Glänzende Aussicht - Fang Fang - E-Book

Glänzende Aussicht E-Book

Fang Fang

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Beschreibung

Der Durchbruchs- und Supererfolgsroman der chinesischen Bestsellerautorin  Dieser heute in China unterdrückte Roman machte Fang Fang bei seinem Erscheinen 1987 schlagartig berühmt: Glänzende Aussicht erzählt das Leben einer einfachen Arbeiterfamilie aus Wuhan aus Sicht des verstorbenen jüngsten Sohnes. Es ist ein drastisches Porträt: Zu elft haust die Familie in einer dreizehn Quadratmeter kleinen Hütte. Schon die Jüngsten lernen stehlen, um ihren Beitrag zum Familienleben zu leisten, Schlägereien sind an der Tagesordnung und zärtlichere Töne rar. Im Schatten eines Vaters, der vor allem mit der Faust erzieht, versuchen die neun Brüder und Schwestern auf je eigene Weise, den Fesseln ihrer Herkunft und den Nachwehen der Kulturrevolution zu entkommen und eine bessere Zukunft zu finden. Mit einem Nachwort des Übersetzers Michael Kahn-Ackermann "Eine wunderbare Autorin. Ein befreiendes Buch." Lukas Bärfuss 

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Seitenzahl: 188

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Fang Fang

Glänzende Aussicht

Roman

Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann

Hoffmann und Campe

… Hinter dem bunten Schein des ungeheuren Daseins, in der tiefsten Schwärze des Abgrunds, erkenne ich deutlich sonderbare Welten …

Charles Baudelaire, »Die Stimme«

1. Kapitel

Bruder Sieben sagt, erst, wenn du alles auf der Welt, einschließlich die Welt selbst, als völlig wertlos erkannt hast, erlebst du, dass dein Leben seinen Reiz entfaltet, erst dann kannst du dich frei und unbeschwert auf der Straße des Lebens auf und ab bewegen.

Bruder Sieben sagt, das Leben gleicht den Blättern am Baum, sie entstehen und vergehen geschwind. Sie sprießen im Frühling, um im Herbst herabzufallen. Egal, welchen Weg du einschlägst, es kommt immer aufs Gleiche heraus. Was kümmert es mich, ob ich anderen die Nahrung wegnehme, um fett zu werden?

Bruder Sieben sagt, die meisten Menschen, die als anständig und ehrenhaft gelten, fürchten nur um ihre Reputation. Wer niemandem schadet, leistet noch keinen Beitrag für die Gesellschaft oder gar die Menschheit. Derjenige dagegen, der einen schlechten Ruf hat, weil er auf schmutzige Weise zu Vermögen gekommen ist, hat die Chance, einen Haufen Geld für Krankenhäuser oder Schulen zu spenden, von denen die große Masse profitiert. Wer will entscheiden, welcher von den beiden zu den Besseren oder zu den Schlechteren gehört?

Sobald Bruder Sieben die Wohnung betritt, krakeelt und brüllt er hemmungslos wie ein tollwütiger Hund herum, als wollte er sich brutal dafür rächen, dass er als Kind den Mund nicht aufmachen durfte.

Vater und Mutter ertragen sein Benehmen nicht, es mache ihnen »Zahnschmerzen« rufen sie jedes Mal und rennen aus der Tür. Die Züge der Linie Peking–Kanton scheinen an der Dachtraufe entlangzuschleifen. Jeder der durchschnittlich alle sieben Minuten herandonnernden Züge bringt einen pfeifenden Windstoß und ohrenbetäubenden Lärm mit sich. Das bewirkt, dass Vater und Mutter hören, wie jede Silbe, die Bruder Sieben von sich gibt, von den mächtigen Rädern der Züge zu Lautfetzen zerrieben wird.

 

Hätte sich Bruder Sieben jemals zuvor so aufgeführt, wäre zu erwarten gewesen, dass Vater, seinem üblichen Temperament entsprechend, zum Messer greifen und ihm die Zungenspitze abschneiden würde. Aber wie die Dinge jetzt stehen, wagt er das nicht mehr. Bruder Sieben ist jetzt eine bedeutende Persönlichkeit. Vater muss seinen gesamten Stolz bezähmen, wenn er dieser Persönlichkeit entgegentritt.

