Girls & Sex - Peggy Orenstein - E-Book

Girls & Sex E-Book

Peggy Orenstein

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Beschreibung

Was bedeutet es, seine Sexualität in einer Gesellschaft zu entdecken, in der Mädchen möglichst sexy, aber bloß nicht zu freizügig sein sollen? Väter und Mütter wissen oft nicht, wie ihre Teenager-Töchter sich in diesem Spannungsfeld bewegen. Peggy Orenstein hat gefragt, was viele Eltern sich nicht trauen. In Interviews mit über 70 Mädchen sammelte sie bedeutsame Erkenntnisse und zeichnet ein erschreckend deutliches Bild dessen, was das Leben in einer sexualisierten Gesellschaft für junge Frauen bedeutet.

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Seitenzahl: 454

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Buch

Was bedeutet es, seine Sexualität in einer Gesellschaft zu entdecken, in der Mädchen möglichst sexy, aber bloß nicht zu freizügig sein sollen? Väter und Mütter wissen oft nicht, wie ihre Teenager-Töchter sich in diesem Spannungsfeld bewegen. Peggy Orenstein hat gefragt, was viele Eltern sich nicht trauen. In Interviews mit über 70 Mädchen sammelte sie bedeutsame Erkenntnisse und zeichnet ein erschreckend deutliches Bild dessen, was das Leben in einer sexualisierten Gesellschaft für junge Frauen bedeutet.

Autorin

Peggy Orenstein ist Journalistin und Autorin mehrerer New-York-Times-Bestseller. Sie schreibt u.a. regelmäßig für das »New York Times Magazine«, »USA Today« und den »New Yorker«. Sie lebt mit Ehemann und Tochter in Nord-Kalifornien.

PEGGY ORENSTEIN

GIRLS & SEX

Was es bedeutet, in der Gesellschaft von heute erwachsen zu werden

Vorwort von pro familia München

Aus dem Amerikanischen

von Karin Wirth

Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe September 2017

Copyright © 2017 Wilhelm Goldmann, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2016 der Originalausgabe: Peggy Orenstein

Originalhaupttitel: Girls & Sex

Originalverlag: HarperCollins

Umschlag: *zeichenpool, nach einem Entwurf von Helen Yentus

Redaktion: Dagmar Rosenberger

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

MZ ∙ Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-20665-9V001

www.mosaik-verlag.de

Für meine Tochter, meine acht Nichten, meine zwei Neffen, und alle Mädchen und Jungen, die mir auf meinem Weg begegnet sind.

Inhalt

Vorwort

Was Sie noch nie über Mädchen und Sex wissen wollten (aber unbedingt fragen sollten)

Matilda ist kein Sexobjekt – es sei denn, sie will es so

Macht es uns schon Spaß?

Like a Virgin – was immer das bedeuten mag

Sex ohne Liebe: die Aufreiß-Kultur

Geoutet – online und offline

Fließende Übergänge

Raus mit der Sprache!

Dank

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

viele Erwachsene blicken beim Thema Sex mit einer Mischung aus Überraschung und Befremden auf die »Jugend von heute«. Das Nachdenken über heutiges Aufwachsen mit seinen vielfältigen und komplizierten Herausforderungen bleibt oft beim Etikett »Generation Porno« stehen. Die wenigsten machen sich die Mühe, im Dialog mit jungen Menschen selbst zu ergründen, wie diese über sich denken, wie sie Sexualität erleben, wie sie die Dinge deuten.

Anders die US-amerikanische Autorin Peggy Orenstein. Sie wollte wissen, was in den Köpfen von Mädchen und jungen Frauen vorgeht. Sie hat sich Zeit genommen und mit vielen, sehr unterschiedlichen Mädchen gesprochen. Herausgekommen ist eine Bestandsaufnahme, die zeigt, welchem sozialen Druck sich junge Frauen ausgesetzt sehen, wie abwertend weibliche Sexualität nach wie vor verhandelt wird und wie schwer unter diesen Bedingungen sexuelle Selbstbestimmung gedeiht.

Trotz aller Unterschiede zwischen den USA und Deutschland – würde sich hierzulande jemand auf ein vergleichbares Gesprächsprojekt einlassen, die Erkenntnisse wären wohl ähnlich. Als Fachverband für Familienplanung, Sexualität und Sexualpädagogik sind uns von pro familia viele der von Peggy Orenstein beschriebenen Befunde aus der Praxis von Beratung und Aufklärungsarbeit bekannt. Der Einfluss sozialer Netzwerke, medialer Bilder und einer ökonomisierten Sexualität ist hier wie dort offenkundig. Kinder und Jugendliche wachsen selbstverständlich mit Smartphone, Tablet und Computer auf. Ob gewollt oder nicht haben sie dadurch, noch bevor sie selbst erste sexuelle Erfahrungen machen konnten, Zugang zu Bildern und Themen, die oft von fragwürdigem Inhalt sind und sie in ihrer sexuellen Sozialisation beeinflussen.

In unseren sexualpädagogischen Jugendgruppen treffen wir Mädchen, die unsicher sind, was ihre sexuellen Wünsche betrifft, sich nicht trauen, klar ja oder nein zu sagen, die ihren eigenen Körper eklig finden. Mädchen, die zwar reflektieren, dass Jungensexualität anders bewertet wird als Mädchensexualität, dem aber keine Strategien entgegensetzen können. Deren neugieriger, lustvoller Umgang mit Sexualität sie Demütigung und Beschämung fürchten lässt – die die Erfüllung sexueller Wünsche ihrer Partner mit Liebe verwechseln und so viele Appelle hören, dass ihre eigenen Vorstellungen damit zugeschüttet werden.

Dabei schien eine geschlechtergerechte Erziehung in unserer Gesellschaft doch angekommen zu sein. In pädagogischen Einrichtungen ist man sensibler geworden, man unterstützt Mädchen dabei »stark zu sein« und Selbstvertrauen zu haben. Für Eltern ist es heute kein Problem mehr, ihre Tochter im Fußballverein anzumelden oder zum Kampfsport zu schicken. Mädchen dürfen sich schon seit einigen Jahrzehnten mit »Pippi Langstrumpf« und »Ronja Räubertochter« identifizieren und müssen nicht mehr nur brav, angepasst und hübsch sein. Man sieht sie gern mutig, frech, wild und aktiv. Sie sollen sich nicht unterkriegen lassen und können selbstbewusst all das in Anspruch nehmen, was Jungs auch zugestanden wird.

Aber das gilt plötzlich nicht mehr, wenn Mädchen in ein Alter kommen, in dem Sexualität eine Rolle spielt. Dann müssen sie vorsichtig werden, plötzlich auf ihren »Ruf« achten und sehen sich mit den widersprüchlichsten Botschaften konfrontiert. Wirklich richtig machen kann es keine. Auch wenn sich in Sachen Gleichberechtigung in den letzten Jahrzehnten schon viel getan hat, gilt das nicht für den Bereich der Sexualität. Längst überholt geglaubte Moralvorstellungen scheinen wieder Aufwind zu bekommen.

Besonders deutlich wird dies in den sozialen Netzwerken. Die speziellen Codes, auf die Mädchen achten müssen, um sich nicht angreifbar zu machen, sind international vergleichbar. Es wird erwartet, sich möglichst attraktiv und freizügig zu präsentieren, sich zwar »sexy«, aber auf keinen Fall »nuttig« zu inszenieren. Jugendliche müssen heute vor, aber auch während ihrer ersten sexuellen Erfahrungen ständig abwägen, was sie mitteilen und teilen. Das ist anstrengend und kann schnell zu Überforderung führen. Mehr denn je ist die jugendliche Unbekümmertheit und Unerfahrenheit davon bedroht, ausgenutzt zu werden. Das ist an sich nicht neu. Neu ist, dass Fehler nun auch öffentlich sind und noch Jahre später irgendwo im Netz wieder auftauchen können.

Es gibt sie zwar, die selbstbewussten, souverän agierenden jungen Frauen, die zielstrebig ihren Weg gehen. Die Mehrheit aber stellen sie kaum. Und gerade in sexuellen Beziehungen verlässt selbst die bisweilen der Mut, den sie in anderen Lebensbereichen an den Tag legen. Wenn junge Frauen ihre Sexualität lustvoll leben, sehen sie sich immer noch mit Repressalien konfrontiert. Die Vorstellung, Mädchen seien immer an einer Beziehung interessiert, haben die meisten mehr oder weniger verinnerlicht. Lebt ein Mädchen Sex ohne Beziehung, haftet ihr der Makel an, ausgenutzt worden zu sein. Mit dieser Doppelmoral urteilen nicht nur Erwachsene, sondern oft Gleichaltrige und ganz besonders streng die eigenen Geschlechtsgenossinnen. Für manche mag Jungfräulichkeit bis zur Ehe eine Lösung sein, um sich diesem Konflikt zu entziehen.

