Gitte und die Ziege Paula - Aliza Korten - E-Book

Gitte und die Ziege Paula E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Müssen wir wirklich in die Stadt übersiedeln?«, fragte Gitte traurig. »Es ist doch aber hier draußen viel schöner. Und was soll aus Paula werden?« Eva Hertling zog ihr fünfjähriges Töchterchen an sich und strich ihm zärtlich über das blonde Haar. »Du musst versuchen, das zu verstehen, Gitte«, erklärte sie sanft. »Für Vati war es richtig, auf dem Lande zu leben. Er konnte hier seine Bücher schreiben. Ihm fiel im Grünen mehr ein als in der Stadt. Aber eine Fabrik, in der ich arbeiten kann, gibt es leider nur in der Stadt.« »Ich will nicht, dass wir umziehen. Warum musst du überhaupt arbeiten, Mutti?« »Weil wir sonst kein Geld haben, Gittelein. Für das vergangene Jahr reichte es noch aus. Doch jetzt muss ich mir eine Stellung suchen. Du weißt, dass ich schon an zwei große Maschinenbauwerke geschrieben ha­be, die in der Zeitung annonciert hatten. Entweder Mannheim oder Heidelberg wird es werden, wenn es klappt. Heidelberg fände ich besser. Es ist nicht so weit von hier entfernt und nicht so groß wie Mannheim. Außerdem kenne ich mich in Heidelberg ein bisschen aus. Aber wir müssen es nehmen, wie es kommt, Gitte.« »Dumm ist das mit dem Geld. Braucht man denn unbedingt welches? Ich esse nicht viel. Wir könnten hier im Garten Kartoffeln anpflanzen und uns Hühner anschaffen. Dann würden wir jeden Tag frische Eier bekommen, die gar nichts kosten.« Gitte war schon fast sechs Jahre alt. Sie fand ihren Vorschlag großartig. »Ohne Geld bekämen wir nicht einmal Hühner, Kleines. Auch darfst du nicht vergessen, dass uns dieses hübsche Haus nicht

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Sophienlust ab 211 – 248–

Gitte und die Ziege Paula

Wer bringt es übers Herz, die beiden zu trennen?

Aliza Korten

»Müssen wir wirklich in die Stadt übersiedeln?«, fragte Gitte traurig.

»Es ist doch aber hier draußen viel schöner. Und was soll aus Paula werden?«

Eva Hertling zog ihr fünfjähriges Töchterchen an sich und strich ihm zärtlich über das blonde Haar.

»Du musst versuchen, das zu verstehen, Gitte«, erklärte sie sanft.

»Für Vati war es richtig, auf dem Lande zu leben. Er konnte hier seine Bücher schreiben. Ihm fiel im Grünen mehr ein als in der Stadt. Aber eine Fabrik, in der ich arbeiten kann, gibt es leider nur in der Stadt.«

»Ich will nicht, dass wir umziehen. Warum musst du überhaupt arbeiten, Mutti?«

»Weil wir sonst kein Geld haben, Gittelein. Für das vergangene Jahr reichte es noch aus. Doch jetzt muss ich mir eine Stellung suchen. Du weißt, dass ich schon an zwei große Maschinenbauwerke geschrieben ha­be, die in der Zeitung annonciert hatten. Entweder Mannheim oder Heidelberg wird es werden, wenn es klappt. Heidelberg fände ich besser. Es ist nicht so weit von hier entfernt und nicht so groß wie Mannheim. Außerdem kenne ich mich in Heidelberg ein bisschen aus. Aber wir müssen es nehmen, wie es kommt, Gitte.«

»Dumm ist das mit dem Geld. Braucht man denn unbedingt welches? Ich esse nicht viel. Wir könnten hier im Garten Kartoffeln anpflanzen und uns Hühner anschaffen. Dann würden wir jeden Tag frische Eier bekommen, die gar nichts kosten.« Gitte war schon fast sechs Jahre alt. Sie fand ihren Vorschlag großartig.

»Ohne Geld bekämen wir nicht einmal Hühner, Kleines. Auch darfst du nicht vergessen, dass uns dieses hübsche Haus nicht gehört. Wir müssen jeden Monat dafür Miete zahlen. Außerdem brauchen wir Kleider und Schuhe. Du wächst in jedem Jahr ein gutes Stück. Dein Kinderbett ist zu kurz geworden, und wir müssen ein neues anschaffen. Es hilft nichts, ich muss mir im Lauf der nächsten Wochen eine Stellung suchen, damit wir so weiterleben können, wie Vati es gewiss gewollt hätte.«

Eva Hertling unterdrückte einen Seufzer.

