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Sebastian wird durch den Tod seiner Freundin Giulia auf der Insel Ischia tief erschüttert. Um ihren Verlust zu verarbeiten, macht er sich auf die weite Reise aus dem dunklen Norden ins lichte Italien und erlebt dabei Veränderungen, die er nicht für möglich gehalten hätte.
Eine anrührende Erzählung über die Suche nach einem sinnerfüllten Leben.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
„Du glaubst nicht an Gott, aber für mich ist er der Atem der Welt“, hat Giulia einmal gesagt.
Das Licht der aufgehenden Sonne lässt Millionen Wellen auf der Oberfläche des Meeres flimmern.
Ich genieße die leichte Brise und trinke einen Schluck Cappuccino. Meine Fußsohlen spüren die erste Wärme in den Steinfliesen der Terrasse und die Sandkörner darauf.
Unten am Wasser erscheint Antonio. Er geht wie jeden Morgen zu seinem Boot, um es zu inspizieren. Grüßend hebt er die Hand. Vielleicht kommt er gleich noch auf einen Espresso zu mir herauf und wir sitzen zusammen, um Neuigkeiten auszutauschen.
Eigentlich würde ich, Sebastian Andersen, jetzt hoch im Norden leben, unter einem grauen Himmel, der auf meiner Seele lastet. Ich würde in Trübsal versinken, mich durch die Tage schleppen, die Abende mit viel Bier vor dem Fernseher verbringen. Ich hatte allen Grund dazu.
Doch es ist anders gekommen und das verdanke ich einer Postkarte.
*
„Ich habe eine schlechte Nachricht für dich, Sebastian …“
Giovanni, Giulias Vater, sprach mit dünner, brüchiger Stimme durchs Telefon.
In dieser einen Sekunde wich die Welt vor mir zurück, ich hörte auf zu atmen und in meinem Inneren bildete sich eisige Kälte.
„Giulia ist hier auf Ischia bei einem Unfall ums Leben gekommen.“
Mit einem Mal befand ich mich im Auge eines Sturms, in dem es still war wie in einem Grab, umgeben von Finsternis, Tod und Leblosigkeit. Ich fühlte nichts mehr, war in einen unwirklichen Trancezustand geworfen. Die Stimme von Giovanni schien aus einem anderen Universum zu kommen.
„Sie ist von einem Auto erfasst worden, das mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr.“
Die Worte drangen in mein Ohr, aber mein Hirn weigerte sich, sie zu begreifen.
Die Erinnerung an den Rest des Gesprächs fehlt.
Irgendwann saß ich in der Wohnung und starrte vor mich hin. Dann lag ich auf meinem Bett, im Herzen eines schwarzen Lochs, das, zu einer riesenhaften Größe aufgebläht, alles verschluckte, jede Regung, jedes Gefühl, jeden Herzschlag.
Eine Zeit der Lähmung begann.
Ungezählt die Tage, die ich apathisch dahinvegetierte. Ich aß nichts, magerte ab, begann zu verwahrlosen. Ich hatte das Gefühl, nie mehr am Leben teilhaben, nie mehr lachen und nie mehr weinen zu können. Auf ewig verurteilt zu einem Existieren in einer dunklen Hölle aus Gefühllosigkeit und Abgrund.
Mein Zeitgefühl ging verloren. War es eine Woche, war es ein Monat? Die Doktorarbeit lag unberührt auf dem Schreibtisch; wenn das Telefon klingelte, rührte ich mich nicht. Einmal stand mein Vater vor der Haustür. Ich sagte ihm, dass ich niemanden zu sehen wünsche.
Das Einzige, was in meinem Inneren noch existierte, war Giulias Bild.
Ihre dunklen Locken, ihr Lächeln, das so liebevoll und voller Wärme war, ihre braunen Augen, die so verwunschen und zugleich eine Spur amüsiert blicken konnten.
Nur eine Woche hatte sie nach Ischia fliegen wollen.
„Willst du nicht mitkommen?“, hatte sie mich gefragt. „Ein paar Tage Sonne tanken, frischen Fisch essen, im Meer schwimmen?“
„Ich muss meine Doktorarbeit zu Ende bringen“, hatte ich geantwortet, „ich habe nicht mehr viel Zeit.“
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich mitgeflogen wäre. Vielleicht wären wir jetzt schon längst wieder zuhause gewesen, vielleicht würden wir keinen Gedanken daran verschwenden, dass einer von uns nicht mehr sein könnte. Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Wir waren drei Jahre zusammen gewesen, keine einfache Zeit, denn wir waren sehr unterschiedliche Charaktere, aber mit einem Mal schienen mir diese Jahre das Kostbarste, was mir je widerfahren war. Giulia hatte die Schönheit des Südens in sich getragen mit ihrer bronzenen Haut und ihren Augen wie Mandeln. Sie war voller Zärtlichkeit, Mitgefühl und Humor gewesen.
Und trotz ihrer Schönheit und Wärme hatte ich keine Liebe zulassen können. Sie war tief in mir verschlossen gewesen, ohne eine Möglichkeit, zu ihr vordringen zu können. Ich hatte an der Seite dieser wunderbaren Frau gelebt und nichts empfunden, etwas, das mir mit einem Mal unbegreiflich schien. Giulia hatte mich trotzdem geliebt - jede andere Frau hätte mir schon längst den Laufpass gegeben. Sie war die Chance meines Lebens gewesen, aber ich hatte dieses Wunder nicht geschehen lassen. Giulia hatte nie in meinen Elfenbeinturm gelangen können. Ich war immer nur in meinen Gedanken und Grübeleien gefangen gewesen, in meinen Büchern und Paragraphen. Und jetzt? Die Nachricht von ihrem Tod machte mir mit einem Schlag und mit unfassbarer Wucht klar, was ich verloren hatte. Ich stand mit leeren Händen da.