Das Ganze hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Welche Frauen- und Männerbilder werden vermittelt und als erstrebenswert dargestellt, welche Konsumdiktate werden damit verknüpft? Begehrenswert zu sein heißt heute, begehrenswert auszusehen. Es muss ein Umdenken her. Attraktivität und sexuelle Anziehung sollten nicht darauf reduziert werden, wie man sich in Szene setzt. Mädchen können ihre Sexualität nur dann selbstbestimmt leben, wenn sie frühzeitig positive Unterstützung in ihrer Selbstwert-Entwicklung bekommen und nicht auf moralisierende Geschlechterstereotype festgelegt werden. Dazu gehört auch die positive Besetzung und Bejahung des weiblichen Körpers, schöne von unangenehmen Gefühlen zu unterscheiden, nein und ja sagen zu dürfen, also nicht nur als Objekt zu dienen. Sei es aus Sprachlosigkeit oder aus Scham: Jugendliche reden von sich aus nur selten mit Erwachsenen über sexuelle Erfahrungen und Einstellungen.

Wichtig ist, die Aufklärung nicht allein den Medien zu überlassen. Denn gerade beim Thema Sexualität geht es vor allem darum, Gesehenes oder Erlebtes einordnen und verarbeiten zu können. Deswegen sind Eltern und pädagogische Fachkräfte mehr denn je gefordert, Kindern und Jugendlichen gut zuzuhören, mit ihnen zu reden, sich zu positionieren und eine Orientierungshilfe zu geben.

In diesem Sinne ist Peggy Orensteins Buch beste Aufklärung für Erwachsene, die noch zu anderen Zeiten sexuell sozialisiert wurden. Hier erfahren Sie, welche Erlebnisse Heranwachsende heute mit Sexualität haben, welche Denk- und Verhaltensmuster sie zeigen. Das Buch ist gleichzeitig ein Appell, Töchtern und Söhnen Sexualität als etwas Positives zu vermitteln und sie durch eine offenere Sexualaufklärung zu unterstützen. Gehen wir es an!

Ihr

Sexualpädagogisches Team, pro familia München

EINLEITUNG

Was Sie noch nie über Mädchen und Sex wissen wollten (aber unbedingt fragen sollten)

Vor einigen Jahren wurde mir klar, dass meine Tochter bald kein kleines Mädchen mehr sein würde. Sie hatte die Pubertät vor sich, und das versetzte mich, gelinde gesagt, in Panik. Als sie noch im Kindergarten war und in ihrem Prinzessinnenkostüm herumspazierte, lernte ich die Untiefen der Prinzessinnen-Industrie kennen und gelangte zu der Überzeugung, dass ihre scheinbar unschuldige, hübsche, rosarote Kultur kleine Mädchen auf etwas Heimtückisches vorbereitete, das sie später erwartete. Und dieses »später« kam jetzt auf uns zugerast wie ein Lkw – ein Lkw, dessen Fahrerin zwölf Zentimeter hohe Absätze und einen superkurzen Minirock trug und Instagram checkte, während sie eigentlich auf die Straße schauen sollte. Ich hatte von Freunden, die Eltern von Teenagern waren, Horrorstorys darüber gehört, wie Mädchen in der sogenannten »Aufreiß«-Kultur behandelt wurden, wie sie zum Sexting, also anrüchigen und pornographischen Textnachrichten, gedrängt oder Opfer von Skandalen in den sozialen Medien wurden und wie allgegenwärtig das Thema Sex ist.

Ich hätte eigentlich Expertin im Decodieren der widersprüchlichen Botschaften der Mädchenkultur sein sollen. Ich reiste durch das Land und erklärte Eltern den Unterschied zwischen Sexualisierung und Sexualität. »Wenn kleine Mädchen ›sexy‹ spielen, bevor sie die Bedeutung des Wortes verstehen, lernen sie, dass Sex eine Darbietung für andere statt einer gefühlten Erfahrung ist«, sagte ich ihnen. Wohl wahr. Aber was ist, wenn sie dann die Bedeutung des Wortes verstehen?

Nicht, dass ich eine Antwort darauf gehabt hätte. Ich tat selbst auch nur mein Bestes, um eine gesunde und glückliche Tochter großzuziehen – in einer Zeit, in der Promis sich selbst als Sex-Objekte präsentierten, um Stärke, Macht und Unabhängigkeit zur zeigen, in der begehrenswertes Aussehen ein Ersatz für das Fühlen von Begehren zu sein schien, in der der Film Fifty Shades of Grey mit seiner psychisch labilen, auf ihren Lippen herumkauenden Heldin und seinem gruseligen, stalkenden Milliardär als ultimative weibliche Fantasie gepriesen wurde und in der keine Frau unter 40 noch Schamhaare zu haben schien. Natürlich habe ich als junges Mädchen auch endlos Songs wie »Sexual Healing« und »Like a Virgin« gehört, aber im Vergleich zu L’il Waynes »Bitch«, deren »strenge Diät« im Song »Love Me« aus nichts außer »Schwanz« besteht, oder Maroon 5’s Versprechen in »Animals«, eine Frau aufzuspüren und bei lebendigem Leib aufzufressen, waren sie Stoff für den Disney Channel. (In dem Video zu »Animals« stalkt Lead-Sänger Adam Levine das Objekt seiner Begierde in Metzgerkleidung, einen Fleischerhaken schwingend, und hat am Ende blutverschmiert Sex mit ihr.) Da möchte ich mich doch glatt bei Tipper Gore dafür entschuldigen, wie meine Freundinnen und ich uns in den 90er Jahren über sie lustig gemacht haben. Seither haben unzählige Studien die schockierende Häufigkeit sexueller Gewalt an amerikanischen Colleges nachgewiesen. Das Problem ist so gravierend geworden, dass Präsident Obama (selbst Vater zweier Töchter) sich eingemischt hat.

Obwohl Mädchen inzwischen zahlenmäßig stärker als Jungen an Colleges vertreten waren und obwohl sie sich richtig »reinhängten«, um ihre akademischen und beruflichen Träume zu realisieren, fragte ich mich: Geht es in Sachen Emanzipation voran oder rückwärts? Haben die jungen Frauen von heute mehr Freiheiten als ihre Mütter, wenn es um die Gestaltung sexueller Begegnungen geht, haben sie dabei mehr Einfluss und mehr Kontrolle? Können sie sich besser gegen Stigmatisierung wehren, und sind sie besser dafür gewappnet, ihre Lust zu erkunden? Und falls nicht, warum nicht? Mädchen leben heute in einer Kultur, in der zunehmend akzeptiert wird, dass es keinen Konsens gibt, wenn nicht beide Beteiligten unmissverständlich in eine sexuelle Begegnung einwilligen – nur ja bedeutet ja. So weit, so gut, aber was kommt nach dem Ja?

Ich musste als Mutter und Journalistin die Wahrheit hinter den Schlagzeilen herausfinden – was Realität und was Hype war. Also fing ich an, Mädchen zu interviewen. Ich führte mit ihnen in die Tiefe gehende, stundenlange Gespräche über ihre Einstellungen, Erwartungen und frühen Erfahrungen mit dem gesamten Spektrum der körperlichen Intimität. Ich befragte die Töchter von Freunden von Freunden (und die Freundinnen dieser Mädchen und auch deren Freundinnen) und Schülerinnen von Highschool-Lehrern, die ich kennen gelernt hatte. Ich bat Dozenten an Universitäten, die ich besucht hatte, Rundmails zu verschicken, in denen Mädchen, die daran interessiert waren, mit mir zu sprechen, eingeladen wurden, Kontakt zu mir aufzunehmen. Schließlich befragte ich mehr als 70 junge Frauen zwischen 15 und 20 – eine Altersspanne, in der die meisten sexuell aktiv werden. (Der durchschnittliche amerikanische Teenager hat mit 17 zum ersten Mal Sex; mit 19 hatten drei Viertel aller Teenager schon Sex. Laut einer 2015 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten Studie haben auch in Deuschland die meisten Teenager mit 17 zum ersten Mal Geschlechtsverkehr.) Ich habe mich nur auf Mädchen konzentriert, weil es als Journalistin schon immer meine Leidenschaft und meine Berufung, war, über junge Frauen zu schreiben. Ich berichte seit mehr als 25 Jahren über ihr Leben. Mädchen werden bei ihren auf Sex bezogenen Entscheidungen mit besonderen Widersprüchen konfrontiert: Trotz der veränderten Erwartungen und Chancen unterliegen sie immer noch derselben alten Doppelmoral, dass ein sexuell aktives Mädchen eine »Schlampe« ist, während ein sexuell aktiver Junge als cooler »Aufreißer« gilt. Heute werden allerdings auch Mädchen, die auf Sex verzichten und früher als »tugendhaft« gegolten hätten, verächtlich als »Jungfrauen« oder als »prüde« bezeichnet. Oder wie eine Oberstufenschülerin es ausdrückte: »Normalerweise ist das Gegenteil von etwas Negativem etwas Positives, aber in diesem Fall ist beides negativ. Wie soll man sich da verhalten?«