Bruder Sieben ist inzwischen groß und dick geworden. Auf seinem Gesicht liegt gewöhnlich ein öliger roter Glanz. Sein Bauch wölbt sich auf angemessene Weise ein wenig vor. Ich kann es mir schwer vorstellen, dass dieser Fleischberg noch immer von seinem ursprünglichen Knochenklappergerüst getragen wird und hege den Verdacht, dass man bei der Operation, der er sich als Zwanzigjähriger unterziehen musste, nicht seinen Blinddarm entfernt, sondern seine Knochen ausgetauscht hat. Anders lässt sich die Tatsache, dass er danach immer fettleibiger wurde, kaum erklären. Bruder Sieben trägt stets Anzug mit Krawatte, adrett wie ein Hongkonger Geschäftsmann. Setzt er dazu noch seine randlose Brille auf, bekommt er das coole Aussehen eines Professors oder Spezialisten. Geht er auf der Straße, folgen ihm häufig die bewundernden Blicke junger Damen. Außerhalb des Hauses hat seine Art zu sprechen nichts von einem tollwütigen Hund. Er präsentiert seine Gedanken mit einem Flair höflicher Zurückhaltung, den, so habe ich gehört, ein Mann von Geist nur durch jahrzehntelange Selbstkultivierung erwirbt.

Bruder Sieben hat mehrfach im Qingchuan-Hotel1 übernachtet. Anfangs hat Vater ihm das nicht geglaubt. Vater ist mit dem Anblick des hochragenden weißen Gebäudes durch seine täglichen Spaziergänge am Flussufer vertraut. In all den Jahren, die Vater in Hankou2 verbracht hat, war ihm ein derartig hohes Gebäude nie vor Augen gekommen. Er behauptete steif und fest, dass nur Personen vom Rang des Vorsitzenden Mao oder des Ministerpräsidenten Zhou3 dort absteigen könnten. Mutter sagte, der Vorsitzende Mao und der Premierminister Zhou seien ins Grab gestiegen, bevor sie Gelegenheit gehabt hätten, dort zu übernachten. Vater antwortete, es gebe auch noch den Generalsekretär Hu4 und den Ministerpräsidenten Zhao5, die dort wohnen könnten. Das sagte er im Jahr 1984.

Bruder Sieben konnte zu dieser Frage nicht Klärendes beitragen, er sagte nur, das Schriftzeichen »Qing« (晴, hell, klar) auf dem Schild »Qingchuan-Hotel« im Gebäude sehe aus wie ein »An« (暗, dunkel, düster). Wenn sie es nicht glaubten, sollten sie hingehen und es überprüfen.

Natürlich konnten sich Vater und Mutter nicht einmal vorstellen, dass sie je die Möglichkeit hätten, sich das persönlich anzusehen. Erst nachdem sie eines Tages in der Zeitung gelesen hatten, dass ein Privatunternehmer im Qingchuan-Hotel abgestiegen war, machten sich Bruder Fünf und Bruder Sechs jeweils mit tausend Kuai6 in der Tasche auf den Weg dorthin. Als sie am nächsten Tag zurückkehrten, berichteten sie Vater, dass ihr kleiner Bruder Sieben tatsächlich dort übernachtet hatte und das Zeichen »Qing« auf dem Schild »Qingchuan-Hotel« wirklich aussah wie ein »An«.

Bruder Sieben behauptete, dass er immer mit dem »Taxi« dorthin fahre und der rot gekleidete Portiersjunge ihm jedes Mal die Wagentüre öffne und mit einem Bückling »Herzlich willkommen!« sage.

Bruder Fünf und Bruder Sechs hatten den öffentlichen Bus genommen, waren an der Großen Brücke7 ausgestiegen und hatten anschließend zu Fuß noch ein hübsches Stück Weg zurückgelegt. Sie konnten daher die Behauptung von Bruder Sieben nicht bezeugen. Aber Vater und Mutter glaubten es ohne jedes Zeugnis.

Wenn Vater von da an am Flussufer spazieren ging und dabei auf Bekannte traf, konnte er sich nicht enthalten, zu sagen: »Was Besonderes ist das Qingchuan-Hotel nicht, unser kleiner Siebter hat ein paarmal dort gewohnt.«

»Ah? Der kleine Siebte, der immer unter dem Bett geschlafen hat?«, fragten die Bekannten erstaunt.

Und Vater antwortete: »Ja, genau der. Hat sich dort tatsächlich zu einer wichtigen Person durchgeschlafen.« Dabei erglänzte sein Gesicht in väterlicher Liebe und väterlichem Stolz.