Dass sie selbst viel lieber in dem gemütlichen Häuschen am Dorf­rand geblieben wäre, wollte sie Gitte nicht eingestehen. Sie mussten ja beide tapfer und einigermaßen frohen Mutes an die Veränderung ihrer Daseinsbedingungen herangehen.

Das Unglück war nun bereits über ein Jahr her, aber es kam Eva vor, als sei es erst gestern gewesen. Sie hatten so glücklich zu dritt hier gelebt. Gösta hatte Jugendbücher geschrieben und war auf dem besten Wege gewesen, sich auf diesem Gebiet einen Namen zu machen. Sogar das Fernsehen hatte sich bereits für seine Arbeit interessiert. Es hatte damals gerade in ersten Unterhandlungen mit dem Schriftsteller gestanden. Gösta Hertling hatte eine Jugendserie über bestimmte Themenkreise schreiben sollen.

Das wäre der Start zum großen Erfolg gewesen, doch es hatte nicht sein sollen. Das Schicksal hatte es anders gewollt. Auf der Heimfahrt von Verhandlungen mit seinem Verleger hatte Gösta Hertling durch einen Autounfall den Tod gefunden. Bitter genug, dass die Schuld bei dem anderen Fahrer gelegen hatte. Noch jetzt kam es Eva Hertling manchmal am Morgen so vor, als habe sie die schrecklichen Ereignisse nur geträumt, als müsste sich bei Tageslicht zeigen, dass Gösta noch an ihrer Seite liege und lebe. Gar zu unverhofft war der Schlag gekommen.

Immerhin hatte Eva ein Jahr Zeit gehabt, da die Einkünfte in diesem Jahr weitergeflossen waren. So hatte sie sich ein wenig fassen und Pläne für die Zukunft schmieden können. Groß war die Wahl, die ihr blieb, allerdings nicht. Eine ausreichende Versorgung hatte Gösta noch nicht aufbauen können, da er mit seinen zweiunddreißig Jahren erst am Anfang gestanden hatte, als ihn der Tod ereilt hatte. So muss­te Eva nun auf ihre abgeschlossene Ausbildung als technische Zeichnerin zurückgreifen und sich bemühen, eine Tätigkeit zu finden, die sie und Gitte ernähren konnte. Dass sie sich die Stellung nicht gerade aussuchen konnte, hatte sie bereits herausgefunden. Es gab Arbeitslose in Deutschland, und so meldeten sich auf jede Stellenanzeige zahlreiche Bewerberinnen. Ihre anfängliche Hoffnung, sie würde Arbeit in unmittelbarer Nähe des kleinen Dorfes finden, hatte sich rasch zerschlagen. Es gab in erreichbarer Entfernung nur eine einzige Fabrik, in der zwei technische Zeichnerinnen beschäftigt waren. Beide standen seit vielen Jahren in den Diensten des mittelgroßen Familienbetriebs. Eine Aussicht, in diesem Werk angestellt zu werden, bestand also für Eva Hertling nicht.

Nun hatte sie sowohl aus Mannheim als auch aus Heidelberg auf ihre zehnte und elfte Bewerbung endlich die Mitteilung erhalten, dass sie in die engere Wahl gezogen sei, dass sie sich für eine persönliche Vorstellung bereithalten möge.

Vielleicht würde es jetzt klappen. Dass sie in jedem Fall zusammen mit Gitte das idyllisch gelegene Häuschen auf dem Lande verlassen musste, war ihr klar. Sie hatte sich damit bereits abgefunden und bemühte sich, die bevorstehende Übersiedlung in die Stadt auch ihrem Töchterchen so schmackhaft wie möglich zu machen.

Gittes Hinweis auf die Ziege Paula setzte ihren Betrachtungen jetzt ein Ende. »Und was machen wir mit Paula?«, wiederholte Gitte ihre Frage.