Ich nehme nicht für mich in Anspruch, die Erfahrungen aller jungen Frauen wiederzugeben. Meine Interviewpartnerinnen waren entweder schon auf dem College oder hatten vor, dorthin zu gehen. Ich wollte gerade mit den jungen Frauen sprechen, die das Gefühl hatten, dass ihnen alle Chancen offenstehen, und die am meisten vom wirtschaftlichen und politischen Fortschritt profitierten. Ich hatte sie auch selbst ausgewählt. Doch ich hatte dabei mein Netz weit gespannt: Die Mädchen, die ich traf, kamen vom Land, aus Groß- und Kleinstädten. Sie waren Katholikinnen, Protestantinnen, Evangelikale, Jüdinnen und konfessionslos. Bei manchen waren die Eltern verheiratet, bei anderen geschieden; manche lebten in Patchworkfamilien, andere bei allein erziehenden Elternteilen. Die Mädchen hatten einen politisch konservativen oder liberalen Hintergrund, wenn auch die meisten eher letzterem zuneigten. Die meisten von ihnen waren Weiße, aber viele auch Afroamerikaner oder asiatischer, lateinamerikanischer oder arabischer Herkunft. Etwa zehn Prozent gaben an, lesbisch oder bisexuell zu sein, auch wenn die meisten, insbesondere wenn sie noch auf der Highschool waren, ihre Neigung noch nicht ausgelebt hatten. Zwei der Mädchen waren körperlich behindert. Die weitaus meisten kamen zwar aus der oberen Mittelschicht, aber es gab auch andere ökonomische Hintergründe. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich alle Namen und Details, die eine Identifizierung ermöglichen würden, geändert.

Zuerst machte ich mir Sorgen darüber, dass die Mädchen vielleicht nicht bereit sein würden, mit mir über ein so persönliches Thema zu reden. Doch diese Sorgen waren völlig unbegründet. Wo immer ich hinkam, gab es mehr Freiwillige, als ich befragen konnte. Die Mädchen waren nicht nur bereit zu sprechen, sondern geradezu begierig darauf. Kein Erwachsener hatte sich bisher für ihre Erfahrung mit der Sexualität interessiert – was sie taten, warum sie es taten, wie es sich anfühlte, was sie sich erhofften, was sie bedauerten, was ihnen Spaß machte. In den Interviews kam ich oft kaum dazu, eine Frage zu stellen. Die Mädchen fingen einfach zu sprechen an, und ehe wirs uns versahen, waren Stunden vergangen. Sie erzählten mir, was sie über Selbstbefriedigung und Oralsex (sowohl passiv als auch aktiv) und den Orgasmus dachten. Sie sprachen über den schmalen Grat zwischen Jungfrau und Schlampe. Sie sprachen über aggressive und einfühlsame Jungs, über Jungs, die Gewalt ausübten, und über Jungs, die ihnen den Glauben an die Liebe zurückgaben. Sie gestanden, sich zu Mädchen hingezogen zu fühlen, und sprachen über ihre Angst vor elterlicher Ablehnung. Sie sprachen über das komplizierte Terrain der sogenannten »Aufreiß«-Kultur, in der es nur um Sex und nicht um Gefühle geht. Sie ist heute an Colleges gang und gäbe und breitet sich allmählich auch an den Highschools aus. Etwa die Hälfte der Mädchen hatte Erfahrungen irgendwo im Spektrum zwischen Nötigung und Vergewaltigung gemacht. Diese Geschichten waren nur schwer zu ertragen. Ebenso beunruhigend war, dass nur zwei der betroffenen Mädchen zuvor schon mit einem Erwachsenen darüber gesprochen hatten.

Aber auch wenn sie über einvernehmliche sexuelle Begegnungen berichteten, tat es mir oft weh, den Mädchen zuzuhören. Das klingt vielleicht nicht neu, aber allein diese Tatsache ist schon hinterfragenswert. Wenn sich im öffentlichen Bereich so viel für die Mädchen verändert hat, warum hat sich dann nicht mehr – viel mehr – im privaten Bereich verändert? Kann es echte Gleichberechtigung im Klassenzimmer und auf den Vorstandsetagen geben, wenn es keine Gleichberechtigung im Bett gibt? 1995 erklärte der Nationale Ausschuss zur sexuellen Gesundheit Jugendlicher in den USA eine gesunde sexuelle Entwicklung zum Grundrecht des Menschen. Intimität zwischen Jugendlichen, so hieß es damals, sollte »einvernehmlich, frei von Ausbeutung, ehrlich, lustvoll und vor ungewollter Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten geschützt sein.« Wie kommt es, dass wir mehr als zwei Jahrzehnte später noch so beschämend weit von diesem Ziel entfernt sind?

Sara McClelland, Professorin für Psychologie an der Universität Michigan, schreibt über Sexualität als eine Frage der »Gerechtigkeit in intimen Beziehungen«, die grundlegende Aspekte der Geschlechterungleichheit, der ökonomischen Unterschiede, der Gewalt, der körperlichen Unversehrtheit, der körperlichen und geistigen Gesundheit, der Selbstwirksamkeit und die Machtdynamik in unseren persönlichsten Beziehungen berührt. Sie fordert uns auf, uns zu fragen: Wer hat das Recht, sexuell aktiv zu sein? Wer hat das Recht, sexuelle Aktivität zu genießen? Wer ist der Nutznießer der Erfahrung? Wer hat das Gefühl, sie verdient zu haben? Wie definieren die Beteiligten »gut genug«? Das sind im Zusammenhang mit weiblicher Sexualität in jedem Alter schwierige Fragen, aber besonders schwierig sind sie, wenn es um die ersten, prägenden Erfahrungen von Mädchen geht. Dennoch war ich entschlossen, sie zu stellen.

Einige der Mädchen, mit denen ich sprach, blieben noch lange danach mit mir in Kontakt. Sie hielten mich per E-Mail über neue Beziehungen oder sich verändernde Überzeugungen auf dem Laufenden. »Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich wegen unseres Gesprächs mein Hauptfach gewechselt habe«, schrieb ein Mädchen. »Ich werde jetzt Gesundheitswissenschaften, mit Schwerpunkt auf Geschlechterrollen und Sexualität, studieren.« Eine Schülerin schrieb mir, dass unser Gespräch die Fragen beeinflusst habe, die sie bei der Besichtigung von Colleges gestellt habe. Eine dritte, eine Oberstufenschülerin, gestand ihrem Freund, dass alle ihre bisherigen Orgasmen gespielt gewesen seien. Eine weitere Schülerin forderte ihren Freund auf, sie nicht mehr in Bezug auf Orgasmen unter Druck zu setzen, da es den Sex ruiniere.

Die Interviews – mit den jungen Frauen selbst sowie mit Psychologen, Soziologen, Kinderärzten, Lehrern, Journalisten und anderen Experten – veränderten auch mich. Sie zwangen mich, mich mit meinen vorgefassten Meinungen auseinanderzusetzen, mein Unbehagen zu überwinden, mir über meine Werte klar zu werden. Ich glaube, dass ich dadurch zu einer besseren Mutter, einer besseren Tante und einer besseren Verbündeten für all die jungen Frauen (und jungen Männer) in meinem Leben geworden bin. Ich hoffe, dass es Ihnen nach der Lektüre dieses Buches genauso geht.

Matilda ist kein Sexobjekt – es sei denn, sie will es so

Camila Ortiz und Izzy Lang hatten das alles schon mal gehört. Sie waren Oberstufen-Schülerinnen an einer großen kalifornischen Highschool (mit mehr als 3.300 Schülern), und es war bereits ihre vierte Schulversammlung zum Schuljahresanfang. Sie saßen weiter hinten in der Aula und waren abwechselnd mit Tagträumen und Plaudern beschäftigt, während vorne über die Bedeutung des regelmäßigen Schulbesuchs (»besonders für die Oberstufe«), Verhaltensweisen, die zum Schulverweis führen konnten, Zigaretten-, Alkohol- und Marihuanakonsum gepredigt wurde. Dann wandte sich der Rektor an die anwesenden Mädchen. »Er sagte so was wie: ›Meine Damen, wenn ihr ausgeht, müsst ihr euch so anziehen, dass ihr euch selbst und euren Familien Respekt erweist‹«, erinnerte sich Lizzy. Sie war blond und blauäugig und hatte in einer Wange ein Grübchen, das tiefer wurde, wenn sie sprach. »›Das ist nicht der richtige Ort für extrakurze Shorts oder Tops. Ihr müsst euch fragen: Wenn euch eure Großmutter anschaut, ist sie dann zufrieden mit dem, was ihr anhabt?‹«

Camila, deren linken Nasenflügel ein feiner Kristallstecker zierte, fiel mit erhobenem Zeigefinger ein: »›Ihr müsst euch aus Respekt vor euch selbst bedecken.‹ Ihr müsst euch selbst respektieren. Ihr müsst eure Familie respektieren. Dieser Gedanke wurde einfach … ständig wiederholt. Und von da ging er direkt zu den Folien über, auf denen es um sexuelle Belästigung geht. Als ob es da einen Zusammenhang gibt. Als ob man, wenn man sich nicht durch den eigenen Kleidungsstil ›selbst respektiert‹, belästigt wird und dann selbst dran schuld ist, weil man eben dieses Tanktop getragen hat.«

Camila hatte im Lauf ihrer Schulzeit gelernt, dass es wichtig ist, Ungerechtigkeiten anzuprangern und für seine Meinung »aufzustehen«. Also begann sie, den Namen des Rektors zu rufen. »Mr Williams! Mr Williams«, schrie sie. Er lud sie ein, nach vorn zu kommen, und übergab ihr das Mikrofon. »Hi, ich bin Camila«, sagte sie. »Ich bin in der zwölften Klasse, und ich denke, dass das, was Sie gerade gesagt haben, nicht in Ordnung ist. Es ist extrem sexistisch und fördert die ›Vergewaltigungskultur‹. Wenn ich ein Tanktop und Shorts tragen will, weil es heiß ist, sollte ich das tun dürfen, und das hat nichts damit zu tun, wie sehr ich mich selbst ›respektiere‹. Was Sie sagen, ist einfach eine Fortsetzung dieses Teufelskreises, in dem man dem Opfer die Schuld gibt.« Die Schüler in der Aula jubelten, und Camila gab das Mikrofon zurück.

