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Tief im Herzen der fantastischen Welt Girga liegt die Heimatinsel der Elfen, wo die mythischen, naturverbundenen Wesen isoliert vom Rest der Welt leben. Keiner unter ihnen ahnt, dass jenseits des Meeres der grausame Halbgott Kastro einen finsteren Plan schmiedet, der das Schicksal der Elfen und aller anderen Sterblichen verändern soll - keiner außer Loz, einem greisen Propheten. Doch die engstirnigen Elfen haben den Propheten ihre mythischen Kräfte längst abgesprochen. Loz versucht verzweifelt, die Elfen vor der drohenden Katastrophe zu warnen, doch der Regierungsrat der Elfen ist viel zu tief in seine eigenen Intrigen und Machtkämpfe versponnen, um ihm auch nur Aufmerksamkeit zu schenken. Als Loz' einziger wahrer Fürsprecher noch durch einen Staatsstreich entmachtet wird, scheinen die Elfen endgültig auf ihren Untergang zuzusteuern. Doch Kastros brutale Ork-Streitkraft macht keinen Halt. Nur ein einziger Elfenkrieger überlebt den ersten Angriff schwer traumatisiert. Als der Regierungsrat endlich handelt, scheint die Katastrophe kaum noch abwendbar. Die Elfen müssen ihre alten Ideale vergessen und mit allen Mitteln gegen den Feind kämpfen. Das friedliebende Volk sieht sich erstmals in seiner Geschichte mit Kämpfen und Schlachten konfrontiert. Können sich die Elfen noch retten? Oder wird Kastro seinen Plan verwirklichen und die Welt an den Abgrund stoßen? Ein weiser Prophet, der verzweifelt versucht, seine Heimat, sein Volk und seine Familie zu retten. Ein grausamer Halbgott, der keine Skrupel kennt und danach trachtet, die Macht eines Weltenzerstörers zu entfesseln. Ein rückgratloses Regierungsmitglied, das manipuliert und selbst aus der Apokalypse seinen Vorteil ziehen will. Ein außergewöhnlicher Krieger, der kämpft, liebt und sich von seinen Gefühlen leiten lässt. Mit ihnen beginnt hier eine Geschichte, die eine ganze Welt verändern und erschüttern wird.
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Seitenzahl: 542
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Girga – Waldsterben
Thomas Ladits
Copyright: © 2014 Thomas Ladits
ISBN978-3-7375-3104-7
Lektorat & Layout: Sandra Schmidt; www.text-theke.com
Umschlaggestaltung: Thomas Bambas
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Alle Rechte sind dem Autor vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
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Dramatis Personae
Prolog
Der göttliche Tyrann
Der Prophet von Palor
Ein Schiff der Unsterblichen
Propheten und Politik
Die Stacheln Girgas
Die Ausweglose Wüste
Der hohe Regierungsrat der Elfen
Alte Geschichten
Faltous
Korruption in der Politik
Vorboten des Unheils
Ein altes Volk
Unterstützung aus der Vergangenheit
Die graue Flut
Drachen, Bäume und Tod
Die Schwäche eines Propheten
Ein Heer der grauen Monster
Der letzte Krieger
Der neue Rat der Elfen
Raue See
Meister Grovanik
Der Kerker von Treelive
Gäste auf der Elfeninsel
Kenntnis für den Ratsvorsitzenden
Legendenschreiber
Von den Fesseln befreit
Eine neue Verbündete
Machutocs Vermächtnis
Rivalitäten
Kampfesgeläut
Waldsterben
Bodenlose Narben
Stirb, Untod!
Die letzte Zuflucht
Das Verhängnis
Der Hoffnungsträger
Das Feuer der Rache
Die Letzten
Der Sturmbezwinger
Der Rest des Waldbrandes
Epilog
Danksagung
Chandéc: Elf, Mitglied der Leaveblades
Droom: Ork, Offizier
Elyaa: Elfe, Mitglied der Leaveblades
Goltan: Elf, Seemann, enger Freund des Loz
Grovanik: Untoter, Meister des Untodes
Kastro: Halbgott, Anführer der Orks
Kramus: Ork, Häuptling
Loz: Elf, Prophet, Bruder der Luja
Luckbert: Zwerg, Gefangener
Luja: Elfe, Adelige, Frau des Mathros
Lunc: Elf, Ratsmitglied
Machutoc: Elf, umstrittenes Ratsmitglied
Mathros: Elf, Ratsvorsitzender, Mann der Luja
Medoché: Elfe, Ratsmitglied
Raychàlo: Elf, Großwesir
Sarija: Elfe, Ratsmitglied
Ulahra: Elfe, Kriegerin
Urntêch: Elf, Ratsmitglied
Yeria: Vampirelfe, Dienerin des Machutoc
Zamjja: Elfe, Ratsmitglied
Zjustor: Elf, Hauptmann
Die Bäume in den elfischen Städten ragten hoch in den Himmel und boten Wohnräume für mehrere Dutzend Elfen. Ihre Kronen waren von den Wolken verschleiert, die das fahle Licht des Mondes von der grasbewachsenen, grünen Erde fernhielten. Das alte Holz der Bäume knarrte leise und beruhigend, der Wind rauschte sanft durch die Blätter, die Luft war angenehm warm und es war das Geräusch eines sprudelnden Baches zu hören. Glühwürmchen schwebten lautlos durch die Luft, Nachtfalter flatterten nervös zu den hellen Laternen. Das Heulen eines Waldkauzes durchdrang die nächtliche Stille im Wald von Palor, wo die Luft von den betörenden Aromen verschiedener Pflanzen der künstlich angelegten Gärten durchzogen war. Die Erde und das Gras waren weich und gaben unter jedem Gewicht leicht nach.
In der Ferne waren die Bäume der nächsten Elfenwälder zu sehen und Treelive, die größte Stadt auf der Elfeninsel, der idyllischen Heimat der schönen Elfen. Treelive war Sitz des Regierungsrates und Hauptstadt der Magier und Priester. Auf Weisung eines alten Propheten war sie in den Wald gebaut worden, in dem sie heute stand. Damals hatte man noch auf die Ratschläge der Propheten gehört, doch jetzt war es nicht mehr so.
Die Bäume von Treelive brannten lichterloh. Hier stand man im idyllischen Palor und sah zu, wie in weiter Ferne die Hauptstadt brannte, die Bäume umstürzten, die Elfen starben. Wie das Unheil über die Elfen hereingerollt kam, unaufhaltsam und übermächtig. Rauchschwaden stiegen in der Ferne bis in die Wolken auf und verschleierten den Blick auf die Kopfbirke immer mehr, den großen Birkenbaum, in dem der Regierungsrat saß.
Tränen rollten bei diesem Anblick über Loz’ Wangen. Er hatte sie warnen wollen, doch er hatte versagt. Er fühlte sich schuldig für das Leid und den Tod, der sich in Treelive ereignete und unmittelbar auf die Elfen in Palor zukam. Er hätte sie alle retten können, doch er hatte sich nicht genug angestrengt. Es war seine Schuld.
Luja stand wenige Meter vor ihm und streckte ihre Hand nach ihm aus. Sie rief seinen Namen, doch es war, als spreche sie eine andere Sprache. Loz konnte sie nicht hören, obwohl er sie genau sah. Er sah, wie ihre Lippen seinen Namen formten, doch Loz war unfähig, sich zu bewegen. Er konnte Luja nicht helfen und blieb einfach stehen, weiter auf die brennenden Bäume Treelives blickend.
Der Himmel verfinsterte sich, die grauen Wolken wurden dunkler und schließlich schwarz, das Feuer von Treelive rannte in einer gewaltigen Walze über den Wald und die Grasflächen hinweg auf Palor, Loz und Luja zu. Die Elfe wurde von den Flammen erfasst und verschluckt, die Walze brach auch wie eine gewaltige Welle über Loz herein und hüllte ihn in Flammen ein, doch er konnte die Hitze nicht spüren. Vor seinem Auge schwebte ein Falke in der Luft, der sich, genauso plötzlich, wie er erschienen war, wieder in Rauch auflöste und dem Anblick einer großen, rothäutigen Kreatur mit einem langen Hals und einem breiten Körper Platz machte. Die Kreatur stand im Zentrum der Feuerwalze und lachte. Sie lachte Loz aus, sie lachte die Elfen aus, sie lachte überhaupt alle aus. Loz hatte diese oder eine ähnliche Gestalt noch nie gesehen …
Schweißgebadet fuhr Loz auf, sein Rücken bestrafte ihn sogleich für diese schnelle Regung. Unfähig, sich zu bewegen, starrte er auf die Holzwand dem Bett gegenüber. Nun hatte er diesen Traum schon zum vierten Mal gehabt. Er raubte ihm den Schlaf, er kehrte immer wieder. Es gab Abweichungen hie und da, mal brannte die Kopfbirke nicht, mal schon, mal war Goltan da, mal Luja, manchmal auch niemand …
Etwas unsagbar Großes, Gefährliches näherte sich. Loz spürte es genau.
Kastro grunzte verächtlich, als ihm sein Opfer gereicht wurde. Auf dem Fell eines großen Büffels legte man ihm Fleisch, Gold, Schmuck und anderes mehr vor die Füße. Die Orks verneigten sich tief vor ihm und wagten es nicht, ihn anzusehen. Die dummen, grauhäutigen Kreaturen mit den schmalen, schwarzen Augen fühlten sich anscheinend geehrt, und für sie war diese ganze Prozedur höchst aufregend und bedeutsam.