»Paula ist sicherlich auf dem Lande am besten aufgehoben, Gitte. Der Bauer Schwermer will sie übernehmen. Er hat schon drei Ziegen. Da ist Paula nicht allein.«

»Aber Paula wird Heimweh nach uns kriegen, Mutti. Ich mag auch nicht ohne Paula sein. Kannst du nicht wenigstens versuchen, eine Wohnung in der Stadt zu finden, zu der ein Garten und ein Stall gehören, in dem Paula wohnen darf?«

»Nun, versuchen will ich das gern, Gitte. Aber wir wollen uns keine besondere Hoffnung machen, dass wir etwas finden. Hunde, Katzen, Hamster und Zwerghasen kann man auch in einer Stadtwohnung halten. Aber mit einer Ziege wird es wirklich zu schwierig. Das musst du einsehen.«

»Was kann denn Paula dafür, dass wir umziehen müssen?«, beklagte sich Gitte betrübt. »Ich mag die Stadt nicht leiden, wenn man nicht einmal so eine nette Ziege mitbringen kann wie meine Paula.«

Paula war als Zicklein ins Haus gekommen, hatte sich aber inzwischen zu einer schönen, großen schneeweißen Ziege ausgewachsen, die man sich kaum in einer städtischen Etagenwohnung vorstellen konnte. Für Gitte war es natürlich schwer, das einzusehen.

Der Briefträger, der draußen mit seinem Fahrrad ankam, unterbrach das Gespräch. Er brachte einen Brief der Heidelberger Firma. Eva Hertling wurde aufgefordert, am kommenden Montag oder Dienstag im Personalbüro vorzusprechen und sich vorzustellen. Sie habe gute Aussicht, die ausgeschriebene Stellung zu erhalten, stand in dem Schreiben.

Eva hob Gitte hoch und wirbelte sie durch die Luft. »Du, Gitte, es kann sein, dass es mit Heidelberg klappt«, rief sie atemlos aus. »Wenn wir in Heidelberg wohnen, dann ist der Weg hierher nicht gar so weit. Dann hätten wir immerhin die Möglichkeit, Paula ab und zu beim Bauer Schwermer zu besuchen.«

»Dass du dich auch noch freust«, meinte das Kind vorwurfsvoll. »Ich freue mich gar nicht.«

Eva Hertling konnte dazu nur feststellen, dass ihre Tochter eben noch nicht alt genug war, um die Schwierigkeiten der Lage, in der sie sich befanden, voll zu erfassen.

Ihnen blieb gar keine Wahl. Sie mussten sich freuen, wenn sie die Anstellung in Heidelberg bekam. Es handelte sich um ein großes, bekanntes Werk. Würde sie den Arbeitsplatz erst einmal haben, so würde sie kaum zu befürchten brauchen, ihn wieder zu verlieren. Auch das war ein wichtiger Gesichtspunkt.

Gitte verließ das Haus, um nach Paula zu sehen. Sie brachte ihr Grünfutter und erzählte ihr von den Plänen der Mutter, mit denen sie selbst durchaus nicht einverstanden war.

»In die Stadt will Mutti, Paula. Du darfst mir nicht böse sein, wenn ich dich dann hier beim Bauer Schwermer lassen muss. Ich will aber versuchen, dass wir dich mitnehmen können. Kannst du dir denken, dass es in dieser Stadt keine einzige Ziege gibt? Ich nicht! Du brauchst keine Angst zu haben, Paula. Wenn du wirklich beim Bauer Schwermer bleiben musst, dann besuche ich dich sonntags. Das verspreche ich dir.«

Paula knabberte an Gittes Schürzchen, wie sie es gern tat. Gitte lachte und brachte sich in Sicherheit. »Als ob du nicht genügend zu fressen bekämst!«

*

Eva Hertling erhielt die Anstellung. Die Arbeit war gut bezahlt, und sie fühlte sich den Anforderungen, die man an sie stellte, durchaus gewachsen. Anderthalb möblierte Zimmer für Gitte und sich hatte ihr die Firma freundlicherweise vorläufig zur Verfügung gestellt.

Bereits wenige Tage nach dem Abschluss des neuen Arbeitsvertrages siedelte Eva mit Gitte in diese Behausung über. Noch brauchte sie ihre Tätigkeit nicht aufzunehmen. Das war gut so, denn es gab eine Menge unvorhergesehener Schwierigkeiten zu überwinden. Die Ziege Paula erwies sich dabei als das geringste Problem von allen. Sie befand sich zunächst in Pension beim Bauer Schwermer, der sich bereit erklärt hatte, das hübsche Tier gänzlich zu übernehmen, falls es in Heidelberg keine Unterbringungsmöglichkeiten für eine Ziege geben sollte.