»Danke, Camila. Ich stimme dir völlig zu«, sagte Mr Williams, während sie zu ihrem Platz zurückging. Dann fügte er hinzu: »Aber für diese Art von Kleidung gibt es eine richtige Zeit und einen richtigen Ort.«

Das war nicht das erste Mal, dass ich etwas über provokative Kleidung von Mädchen gehört hatte – von Eltern, von Lehrern, von Verwaltungsmitarbeitern, von den Mädchen selbst. Eltern stritten mit ihren Töchtern über zu kurze Shorts, zu tiefe Ausschnitte oder hautenge Yogahosen, die »alles zeigten«. Warum müssen sich Mädchen so anziehen?, fragten Mütter, auch wenn manche selbst ähnliche Outfits trugen. Rektoren versuchten, an ihren Schulen »anständige Kleidung« zu erzwingen, und weckten damit Widerstand. In den Vororten von Chicago protestierten Achtklässlerinnen gegen eine vorgesehene Richtlinie, mit der das Tragen von Leggings verboten werden sollte. Schüler einer Highschool in Utah ließen sich im Internet darüber aus, als sie entdeckten, dass bei den Jahrbuchfotos Ausschnitte und Ärmel der Mädchen digital nachbearbeitet worden waren.

Jungs geraten mit Kleidungsvorschriften in Konflikt, wenn sie sich über Autoritäten und gesellschaftliche Normen hinwegsetzen – als Hippies, die dem Establishment trotzen, oder »Gangstertypen« mit herunterhängendem Hosenboden. Bei Mädchen geht es immer um Sex. »Anstand« zu erzwingen, gilt als eine Möglichkeit, die Sexualität junger Frauen zu schützen und gleichzeitig die der jungen Männer im Zaum zu halten. Nach der Schülerversammlung sprach eine Mitarbeiterin der Schulverwaltung Camila im Flur an: »Ich verstehe vollkommen, dass du selbst entscheiden willst, was du trägst, aber diese Art von Kleidung lenkt einfach ab. Denk doch an deine Lehrer und männlichen Mitschüler.«

»Vielleicht sollten keine männlichen Lehrer eingestellt werden, die mir auf den Busen starren!«, gab Camila zurück. Die Mitarbeiterin meinte, sie könnten das Gespräch später fortsetzen, aber dazu kam es nie.

Das lag nun drei Monate zurück, und Camila war immer noch wütend. »In Wahrheit kommt es nicht darauf an, was ich trage«, sagte sie. »An vier von fünf Tagen wird mir in der Schule hinterhergerufen, ich werde angestarrt, ich werde von oben bis unten gemustert und ich werde angefasst. Man akzeptiert so was einfach als Teil des Schullebens. Ich kann nichts für meine Figur, und zu wissen, dass jedes Mal, wenn ich aufstehe, um meinen Bleistift zu spitzen, jemand meinen Hintern kommentiert, ist für mich extrem ablenkend. Das passiert Jungs nicht. Kein Typ ist je den Flur entlanggegangen und hat hinter sich Mädchen rufen hören: ›Hey, deine Beine sehen toll aus, die sind richtig heiß.‹«

Camila hat Recht. Direkt mit Jungen darüber zu reden, ist die einzige Möglichkeit, ihnen klarzumachen, dass der Körper eines Mädchens nicht dazu da ist, von Jungs beurteilt (oder gar angefasst) zu werden, wann und wie immer ihnen der Sinn danach steht. Letztes Jahr erstellten Jungs an der Highschool der beiden Mädchen ein Instagram-Konto, um THOTs (ein Akronym für »That Ho Over There« – »Diese Schlampe da drüben«) anzuprangern. (Jede Generation scheint ein neues Wort zur Verunglimpfung von Frauen und zur Dämonisierung ihrer Sexualität zu erfinden.) Die Jungen luden Bilder von den Instagram- oder Twitter-Konten der Mädchen herunter oder nahmen welche im Flur auf und setzten als Bildunterschrift die angebliche sexuelle Vorgeschichte des Mädchens darunter. Alle ausgewählten Mädchen waren schwarz oder Latinas. Camila war eine von ihnen. »Es war so verletzend«, sagte sie. »Ein Teil der Bildunterschrift lautete: ›Fick sie doch und hab deinen Spaß.‹ Ich musste in die Schule gehen, während das da draußen zu sehen war.« Als sie eine formale Beschwerde einreichte, wurde sie in einen Raum mit vier männlichen Schulsicherheitskräften gebracht, die sie fragten, ob sie die ihr nachgesagten sexuellen Handlungen tatsächlich ausgeführt habe. Camila fühlte sich gedemütigt und ließ die Beschwerde fallen. Das Instagram-Konto wurde irgendwann aufgelöst, aber die Urheber wurden nie gefasst.

Ob online oder IRL (»in real life«) – Camila war kein Einzelfall. Ein anderes Mädchen, das eine Highschool im nahegelegenen Marin County in Kalifornien besuchte und dort in der Volleyballmannschaft spielte, berichtete mir, wie sich Jungs aus der Fußballmannschaft auf der Tribüne versammelten und sie und ihre Teamkolleginnen während des Trainings belästigten, indem sie Dinge wie »Schöner Arsch!« riefen, wenn die Mädchen zum Wurf hochsprangen. (Im Internet gibt es übrigens Hunderte von Nahaufnahmen der Rückansicht minderjähriger Mädchen in Volleyballshorts.) Eine Oberstufenschülerin aus San Francisco beschrieb, wie nur wenige Tage nach ihrem Eintreffen bei einem Journalismus-Sommerkurs in Chicago die teilnehmenden Jungs eine »Schlampentabelle« erstellten, in der sie ihre Kurskolleginnen danach einstuften, »wen sie ficken wollten«.

»Die Mädchen waren stocksauer«, erzählte sie mir, »aber was sollten wir tun?« Wenn man sich beschwert und auf der Liste steht, ist man prüde. Wenn man sich beschwert und nicht draufsteht, ist man ja bloß hässlich und neidisch. Und wenn man es als sexistisch anprangert, ist man eine humorlose feministische Zicke und Lesbe.«

Mir wurde von einem Jungen berichtet, der behauptete, »Zauberarme« zu haben. Er umarmte an seiner öffentlichen Schule in New York City wahllos Mädchen und gab dann seine Einschätzung ihrer BH-Größe bekannt. Ich hörte von einem Jungen, der bei einer Party in Saint Paul, Minnesota, auf ein fremdes Mädchen zuging und fragte: »Darf ich deine Titten anfassen?«, und von Jungs, die ihr Becken – insbesondere nach ein paar (oder ein paar mehr) Drinks – beim Tanzen ungebeten von hinten am Po von Mädchen rieben. Die meisten Mädchen hatten gelernt, sich solchen Situationen unauffällig zu entziehen, wenn sie kein Interesse hatten. Die Jungs ließen es dann meistens auf sich beruhen. Einige junge Frauen berichteten jedoch, dass ein Tanzpartner weiter gegangen sei, ihren Rock zur Seite geschoben und einen Finger in ihre Unterwäsche gesteckt habe. Im College schaffen es Mädchen bei Partys von Studentenverbindungen manchmal gar nicht erst auf die Tanzfläche, ohne vorher den sogenannten »Schönheitstest« am Eingang bestanden zu haben, wo ein ausgewähltes männliches Verbindungsmitglied »entscheidet, ob man angenommen oder abgewiesen wird, das heißt ob man schön oder hässlich ist. Er ist der Grund dafür, dass man auch bei Temperaturen unter null besser ein bauchfreies Oberteil trägt, wenn man nicht allein zu Hause enden, Popcorn aus der Mikrowelle essen und mit Mama telefonieren will.«

