit allgemein die Richtung wies und auf die hin sie ihre Experimente anlegte, bezieht sich auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Transmutation der Metalle, wobei der alles entscheidende Durchgang durch das ursprüngliche Stadium der materia prima gelingen müsste. Da Bruno diese Leitfrage mit den Paracelsisten teilte, konnte er sich an ihren Experimenten beteiligen. Dass er dabei neue Hypothesen ins Gespräch brachte, ist letztlich die Folge des von ihm schon vollzogenen Wechsels zum heliozentrischen Weltbild, von dessen Gültigkeit er seine paracelsistische Umgebung in Zürich, wie zuvor diejenige an den deutschen Universitäten, an denen er lehrte, wohl zu überzeugen vermochte, wie es jedenfalls bei Raphael Egli nachweislich der Fall war38

Bruno verstand seine in einem noch zu klärenden Sinn lullisch-kopernikanisch-experimentelle Methode als die in den paracelsischen Forschungen schon intendierte, aber noch nicht zur vollen Entfaltung gelangte, weiterführende Errungenschaft. Anderseits betont er auch seine Nähe zu Paracelsus, gerade im Wissen um die Differenz, was ihn gerade zum wissenschaftlichen Lehrer einer paracelsischen Forschergemeinschaft prädestinierte. In der gemeinsamen hochgespannten Erwartung, die das neue auf dem Experiment basierende Naturverhältnis weckte mit seiner neuen Art, im “Buch der Natur” zu lesen, im gemeinsamen Gefühl des Aufbruchs zu neuen Ufern, erfuhr er seine Zugehörigkeit zu den ihn wohl auch in Prag, sicher aber in Helmstedt und in Zürich umgebenden Paracelsisten.

Das Merkmal, nach welchem Bruno Paracelsus wie sich selbst in die Tradition der lullischen Kunst einreiht, ist die triadische Struktur der paracelsischen wie seiner eigenen Gedankenwelt. Bei Paracelsus ist sie in den drei Prinzipien: sulphur, sal und mercurium offensichtlich. F. A. Yates hat in ihrer Arbeit über den Lullismus die Herkunft dieses Strukturprinzips aus der Tradition untersucht. Es handelt sich im Wesentlichen um die triadisch oder trinitarisch angeordneten Namen Gottes (auch Attribute oder Dignitates), die als erste Ursachen fungieren und aus denen auch die vier Elemente hervorgehen39. Die Auffassung von der schöpferischen Funktion der göttlichen Namen teilt Lull mit dem gleichzeitig entstandenen Buch “Sohar” der spanischen Kabbala. Schon in der kabbalistischen Überlieferung von den Sefiroth kommt es auch zur Übertragung der theologischen Spekulation auf die alchemistische Praxis, indem die göttlichen Emanationen40 den Metallen gleichgesetzt werden. Pagel hat den Zusammenhang erkannt und dargestellt in seinem wichtigen Aufsatz über den Paracelsischen Elias-Mythus :“The mysteries of this wisdom are by no means alien to the higher mysteries of the Kabbala. Sephirot, the archetypical divine creative forces, are the same on High (aziluth) as those in the lower world (asiah) and apply to the mineral Kingdom, however more excellent the former than the latter. A “metallic root” thus occupies the sephirah Crown (kether)... Indeed the three highest sephiroth , Kether, Chochmah and Binah, can be regarded as their source: mercury (water) from Kether, salt from Chochmah and sulphur from Binah .The remaining seven sephiroth would thus be reserved for the metals.”41

Pagel deckt im weiteren auch den joachimitisch-franziskanischen Hintergrund des Elias-Mythus auf, der mit der alchemistischen Auffassung der Sefiroth oder Gottesnamen gleichzeitig auftritt: Elias artium kündigt mit seinem Erscheinen das messianische Zeitalter des endlich erlangten Wissens vom Stein der Weisen, d. h. das Gelingen des Experiments der Transmutation der Metalle an. Verschiedentlich findet sich bei Paracelsus diese messianische Verheissung:

uf solchs sag ich also ein exempel, das Christus nie verstanden ist worden, so lang bis er geschickt hat den heiligen geist, der hat ale ding erleucht, durch den verstont wir christum, und er ist nach christo komen. also von dem lezten, der dan ist der heilig geist, verstanden wir den vatter und den son.