Schlimmer war die Sache mit dem Schichtdienst. Das Werk arbeitete

im Vierundzwanzig-Stunden-Betrieb, und selbstverständlich musste Eva sich dem allgemeinen Arbeitsplan fügen. Sie musste im Rhythmus einmal Frühschicht, einmal Spätschicht und einmal Nachtschicht machen, genau wie alle übrigen Angestellten und Arbeiter. Schichtdienst – das bedeutete aber auch, dass sie nur jeden zweiten und dritten Sonntag frei haben würde. Darauf, dass sie ein noch nicht schulpflichtiges Kind zu versorgen hatte, konnte man leider keine Rücksicht nehmen. Falls sie keine Möglichkeit sehe, unter den gegebenen Bedingungen tätig zu werden, so sei schon eine andere junge Frau auf der Liste vorgemerkt, hatte man erklärt.

Vor solche Alternative gestellt, hatte sich Eva Hertling selbstverständlich dafür entschieden, die angebotene Anstellung anzunehmen. Sie hatte den Vertrag, der in finanzieller Hinsicht besonders günstig war, unterschrieben. Der Personalchef hatte ihr die Hand geschüttelt und ihr geraten, ihr Töchterchen in einem guten Heim unterzubringen. Eine entsprechende Bescheinigung, dass sie auf einen Heimplatz für Gitte dringend angewiesen sei, könne er ihr verschaffen. Sobald Gitte alt genug sein würde, um gelegentlich allein in der Wohnung, die erst noch gefunden werden musste zu bleiben, würde sie die Kleine zu sich nach Hause holen können.

So stand Eva mit Gitte an einem regnerischen Tag vor der Tür eines öffentlichen Heims in Heidelberg. Die Dame, die ihnen öffnete, trug einen weißen Kittel und sah ziemlich unnahbar aus. Sie richtete ein paar Routinefragen an Eva Hertling und bedachte auch Gitte mit ein paar Worten.

»Du willst also zu uns ins Heim kommen, Brigitte?«, fragte sie.

»Ich will nicht, aber ich muss. Außerdem heiße ich Gitte«, gab die Kleine trotzig zurück.

»Wenn du dich hier nicht einfügst, kannst du nicht bleiben, mein Kind«, erklärte die Heimleiterin gelassen.

»Woher soll ich wissen, dass du Gitte gerufen wirst? Das hättest du mir auch höflicher sagen können.«

Eva erschrak. Ein vielversprechender Auftakt war das nicht gerade. »Bitte, seien Sie bitte nicht böse, Frau Börner«, sagte sie leise. »Es ist für uns beide nicht leicht, dass sich plötzlich so vieles in unserem Leben ändern soll. Gitte ist ein freundliches Kind und wird sich gewiss gut hier einleben. An meinen freien Tagen möchte ich sie dann natürlich gern heimholen. Das wäre doch erlaubt?«

Frau Börner nickte huldvoll. »Es ist störend, wenn es nicht immer am Wochenende sein kann, aber in Ihrem Fall müssen wir natürlich eine Ausnahme machen. Eine Tätigkeit mit freiem Wochenende konnten Sie wohl nicht bekommen, Frau Hertling?« Frau Börner hob die Brauen und sah so aus, als sei Eva dafür ein Vorwurf zu machen.

»Es war schwer genug, überhaupt eine Stelle zu finden in dieser Zeit«, erwiderte Eva etwas ungeduldig. »Können Sie sich nicht vorstellen, dass es mir auch lieber wäre, die Samstage und die Sonntage regelmäßig frei zu haben?«

»Natürlich. Es hätte ja aber sein können, dass sich eine andere Regelung hätte herbeiführen lassen. Ich wollte es wenigstens erwähnen. Schichtdienst ist anstrengend. Das werden Sie noch feststellen, Frau Hertling.«

Eva hob die Schultern. »Ich kann es nicht ändern, sondern muss mich damit abfinden, Frau Börner.«