Ich sage es hier nur ein Mal und wiederhole es dann im Rest des Buches nicht mehr (weil es offenkundig ist): Nicht alle Jungen verhalten sich so, ganz und gar nicht, und viele junge Männer sind die treuesten Verbündeten der Mädchen. Aber jedes Mädchen, mit dem ich gesprochen habe, jedes einzelne Mädchen, ist – unabhängig von seiner sozialen oder ethnischen Herkunft oder sexuellen Orientierung, von Kleidungsstil und Aussehen – in der Schule schon belästigt worden. Wer ist also wirklich der Gefahr ausgesetzt, vom Lernen »abgelenkt« zu werden? […]

In der Kleidung der Mädchen die Ursache für die Gedanken und Handlungen von Jungen zu sehen, ist bestenfalls kontraproduktiv. Schlimmstenfalls ist es von da aus nur ein kleiner Schritt zu der Aussage: »Sie hat es doch herausgefordert.« Und doch werde ich auch das Gefühl nicht los, dass Mädchen wie Camila, die »sogenannte provokative Kleidung« bevorzugen, etwas übersehen. Das Recht auf unbedeckte Arme (und Beine und Dekolletés und Taillen) als feministischen Schlachtruf zu verwenden, klingt für mich verdächtig nach Orwell. Ich erinnere mich an die einfache Sexismus-Testfrage der britischen Feministin Caitlin Moran, auf die sich Camila unbewusst bezog: Machen Jungs dasselbe? »Wenn nicht«, schreibt Moran, »ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihr es mit ›komplettem Schwachsinn‹ zu tun habt, wie wir streitbaren Feministinnen es nennen würden.«

Es wird zwar nur Mädchen hinterhergepfiffen, aber es wird auch nur ihnen durch die Mädchenmode schon sehr früh ein Bewusstsein für den eigenen weiblichen Körper aufgedrängt. »Target« bietet Bikinis, »Gap« sogenannte »skinny Jeans« für Kleinkinder an. Vorschulkinder verehren Disney-Prinzessinnen, deren Augen größer als ihre Taille sind. Keiner versucht, elfjährige Jungs dazu zu überreden, winzige Hotpants zu tragen oder im Winter bauchfrei herumzulaufen. So sehr es mich beunruhigt, wie die Sexualität von Mädchen über ihre Kleidung kontrolliert wird, so beunruhigt mich auch der unaufhörliche Trommelschlag der Selbstobjektifizierung: der Druck, der auf jungen Frauen lastet, ihren Wert auf ihren Körper zu reduzieren und diesen Körper bloß als eine Ansammlung von Teilen zu sehen, die anderen Freude bereiten sollen, ständig ihr Aussehen zu überwachen und Sinnlichkeit nicht zu fühlen, sondern nur darzubieten.

Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit Deborah Tolman, Professorin am Hunter College und vielleicht die führende Expertin auf dem Gebiet der sexuellen Bedürfnisse junger Frauen. In ihrer Arbeit schreibt sie, dass die Mädchen begonnen hätten, »Fragen dazu, wie sich ihr Körper anfühle – Fragen zu Sexualität und Erregung – dadurch zu beantworten, dass sie beschreiben, wie ihr Körper ihrer Meinung nach aussieht. Ich musste sie daran erinnern, dass gutes Aussehen kein Gefühl ist.« Selbstobjektifizierung wird mit Depressionen, reduzierten kognitiven Funktionen, einem schlechteren Notendurchschnitt, einer verzerrten Selbstwahrnehmung, der Überwachung des eigenen Körpers, Essstörungen, riskantem Sexualverhalten und verringerter Lust in Zusammenhang gebracht. In einer Studie mit Achtklässlern waren Unterschiede in Bezug auf Depressionen bei Mädchen zur Hälfte und Unterschiede beim Selbstwertgefühl zu mehr als zwei Dritteln der Selbstobjektifizierung zuzuschreiben. In einer weiteren Studie wurde eine Verbindung zwischen der Fokussierung von Mädchen auf ihr Aussehen und verstärkten Scham- und Angstgefühlen in Bezug auf ihren Körper hergestellt. Eine Studie mit Zwölftklässlern brachte Selbstobjektifizierung mit negativeren Einstellungen gegenüber Sexualität, Unbehagen bei Gesprächen über Sex und vermehrtem Bedauern sexueller Interaktionen in Verbindung. Es wurde auch ein Zusammenhang zwischen Selbstobjektifizierung und geringerer politischer Wirksamkeit (der Vorstellung, im öffentlichen Raum Einfluss nehmen oder eine Veränderung herbeiführen zu können) festgestellt.

Trotz all dieser Risiken ist die Übersexualisierung allgegenwärtig und so sichtbar, dass sie fast schon wieder unsichtbar wird: Sie ist das Wasser, in dem Mädchen schwimmen, die Luft, die sie atmen. Was auch immer sie sonst sein mögen – Sportlerinnen, Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Musikerinnen, Nachrichtensprecherinnen, Politikerinnen –, sie lernen, dass sie als Frauen in erster Linie Sexappeal ausstrahlen müssen. In einem Bericht der Universität Princeton aus dem Jahr 2011 wurde die in den letzten zehn Jahren sinkende Zahl von Studentinnen in öffentlichen Führungspositionen untersucht. Als einen der Gründe für die Vermeidung dieser Positionen nannten die befragten jungen, privilegierten Frauen, dass es nicht ausreiche, qualifiziert zu sein. Sie müssten »intelligent, ehrgeizig, in viele Aktivitäten involviert und zusätzlich noch schön, sexy, dünn, nett und freundlich sein.« Oder, wie eine Absolventin es ausdrückte, Frauen mussten »alles machen, es gut machen und dabei ›heiß‹ aussehen.« Eine Studie am Boston College aus dem Jahr 2013 ergab, dass Studentinnen bei ihrem Abschluss ein geringeres Selbstwertgefühl hatten als zu Beginn des Studiums (während das Selbstwertgefühl der jungen Männer während des Studiums wuchs). Auch sie führten dies zum Teil auf den Druck zurück, immer gut auszusehen oder sich auf eine bestimmte Art zu kleiden. In einer Umfrage an der Duke University, die zu ähnlichen Ergebnissen kam, nannte eine Studentin im zweiten Studienjahr dieses Phänomen »mühelose Perfektion«, die »Erwartung, dass man immer schlau, erfolgreich, fit, schön und beliebt ist, und all das ohne sichtbare Anstrengung«. Kein Wunder, dass sie sich damit schwertaten.

Wie die Journalistin Ariel Levy in ihrem Buch Female Chauvinist Pigs schrieb, ist »heiß« etwas anderes als »schön« oder »attraktiv«. Es ist eine kommerzialisierte, eindimensionale, unbegrenzt reproduzierbare und – offen gesagt – einfallslose Sichtweise der sexuellen Attraktivität, die sich auf zwei Wörter reduzieren lässt: »fickbar und verkäuflich.« Levy sagt, dass es Aufgabe der Frauen sei, »heiß« zu sein, und dies wurde nirgends deutlicher als auf einem Cover der Zeitschrift Vanity Fair aus dem Jahr 2015, auf dem die Transsexuelle Caitlyn Jenner, ehemals Bruce, zu sehen ist. Um ihre körperliche Verwandlung vom Mann zur Frau bekannt zu geben, zeigte sich die 65-Jährige in einem Korsett mit herausquellenden Brüsten, die Lippen geschminkt wie ein naives Mädchen. Dieses Bild wurde in der Presse oft einem Bild von ihr als Bruce gegenübergestellt, das ihn nach dem Gewinn der Goldmedaille zeigt – mit schweißnassem Haar, die Arme im Triumph nach oben gerissen. Als Mann nutzte er seinen Körper, als Frau stellte sie ihn zur Schau. Es ist sicherlich keine neue Erkenntnis, dass Mädchen an einer extrem engen, oft chirurgisch oder digital optimierten Idealvorstellung von »sexy« gemessen und dann als »Schlampen« abgestempelt werden, wenn sie versuchen, diesem Ideal gerecht zu werden. Was sich geändert hat, ist Folgendes: Während medienkompetente, feministisch orientierte Frauen früherer Generationen in ihrer Objektifizierung etwas sahen, gegen das es zu protestieren galt, sehen viele Frauen darin heute eine persönliche Entscheidung, in der die eigene Sexualität zum Ausdruck kommt, statt sie als etwas Aufgezwungenes zu empfinden. Und warum sollten sie das auch nicht tun, wenn ein »heißes« Aussehen doch als obligatorisch, als eine Voraussetzung für die Bedeutung, Stärke und Unabhängigkeit einer Frau dargestellt wird?