... das ist aber wol war, das in der erden noch vil ligt, das ich nit weiss; es habens auch andere kein wissen. dan das weiss ich wol, das got noch vil seltsams wird an tag legen, das noch bisher nie gelegt ist worden und offenbaret, darvon wir noch alle nie gewisst haben. das ist noch auch war, nichts ist verborgen, das nit offenbar werd. darumb so wird nach mir komen, des (magnal) noch nicht lebt und es ofnen.42

Seit Marsilio Ficino 1463 das “Corpus Hermeticum” für Cosimo de’ Medici übersetzte, wird das Ursprungsgebiet der genannten Traditionen, das gnostische Schrifttum, selbst direkt wieder ein Faktor der Ideenentwicklung. Die hermetischen Schriften enthalten eine Kosmogonie, in deren Rahmen dem Menschen selbst eine zentrale Funktion zukommt:

What a great miracle is Man, O Asclepius, a being worthy of reverence and honour. For he passes into the nature of a god as though he were himself a god; he has familiarity with the race of demons, knowing that he is issued form the same origin; he despises that part of his nature which is only human, for he has put his hope in the divinity of the other part .43

Bei Paracelsus erscheint diese Rede des Asklepios über den Menschen in etwas abgewandelter Form im Opus Paramirum44:

Dieweil nun der Artzt allein der ist, der Gott am höchsten preisen und loben kann, so soll er auch am meisten wissen. Denn ursach: wer ist der, der den Menschen kann erkennen, was er ist, wie gross ihn Gott gemacht hat, als allein der Artzt? Der kann die Werk Gottes zu erkennen geben, wie edel die Welt sey, und noch wie viel edler der Mensch, und wie eins aus dem andern geborn ist und gangen. Der das nicht weiss, der berühme sich der Artzney nicht. Denn so wunderbarlich ist der Mensch beschafen und geordnet, so man in sein recht Wesen kommt, was er ist, und ausspeculiert in allen Dingen. Und das ist ein gross, das sie bedencken sollen: nichts ist im Himmel noch auf Erden, das nicht sey im Menschen. Denn wo ist der Himmel als der Mensch? so wir ihn brauchen sollen, so muss er in uns sein.

Ohne die Durchsicht auf solche Ursprünge lässt sich das Verhältnis zwischen Bruno und Paracelsus nicht klären. Schon Ficino hatte die hermetische Lehre vom Menschen in seinem “De triplici vita” auf die Medizin angewendet und in dieser medizinisch-praktischen Form wurde sie von Agrippa von Nettesheim sowohl an Bruno als auch an Paracelsus vermittelt. Für beide ist Agrippas Werk “De occulta philosophia” die wichtigste Quelle der hermetischen Lehre45. Sie entnehmen ihm das tiefgründige Motiv der Heilung des Menschen von der melancholischen Krankheit. In Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I, der ikonologisch ebenfalls auf Agrippa v. Nettesheim zurückgeht, fand es eine entsprechende bildnerische Gestaltung. Erwin Panowsky vermochte in seiner Interpretation des Dürerschen Werkes zu zeigen, welche epochale religions- und medizingeschichtliche Wende sich in diesem Werk manifestiert. Paracelsus neue Idee der medizinischen Kunst ist davon berührt. Bei Bruno spielt der Gedanke der Verwandlung des furor melancolicus in den furor heroicus eine zentrale Rolle. Der “wunderbare Mensch” in der Rede des hermetischen Asklepios ist der von der Krankheit des melancholischen Wahnsinns geheilte Mensch, der von der Kunst des Arztes wiederhergestellte, aufgerichtete, reformierte Mensch. Dessen sublimstes Kennzeichen ist nach Ficino-Agrippa die Prophetengabe, das Kommen des “Zeitalters des Geistes” und seine “reformatio generalis” vorauszusehen. Da sowohl Paracelsus als auch Bruno solche Prophezeiungen bei Gelegenheit mit grossem Gewicht vortragen, müssen sie sich selbst also auch als “geheilte Melancholiker”, als Menschen des “furor heroicus” verstanden haben46.