Kastro hingegen fand sie enttäuschend und todlangweilig. „Fällt euch denn nichts Neues ein?“, fuhr er den Ork an seiner Seite an, Kramus, den Orkhäuptling. Der Ork fuhr unter Kastros mächtiger, lauter Stimme zusammen. „Mein Herr … wir haben Euch jedes Jahr solche Opfer gebracht und Ihr wart nie … verärgert darüber. Stimmt dieses Jahr etwas nicht?“ Kramus war groß und von kräftiger Statur, doch er stotterte wie ein unbeholfener Junge. Kastro erhob sich von seinem großen Stuhl und betrachtete den Stapel Opfer vor ihm skeptisch. Ein kunstvoll geschmiedetes Amulett darin erregte seine Aufmerksamkeit. „Was ist das?“, fragte er laut. Er zog das Amulett heraus und stellte fest, dass die Kette daran zerrissen war, was ihn nicht interessierte. Das kleine, bronzene Ding konnte er mit einem seiner klauenbesetzten, roten Finger zerdrücken. Doch stattdessen sah er sich die Gravur darauf genau an. Für ein Volk wie die Orks war es harte Arbeit, eine solche Gravur in ein Amulett zu schmieden. Es zeigte einen fünfzackigen Stern, der an der oberen Zacke brannte und zwischen den beiden unteren einen Eiskristall sitzen hatte. Das Zeichen der Wächter, der Abadakaner. „Wer wagt es …!“, brüllte Kastro in die Menge der versammelten Orks hinein. Das leise Geflüster, das bisher unter den grauhäutigen Kreaturen geherrscht hatte, verschwand vollkommen. „Wer hat mir das geopfert!?“, wollte Kastro wissen. Keiner rührte sich, was verständlich war. Niemand wäre dumm genug, sich freiwillig zu melden. Aber für ein Wesen wie Kastro stellte das kein Problem dar. Er fand den Schuldigen ganz leicht – dank seiner überirdischen, halbgöttlichen Kräfte.
„Du“, sagte er und zeigte auf einen Ork, der in der ersten Reihe stand und schluckte, als die Kralle von Kastros rotem Zeigefinger in seine Richtung deutete. „Du schenkst mir ein Symbol Abadakons? Bist du noch bei Sinnen!?“ Der Ork wagte nicht zu antworten. Kastro machte ein paar schwere Schritte auf ihn zu und blieb dann vor dem Ork stehen. Kastro überragte ihn um mehr als einen Meter. Der große Halbgott bemerkte, dass Kramus ihm gefolgt war, ignorierte den Orkhäuptling allerdings. Kastro blickte aus seinen schwarzen Augen auf den Ork, der vor ihm noch kleiner zu werden schien. Er legte ihm seine Hand auf den Kopf. Der dichte, braune Haarwuchs des Orks fühlte sich rau und ungepflegt an. Kastro übte permanent stärker werdenden Druck auf den Schädel des Orks aus. „Du solltest wissen, was ich verboten habe. Jegliche Huldigung von Abadakon!“ Schon beim zweiten Wort floss Blut aus den Wunden am Kopf des Orks, und beim letzten ließ Kastro den Ork los und er fiel auf den Boden. Sein Schädel war zerdrückt. Kastro wandte sich an Kramus: „Schafft diesen Frevler fort.“ Dann wandte er sich an einen weiteren Ork in den Reihen: „Und du, hol mir einen Eimer Wasser. Aber einen großen. Und beeil dich gefälligst.“ Der Ork rannte sofort los. Es war wohl eine Erleichterung für ihn, dieses Gelände zu verlassen.
Kastro setzte sich wieder zurück auf seinen Steinstuhl und sprach zu der Menge: „Nun, ich würde sagen, eure Opfer sind … ausreichend. Ihr habt euren Gott einigermaßen zufriedengestellt. Für das kommende Jahr könnt ihr beruhigt schlafen, aber wagt es nicht, mir so etwas noch einmal vorzuwerfen. Geht jetzt!“, fügte er mit lauterer Stimme hinzu. Binnen Minuten war keiner der tausend Orks übrig, die sich auf dem Platz versammelt hatten. Nur der eine kam zurück, um Kastro Wasser zu bringen. Der Halbgott wusch sich das Blut des Frevlers von der Hand, dann befahl er auch dem letzten Ork, zu gehen.
Er wedelte mit der Hand in der Luft, um sie zu trocknen, und sah sich die zahlreichen Opfer an, die von den Orks für ihn dargereicht worden waren. Für die Orks war all dies von unschätzbarem Wert, Kastro hingegen interessierte es nicht. Es waren Dinge, die irdische Bedürfnisse stillen konnten. Nahrung, Schmuck, Reichtümer … All das brauchte Kastro nicht. Er hatte gerade wieder auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass er sein Land mühelos regieren konnte – mit Angst und Schrecken.
Die Belange der Orks waren für ihn bedeutungslos, ebenso wie die Orks an sich. Kastro kümmerte sich wenig um den Kult, der sich um seine Person gebildet hatte, und war sich seiner Überlegenheit sicher. Dennoch verstand er es, die grenzenlose Ergebenheit des Volkes zu nutzen, indem er seine Macht demonstrierte und sie einschüchterte. Auch wenn es nichts gab, was Kastro nicht tun konnte, war es sicher von Nutzen, eine Schar loyaler Helfer zu haben.
Kastro war kein Ork. Kastro war ein mächtiger Halbgott, der Sohn des Licht- und Friedensgottes Abadakon und der Schöpfungs- und Naturgöttin Rodalla. Kastro hatte immer an das Prinzip des Stürzens geglaubt: Der Sohn stürzt eines Tages den Vater. Oder der Vater vermacht dem Sohn alles. Doch Kastro war nicht der älteste Sohn des Abadakon. Er hatte einen älteren Bruder, Zirto, den Gott der Elemente und der Natur, Schutzgott der Elfen. Kastro war der Schutzgott der Orks. Aber da Zirto der ältere Sohn war, stand ihm das Haupterbe Abadakons zu und nicht Kastro. Kastros Gier allerdings war so stark gewesen, dass er Zirto in einen Hinterhalt gelockt und ermordet hatte. Um die Schmach zu vervollständigen, hatte Kastro in Zirtos Blut gebadet und es getrunken. Abadakon hatte sofort eine Maßnahme ergriffen und Kastro aus der Welt der Götter in die Welt der Sterblichen verbannt. Er hatte Kastro seine göttliche Gestalt genommen. Der einst junge, dunkelhaarige Mann mit schulterlangen Haaren, nackten, muskulösen Oberarmen und einer prunkvollen Tunika war nun ein Ungetüm. Er hatte einen plumpen, rotgeschuppten Körper, zwei kräftige, ebenso schuppige Arme, krallenbesetzte, lange Finger, einen langen Hals mit einem großen Kopf darauf, auf dessen Hinterseite zwei kleine Hörner saßen. Sein Gesicht war frei von Schuppen und wies die Gesichtszüge eines Menschen auf, sein Kopf war kahl, er trug keinen Bart. Seine Beine waren plump und seine drei Zehen mit langen Krallen besetzt, die vierte Zehe stand wie bei einem Vogel nach hinten – ebenfalls mit einer langen Kralle als Waffe ausgerüstet. An seinem Rücken liefen scharfe, verschieden hohe Stacheln vom Genick bis zum Ende des Schwanzes entlang, zwischen den Schulterblättern saß der höchste Stachel, der ein Meter zwanzig lang war.
Sein irdischer Körper war dem eines jeden Orks natürlich weit überlegen: Kastro hatte das getrocknete Blut seines Bruders überall auf der Haut. Diese war so hart geworden, dass die Waffe eines Sterblichen sie unmöglich durchdringen konnte. Außerdem hatte er das Blut des Zirto getrunken. Es verlieh ihm die Möglichkeit, körperliche Anstrengungen, bei denen der kräftigste Sterbliche zusammenbrach, ohne Weiteres zu bewältigen. Kastro brauchte keine Nahrung. Das Blut eines Gottes versorgte ihn mit allem, was er brauchte. Wenn er aß, dann nutzte er die Nahrung als Genussmittel, nicht so wie die Orks als Lebensgrundlage.
Kastro bemitleidete die armen Sterblichen ein wenig, die essen und trinken mussten und nur so wenig mit sich und ihrem Leben anstellen konnten. Diese niederen Kreaturen hatten einfach keine Macht. Kastro hingegen hatte Macht. Die Orks verehrten ihn, als er der Schutzgott gewesen war. Seit er der Halbgott war, fürchteten sie ihn. Er hatte sich nach der Verbannung aus der Welt der Götter zu den Orks zurückgezogen, weil er dort am ehesten empfangen wurde – nicht dass Kastro sich um so etwas gekümmert hatte, doch er genoss es, wenn die Sterblichen glaubten, ihm etwas schuldig zu sein. Tatsächlich aber konnte sich Kastro nicht an nur eine Minute erinnern, in der er sich um die Orks gesorgt hatte, in der er nur an die Orks gedacht hatte. Sie dienten nur dem Zweck, nerven- und zeitaufwendige Arbeiten für ihn zu erledigen. Sie fürchteten ihn und taten immer, was er wollte. Kastro hätte die Orks einfach töten können, doch darin sah er keinen Sinn. So sehr er diese bemitleidenswerten, primitiven Kreaturen auch verachtete, sie einfach abzuschlachten, kostete Zeit und war außerdem sinnlos.