Ich dachte daran, in die Küche zu gehen, ein Messer zu nehmen und mir die Pulsadern aufzuschneiden. Eines Nachts kroch ich bis zu dem Schrank, in dem ich die Messer aufbewahrte, holte eines heraus und saß im Mondlicht auf dem Küchenboden, die scharfe Schneide an meinem Handgelenk. Ich kämpfte mit mir, am Ende fehlten mir die Kraft und der Mut, selbst dazu. Dann graute wieder einmal der Morgen und ich starrte in das Zwielicht. Seit Wochen hatte ich mich nicht gewaschen. Mehrmals setzte ich an; mit einer unendlichen Kraftanstrengung stand ich schließlich auf und schleppte mich ins Bad. Eine Stunde lag ich unter dem heißen Strahl des Duschkopfs, bis meine Haut rot und faltig war.
Ich tappte in die Küche. Im Kühlschrank schimmelten Reste. Ich machte mir mit dem letzten Pulver einen Kaffee und saß in der Wohnung, durch deren Fenster dünnes Morgenlicht sickerte.
Plötzlich begann ich zu schluchzen, die Tränen tropften auf die Tischplatte, versiegten wieder. Was blieb, waren Schmerz und Leere.
Dann kam die Wut. Ich ballte die Fäuste, heulte wie ein Hund, schmetterte einen Teller an die Wand, der in tausend Splitter zersprang. Alles, was folgte, war ein Hämmern der Nachbarn. Ich schrie zurück, gebrauchte unflätige Schimpfwörter.
Die fahle Helligkeit eines wolkenverhangenen Apriltages kam durch die Fenster und beleuchtete die verdreckte Wohnung.
Ich wusste nicht, wie ich diesen Tag durchstehen sollte, dabei hatte ich noch ein ganzes Leben vor mir. Wie sollte ich das nur schaffen? Es musste weitergehen, jede Bewegung, jeder Schritt, jeder Gedanke eine Höllenqual.
Langsam ging ich zum Schreibtisch und blickte auf meine Doktorarbeit. Am liebsten hätte ich sie zerrissen oder verbrannt. Auf dem Anrufbeantworter blinkte es, der Speicher war voll. Ich drückte auf den Knopf und hörte teilnahmslos alle Nachrichten, die sich angesammelt hatten: Freunde, meine Mutter, die Universität.
Dann stieg ich ins Erdgeschoss, um nach dem Briefkasten zu sehen. Er quoll über, ein Teil der Post lag auf dem Boden. Mühsam sammelte ich alles ein, schleppte es nach oben.
Am Küchentisch sortierte ich aus: jede Menge Werbung, Rechnungen, ein Brief von meinem Professor, zwei Schreiben von der Versicherung.
Und dann hielt ich eine Postkarte in der Hand.
Sie hatte einen Rand mit Wellenschliff und bestand aus dickem Karton. Auf der Rückseite war ein Granatapfelbaum zu sehen, daneben eine Bank, der Blick ging aufs Meer. Ich drehte die Karte um und erkannte Giulias feine, geschwungene Handschrift.
Ich las:
„Mein Liebster! Genau so ein Baum steht in der Nähe meines Elternhauses. Schon als Kind habe ich oft hier gesessen und tue es auch diese Woche jeden Abend. Ich wollte, Du könntest diese Schönheit mit mir teilen, wie so vieles, was ich mit Dir teilen möchte. Ich bin so traurig, dass uns so ein tiefer Graben trennt. Es ist, als lebten wir in zwei verschiedenen Welten. Wenn Du die Erde nur einmal mit meinen Augen sehen könntest. Hier würdest Du es lernen. Bis bald, ich küsse Dich, Giulia.“
Mein Blick verschwamm. Wieder und wieder las ich ihren Gruß, blickte auf das Foto, auf den Text. Mit dem Finger strich ich vorsichtig über die Buchstaben, darauf bedacht, keinen einzigen zu verwischen. Dann legte ich die Karte auf die Tischplatte.
Wie sollte ich hier, in dieser Wohnung, in dieser Stadt weiterleben? Ich konnte nicht. Ich hatte das Gefühl, dass es mich innerlich zerriss. Ich musste weg, weg von hier, weg aus dieser faden Hölle.
Mein Blick fiel wieder auf die Karte. Ischia war für Giulia der letzte Ort auf dieser Erde gewesen, dort hatte sie den letzten Atemzug getan, zum letzten Mal das Tageslicht gesehen.
Plötzlich wollte ich dorthin. Ich wollte an dem Ort sitzen, an dem sie gesessen hatte, die Luft atmen, die sie geatmet hatte, ihren Blick aufs Meer in mir aufnehmen. Ich wollte mich auf diese Weise von ihr verabschieden.
Sollte ich nicht jetzt, gleich, losfahren? Nicht mehr lange überlegen? Würde ich nicht die Hölle in mir mitnehmen?
Ich saß da und starrte auf die Karte.
Während meines Studiums hatte ich nebenher in einer Kanzlei gejobbt, mir etwas Geld beiseitelegen können. Damit war eine Zeitlang auszukommen.
Sollte ich es wirklich tun?