Die Metamorphose der “melancholia naturalis” in die “melancholia generosa”, welche Marsilio Ficino im dritten Buch von “De triplici vita” darstellt, bedeutet nicht weniger, als dass in medizinischer Hinsicht mit der Lehre von den vier Temperamenten und der damit verknüpften galenische Humoralpathologie gebrochen wird. Die melancholia generosa sprengt als ein neuer Charakter-Typus das altüberlieferte Schema von den vier Temperamenten. Zugleich wird die astrologische Zuordnung der Temperamente zu den ihnen zugehörigen Planeten aufgegeben und die entsprechende Lehre vom Einfluss der Planeten auf die ihnen unterworfenen Temperamente somit aufgehoben. Die Preisgabe der Humoralpathologie betrifft mehr Paracelsus, die der Astralmagie mehr Bruno, der mit der Übernahme des kopernikanischen astronomischen Modells auch die gesamte astrologische Tradition zu Fall bringt. Da die Erde nun selbst als Planet mit den andern Planeten die Sonne umkreist, als ein selbständiges Gestirn wie die andern, werden die astrologischen Herrschaftsverhältnisse als Fiktionen entlarvt und verlieren ihren bedrohlichen Aspekt. Wird bei Ficino und Agrippa der Weg, auf dem sich das von den Gestirnen verhängte Schicksal überwinden lässt, noch als meditativer Überstieg der Seele in die Welt jenseits der Gestirne aufgefasst47, so ist bei Bruno jetzt ein anderer Überstieg wirksam: das ptolemäische System, das als Grundlage der Astrologie fungierte, erweist sich als falsche Hypothese. Zusammen mit dieser falschen Hypothese, die er aufgrund neuer Erfahrungen und Folgerungen verwirft, befreit sich der Geist des Forschers auch von allen damit verbundenen astrologischen Folgesätzen. Aus dem mystisch-meditativen Transzendieren des Kosmos bei Marsilio Ficino wird bei Bruno die “kopernikanische Wende der Denkungsart”, der vom Irrtum befreiende Weltbildwechsel. Gerade diese Befreiung erhoffte sich aber auch der noch in der ptolemäischen Hypothese befangene Menschengeist. Dass sie noch ausblieb, verursachte seine melancholia naturalis. So stellt sich für Bruno die Melancholie-Theorie Ficinos dar als das im Irrtum sich schon ankündigende Wahre. Auch für Bruno bleibt die medizinische Relevanz dieses Vorgangs erhalten. Die kopernikanische Korrektur des ptolemäischen Weltbildes und den Übergang zur neuen Methode der Wissenschaft, die aus der Erfahrung reifte, dass die bisherige Kosmologie eine blosse Hypothese war und dass sie durch das astronomische Experiment, durch Messung und Berechnung, falsifiziert werden konnte, vergleicht er mit dem Fortschritt, den im Altertum die Atomlehre Demokrits den Menschen brachte: Befreiung vom Schicksalsglauben, Befreiung von der Götterangst, Befreiung aus der Enge des Gefängnisses eines beschränkenden Weltbildes48. Auch für ihn gehören Forschung und Medizin zusammen. Er begnügt sich nicht damit, die bessere astronomische Einsicht zu beweisen, sondern indem er sich der intellektuellen Mühe unterzieht, die Fehlschlüsse der aristotelisch-ptolemäischen Irrtümer im Einzelnen offen zu legen, was keiner so getan hat wie er, zeigt sich, wie viel ihm daran liegt, wie einst Epikur, die Menschen psychisch zu befreien.

Vordergründig gesehen handelt es sich also um die Kritik an Aristoteles bei Bruno, um die Kritik an Galenus bei Paracelsus, welche Bruno und Paracelsus miteinander verbindet, doch tiefer reicht ihre beiderseitige Herkunft aus der von Bruno mit dem Namen Lulls bezeichneten gnostischen Tradition. Die triadisch-trinitarische Denkform ist immer der Niederschlag einer absolut transzendierenden Denkbewegung, die das ausgegrenzte Absolute als Ursprung erfährt. Gnostisches Denken ist transzendierend-genetisches Denken. Die Kabbala prägte dafür den Begriff des “Zimzum”, der Auslösung des Weltprozesses durch das Insichgehen des Ursprungs, dem das theogonisch-kosmogonische Denken, ins Unergründliche transzendierend, nachzugehen und aus dem es sich selbst zusammen mit dem Weltprozess abzuleiten versucht. Hans Jonas hat in seinen Untersuchungen zur Gnosis die soteriologische Bedeutung dieser charakteristischen Denkfigur und ihre Herkunft aus gnostischen Quellen aufgedeckt.49 Gegen sie kontrastiert nach Jonas die griechische Ontologie, die nicht primär auf den genetischen Prozess, sondern auf den Seinsbestand des Kosmos gerichtet ist. Dass sowohl Bruno wie Paracelsus dem gnostischen Denktypus zuzurechnen sind, erklärt auch ihren reformatorischen Wirkungswillen und ihre Empfänglichkeit für den Gedankenkreis des joachimitischen Messianismus. Gnostisches “Erlösungswissen” ist notwendigerweise reformatorisch gesinnt. Die Geschichte erscheint hier als Prozess, an dessen Dynamik der Mensch beteiligt ist.