Kastro betrachtete das Amulett in seiner großen Hand skeptisch. Dieser Stern erinnerte ihn an Abadakon und an all den Zorn, den er gegen seinen Vater hegte. An dem Tag, an dem er verbannt worden war, hatte Kastro gelernt, seinen Vater zu hassen. Kastro benutzte einen Zauber, der für die Orks unglaublich, für ihn ein Spaziergang war, und ließ die Gravur des Sternes abschwärzen. Das Bronzefarbene verfärbte sich dunkel und wurde schwarz, begann zu dampfen und schließlich war der Stern aus dem Amulett verschwunden. Der Rauch daraus stieg Kastro in die Nase und kratzte im Hals. Er hustete kurz, dann warf er das Amulett zu Boden und stand auf. Er trat darauf und zermalmte es unter seinem enormen Gewicht zu Abertausenden kleinen Krümeln, bevor er das Gelände verließ.
Die Stadt, in der er sich befand, war die größte Orkstadt überhaupt. Erst unter Kastros Leitung hatten diese Kreaturen überhaupt begonnen, befestige Städte mit Mauern und Türmen zu bauen. Sie hatten vor seinem Auftauchen nur eine kleine Siedlung gehabt, die nicht einmal eingezäunt war und aus Lehmhäusern bestand. Kastro hatte sie eine neue Stadt an einer Flussbiegung gründen lassen und nannte diese schlicht Kastros Machtsitz. Um den Orks das Gefühl zu geben, ein bisschen wichtiger zu sein, nannte er sie manchmal auch Kastros Orkmachtsitz. Dass sie nur Mittel zum Zweck waren, wussten die Kreaturen ja nicht. Und selbst wenn sie es gewusst hätten, hätte das nichts an der Situation geändert. Kastro hatte über die Jahrhunderte seines unsterblichen Lebens hinweg die Generationen der Orks zurechterzogen. Er hatte Furcht in ihre Gehirne gefüllt, er hatte sie gelehrt, ihn zu fürchten und zu verehren.
Die kleine Siedlung, die von den Orks gegründet worden war, wurde dann bald zu einer weiteren Stadt ausgebaut, in der Kramus und seine Vor- und Nachfahren ihren Hauptsitz hatten. Kastro nannte sie die Stadt des Orkhäuptlings. Vor seinem Auftauchen hatten die Orks ihr irgendeinen Namen gegeben, den Kastro es aber nicht für wert erachtete, ihn sich zu merken. Orks, die irgendwelche Probleme mit Nachbarn hatten, oder denen etwas gestohlen worden war, gingen zum Orkhäuptling und trugen ihre Bitte dort und nicht bei Kastro vor. Denn wer Kastro mit solch unwichtigen Dingen auf die Nerven ging, verließ den Saal nicht mehr lebend – oder zumindest nicht unverletzt. Obwohl der Orkhäuptling ein offenes Ohr für das Volk hatte, lebte ein Großteil der Orks in Kastros Machtsitz, wo sie sich wegen der Anwesenheit des Halbgottes einfach sicherer fühlten.
Außer der Stadt des Orkhäuptlings und dem Machtsitz gab es noch Sumpforkheim. Diese seichten Gewässer voller Schlamm und Alligatoren warfen für Kastro persönlich nur wenig ab, für die Orks hingegen zahlte es sich aus, dort eine Stadt zu haben. Sumpforkheim lag zwischen den Sümpfen der Verlorenheit und dem Meer, und nirgendwo gab es so viele und große Fische in Küstennähe als in Sumpforkheim. Außerdem, hatte Kastro festgestellt, waren die Orks in Sumpforkheim wesentlich härter gesotten als die hier. Während sich Bewohner des Machtsitzes oder der Stadt des Orkhäuptlings nur mindestens zu zehnt bis nach Sumpforkheim wagten, reisten die Sumpforkheimer alleine zwischen den Städten hin und her. Die Strecke zwischen dem Machtsitz und Sumpforkheim war für Kastro innerhalb weniger Stunden zu bewältigen, während Orks Tage brauchten. Es war hauptsächlich weites Gelände, und außerdem führte der Weg am Friedhof vorbei. Und Friedhöfe waren ein gefährlicher Ort geworden. Unerklärlicherweise standen dort Nacht für Nacht die Toten auf und schienen alle wie ferngesteuert durch die Landschaft zu ziehen, auf der Suche nach Leben, das sie auslöschen konnten, um ihre Zahl zu vergrößern. Oft waren es nur noch fleischlose Knochengerüste, die einem in weiter Pampa entgegengetrottet kamen. Vor allem in der Ausweglosen Wüste, die nördlich vom Machtsitz lag, gab es diese Klappergeister zuhauf. Welche Macht hier am Werk war, war sogar Kastro ein Rätsel. Irgendwelche Priester der Orks hatten die Schuld auf eine neue Gottheit geschoben. Kastro wusste als ehemaliger Gott aber, dass diese Gottheit frei von den Priestern erfunden worden war, um das Volk irgendwie zu beruhigen. Die meisten Untoten fielen sowieso auseinander, wenn man ihnen mit einem Holzpflock eins überzog, hatte Kastro festgestellt, und sie kamen auch nur bei Nacht raus. Tageslicht schien nicht tödlich, aber unangenehm für sie zu sein.
Dank der Untoten konnte Kastro wenigstens testen, ob die Orks in der Lage waren, zu kämpfen. Er hatte Kramus die Vollmacht über den Krieg gegen die Untoten erteilt, um sich selbst nicht damit aufhalten zu müssen und sich seinen Rachepläne gegen Abadakon widmen zu können, denn diese waren sein ureigenstes Ziel, seit er zum Halbgott degradiert worden war.
Für einen Nicht-Elfen waren die Elfenstädte eine Augenweide. Bunt blühende Bäume waren die Häuser der Elfen, ihre Wohnräume waren in den Baum hineingehöhlt. Doch die Räume waren nicht mit Werkzeugen herausgeschlagen worden, sondern mit magischer Hilfe wuchsen die Bäume so, dass sie den Elfen Platz boten, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen. Leitern und Wendeltreppen an den Bäumen führten zu den höheren Ebenen auf den dicken Ästen. Jeder Baum war wie ein mehrstöckiges Hochhaus, und jede Ebene war mit der Nachbarebene auf gleicher Höhe mit einer Hängebrücke verbunden. Die Bäume auf der Elfeninsel waren das ganze Jahr über grün, Schnee fiel hier kaum. Der weiche, grüne Waldboden war von dünnen Linien kleiner Bäche durchzogen, dessen reines Wasser beruhigend plätscherte. Waldtiere in einer Elfenstadt waren keine Seltenheit. Rehe, Hirsche, Hasen, Bären, alle möglichen Vogel- und Insektenarten tummelten sich zahlreich bei den Elfen.
Zu Ehren der Göttin Tasfa, die Göttin der Natur, hatten die Elfen eine große Kirche in der Mitte der Stadt Palor errichtet, zu der unerklärlicherweise jeden Morgen zahllose Tiere kamen und ganz ohne Scheu aus dem Wasserbecken tranken, das man davor für sie aufgestellt hatte. Tasfa schien das sehr zu erfreuen, denn sie hatte in den letzten Jahrhunderten keine Dürren, Kälteeinbrüche oder sonstige Naturkatastrophen über die Elfen verhängt.
Palor war eine Stadt, die auf einem künstlich angelegten Wald erbaut war. Die Bäume kamen aus Treelive, man hatte die Samen der dortigen Bäume genommen und sie an der nördlichen Küste der Elfeninsel eingepflanzt. Dort war im Laufe der Jahrzehnte der junge, gesunde Wald Palors gewachsen. Zum Dank an Tasfa für die kräftigen Bäume errichtete man dann die Kirche in der Stadtmitte.
Die Messräume der Elfischen Kirchen waren für jedermann zugänglich. Die Kirche war kein Gebäude aus Stein, sie hatte einen ganzen Baum für sich allein. Im Messraum am Fuß des Baumes konnten Elfen beten und dort wurden auch die Messen abgehalten, während die oberen Räume die Gemächer der Priester waren und dem normalen Elf verborgen blieben. Noch weiter darüber, schon fast in der Baumkrone, lag das heilige Portal nach Wedasa, die Welt der Götter. Hier konnten Priester und – als es sie noch gab – auch Propheten mit den Göttern in Kontakt treten und um Rat und Weissagung bitten.
Je näher die Stadt der Küste kam, desto kleiner wurden die Bäume. Das Hafengebäude von Palor war das einzige, das aus Stein gebaut war. Der Hafen selbst, wo Schiffe gebaut und Fischfänge gelagert wurden, stand auf einer kleinen Erhöhung, von der aus eine Steintreppe zu den Stegen hinabführte. Dort standen die Schiffe und Boote. Es handelte sich ausschließlich um Fischerboote oder Schiffe, die einem Elfen privat gehörten. Kriegsschiffe traf man hier keine an. Man sah im Reich der Elfen prinzipiell keine Kriegsmaschinen oder Soldaten. Die Elfen wussten zwar von Zwergen, Menschen und Orks, aber sie gingen davon aus, dass die anderen Völker ihnen nichts tun würden, so lange es auch umgekehrt der Fall war. Die Elfen lebten nun schon seit Jahrhunderten abgeschieden auf der Elfeninsel und nie war etwas geschehen.
Eines der schöneren, wenn auch nicht größeren Schiffe im Hafen trug den Namen Sturmbezwinger und gehörte dem Elfen Goltan. Wenn Goltan nicht mit seinem Schiff durch das Meer fuhr, schlief er oder saß in der kleinen Hafenkneipe. Gerade hörte er sich die Sorgen seines engen Freundes an. Nachdem dieser fertig war, lehnte sich Goltan auf der dunklen Holzbank zurück und sagte: „Du hast wieder geträumt, Loz.“ Loz, der bejahrte Elf ihm gegenüber, nickte. „Ich weiß. Aber ich träume Nacht für Nacht denselben Traum. Das kann doch kein Zufall sein.“ Goltan schüttelte den Kopf. „Bitte fang nicht damit an. Du glaubst doch nicht ernsthaft, die Götter hätten dir eine Nachricht geschickt.“ Goltan war ein großer Elf mit überdurchschnittlich langen, spitzen Ohren. Seine dunklen Haare waren für einen Elfen erstaunlich kurz, sein Gesicht bartfrei. Bei den Elfen war Bartwuchs eine Seltenheit. Goltan hatte starke, kräftige Oberarme und trug ein weißes, von der salzigen Seeluft befeuchtetes Hemd. Seine dunkle Hose schien genauso beschlagen zu sein. Die Füße steckten in hellbraunen Sandalen.