Die Mädchen, mit denen ich gesprochen habe, erzählten, dass sie sich in freizügiger Kleidung zugleich stark und schwach fühlten. Sie verwendeten Wörter wie befreiend, mutig, »Boss Bitch« oder begehrenswert, auch wenn sie ihre Empörung über die ständige öffentliche Beurteilung ihres Körpers ausdrücken wollten. Sie hatten das Gefühl, aktiv ein sexualisiertes Image zu wählen – was niemanden außer ihnen selbst etwas anging –, unddoch gleichzeitig keine Wahl zu haben. »Man will herausstechen«, sagte mir eine Studentin im zweiten Collegejahr. »Man will anziehend wirken. Das heißt, es geht nicht nur darum, ›heiß‹ zu sein, sondern darum, wer am heißesten sein kann. Eine meiner Freundinnen ist inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem sie praktisch nackt zu Partys geht.« Mädchen wechseln Tag für Tag, Augenblick für Augenblick, zwischen Subjekt und Objekt – manchmal ohne es zu wollen, manchmal selbst unsicher, was sie gerade sind. Camila zum Beispiel hatte am vorherigen Tag ein brandneues Bustier-Oberteil in der Schule getragen. »Beim Anziehen dachte ich: ›Ich bin wirklich zufrieden mit mir‹«, sagte sie. »›Ich fühle mich wirklich heiß, und das wird ein guter Tag.‹ Sobald ich in der Schule war, fühlte ich mich« – sie schnipste mit den Fingern – »als ob ich automatisch keine Kontrolle mehr hätte. Die Leute starren dich an, mustern dich von oben bis unten und sagen dabei Dinge. Ich habe angefangen, mich zu hinterfragen, zu denken ›Du hättest dieses Oberteil nicht anziehen sollen. Es ist zu freizügig, zu eng.‹ Es war demütigend.« Während ich Camila zuhörte, wurde mir bewusst, dass die Qualität ihres Tages davon abhängig war, wie »heiß« sie sich fühlte. Und mir wurde auch bewusst, dass sie mitten in ihrer Geschichte die Erzählperspektive änderte und in die zweite Person wechselte – als ob sie sich plötzlich, genau wie die andern um sie herum, als Objekt gesehen habe.

Früher habe ich bei Vorträgen an Colleges oder vor Elterngruppen immer gesagt, dass man Sexualisierung von Sexualität dadurch unterscheiden kann, dass Ersteres den Mädchen von außen aufgezwungen wird, während sich das andere im Inneren entwickelt. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich so einfach ist. Es mag eindeutig ungesund erscheinen, wenn eine Dreijährige darauf besteht jeden Tag High Heels in der Vorschule zu tragen oder wenn eine Fünfjährige fragt, ob sie »sexy« sei, oder eine Siebenjährige um den gepolsterten Bikini von Abercrombie bettelt (ein Artikel, der nach elterlichen Protesten aus dem Sortiment genommen wurde). Aber wie sieht es mit der 16-Jährigen aus, die mit einem Bikinioberteil und Hotpants bekleidet das Auto ihres Freundes wäscht? Und was ist mit dem Strip-Aerobic-Kurs, an dem die Studienanfängerin teilnimmt? Wie Sydney, eine Oberstufenschülerin mit überdimensionierter Nerd-Brille, mich fragte: »Ist es nicht ein Unterschied, ob man sich wie eine Schlampe anzieht, weil man nicht mit sich zufrieden ist und deshalb Bestätigung sucht, oder sich wie eine Schlampe anzieht, weil man mit sich zufrieden ist und keine Bestätigung braucht?«

»Das könnte sein«, antwortete ich. »Erkläre mir, wie du den Unterschied erkennst.«

Sydney senkte ihren Blick auf den abgesplitterten schwarzen Lack auf ihren Nägeln und fing an, einen ihrer silbernen Ringe von einem Finger auf den anderen zu stecken. »Das kann ich nicht«, sagte sie einen Augenblick später. »Mein ganzes Leben ist ein Versuch herauszufinden, was ich in meinem Innersten wirklich mag – im Gegensatz dazu, was ich von anderen Leuten hören will, oder dazu, dass ich ein bestimmtes Aussehen haben will, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Und ein Teil von mir fühlt sich deswegen um mein eigenes Glück betrogen.«

Mädchen wehren sich gegen die Zwänge des »sexy Aussehens«, gegen die widersprüchliche Botschaft, dass es zwar obligatorisch, aber gleichzeitig die Rechtfertigung für Belästigungen oder Übergriffe ist. Nachdem ein Polizist in Toronto Collegestudentinnen vorgeschlagen hatte, sich weniger provokativ zu kleiden, wenn sie sexuelle Übergriffe vermeiden wollten, entstand 2011 die spontane Bewegung der »Slutwalks« (»Schlampenmärsche«). Wütende junge Frauen auf der ganzen Welt, viele in Netzstrümpfen und Strapsen, gingen auf die Straße und hielten Schilder hoch, auf denen Dinge standen wie: »Mein Outfit ist kein Ja!« und »Mein Hintern ist keine Entschuldigung für Belästigungen!« Am anderen Ende des Spektrums machten junge Frauen aus der Generation Y Schlagzeilen, weil sie ihre Achselhaare nicht mehr rasierten und das allgemein unter dem Namen »Stringtanga« bekannte Folterinstrument ablehnten (manche trugen stattdessen Oma-Unterhosen mit der Aufschrift »Feministin« quer über dem Hintern) und damit bewiesen, dass sie sexy sein konnten, ohne das Klischee »heiß« zu bedienen. Eine individuellere Lösung hatte eine Kunststudentin für sich gefunden: Sie war das »Kostüm«, das von Mädchen auf Collegepartys erwartet wurde, leid und hatte sich für ein anderes entschieden: Sie erschien bei Partys als glitzerndes Einhorn verkleidet. »Ich fühle mich befreit«, sagte sie mir. »Es ist immer noch recht körperbetont, und das Make-up ist sehr aufwändig, aber ich bin vollkommen bedeckt. Und ich bin einzigartig.«

Hot or Not: Soziale Medien und das neue Produkt »Körper«

Mädchen waren in ihrem Nachdenken über sich selbst nicht schon immer auf das Physische konzentriert. Vor dem ersten Weltkrieg bedeutete Selbstverbesserung, weniger auf sich selbst fokussiert, weniger eitel zu sein und stattdessen anderen zu helfen, sich auf die Schule zu konzentrieren, belesener zu werden und Empathie zu entwickeln. Die Autorin Joan Jacobs Brumberg beleuchtet diese Veränderung in ihrem Buch The Body Project durch einen Vergleich der Neujahrsvorsätze von Mädchen am Ende des 19. und des 20. Jahrhunderts: Ein Mädchen schrieb im Jahr 1892: »Ich bin entschlossen zu denken, bevor ich spreche. Ernsthaft zu arbeiten. In Unterhaltungen und Handlungen zurückhaltender zu sein. Meine Gedanken nicht abschweifen zu lassen. Würdevoll zu sein. Mich mehr für andere zu interessieren.«

Und hundert Jahre später schreiben junge Mädchen:

»Ich werde versuchen, mich auf jede mögliche Art und Weise zu verbessern …. Ich werde abnehmen, neue Kontaktlinsen kaufen, ich habe schon eine neue Frisur, gutes Make-up, neue Kleidung und Accessoires.«

Brumbergs Buch wurde Ende der 90er Jahre veröffentlicht, ungefähr ein Jahrzehnt, bevor die sozialen Medien ihren Durchbruch hatten. Mit dem Aufkommen von MySpace, Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat, Tumblr, Tinder, YikYak und – ihr werdet schon sehen! – einem mit den sozialen Medien verbundenen Mikrochip, den man bald in unser aller Köpfe implantieren wird, ist der Körper noch mehr zum ultimativen Ausdruck des weiblichen Selbst geworden und hat sich von einem »Projekt« zum bewusst vermarkteten »Produkt« entwickelt. Die sozialen Medien können auf vielerlei Art unterhaltsam und kreativ, verbindend und politisch sein. Sie können eine Rettungsleine für Jugendliche sein, die das Gefühl haben, anders als Gleichaltrige zu sein (vor allem für homosexuelle Teenager), indem sie ihnen wichtige Unterstützung und Gemeinschaft bieten. Aber sie haben auch die Externalisierung des Selbstbildes junger Frauen noch weiter verstärkt. Es deutet vieles darauf hin, dass ein Mädchen, das seinem Aussehen und seinem Gewicht eine große Bedeutung beimisst, häufig den magischen Spiegel seines SocialMedia-Profils zu Rate zieht. Und umgekehrt: Je öfter das Mädchen sein Profil überprüft, desto wichtiger werden ihm Aussehen, Gewicht und Styling. Auch in den Kommentaren auf den Seiten von Mädchen wird das Aussehen oft unverhältnismäßig in den Vordergrund gerückt, und das wird hier, noch mehr als im wahren Leben, zur Messlatte von Freundschaft, Selbstverständnis und Selbstwert.