»Nun, damit wäre wohl alles geklärt. Das Kind muss noch ärztlich untersucht werden. Wenn von Seiten des Gesundheitsamtes keine Bedenken bestehen, können Sie Ihre Tochter bringen, sobald Sie mit Ihrer Tätigkeit beginnen. Das ist zum nächsten Monatsersten, nicht wahr?«

»Ja, mir bleiben noch knapp drei Wochen, um eine Wohnung zu suchen und meine Möbel kommen zu lassen. Es ist eine große Umstellung. Ach ja, ich hatte Gitte versprochen, wegen Paula zu fragen. Sie haben hier einen großen Garten und auch einen Schuppen, wie ich gesehen habe.«

»Die Kinder spielen draußen, wenn es das Wetter nur einigermaßen erlaubt. Frische Luft ist wichtig. Ist Paula eine Puppe? Selbstverständlich kannst du dein Püppchen mitbringen, Gitte.« Nun war Frau Börner richtig nett. Ihr Gesicht erstarrte jedoch, als Gitte herausplatzte, dass Paula keine Puppe, sondern eine ausgewachsene Ziege sei.

»Eine Ziege? Ich höre wohl nicht recht?« Frau Börners Gesicht zeigte nun eine hochmütige Kühle. »Das ist doch wirklich eine Zumutung. Wo kämen wir hin, wenn jedes unserer Kinder auch noch ein lebendiges Tier mitbrächte? Das können wir unter keinen Umständen dulden. Ihr habt auf dem Lande gelebt, Gitte. Da bedeutete die Ziege wohl keine besondere Belas­tung. Aber hier in der Stadt ist das unmöglich. Du bist kein Baby mehr und wirst einsehen, dass das nicht geht. Weißt du überhaupt, wie schwer es ist, einen Heimplatz für ein Kind zu bekommen, hier in Heidelberg, Gitte? Du musst sehr dankbar sein, dass wir dich sofort aufnehmen. Das geschieht nur, weil deine Mutter den Nachweis erbracht hat, dass ein dringender Fall vorliegt. Und da willst du uns eine Ziege zumuten? Das geht wirklich zu weit.«

Frau Börner nahm einen Satz Formulare aus einem Regal und reichte Eva die Blätter über den Tisch. »Diese Papiere sind auszufüllen, Frau Hertling. Wegen eines Untersuchungstermins beim Amtsarzt setzen Sie sich am besten selbst mit dem Gesundheitsamt in Verbindung. Die endgültige Entscheidung über die Aufnahme erfolgt erst, wenn alle Unterlagen geprüft sind. Darauf muss ich Sie pflichtgemäß aufmerksam machen.«

»Vielen Dank, Frau Börner.« Eva legte die Formulare in ihre Handtasche, nachdem sie sie sorgsam einmal gefaltet hatte. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich alles erledigt habe.«

Gitte sah blass und verschüchtert aus. Obgleich sie eigentlich gar nicht scheu war, sagte sie nun kein Wörtchen mehr. Erst nachdem sie an der Hand ihrer Mutter wieder auf die Straße hinausgetreten war, kam ein Stoßseufzer über ihre Lippen.

»Zu der da drinnen gehe ich bestimmt nicht, Mutti. Wie die über meine liebe Paula geredet hat! Sie ist überhaupt nicht nett, die Frau.«

Eva beugte sich hinab und umarmte Gitte. Ganz fest drückte sie sie ans Herz. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Dennoch war sie entschlossen, Gitte dieser kühlen, allzu sachlichen Dame nicht anzuvertrauen. Sie wusste, weder die Ziege Paula noch ihr Kind würden hier glücklich sein können.

»Du brauchst nicht, Gitte«, raunte sie der Kleinen ins Ohr. »Sie hätte wenigstens sagen können, dass es ihr leid tut wegen Paula. Wir finden schon etwas anderes für dich.«

»Oder wir steigen in den Zug und fahren zurück zu unserem Haus. Dort kann Paula bei uns bleiben.«

Eva seufzte und berührte das helle Haar ihrer Tochter mit den Lippen. »Nein, Gitte, zurück können wir nicht mehr. Unser Häuschen ist schon neu vermietet. Wir müssen jetzt gehen und uns die Wohnung ansehen, die heute früh in der Zeitung stand. Der Hauswirt scheint ganz nett zu sein.«

Gitte begann zu weinen. »Aber …, aber ich will meine Paula haben, Mutti«, schluchzte sie. »Glaubst du, dass wir sie mit in die neue Wohnung nehmen könnten? Vielleicht geht es ja.«

Eva war ratlos. Da versuchte sie nun seit längerer Zeit, Gitte klarzumachen, dass die Trennung von Paula unvermeidlich war, aber Gitte wollte und wollte das nicht einsehen. Immer wieder fing sie von Paula an.