Sein Freund Loz war schon mehr als doppelt so alt wie Goltan. Loz’ grau-blaue Haare waren länger als Goltans und nach hinten gebunden, wo sie unter der blauen Kapuze verschwanden. Loz’ Ohren waren nicht so lang wie die seines Freundes, sein Gesicht hatte etwas Falkenartiges und war von mehreren Falten durchzogen. Loz trug einen blauen Kapuzenmantel, der ihm bis zu den Fußknöcheln reichte und um den Bauch und an den Knien einen weißen Streifen hatte. Auf der Rückseite der Kapuze war das schöne Bildnis eines silbernen Falken eingestickt. Loz hatte seinen Gehstock an die Bank gelehnt. An dem Stock hingen einige frische, saftige Blätter herab, und wenn sie im Winter abfielen, wuchsen sie im Frühjahr wieder nach. Der Stock lebte.
Loz sah bedrückt auf die Tischfläche vor sich. „Du glaubst mir nicht“, stellte er traurig fest. Goltan beugte sich wieder nach vorne und sagte leise zu Loz: „Die Zeit der Propheten ist schon lange vorbei, Loz. Die meisten haben sich als Lügner entpuppt, die sich bezahlen ließen, um falsche Prophezeiungen zu geben.“
„Hältst du mich für einen korrupten Lügner, Goltan?“, fragte Loz ohne Anschuldigung in der Stimme. Goltan schüttelte sofort den Kopf. „Nein, du bist kein Lügner. Aber du bist ein Träumer, Loz. Ich habe auch oft genug Träume, vor denen ich mich fürchte. Aber bisher ist noch keiner in Erfüllung gegangen.“ Goltan trank einen kleinen Schluck aus seinem Glas. „Tut mir leid, Loz, aber ich glaube, du verrennst dich da in etwas.“ Loz bewegte sich nicht. „Ich war mir noch nie so sicher wie jetzt“, sagte er nach einer Weile des Schweigens. Dann sah er Goltan an. „Wenn du mir schon nicht glaubst, wer wird es dann tun?“ Goltan zuckte mit den Schultern. „Sie werden dir alle dieselbe Antwort geben. Warum sollten die Götter das Unheil über uns bringen? Was haben wir uns zuschulden kommen lassen?“ Loz blies verächtlich die Luft aus. „Was habe ich mir zuschulden kommen lassen, dass mir die Götter falsche Visionen schicken? Ich glaube nicht, dass die Götter irgendetwas damit zu tun haben, was ich gesehen habe.“
„Glaubst du nicht an die Götter?“, fragte Goltan. Loz ließ sich mit der Antwort Zeit. „Es gibt Momente, da glaube ich nicht an sie.“ Mit einem Mal verstummten alle in der Kneipe. Langsam drehten sich alle zu Loz und blickten ihn an. Ein Mann aus einer weiter hinten gelegenen Ecke des Gasthauses sprang auf. Loz erkannte ihn an seiner Kleidung. Er war ein Priester. Er trug weite, purpurne Gewänder und hatte einen goldenen Stirnreif, der das blau-grüne Haar an die Stirn drückte. Die langen Elfenohren zeigten zu beiden Seiten des Gesichtes nach oben. Der Mann machte ein paar große, schnelle Schritte auf Loz zu, während er sagte: „Prophet! Lügner! Es ist nur die Gnade der Götter, die dich vor Krankheiten schont! Du solltest schweigen und dich schämen für die Lügen, die du und die Deinen verbreitet haben! Verschwinde und bete, damit die Götter dir gnädig bleiben, was ich ohnehin nicht verstehen kann!“
Loz blieb ruhig, während Goltan den Priester verwundert anglotzte. „Ein Priester, der die Götter nicht versteht“, sagte Loz, „Wunderbar.“ Der Priester fand einige Fürsprecher unter den Gästen im Lokal, die auch aufstanden und sich ihm anschlossen. Der Priester ging zu Loz’ und Goltans Tisch und schlug mit den Fäusten so hart darauf, dass das Wasser in Goltans Glas Wellen schlug. „Seht ihn euch an! Nun spottet er noch über die Götter und uns, ihre Boten und Schützlinge.“ Er wandte sich direkt an Loz. „Du solltest deine Zunge hüten, Prophet. Der Zorn der Götter wird dich treffen, wenn du dich gegen sie aussprichst.“ Loz zeigte weiterhin keine Regung. „Dann sind die Götter Diktatoren, die jeden zerquetschen, der sich gegen sie auflehnt. Und so etwas betet ihr an.“ Der Priester lief vor Zorn rot an und Goltan fühlte sich verpflichtet, den Mann in der purpurfarbenen Robe zurückzuhalten. Loz stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und ließ das Sonnenlicht hereinfallen. Dann wandte er sich noch einmal an den Priester: „Ihr unterwerft euch jemandem, von dem ihr gar nicht wisst, ob es ihn gibt. Wenn die Götter mich bestrafen sollten, warum tun sie es dann nicht?“ Mit dem Stock als Geh- und Stützhilfe verließ Loz das Gasthaus und allmählich kehrte wieder Ruhe ein.
Loz war nicht verwundert darüber, dass ihm niemand glaubte. Auch die Tatsache, dass Goltan skeptisch war, war alles andere als überraschend. Mehr hatte Loz jedoch die Reaktion des Priesters überrascht, als er sich über die Götter geäußert hatte. Dieser Mann war ein Paradebeispiel für die Engstirnigkeit, die unter Elfen erschreckend stark verankert war. Wie dem auch sei. Bei dem einfachen Volk, das in diesem Gasthaus war, hätte es ohnehin nicht viel gebracht, hätte man ihm geglaubt. Loz musste die Leute überzeugen, die Macht und Einfluss hatten.
Die Elfen wurden von einem Rat mit sieben Mitgliedern regiert. Einer von ihnen war der Ratsvorsitzende, der mit triftiger Begründung andere Mitglieder aus dem Rat entlassen oder neue Mitglieder hereinholen konnte. Der Ratsvorsitzende kam schon seit Generationen aus Treelive und hatte die Funktion, Vorschläge anzuerkennen oder sie abzulehnen. Brachte ein Ratsmitglied einen Vorschlag, so musste er erst vom Ratsvorsitzenden als logisch und umsetzbar anerkannt werden, bevor er vom Rat diskutiert wurde. Solche Diskussionen zogen sich über Wochen und Monate. Es war schwierig, neue Gesetze oder Regelungen durchzubringen, denn den Rat für sich und einen Vorschlag zu gewinnen, war nicht leicht. Vor allem, wenn der Ratsvorsitzende selbst gegen diesen Vorschlag war. Wenn der Vorsitzende eine Sache gut fand, brauchte er mehr als ein Drittel im Rat, das ihm zustimmte – also mit sich selbst drei. Wenn diese drei zustande kamen, wurde die Sache umgesetzt. Brachte ein gewöhnliches Ratsmitglied einen Vorschlag, so brauchte er mehr als die Hälfte, also mindestens vier Mitglieder, sich eingeschlossen, um die Sache durchzubringen. Die Stimme des Vorsitzenden zählte auch hier nur einfach. Trotz dieses Systems gingen neue Beschlüsse im Rat im Schleichtempo voran. Loz hielt nicht viel von dieser Regierung. Seit fast einem halben Jahr wurde nun schon darüber debattiert, ob man das Ratsmitglied Machutoc nun aus dem Rat entlassen sollte oder nicht. Machutoc war gegenüber eines anderen Ratsmitglieds handgreiflich geworden und hatte ihm mit dem skandalösen Spruch „Elfenblut kann nur mit Elfenblut beglichen werden!“ die Nase blutig geschlagen. Der Rat sprach sich fast einstimmig dafür aus, Machutoc loszuwerden. Manche Ratsmitglieder sprachen sogar über die Todesstrafe.
Der Vorsitzende jedoch war ein Fürsprecher Machutocs, da dieser bisher immer sinnvoll und wohlüberlegt gehandelt und sogar auf Fragen geantwortet hatte, die der Vorsitzende selbst nicht einmal verstanden hatte. Während der Rat über diesen Rausschmiss debattierte, häuften sich die wichtigen Probleme, die das Volk angingen, geradezu. Schlechte Ernten, Schiffe, die unerklärlicherweise einfach in einen Strudel gerissen wurden – und natürlich Untote. Die Elfen waren ein friedliches Volk, trotzdem blieben sie von der Plage der Untoten nicht verschont. Die knochigen Gestalten standen Nacht für Nacht von Friedhöfen auf und zogen durch die Straßen, um Unheil anzurichten und sich zu vermehren – wobei dies durch das Töten weiterer Lebender geschah. Wenn ein Elf starb, verweste sein Fleisch nicht und er wurde auch nicht von Kleintieren zerfressen wie andere Lebensformen. Stattdessen verwandelte sich sein Körper im Lauf der Zeit in einen Baum. Doch wenn ein Elf durch die Hand eines Untoten starb, wurde er selbst zu einem solchen. Es war, als läge auf den wandelnden Toten ein Fluch, der sich wie eine Krankheit auf ihre Opfer überträgt. Wieder war es Ratsmitglied Machutoc gewesen, der Maßnahmen gegen die Untoten ergriffen hatte. Er ließ bewaffnete Wachen ausbilden und eine eigene Organisation gründen, die die Bewegungen der Untoten im Auge behalten sollte. So war es gelungen, die unheimlichen Geister im Süden der Insel zu isolieren.