In einem fensterlosen Kellerbüro an einem privaten College im mittleren Westen stand Sarah, eine Erstsemesterstudentin vor mir, die Zehen des einen Fußes nach vorne zeigend, ein Knie leicht gebeugt, um mir den sogenannten »Leg Bevel« zu demonstrieren – eine Pose, die ursprünglich von Showgirls erfunden wurde, heute aber standardmäßig auf den Social-Media-Bildern von Mädchen zu sehen ist. »Diese Beinstellung lässt deinen Körper schlanker wirken als beim normalen Stehen«, erklärte sie mir. Sarah war in Atlanta aufgewachsen, wo sie eine kleine, christliche Highschool besucht hatte. Sie hatte blond gefärbte, schulterlange Haare und blaue Augen und trug ein sorgfältig aufgetragenes Make-up. »Man lernt« – sie unterbrach sich mit einem verlegenen Lachen – »das ist eigentlich so blöd, aber man lernt, wie man auf Bildern posieren muss, um auf Facebook oder Instagram gut auszusehen. Ich tue das jedenfalls. Eine Hand auf der Hüfte – dadurch siehst du dünner aus. Oder – die Seite, auf der du keinen Scheitel hast, ist deine ›bessere‹ Seite, darum versuche ich diese Seite der Kamera zuzuwenden.« Sie drehte mir ihre rechte Wange zu und fuhr fort: »Ich retuschiere kleine Hautunreinheiten und passe die Belichtung an. Und wenn man Sendungen wie America’s Next Top Model anschaut, lernt man, sich selbst ›ins richtige Licht zu setzen‹. Solche Dinge eben.«

Teenager haben schon immer sehr darauf geachtet, wie sie von Gleichaltrigen gesehen werden. Die sozialen Medien verstärken diese Art des Selbst-Bewusstseins jedoch extrem: Statt sich in einer kleinen Gruppe von Leuten, die sie wirklich kennen, auszuprobieren, präsentieren Teenäger heute ihre Gedanken, Fotos, Vorlieben und Aktivitäten (sowie ihre Fehleinschätzungen) zur unmittelbaren Billigung oder Missbilligung durch ihre 947 BFFs (Best Friends Forever), von denen viele mehr oder weniger Fremde sind. Laut Adriana Manago, einer Wissenschaftlerin im Children’s Digital Media Center in Los Angeles, die das Verhalten von Collegestudenten in sozialen Medien untersucht, führt das dazu, dass junge Menschen von ihrem Selbst nicht mehr wie über etwas, das von innen heraus entwickelt wird, sprechen, sondern wie von einer öffentlichen Marke. Ihre »Freunde« werden zu einem begehrten Publikum, das gepflegt werden muss. 92 Prozent aller Teenager sind täglich online, 24 Prozent davon sind »fast ständig« online. Fast drei Viertel nutzen zwei oder mehr soziale Netzwerke. Insbesondere auf Seiten zum Austausch von Fotos, wie zum Beispiel Instagram, sind Mädchen aktiver als Jungs, die eher zu Gamern werden. »Man nutzt seine Erfahrungen, um ein bestimmtes Bild von sich zu kreieren«, erklärte mir Matilda, Highschool-Oberstufenschülerin in San Francisco, »mit dem Ziel zu zeigen, dass man begehrenswert, attraktiv und beliebt ist.« Jede junge Frau wisse, sagte sie, dass sie »für das Posten eines Bikini-Bildes von sich selbst zehnmal mehr ›Likes‹ bekommen wird als für ein Bild in einer Skijacke.« Aber genau wie in der realen Welt müssen die Mädchen darauf achten, zwar »heiß«, aber nicht »nuttig«, sexuell selbstbewusst, aber nicht so, als hätte man es nötig, rüberzukommen. In einer Studie mit 1.500 Facebook-Profilen beurteilten Frauen im Collegealter die Profile anderer Frauen viel schärfer als die von Männern. Dabei kritisierten sie diejenigen, die »zu viele« Freunde hatten, »zu viele« Informationen teilten, in Fotos »zu viel« Haut zeigten, ihre Freunde »zu oft« verlinkten oder »zu viele« Status-Updates posteten. Und das, obwohl 1.499 der Profile demselben »Ideal« nacheiferten: dem eines Mädchens, das sich durch Status-Updates, glamouröse Bilder und freizügige Selfies als »lustig« und »unbeschwert« darstellte, das viele attraktive Freunde hatte, auf viele Partys ging und sich vor allem für Romantik, Popmusik und Shoppen interessierte. Man konnte also für genau dieselben Dinge, die man tun musste, um Zustimmung zu bekommen, auch niedergemacht werden.

Und es braucht gar nicht viel, um zur Zielscheibe zu werden. »Man kann vollkommen stigmatisiert werden«, stimmte Sarah zu. »Ich kannte ein Mädchen, das nur Selfies auf Instagram gepostet hat. Jedes Bild war ein Selfie. Und die Leute redeten darüber. Sie machte den Eindruck, entweder keine Freunde zu haben oder sich selbst zu wichtig zu nehmen. Es gibt so viele Arten, auf die man verurteilt werden kann. Und man hat natürlich Angst, dass die Urteile, die man über andere gefällt hat, auch über einen selbst gefällt werden. Aber das ist etwas, worüber man nicht spricht. Man versucht nur zuzuhören, was die anderen sagen, und dadurch die ungeschriebenen Regeln zu lernen. Regeln wie: Wechsle nicht zu oft dein Profilbild. Poste nicht zu allem, was du machst, ein Status-Update. Poste nicht zu viele Bilder von dir selbst.«

Selfie wurde 2013 von Oxford Dictionaries zum »internationalen Wort des Jahres« gewählt. Wahrscheinlich hat jeder, der einen Facebook- oder Instagram-Account besitzt, schon einige gepostet, aber niemand nimmt es mit dem Selbstdarstellungsdrang junger Mädchen auf. (Interessanterweise werden ab 40 die Männer dominantere Selfie-Poster – vielleicht weil sich Frauen mittleren Alters unbewusst unsichtbar machen.) Diese Porträts können für junge Frauen ein impulsiver Ausdruck von Stolz sein, eine Inanspruchnahme des Rechts, öffentlichen Raum einzunehmen. »Wenn man den endlosen Strom von Posts als bildbetonten Narzissmus abtut«, schrieb Rachel Simmons, Autorin von Odd Girl Out, »verpasst man die Chance, Mädchen dabei zu beobachten, wie sie sich in Eigenwerbung üben – einer Fähigkeit, deren Entwicklung bei Jungen stärker gefördert wird und die ihnen später bei Verhandlungen über Gehaltserhöhungen oder Beförderungen gute Dienste leistet.«

Ich mag es, mich durch die Posts mir bekannter Mädchen (meiner Nichten, der Kinder meiner Freunde, der Mädchen, die ich interviewe) zu klicken und sie vor Sehenswürdigkeiten, am Tag ihrer Abschlussfeier oder beim Herumalbern mit ihren Freunden zu sehen. Das zerstreut jedoch nicht meine Bedenken, dass Selfies eine weitere Tyrannei über Mädchen bringen können, einen weiteren Zwang, ihren Körper der Begutachtung durch andere und sich selbst auszusetzen, eine weitere Möglichkeit, ihren Wert auf das Oberflächliche, Zweidimensionale zu reduzieren. Wie eines der Mädchen sagte: »Mit Facebook ist es wie mit den Handys – alles läuft auf die Frage hinaus: Bin ich hübsch? Wie viele Freunde habe ich? Wie sehen meine Profilbilder aus? Lass mich mich selbst stalken.«

Die Mädchen, mit denen ich gesprochen habe, waren jedoch nicht passiv; sie waren keine Opfer der sozialen Medien. Sie waren sehr belesen, oft ausgesprochene Feministinnen. Sie nahmen aktiv an der Jugendkultur teil, obwohl sie mit der Bedeutung und der Wirkung dieser Beteiligung ihre Probleme hatten. In einer groß angelegten Umfrage gaben fast zwei Drittel der jungen Mädchen an, dass Selfies ihr Selbstbewusstsein stärkten. So viel zur positiven Seite. Allerdings sagte beinahe die Hälfte auch, dass Fotos, die andere (wahrscheinlich aus unvorteilhafteren Perspektiven) von ihnen posteten, dazu führen könnten, dass sie sich schlecht fühlten. Die Unzufriedenheit junger Frauen mit dem eigenen Körper scheint nicht davon abhängig zu sein, wie viel Zeit sie mit sozialen Medien verbringen, sondern davon, wie viel dieser Zeit sie darauf verwenden, Fotos zu teilen und anzusehen. Je mehr Bilder anderer Leute sie sich ansehen, desto unzufriedener werden sie mit ihrem eigenen Aussehen. Daher ist die starke Zunahme von »Apps zur Selfie-Optimierung«, mit denen die Nutzerin ihre Nase verkleinern, ihre Zähne bleichen oder ihr Lächeln breiter machen kann, nicht verwunderlich. Auch die echte Schönheitschirurgie nimmt bei den unter 30-Jährigen zu. 2011 stieg die Zahl der Kinnimplantate bei Highschool-Schülerinnen um mehr als 70 Prozent, weil sie auf den Abschlussballbildern besser aussehen wollten.