Das führt dann lückenlos weiter zu den Entstehungsbedingungen der neuzeitlichen Wissenschaft. Es wird der Zusammenhang sichtbar, der zwischen dem Prozessdenken, der Auffassung der Natur als Prozess, und der experimentellen Methode besteht. Nur bei der Annahme einer prozessualen Natur ist das Experiment als integraler Bestandteil der Methode sinnvoll. Denn was sich jetzt im gelingenden Experiment ereignet, verschafft einer Hypothese den Status der Wahrheit, der wahren Erkenntnis des wirklichen Seins. Das Experiment als Ereignis in der Zeit bringt ein ewiges Verhältnis zum Vorschein. Brunos mehrfach in seinen Werken angebrachtes Leitwort lautet: instans vincit. Wenn das Experiment mit seinem: jetzt - so die Hypothese bestätigt, bewährt, koinzidiert die Erfindung des schöpferischen menschlichen Geistes, seine rein erdachte Hypothese, mit dem Schöpfungsgedanken Gottes.

Die Experimente der paracelsischen Alchemisten dienen dem Zweck, die Genese der Metalle zu erforschen. Der Ursprungsort dieser Genese ist die materia prima, nicht als Prinzip der Passivität, der Privation, der blossen Bestimmbarkeit, sondern als hervorbringende Kraft, die in sich selbst triadisch gegliedert ist, Anfang, Mitte und Ende besitzt. Diese Kraft kann erforscht werden, indem sie experimentell ins Werk gesetzt wird. Die Hypothese des Künstlers, der Gedanke, der die Einrichtung des Experimentes bestimmt, entspricht dem Gedanken, den Gott in die Natur gelegt hat. In Gott aber bedeuten Akt und Potenz dasselbe, so dass Konzeption und Realisation seines Gedankens nicht voneinander getrennt sind, während der Mensch seinen bloss hypothetischen Gedanken vom Experiment, d. h. eben von der Gott-Natur sich bestätigen lassen muss. Die Hypothese der Hypothesen ist dann die, dass zwischen dem Denken des Menschen und der Gott-Natur eine ursprüngliche, apriorische Beziehung bestehe. Um für die Bildung von Hypothesen einen Anhalt zu haben, bedarf das darin auf sich selbst gestellte menschliche Denken des Mittels der Mathematik, in deren Evidenz es sich selbst zum Mass der gültigen Wahrheit hat. Die nach dem Zusammenbruch des aristotelischen Weltbildes im Denken Brunos zu sich selbst kommende gnostische Kosmologie stützt sich auf die hypothetisch-mathematisch-experimentelle Methode.

Zur weiteren Kennzeichnung der experimentellen Methode, die Bruno zur Erforschung der materia prima anwendet, kann die Analyse des Abschnittes: Natura quatuor elementorum in mundo spirituali (De monade, V) dienen50. Der Abschnitt ist beispielhaft für die Art, wie Bruno die spekulativ erarbeiteten Begriffe, von denen auch er ausgeht, in die Sprache der Alchemie übersetzt, um so den Anschluss an deren vielfältige experimentelle Praxis zu finden.

Das konkrete Experiment, das Brunos Ausführungen zugrunde liegt, verspricht die Vermehrung einer bestimmten Quantität Gold durch Zugabe eines Zusatzes von materia occulta. Bruno nennt diese auch spiritus. Er versteht darunter jenes Dritte, jenes Medium, das Seele und Körper verbindet:

Est autem (quod nolo heic praetermittere) Spiritus substantia media quaedam, qua anima tum corpori adest, cum corpori propriam per se ipsam organizato vitam elargitur51

Von diesem medium wird behauptet:

qui unitus auro, convenientis alius materiae adiectione, modicum verum aurum in similem multi veri auri speciem facit adolescere, modicum verum argentum in multum non minus verum argentum.52