»Es geht sicherlich nicht, Gitte. Wollen wir ein Eis zusammen essen, ehe wir uns die Wohnung ansehen? Wir haben dazu noch Zeit.«

Gittes verweintes Gesichtchen hellte sich auf. Eis war eine gute Sache. So gut, dass sie darüber den Kummer wegen Paula ein wenig vergaß. Und genau das hatte ihre Mutter beabsichtigt.

In einer italienischen Eisdiele setzten sie sich gleichzeitig mit einem sympathischen jungen Mann an den Tisch. Es erwies sich, dass sein Geschmack und der von Gitte in jeder Hinsicht gleich waren. Beide bestellten eine Mischung aus Vanille, Zitrone, Haselnuss und Schokolade, während Eva sich für einen Eiskaffee entschied.

»Magst du auch so gern das frische Zitroneneis?«, erkundigte sich der schlanke junge Mann bei Gitte, sobald die kalten Köstlichkeiten vor den beiden auf dem Tisch standen.

»Zitrone ist gut, aber Haselnuss ist am besten«, antwortete Gitte munter. »Komisch, dass wir das Gleiche bestellt haben. Dabei kennen wir uns doch gar nicht. Wie heißt du denn?«

»Michael – und du?«

»Gitte heiße ich. Meine Mutti und ich sind noch fremd hier in Heidelberg. Es ist mein erstes Eis.«

»Na, dann wollen wir es uns schmecken lassen«, meinte Michael Langenbach, Student an der Universität Heidelberg, munter. »So ein ers­tes Eis muss besonders gut schmecken, denke ich.«

Gitte schleckte munter drauflos, während Michael Langenbach ihrer Mutter einen fragenden Blick zuwarf. »Gefällt es Ihnen in Heidelberg?«, erkundigte er sich höflich, um sie mit in die Unterhaltung einzubeziehen.

Eva Hertling fand den jungen Mann ausgesprochen sympathisch. Sie sah ihn freundlich an. »Ich weiß es noch nicht. Wir hausen vorerst in möblierten Zimmern und sind auf Wohnungssuche. Außerdem brauchen wir ein Kinderheim für Gitte. Aber damit können Sie uns wohl kaum unter die Arme greifen. Den ersten Reinfall haben wir eben hinter uns. Deshalb richten wir unsere Lebensgeister mit dem Eis wieder auf.«

»Was für einen Reinfall, wenn ich fragen darf?« Michael Langenbach nannte seinen Namen und fügte hinzu, dass er in Heidelberg studiere. »Wenn es sich um ein Kinderheim handelt, habe ich vielleicht doch etwas für Sie, Frau Hertling«, erklärte er, nachdem auch Eva sich vorgestellt hatte.

»Es müsste sozusagen etwas Ausgefallenes und Märchenhaftes sein«, versetzte Eva, halb im Scherz. »Wir haben eben Schiffbruch erlitten, weil in einem öffentlichen Kinderheim natürlich eine Ziege keine Aufnahme finden kann. Gitte will leider nicht begreifen, warum das unmöglich ist. So stehe ich praktisch vor der unlösbaren Aufgabe, einen Heimplatz für eine Ziege und für meine Tochter zu finden.«

Michael Langenbach lachte. »Muss Gitte denn unbedingt in ein Heim? Und muss es unbedingt in Heidelberg sein?«, fragte er.

Eva Hertling erklärte ihm so knapp wie möglich, warum sie sich für die nächste Zeit von Gitte wohl oder übel trennen müsse.

»Das ist traurig«, antwortete Mi­chael ernst. »Ich habe vor Jahren selbst Aufnahme in einem Kinderheim gefunden. Meine Eltern sind bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen. Zusammen mit meinen beiden jüngeren Schwestern kam ich damals nach Sophienlust. Das ist ein Heim, in dem auch Tiere willkommen sind.«

»Auch Ziegen?«, warf Gitte ein und vergaß ihr Eis.