Bilder von sich selbst beim Müsliessen, beim Kauf eines Abschlussballkleides oder beim Zusammensitzen mit den besten Freunden zu posten, ist eine Sache. Was Eltern jedoch wirklich Sorgen macht, ist der böse Cousin des Selfies: der »Sext«. Wir sagen unseren Töchtern: Schickt niemals, wirklich niemals irgendjemandem sexuell explizite Nachrichten oder, Gott bewahre, ein Foto, auf dem ihr nackt oder halbnackt seid. Das Internet vergisst nicht, sagen wir. Snapchat verhindert keine Screenshots, die in einem Sekundenbruchteil weiterverbreitet und als Waffe verwendet werden können. (Man denke an das Aufkommen der »Rachepornos«: explizite Bilder von Sexszenen oder Nacktfotos, die ohne die Zustimmung der Opfer, oft nach einer Trennung, online gepostet werden.) Es ist sehr schwer abzuschätzen, wie verbreitet das »Sexting« unter Jugendlichen ist. In Umfragen sagen zwischen 15 und 48 Prozent (abhängig vom Alter der Befragten und von der Definition von »Sexting«), dass sie schon mal explizite Bilder oder Texte erhalten oder versendet haben. Zwar mögen gleich viele Mädchen und Jungen freiwillig »Sexting« betreiben, aber Mädchen werden mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit unter Druck gesetzt, dazu gezwungen, erpresst oder gedrängt. In einer groß angelegten Umfrage fiel sogar die Hälfte des »Sextings« unter Jugendlichen in diese Kategorien. Das ist besonders verstörend, da erzwungenes »Sexting« mehr langfristige Angstzustände, Depressionen und Traumata hervorzurufen scheint als realer erzwungener Geschlechtsverkehr. Die Mädchen, mit denen ich gesprochen habe, wurden von der Mittelstufe an ständig dazu aufgefordert, Nacktfotos zu verschicken. Ein Mädchen beschrieb, wie ein Mitschüler in der achten Klasse (in einer SMS) damit gedroht hatte, sich umzubringen, wenn sie ihm kein Bild von ihren Brüsten schicken würde. Sie erzählte es ihren Eltern, während eine ihrer Freundinnen, die er ebenso bedroht hatte, der Aufforderung nachkam. Manchmal kam zu solchen Formen von Erpressung das Bedürfnis der Mädchen hinzu, zu gefallen, zu provozieren oder bestätigt zu bekommen, dass sie heiß seien. Sie schickten explizite Fotos an ihre festen Freunde, um ihr Vertrauen unter Beweis zu stellen, oder an Jungs, deren Interesse sie wecken wollten. (Jungs würden das genauso machen, aber Mädchen halten das für aggressiv oder »vulgär«.) Ein Mädchen erzählte mir, dass es an ihrer privaten jüdischen Mittelschule den »Trend« unter ihren Klassenkameradinnen gegeben habe, beim Video-Chatten mit einem Jungen ihre nackten Brüste zu zeigen. Die Jungs hätten dann Screenshots davon gemacht und diese ins Netz gestellt.

Ich fragte: »Wollten die Mädchen das denn?«

»Nein«, sagt sie. »Aber es ist passiert.« Bis zur Highschool seien die Mädchen »raus aus dieser Phase«, aber die Jungs nicht: »Manchmal hatte ich einen Video-Chat mit einem Jungen, und er rief plötzlich: ›Komm schon! Zeig sie mir! Zeig sie mir!‹. Ich habe es nicht getan, aber sie waren sehr hartnäckig. Sie sagten: ›Tu es einfach. Ich verspreche dir, kein Bild zu machen.‹ Und wenn du den Jungen wirklich magst, denkst du, dass er dich dann vielleicht auch mag…. Es gab Jungs, die hatten ganze Ordner voll mit solchen Bildern auf ihren Computern. Wie Trophäen.«

Manche Mädchen sahen in »Sexting« und sexy Video-Chats einen sicheren Weg, mit Sex zu experimentieren (zumindest nach ihrer Einschätzung). »Auf der Highschool betrieb ich wirklich heftiges Sexting über IM (Instant Messaging)«, erzählte mir eine Erstsemesterstudentin an einem College in der Mittelatlantikregion. »Außerdem strippte ich auf Skype. Ich war noch nicht dazu bereit, meine Jungfräulichkeit zu verlieren, aber ich war gerne ein böses Mädchen.« Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob ihre Zuschauer ihre Vorführungen ohne ihre Zustimmung im Internet verbreiten würden; sie war davon überzeugt, ihren Körper sowohl zur Verführung als auch zur Einschüchterung einsetzen zu können. »Ich bin 1,80 Meter groß«, sagte sie. »Ich bin kein kleines wehrloses Ding. Ich sagte zu dem Typen: ›Wenn du das weitergibst, wirst du bald keine Eier mehr haben. Ich werde dir weh tun.‹ Darum hatte ich ein Gefühl der Kontrolle.«

Stärken oder unterdrücken Selfies? Ist Sexting gefährlich oder harmlos? Ist dieser Minirock ein Ausdruck sexueller Selbstbehauptung oder sexueller Selbstausbeutung?

Versuchen Sie mal Folgendes: Schauen Sie zur Decke hinauf, heben Sie Ihre Hand über den Kopf und zeichnen Sie mit Ihrem Zeigefinger einen Kreis im Uhrzeigersinn. Fahren Sie mit dem Kreisen fort, während Sie Ihren Arm langsam auf Augenhöhe absenken. Senken Sie den Arm, immer noch kreisend, auf die Höhe Ihrer Hüfte ab. Schauen Sie sich den Kreis an. In welche Richtung dreht er sich? Auch wenn das unmöglich erscheint, dreht sich der Kreis gleichzeitig im und gegen den Uhrzeigersinn. Managementberater nutzen dieses »Sowohl als auch«-Konzept, um unser starres »Entweder-Oder«-Denken aufzubrechen. Deborah Tolman ist der Ansicht, dass dieses Konzept ebenso zur Betrachtung der komplizierten Beziehung junger Frauen zu ihrem Körper, ihrer Sexualität und der Sexualisierung herangezogen werden kann. Das ist die Herausforderung für Eltern und die Mädchen selbst: Wie oft man über Kleidungsvorschriften, soziale Medien oder den Einfluss der Popkultur auch diskutiert – es wird selten eine eindeutige Wahrheit geben.

Körperkult

Im Jahr 2014 ging es »nur um den Hintern« (»All about that bass«): Der extrem beliebte Songtext von Meghan Trainor ist gespickt mit Sowohl-als-auch-Gegensätzen. Er feiert scheinbar das positive Körperbild und lehnt das »Strichmännchen-Silikon-Barbiepuppen«-Ideal ab. Aber er enthält auch ein trojanisches Pferd: Trainor teilt nicht nur unnötigerweise gegen »skinny bitches« aus (gefolgt von einem neckischen »Nein, ich spiele doch nur«), sie versichert den jungen Frauen auch, dass »Jungs nachts gerne ein bisschen mehr Hintern zum Festhalten haben.« Na klar, es ist in Ordnung, Kurven zu haben – solange die Jungs einen immer noch heiß finden.

Eigentlich sprang Trainor ziemlich spät auf den Zug auf: Der »Hintern« war schon längst auf dem Vormarsch. Er wandelte sich von einem Novelty Song von Sir Mix-A-Lot zum Markenzeichen von Jennifer Lopez und schließlich zu einer landesweiten Obsession. Auf dem Cover ihrer Single »Anaconda« sitzt Nicki Minaj mit dem Rücken zur Kamera in der Hocke, die Knie gespreizt, und präsentiert einen gewaltigen (Gerüchten zufolge chirurgisch optimierten) Hintern. Das Bildmaterial zu Lady Gagas Single »Do What You Want« stellte einen in die Höhe gereckten Hintern mit Stringtanga dar. (Der Refrain des Liedes, ein Duett mit dem des Kindesmissbrauchs beschuldigten R. Kelly, lautet: »Mach mit meinem Körper, was du willst, was du willst.«) Während ihrer On the Run Tour trat Beyoncé in einem von Givenchy designten Bodysuit mit Cut-outs auf, der ihre nackten Pobacken zur Schau stellte. Das Cover des Sports Illustrated Swimsuit Issue von 2014 zeigte eine weitere Rückansicht: Drei barbusige Supermodels blickten neckisch über ihre Schulter und boten ihre fast nackten Kehrseiten dem Leser dar. Noch im selben Jahr veröffentlichte Jennifer Lopez eine Neuauflage ihres trendsetzenden Hits »Booty« mit einem noch expliziteren Video, in dem die »Pu$$y« Rapperin Iggy Azalea auftritt. Und Kim Kardashian versuchte bekanntermaßen, mit einem Titelbild der Zeitschrift Paper, das ihr üppiges, ölglänzendes (und wahrscheinlich auch vergrößertes) Hinterteil zeigt, »das Internet zu sprengen«.

Aber das ist noch nicht alles! Jen Selter, ein Fitnessmodel, auch als Belfie Queen bekannt (»Belfie« steht für »Butt Selfie«), hat über 7 Millionen Instagram Follower und verdient mit einem gesponserten Post bis zu 60.000 Dollar. Für Normalsterbliche gibt es ein Gadget zum Preis von 80 Dollar, das »Belfie Stick« genannt wird und entwickelt wurde, um den perfekten Winkel für ein Hintern-Selfie zu kreiieren. Dieser Stick war online sofort ausverkauft und hatte zu dem Zeitpunkt, als ich dieses Kapitel schrieb, eine monatelange Warteliste.