Die Elfeninsel war von einem west-ost-laufenden Gebirge in zwei Hälften geteilt, die südlichen Ebenen und die Nordwälder. Während sich südlich des Großen Zauns, wie das Gebirge im Volksmund genannt wurde, fast gar nichts befand, dienten die üppigen Nordwälder den Elfen als belebtes Siedlungsgebiet. Hier, in großen, weiten Wäldern, lebten die Elfen in mit saftigen Blättern bestückten, hohen Bäumen, während auf der fast steppengleichen südlichen Ebene außer ein paar Tieren nichts lebte. Seit Machutocs Maßnahme liefen dort die Untoten herum – und bevor sie die erste Elfenstadt erreicht hatten, mussten sie jede Nacht wieder umkehren, denn sie scheuten das Sonnenlicht und verbrachten den Tag am liebsten in ihren Gräbern. Magier und Forscher hatten sich mit den Untoten beschäftigt, aber niemand war hinter das Geheimnis ihrer Herkunft gekommen.
Loz hatte allerdings einen unerklärlichen Zusammenhang gefunden. Es hieß, vor etwas weniger als eintausend Jahren sei die mentale Verbindung, die zwischen Elfen und Drachen schon seit Anbeginn der Zeit bestand, erschüttert worden. Die Drachen seien in Angst verfallen und fliegen jetzt über dem Meer, auf der Suche nach neuem Land. Ihre Heimat im hohen Norden soll angeblich von einem herabstürzenden Himmelkörper zerstört worden sein. Und zur gleichen Zeit waren die ersten Untoten aufgetaucht. Loz war bewusst, dass das auch ein dummer Zufall sein konnte. Es könnte auch alles nur Einbildung sein, denn die Theorie, dass zwischen Drachen und Elfen überhaupt eine Verbindung bestand, war nicht bewiesen. Womöglich hatte sich jemand vor sehr langer Zeit nur einen dummen Scherz erlaubt, als er diese Behauptung aufgestellt hatte.
Fakt war, dass Machutoc das Problem mit den Untoten gelöst hatte, und dass man ihm dies hoch anrechnete. Hätte er das damals nicht getan, so wäre er schon längst aus dem Rat verbannt worden.
Für Loz war das im Moment schlecht. Je länger der Rat noch über Machutocs Ausscheiden aus dem Rat verhandelte, desto länger könnte es dauern, bis ihm jemand im Rat Gehör schenkte. Er kannte ein Mitglied, sogar den Vorsitzenden, persönlich, aber der würde Loz hinten anstellen, so wie es die Ordnung verlangte – zuerst werden die alten Probleme behandelt, die neuen können warten. Doch Loz’ Problem konnte nicht warten. Er beschloss, sich noch vor Sonnenuntergang mit dem Vorsitzenden zu treffen.
Der Vorsitzende hieß Mathros. Er stammte, wie seine Vorgänger auch, aus Treelive, doch lebte bei seiner Frau in Palor. Er hatte einst behauptet, wegen des schönen Meeres hierher gezogen zu sein. Während die Verhandlungen um Machutoc liefen, war er in Treelive in der Kopfbirke gewesen, wo der Regierungsrat seinen Sitz hatte. Doch eines der Ratsmitglieder war mitten in den Verhandlungen nach Faltous über das Meer gereist, um die dort heikle Lage zu überprüfen. Die Ratsfrau, Medoché, hatte das den Bewohnern von Faltous schon lange versprochen. Faltous war eine der Städte, die nicht auf der Elfeninsel lagen. Sie lag im Norden Selakuns, dem Kontinent, auf dem die Orks heimisch waren. Bisher war Faltous vor den Orks sicher gewesen, doch Medoché hatte den Rat schnell davon überzeugt, dass die Orks aggressiv und feindselig reagieren würden, wenn sie Faltous entdecken sollten. Faltous hatte als einzige Stadt der Elfen die Erlaubnis bekommen, entgegen der Heiligen Regel, nicht zu kämpfen und zu töten, Soldaten und Krieger auszubilden, befestigte Stadtmauern mit Wachtürmen zu errichten. All diese Erlaubnisse waren schon vor Jahrhunderten gegeben worden. Medoché kam aus Faltous und vertrat ihre Heimat im Elfenrat.
Dank ihrer Abreise waren die Verhandlungen um Machutoc vorübergehend eingestellt, Mathros war in Palor und Loz konnte mit ihm sprechen. Loz erhoffte sich nicht viel, doch er musste versuchen, irgendjemandem die drohende Gefahr klar zu machen.
„… und dann schufen sie das Leben. Die Frau schuf es und der Mann beschützte das Leben auf der Welt Girga, befreit vom Atem des Skatureor. Abadakon schuf die Wächter, um den Strudel des Skatureor zu beschützen, und jede Möglichkeit, dass Dämonen die Schöpfungen der Rodalla erneut bedrohten, auszulöschen. So sollte das Leben friedlich auf Girga gelebt werden.“
Kastro hasste diese Textpassage. Er zerriss zornig die Schriftrolle, auf der sie stand, und warf sie angewidert in das Feuer des Kamins, wo sie sofort in hellen Flammen aufging. Dies war die letzte Strophe der Schöpfungsgeschichte Girgas gewesen, an die Orks, Zwerge und Menschen glaubten. Kastro hatte Ganach schon fast dreimal ganz durchgelesen, das heilige Buch der girganischen Religion, um eine Stelle zu finden, an der er anpacken konnte. Er suchte nach einem wunden Punkt seines Vaters, er suchte eine Gelegenheit, seiner Familie die Verbannung auf Girga heimzuzahlen. Er suchte nach einer Möglichkeit, die Macht an sich zu reißen. Der Vater-Sohn-Konflikt war ganz natürlich und Kastro fand, dass die tausend Jahre Wartezeit genug waren. Nach tausend Jahren, so lange war Kastro ungefähr schon auf Girga, war es an der Zeit, den Vater zu stürzen.
Abadakon schuf die Wächter … Zu Zeiten der Wächter war Kastro noch ein Gott gewesen. Doch selbst als solcher war es ihm nicht gelungen, den Niedergang der Wächter ganz zu verfolgen. Auch er konnte es nicht erklären. … jede Möglichkeit, dass Dämonen die Schöpfungen der Rodalla erneut bedrohten, auszulöschen … Die Wächter waren fort. Nichts stand zwischen Kastro und dem Strudel des Skatureor, der die Dämonen barg, die die geliebte Schöpfung der Götter wieder zerstören konnten …
„Ihr hattet mich zu Euch gebeten, Herr“, erklärte Kramus seine Anwesenheit im großen Saal von Kastros prunkvoller Burg. Das Gebäude war hoch und hatte einen Turm an jeder der vier Ecken, die Dächer waren mit Zinnen geschützt und die violetten Flaggen der Orks wehten im Wind unter dem schwarzen Banner Kastros.
Kramus’ graugrüne Haut war mit dünnem Schweiß benetzt. Jeder Sterbliche schwitzte vor Angst, wenn er im selben Raum wie Kastro war. Aber Kramus hatte sich gut unter Kontrolle, denn obwohl er innerlich bebte, stand er felsenfest auf dem polierten Steinboden der Burg. An den Wänden hingen Rüstungen und langstielige Äxte, die Kastro einfach nur zur Dekoration aufgehängt hatte. Ein Halbgott wie er brauchte keine Waffen und Rüstungen, doch sie gefielen ihm einfach. In der Mitte des Raumes hing von der Decke ein breiter, runder Kerzenleuchter herab, an dem bereits jede zweite Kerze vollständig heruntergebrannt war. Kastro stand hinter seinem breiten Thron und starrte aus dem Fenster in die Abenddämmerung hinein. Der Himmel verfärbte sich in Selakun um diese Jahreszeit abends immer rot, dann violett und dann wurde er schwarz. Die Wappenfarbe der Orks war dasselbe Violett wie das des abendlichen Himmels.
Kastro antwortete, ohne Kramus anzusehen: „Ich habe eine Aufgabe für Euch. Und eine für Offizier Droom. Ist er im Machtsitz?“
Kramus antwortete kurz und militärisch zackig: „Ja, Herr. Er ist in dieser Stadt.“
Kastro drehte sich langsam um und nickte mit seinem länglichen, schweren Kopf. „Gut. Dann lasst auch nach ihm schicken, sobald ich Euch wieder entlassen habe.“
„Sehr wohl, Herr“, antwortete Kramus. Der Ork hatte viele dunkle Bartstoppeln im Gesicht, seine Hauer ragten zwischen seinen Lippen hervor und waren hellgelb. Kramus’ Ohren waren unter den langen, schwarzen Haaren nicht zu sehen. Die schmalen, schwarzen Augen wirkten aus der Ferne so schmal, als wären sie geschlossen. Ein Zeichen dafür, dass Kramus dem Halbgott bedingungslose Loyalität leistete.
Seit Kastro bei den Orks angekommen war, war eine Art Virus über das Volk von Selakun hereingebrochen. Ihre Haut wurde grau, ihre Augen schmal und schwarz. Dauerkrieg zeichnete die Welt – ein Dauerkrieg mit Menschen und Zwergen. Jedes Jahr landete mindestens einmal eine Streitmacht der Orks im Land der Menschen oder Zwerge. Oder es war umgekehrt. Bisher war noch nicht besonders viel durch diese Kleinangriffe erreicht worden. Es hatte nur viele Tote gegeben, aber sonst war nichts passiert. Keine zerstörten Städte, keine gegründeten Kolonien.
Kastro sah den Orkhäuptling zum ersten Mal, seit er eingetreten war, an. „Dann wollen wir mal zu Eurer Aufgabe übergehen, Kramus. Ich plane einen neuen Angriff. Gegen die Elfen.“
Kramus’ eiserne Miene wich Verwunderung. „Die Elfen? Was kümmern uns die Elfen?“ Kastro kümmerten die Elfen viel, denn sie standen ihm im Weg.
Kastro suchte schon seit er auf der sterblichen Welt war nach Rache. Rache an Abadakon und dem Rest der göttlichen Familie, die ihn verwiesen hatte. Die ihn seiner Gottesmacht beraubt und ihn zu einem Halbgott abgewertet hatten. Und kürzlich war Kastro erst in einer Schriftrolle der Schöpfungsgeschichte auf eine interessante Sache gestoßen. Kastro hatte vor, Skatureor zu befreien und dem Titanen die Lungen des Feuers zurückzubringen, die ihm den Hitzeodem verliehen und Skatureor befähigten, die ganze sterbliche Welt mit nur einem Atemzug in Flammen zu setzen. So hatte es begonnen. Skatureor war auf Girga gewandelt und hatte jede Schöpfung der Götter nur durch ein Atmen vernichtet. Bis Abadakon ihn in die Unterwelt gesperrt hatte. Mit Skatureor und dem Feuer hatte das Leben auf Girga angefangen, und so würde es auch enden. Kastro wusste noch nicht genau wie, aber er würde den Strudel des Skatureor aufsuchen und das Dämonentor passierbar machen, damit Skatureor heraus konnte. Dann würde er die Lungen des Feuers finden, und wenn er die erst hatte, würde das Leben wieder lichterloh verbrennen. Kastro würde den Göttern alles nehmen, was sie geschaffen hatten, und das wäre Genugtuung für ihn.
Das Auslöschen des Lebens schloss natürlich die Orks nicht aus, aber das war Kastro egal. Die Orks waren nur Mittel zum Zweck. Nichts konnte ihn aufhalten, wenn Skatureor erst einmal frei war.
Nichts – außer Benutzer natürlicher Magie. Und es gab nur eine Rasse, die mithilfe natürlicher Magie agieren konnten: die Elfen. Die Elfen und ihre weiten Kenntnisse der Naturmagie standen seinen Plänen im Weg. Naturmagie war etwas, was der Kraft des Lebens selbst entsprungen war. Sie war eine völlig eigene Strömung von Kraft, die sich autonom entwickelt hatte, seit es Leben auf Girga gab, das nicht dämonischen oder göttlichen Ursprungs war. Unbewusst hatten die Elfen durch ihre Lebensweise – ihre Verbundenheit mit Wäldern und Tieren – die Naturmagie erlernt und zu ihrem alltäglichen Begleiter gemacht. Natürliche Magie könnte sogar dazu führen, dass Elfen und jene, die sie verzauberten, gegen die Flammen Skatureors immun wurden.
Doch Kastro wusste noch einiges anderes über die Elfen. Sie waren ein friedliches Volk, das in seinem ganzen Reich nicht eine einzige Waffe hängen hatte. Es würde ein Leichtes werden, sie aus dem Weg zu räumen. Es gab Gerüchte, dass die Elfen sich im Norden von Selakun angesiedelt hatten und dort mehrere Städte und Siedlungen gegründet haben sollen. Wenn das so war, dann musste Kastro dorthin und schon auf Selakun mit der Ausmerzung der Elfen beginnen. Doch es waren nur Gerüchte. Sie auf Wahrheit zu überprüfen, war Kramus’ Aufgabe.
„Ich möchte wissen, ob an den Gerüchten etwas dran ist. Ob die Elfen tatsächlich im Norden meines Landes leben. Und wenn das so ist, dann werde ich dieses Leben beenden müssen.“
Kramus nickte verstehend.
„Kramus!“, fügte Kastro laut hinzu. „Ich möchte, dass Ihr Euch mit einem Trupp Orks in die nördlichen Regionen begebt und herausfindet, ob die Elfen dort tatsächlich Siedlungen haben. Und wenn das der Fall ist, dann sorgt dafür, dass kein Elf die Siedlungen verlässt, bis ich da bin. Ich möchte mich ihrer persönlich annehmen.“
Vorsichtig wand Kramus ein: „Die nördlichen Regionen sind doch nur Wüstenland. Ein naturverbundenes Volk wie die Elfen in der Wüste kann ich mir nicht vorstellen, mein Herr.“
„Glücklicherweise läuft die Welt nicht nach Euren Vorstellungen“, tat Kastro den Einwand ab.
„Die Wüste ist ein gefährlicher Ort, nicht nur wegen des Wassermangels“, fuhr Kramus fort. „Die Untoten …“
„… zerfallen zu Staub, wenn die Sonne auf sie scheint. Ihr werdet Euch doch nicht vor ein paar Klappergeistern fürchten.“
„Nein, Herr.“
„Gut“, sagte Kastro streng. „Ich hätte es auch nicht zur Kenntnis genommen, wenn Eure irdischen Schwächen meine Befehle blockieren. Wegtreten!“
Kramus verbeugte sich schnell und tief, dann drehte er um und eilte aus der Burg. Bevor er die Tür erreicht hatte, rief Kastro: „Und holt mir Droom herein!“ Kramus nahm die Anweisung mit einem knappen „Jawohl!“ entgegen und verschwand. Obwohl er ebenso treu und ergeben war wie jeder andere Ork, besaß Kramus doch ein für einen Ork erstaunliches Maß an Intelligenz und Weitblick. Dies machte ihn zu einem zuverlässigen Mann, aber auch zu jemandem, der häufig Fragen stellte.
Untote. Kastro war es selbst als Halbgott immer noch unerklärlich, wo sie herkommen könnten. Die Orks glaubten, dass Buskul, die Göttin der Angst, die Untoten erschaffen hatte, um die Sterblichen in Panik und Schrecken zu versetzen. Sie beteten zu Buskul und wimmerten um Gnade. Kastro, als ehemaliger Gott, wusste allerdings, dass Buskul nur ein Phantom war. Es gab keine Buskul. Es gab nur Abadakon, Rodalla, Zirto und Balara. Früher war er selbst noch dabei gewesen. Und es wäre ihm am liebsten, gäbe es nur noch ihn selbst. Die Orks verehrten neben der göttlichen Familie auch noch weitere Götter. Buskul, Urozuk, den Gott des Unterganges, Lakra, die Göttin des Feuers, und Urkas, den Gott der Magie. All diese Namen kamen irgendwo in der Göttergeschichte vor, doch Kastro wusste, dass sie nur mächtige Geister, höchstens Halbgötter wie er, waren – und keine Götter.
Ein Ork kam herein. Er war breiter gebaut als Kramus und ein praller Bauch zeugte von guter Ernährung. Die Arme des Orks waren breit und muskulös, er trug einen Lederharnisch, der seine Brust bedeckte, und eine Kettenhose, die bei jedem Schritt metallisch raschelte. Die Hauer des Orks waren nicht so lang wie die des Orkhäuptlings und die Haut war dunkler. Die Augen dieses Orks waren sogar noch schmäler und schwärzer als die Kramus’. Kastro wusste, dass dieser Ork ihm bis zum Letzten dienen würde. Es war Offizier Droom. Der hässlichste, aber auch loyalste und leichtgläubigste Ork, den Kastro jemals gesehen hatte. Vor allem seine geistige Beschränktheit unterschied ihn von Kramus. Sein Gesicht war von Narben und Bisswunden überzogen. Droom hatte einmal gegen einen aufgebrachten Schwarzdrachen gekämpft und der Drache hatte ihm einen krallenbesetzten Fuß ins Gesicht geschlagen. Droom trug deshalb eine Augenklappe, er hatte ein Auge bei diesem Kampf verloren – der Drache sein Leben.
„Ich bin hier, um Euch zu dienen“, begrüßte Droom den Halbgott und fiel vor ihm auf die Knie. Er drückte das Gesicht so weit wie möglich an den Boden.
Kastro gefiel diese wimmernde Unterwürfigkeit irgendwie. „Wäre dem nicht so, dann wärst du jetzt tot“, sagte er kalt und bedeutete Droom, sich zu erheben. Der Ork tat es und sah Kastro erwartungsvoll an.
„Ich brauche Trollgold“, sagte Kastro.
„Trollgold?“, wiederholte Droom. „Ja. Ihr wisst, wo man so etwas findet?“
Droom nickte bestätigend. „In den Stacheln Girgas, auf der östlichen Halbinsel Selakuns. Jenseits unserer Grenzen.“
„Wie schön, dass Ihr so gebildet seid, Droom.“ Der Ork fasste dies nicht als Kompliment auf. Kastro machte keine Komplimente.
„Ich weiß aber auch, dass Trollgold angeblich von einem Monster bewacht werden soll, und dass es sehr schwer sein soll, an die Adern heranzukommen.“
Kastro schüttelte den Kopf. „Warum ihr Sterblichen immer jede Gespenstergeschichte glaubt, die man euch erzählt! Glaubt Ihr wirklich an den Schatzwächter?“
Droom wusste, dass alles andere als „nein“ unangebracht gewesen wäre. Und vielleicht lebensgefährlich.
„Gut“, murrte Kastro gereizt. „Dann will ich hoffen, dass Ihr in der Lage seid, mir dieses Gold zu bringen.“
„Ich werde mein Bestes tun, Herr. Wie viel braucht Ihr?“
„Ein kleiner Krümel reicht für meine Zwecke.“
Droom zog die Augen zu noch schmäleren Schlitzen zusammen. „Ein Krümel? Was kann man schon mit einem Krümel anfangen?“
In Kastros rotem Gesicht spiegelte sich Zorn wieder. Der große Halbgott machte zwei Schritte auf Droom zu und stand direkt vor ihm. Kastro spreizte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand auseinander und schob sie nach vorne, sodass Drooms Kopf dazwischen war. Er drückte leicht zusammen, bis Droom anfing, nach Luft zu schnappen. „Neugier kann sehr gefährlich sein, Droom. Tut einfach nur das, was ich Euch sage. Das ist am Ungefährlichsten.“
Kastro erachtete es als notwendig, seine Untergebenen sofort einzuschüchtern, sollten sie ihn hinterfragen. Würde er Droom erklären, was er beabsichtigte, würden die Orks womöglich gegen Kastro rebellieren, da sein Vorhaben auf sie keine Rücksicht nahm. Daher schürte er stetig Furcht – um Neugier zu unterdrücken.
Nach wenigen Sekunden ließ er Drooms Hals los und der Ork atmete schwer ein. „Ich verstehe, Herr. Ich tue, was Ihr verlangt.“ Noch schneller als zuvor Kramus eilte Droom aus dem Raum.
Trollgold war in den Augen der Orks ein unheimlich wertvolles Metall. Besaß man eine Handvoll davon, war man ein gemachter Mann. Es kam nur in den Stacheln Girgas, auf dem höchsten Berg des Gebirges vor und wurde angeblich vom Schatzwächter bewacht. Der Schatzwächter sollte eine Mischung aus Wolf, Schlange und Adler sein, doch Kastro glaubte nicht an Geschichten über Mischlinge aus verschiedenen Tieren. Auf Selakun lebten neben den Orks auch noch die Gnolle als umherziehendes Volk von Auftragsmördern oder Söldnern. Gnolle waren Mischungen aus Hyänen und Menschen, doch Kastro betrachtete sie einfach als Ausnahmefall.
Das Trollgold hatte für ihn aber eine ganz andere Bedeutung als für die Orks. Er wusste nämlich, wie die Wächter, Skatureors Gefängnisaufseher, damals ihr Schiff beim Strudel des Skatureor halten konnten, ohne in seinen mächtigen Sog zu geraten und unterzugehen. Die Schiffe der Wächter schwebten. Sie hatten alle einen Kristall an Bord, der leuchtete und vibrierte und auf dem ein Zauber lag. Dieser Zauber war es, der die Schiffe schweben ließ. Die Art von Kristall war unheimlich wertvoll gewesen und auf Girga auch sonst nirgendwo mehr gefunden worden. Die Wächter hatten diesen Kristall mit ins Grab genommen. Doch es hing nicht vom Stoff selbst, sondern vom Wert des Stoffes ab. Und wenn es noch eine Sache gab, die so wertvoll war wie dieser Kristall, dann war es Trollgold. Kastro würde das Gold verzaubern, sobald er es hatte. Er war dabei gewesen, als Abadakon die Schwebekristalle der Wächter verzaubert hatte. Kastro kannte den Schwebezauber. Er würde das Gold verzaubern und dann auf ein Schiff bringen. Mit diesem Schiff würde er zum Strudel des Skatureor fahren und das Portal irgendwie öffnen. Dann würde er ihm die Lungen des Feuers bringen und die Herrschaft der Sterblichen würde vorüber, das Leben erloschen sein.
Aber erst dann, wenn es keine Gefahr mehr für Skatureor gab. Es gab nur eine Macht, die Skatureor schaden konnte: die Natur. Und somit die Elfen. Die Elfen mussten weg.
Die Straße wurde nur noch von einer Sternenfackel erleuchtet, die neben der Tür zu Lujas Haus hing. Sternenfackeln waren eine besondere – eine verzauberte – Fackelart. Sie brannten in einem angenehmen, beruhigenden Himmelblau und versprachen daher einen besseren Schlaf. Außerdem flackerten sie nicht wild umher wie normales Feuer, sondern bewegten sich in langsamen, gleichmäßigen Wellenbewegungen. Manche Elfen entzündeten solche Sternenfackeln, wenn sie nicht schlafen konnten, in ihrem Schlafzimmer. Als Beruhigungsmittel gab es diese Fackeln auf jedem größeren Markt zu kaufen.
Loz ließ seine Sinne nicht von der Sternenfackel betören. Er stand, auf seinen Stock gestützt, neben der Holztür zu Lujas Baum und wartete. Der Stamm des Baumes war breit und die Baumhöhle, in der Luja lebte, war tief und hatte ein erstes Stockwerk. Loz besuchte seine Schwester oft und fand sich in ihrem Baumhaus genauso gut zurecht wie in seinem eigenen. Die große Holztür war verschlossen und Loz musste warten, bis Luja zurückkam, wo immer sie auch war. Loz wusste, dass sie um diese Zeit mit ihrem Mann Mathros, dem Ratsvorsitzenden, einen Abendspaziergang zu machen pflegte, wann immer es möglich war. Mathros musste oft Wochen und Monate in Treelive verbringen, und Luja wollte jede Minute, die er zu Hause war, bei ihm sein. Der Spaziergang war bei den beiden zu einer Tradition geworden, seit ihr einziger Sohn Zjustor fortgezogen war und nun sein eigenes Leben lebte. Loz hatte seinen Neffen allerdings schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen und Luja oder Mathros auch nicht. Zjustor war über das Meer nach Faltous gereist, die einzige Kriegerstadt der Elfen, um sich dort zum Soldaten ausbilden zu lassen. Viele junge Frauen und Männer, die sich vom Ratsmitglied Machutoc überzeugen ließen, schlugen diesen Weg ein. Mathros war ein Fürsprecher Machutocs und fand den Weg seines Sohnes in Ordnung, viele andere, darunter auch einige Ratsmitglieder, hielten diese jungen Leute für Fanatiker.
Loz’ sensible Elfenohren fingen Geräusche auf. Schritte und die Fetzen von Worten, die mit jeder Sekunde deutlicher wurden und schon bald zu Sätzen heranwuchsen. Und dann traten Luja und Mathros in den Schein der Sternenfackel.
Luja war jünger, aber größer als der schon alternde Loz. Während seine Haare ergrauten, waren ihre noch jugendlich dunkel-türkis, bei Elfen eine seltene und für sehr hübsch gehaltene Haarfarbe. Ihre Haut war genauso blass wie seine, die Ohren hatten die gleiche Länge. Lujas Gesicht wies ebenso falkenartigen Züge auf wie Loz’. Ihr Haar war zu einem Zopf gebunden, der zwischen ihren Schulterblättern endete. Sie trug eine Kette um den Hals, deren Anhänger an einen Sichelmond erinnerte, er war aus echtem Silber. Mathros trug dieselbe Kette – das elfische Symbol für die Ehe. Luja trug eine fließende, warme Weste, die ihr bis zu den Knien reichte, und eine dicke Wollhose. Sie hatte klare, braune Augen – im Gegensatz zu Loz’ Augen, die silbern glänzten.
Mathros war etwa so groß wie Luja. Er überragte Loz damit um wenige Zentimeter. Sein schwarzes Haar war kurz gehalten und sein Gesicht trug nicht den Ansatz eines Bartes – da Elfen kaum Bartwuchs hatten. Er hatte ausgeprägte Wangenknochen und seine Elfenohren waren noch länger als Loz’ oder Lujas. Die grünen Augen lagen unter buschigen, schwarzen Augenbrauen. Mathros trug ein blaues Hemd, darüber eine weiße Weste und eine dunkelblaue Hose. Am Ringfinger seiner linken Hand steckte ein großer Ring, in dem ein Smaragd lag, was ihn als Ratsvorsitzenden auswies.
Loz verstand nicht, worüber die beiden sprachen, als sie ankamen, doch sie stellten das Gespräch ein, als Luja ihren Bruder vor der Tür sah.
„Loz“, begrüßte sie ihn und umarmte ihren Bruder kurz zur Begrüßung. „Du warst schon lange nicht mehr hier“, fügte sie hinzu.
Loz nickte. „Ja, ich musste in letzter Zeit über so viel nachdenken, dass ich ganz vergessen habe, meine letzten Verwandten hier zu besuchen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Habt ihr mal etwas von Zjustor gehört?“
Luja antwortete: „Ja, er soll jetzt seine Ausbildung als Kriegsdruide abgeschlossen haben.“
„Kriegsdruide?“, fragte Loz. „Was um alles in der Welt soll denn das sein?“
„Ein Benutzer der Naturmagie, der auch mit Schwert und Schild umgehen kann. Die Kombination sozusagen“, erklärte Mathros. Dann sagte er beiläufig und scherzhaft: „Ach ja, hallo Loz.“
Loz lächelte und erwiderte den Gruß. „Nun, ich bin gekommen, weil …“, sagte er dann, doch Luja unterbrach ihn: „Können wir das drinnen besprechen? Nachts wird mir immer so schnell kalt.“ Mathros legte ihr die Hand auf die Schulter und sie lächelte kurz. „Das wollte ich auch vorschlagen“, sagte Loz. Mathros ging zur Tür und zog einen Schlüsselbund unter seiner Weste hervor. Er steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn zweimal, dann öffnete sich die Tür knarrend. Einen Schlüssel konnte sich nicht jeder Elf leisten, Schlüssel dienten mehr als Statussymbol denn als Absicherung für Hab und Gut, und waren oft kunstvolle Holz- oder Metallgegenstände.
Luja eilte mit raschen Schritten ins Innere der gemütlichen Baumhöhle, dann folgte Loz und Mathros ging als Letzter und schloss die Tür wieder hinter sich.
„Stallesa“ – das alt-elfische Wort für Licht – sagte Luja, und die Sternenfackeln im Raum herum begannen aufzuleuchten und ihren gleichmäßigen Tanz zu vollführen. Sie leuchteten heller als die Fackeln draußen, was Luja auf magischem Wege kontrollieren konnte. Alle Naturmagie-Zauber wurden auf Alt-Elfisch ausgesprochen, es sei denn, man war professionell genug, um den Zauber nicht mehr aussprechen zu müssen. Luja, die Magie aber nur für den Haushalt gebrauchte, war dies nicht. „Ich habe noch einen Kräutertee von heute Nachmittag“, sagte sie, „soll ich euch welchen machen?“
Loz antwortete: „Ja, bitte.“
Mathros verneinte. Der Ratsvorsitzende ließ sich auf seinem Platz bei dem viereckigen Tisch nieder. Der Tisch stand mit einer Seite zur Wand, Mathros saß auf der gegenüberliegenden. Der Platz zu seiner Rechten war für Luja reserviert, also ließ sich Loz links von Mathros nieder und atmete entspannt aus, als er endlich saß. Schließlich hatte er lange auf Luja und Mathros warten müssen – im Stehen.
Bevor Loz irgendetwas sagen konnte, kam Luja mit einem Tablett herbei, auf dem zwei große Tassen dampfenden Tees standen. Sie hatte ihn wieder mit magischer Hilfe erwärmt, so erklärte sich Loz, warum es so schnell gegangen war. Luja setzte sich auf ihren Platz gegenüber von Loz und wärmte ihre Hände an der Tasse, während ihr Bruder seine eigene dankend vom Tablett nahm und einen kleinen Schluck daraus trank.
„Also. Was können wir für dich tun?“, wollte Luja wissen, während sie die Tasse mit allen Fingern umschloss. Loz stellte seine wieder auf die weiße Tischdecke und sagte: „Wenn ich jetzt anfange zu erzählen, müsst ihr mir eins versprechen: Sagt nicht: Nicht noch eine Zukunftsvision.“
Mathros lagen diese Worte offenbar auf der Zunge, denn er hatte den Mund bei noch eine geöffnet und erst auf Lujas strengen Blick wieder geschlossen. „Was hast du diesmal gesehen?“, fragte Luja. In ihrem Tonfall schwang kein Unglaube mit, eher Interesse. Aber Luja war so ziemlich die Einzige, bei der Loz das feststellen konnte.
Er begann zu berichten: „Ich habe schon seit vielen Nächten denselben Traum. Und manchmal brauche ich auch tagsüber einfach mal an nichts zu denken und schon kommen mir diese Bilder in den Kopf.“ Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. „Ich stehe da jedes Mal an einem Ort in Palor. Manchmal vor eurem Baum, manchmal vor meinem … Einmal war ich beim Hafen, dann war ich wieder bei der Tasfa-Kapelle. Egal. Ich schaue dabei jedes Mal Richtung Treelive und sehe, wie die Stadt von einer Feuerwalze überrollt wird.“
Mathros wollte offenbar etwas sagen, beherrschte sich aber. Loz fuhr fort: „Die Stadt verbrennt. Die Feuerwalze macht einfach alles dem Erdboden gleich. Ich höre immer die Stimmen Tausender sterbender Elfen. Es ist einfach furchtbar. Das Unheil, also die Feuerwalze, kommt dann immer auf Palor zu. Manchmal sehe ich, wie sie jemanden überrollt. Mal Goltan, mal dich, Luja, oder sonst jemanden.“
Luja zuckte bei der Erwähnung ihres Namens kurz zusammen.
„Und wenn sie mich dann trifft, wache ich auf. Einmal habe ich vorher noch einen Falken gesehen. Und einmal ein Wesen, das ich gar nicht beschreiben kann. Es war groß und hatte einen langen Hals … Stacheln am Rücken …“ Loz schloss die Augen, während er sein Gedächtnis durchkramte. Er warf die Hände in die Luft. „Mehr konnte ich mir nicht merken, dieses Wesen betreffend. Es war beängstigend.“ Er beugte sich nach vorne: „Aber eines weiß ich: Das Unheil wird kommen. Es wird kommen, und noch können wir etwas dagegen tun!“ Loz steigerte sich so in die Überbringung dieser Botschaft, dass er aufstand und mit den Handflächen auf den Tisch schlug. „Wir müssen etwas tun!“
Mathros schüttelte verständnislos den Kopf. „Und wie sollen wir dir dabei helfen?“
Loz sah ihn an. „Liegt das nicht auf der Hand? Du bist der Ratsvorsitzende, Mathros. Lege das dem Rat vor.“
„Wenn ich das tue, bin ich die längste Zeit Ratsvorsitzender gewesen“, erinnerte Mathros ihn. „Jeder, der heute noch an Prophezeiungen glaubt, wird für verrückt erklärt.“
Loz schaute ihn durchdringend an. „Sieh mich an“, verlangte er. „Sehe ich verrückt aus?“ Loz wusste, dass seine Augen nur eines ausstrahlten: Weisheit.
Mathros schüttelte den Kopf. „Nein.“ Und er sagte es nicht nur aus Höflichkeit, das wusste Loz. Wieder an beide gewandt sagte er: „Am Anfang war es noch nicht so schlimm, aber jetzt kann ich schon zusehen, wie die Feuerwalze wächst und größer wird und alles zerstört. Glaubt mir, nichts ist schlimmer als zu wissen, wie das Unheil sich entwickelt.“ Loz setzte sich wieder hin. „Aber ich muss mit gebundenen Händen zusehen. Wie du schon sagtest, Mathros, jeder, der an Prophezeiungen glaubt, wird für verrückt erklärt. Und wer sie macht, ebenfalls. Deshalb komme ich ja zu euch. Als Ratsvorsitzender musst du etwas tun können, Mathros.“ Nach einer kurzen Pause des nachdenklichen Schweigens fügte er hinzu: „Das ist mehr als nur eine Vision. Das ist unsere Zukunft. Oder unser Ende.“
Luja starrte in ihre Tasse. „Die Vorstellung, dass wir alle von einer riesigen Feuerwalze überrollt werden … macht mir Angst.“
„Die Feuerwalze verkörpert doch nur das Unheil“, erklärte Loz.
„Welches Unheil?“, wollte Mathros wissen. „Seuchen? Untote? Hungersnöte? Überschwemmungen? Es gibt so viel Unheil.“
„Nichts davon“, sagte Loz, „es ist etwas viel Größeres. Wir werden es mit Mächten zu tun bekommen, vor denen selbst die Götter fliehen werden.“
Ohne es zu wollen, versetzte Loz seine Schwester in Angst. Schließlich fuhr sie hoch und sagte: „Hör auf!“
Loz wandte sich zu ihr um.
„Das … ist zu viel für mich“, sagte sie etwas ruhiger. Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Haut war noch blasser als normal. Mathros ergriff ihre Hand und drückte sie zart.
„Ich wollte dir keine Angst machen“, entschuldigte sich Loz. „Aber ich muss das sagen, bevor es zu spät ist. Noch können wir etwas tun.“
„Ich halte es für besser, wenn du jetzt gehst“, schlug Mathros vor. Luja zitterte weiterhin, doch sie sagte: „Wegen mir? Nein. Wenn es so wichtig ist, dann sag es, Loz. Ich werde es schon irgendwie verarbeiten.“
Loz fand diese Stärke an seiner Schwester bewundernswert. Obwohl sie panische Angst vor jedem Wort hatte, das er sagte, gestattete sie ihm, weiter zu sprechen, damit Mathros den Rat in Kenntnis setzen und damit vielleicht die Elfen retten konnte – alles unter der Voraussetzung, dass Loz’ Vision eintreffen würde.
„Bist du sicher?“, hinterfragte Mathros. Luja nickte steif. „Ja. Rede weiter, Loz.“
Loz schenkte ihr einen anerkennenden und zugleich dankenden Blick, ehe er sich wieder an Mathros wandte. „Ich bitte dich im Namen aller Elfen: Trage meine Vision dem Rat vor.“
Mathros schwieg, wechselte einen Blick mit Luja und nickte schließlich. „Das werde ich. Und ich werde versuchen, sie davon zu überzeugen. Aber ich habe nicht viel Hoffnung.“
„Danke, Mathros. Gib dein Bestes“, bat Loz.
Mathros nickte abermals. Dann fragte er: „Angenommen, diese Macht trifft ein, wie sollen wir uns dagegen wehren?“
Luja zitterte wieder stärker und Mathros rückte mit seinem Stuhl näher an sie, um sie in seine Arme zu nehmen. Luja ließ sich sofort in den schützenden Griff fallen. Mathros strich ihr sanft übers Haar, während er Loz’ Antwort lauschte: „Gegen dieses Unheil können wir uns nicht wehren. Die einzige Möglichkeit ist, davonzulaufen.“
„Fortgehen? Wohin?“, wollte Mathros wissen.
Loz seufzte. „Ich weiß es nicht genau. Sicher wären wir nirgends. Nicht auf der Nachbarinsel. Nicht im Süden, auf Selakun. Nicht im Norden, auf Eupata. Überall leben andere Völker, und wir wissen nicht, wie sie auf uns reagieren werden. Es wäre ein Risiko, aber wenn wir hier bleiben, wäre es …“ Er sprach leiser, als würde Luja ihn dann nicht hören, „… unser sicheres Ende.“
Mathros lehnte sich langsam zurück, ohne seine Frau dabei loszulassen. „Das klingt irgendwie … unglaublich“, sagte er merklich zweifelnd.