In Wahrheit hatte Vater früher immer daran gezweifelt, dass Bruder Sieben von ihm stammte. Von der Schwangerschaft hatte er erst erfahren, als sich Mutters Bauch zu runden begann. Vor der Haustür hockend hatte er nachgerechnet. Er rechnete hin und her, und als Ergebnis seiner Berechnungen hatte er Mutter gepackt und ihr zwei Backpfeifen verpasst. Vater erklärte, er sei zur fraglichen Zeit mit einem Frachtschiff nach Anqing unterwegs gewesen. Eine ehemalige Freundin, die im Sterben lag, hatte nach ihm verlangt. Und Mutter sei während der fünfzehn Tage seiner Abwesenheit schwanger geworden. Dass Mutter seit jeher gern mit Männern flirtete, war ihm bekannt. Offenbar war die Einsamkeit während seiner zweiwöchigen Abwesenheit zu viel für sie gewesen. Vaters Verdacht richtete sich vor allem gegen Bai Liquan von nebenan. Bai Liquan war klapperdürr, sein unsteter Blick verriet nichts Gutes, aber hinter seinen dünnen Lippen verbarg sich ein geöltes Mundwerk, das ausreichte, um auf Frauen Eindruck zu machen. Entscheidend war jedoch, dass Vater mit eigenen Augen gesehen hatte, wie er und Mutter sich Blicke zuwarfen. Je mehr Vater nachdachte, desto mehr wuchs in ihm die Gewissheit. Daher warf er weder bei der Geburt von Bruder Sieben noch während des Wochenbetts seiner Mutter einen Blick auf das Kind. Als wäre nichts geschehen, saß er Schnaps trinkend an der Haustür und zermalmte dabei krachend zwischen den Zähnen geröstete Sojabohnen.

Mutters Pflege überließ er vollständig Großem Bruder. Der war zu der Zeit bereits siebzehn Jahre alt und sorgte gewissenhaft für Bruder Sieben, damals winzig und weich wie eine Made. Erst ein halbes Jahr später richtete Vater zum ersten Mal seinen Blick auf Bruder Sieben. Er betrachtete ihn eingehend, dann schmiss er ihn wie ein Kleiderbündel aufs Bett. Der kümmerliche Bruder Sieben glich in nichts dem hochgewachsenen und robusten Vater. Vater packte Mutter an den Haaren und fragte sie drohend, wessen Sohn Bruder Sieben denn nun sei. Außer sich vor Wut begann Mutter mit ihm zu streiten, beschimpfte ihn als Drecksau, widerwärtigen Köter und blinden Teufel. Sie erklärte, er sei doch nur nach Anqing gefahren, um seiner ehemaligen Geliebten das letzte Geleit zu geben und habe jetzt die Frechheit, nach Hause zu kommen und mit ihr zu streiten. Beide, Vater wie Mutter, verfügten über erschreckend laute Stimmen. Nicht einmal die durchschnittlich alle sieben Minuten vorbeidonnernden Züge konnten ihr Geschrei übertönen. Daher strömten die Nachbarn von links und rechts herbei, um dem Spektakel beizuwohnen. Es war gerade Abendessenszeit. Die Menge drängte sich, die Essschalen in den Händen, vor der Barackentür. Kauend, schluckend und kichernd tauschten sie untereinander Urteile über Vater und Mutter aus. Während Mutter gegen Vater Gift und Galle spie, wurde bemerkt, dass Mutters Haltung gegenüber früher an Anmut verloren habe. Als Vater rasend vor Zorn Essschalen zerschmetterte, erhoben sich mehrfach Stimmen, die erklärten, das Geräusch zerbrechender Essschalen reiche nicht an den Wohlklang zertrümmerter Thermoskannen heran. Doch die Eingeweihten ergänzten umgehend: Dass Vater nur Essschalen zertrümmere, liege vor allem daran, dass es in diesem Haushalt keine Thermoskannen gebe. Alle waren bereit zu bezeugen, dass Vater ein echter Kerl und ein ehrenwerter Bewohner dieses unter dem Namen »Henan-Baracken« bekannten Gebietes sei.

Dass Vater ein echter Kerl war, unterliegt keinem Zweifel. Alle in der Familie beteten ihn an, vor allem natürlich Mutter. Ihr einziger Stolz im Leben war der Besitz eines Mannes wie Vater. Obgleich sie in den vierzig Jahren ihrer Ehe unzählige Male verprügelt worden war, erfüllte ihr Leben sie mit Genugtuung. Vaters Prügel waren für beide so etwas wie ein wesentlicher Lebensinhalt. Mutter erwartete im Anschluss an die Prügel eine demütige, ja unterwürfige und zugleich hingebungsvolle Aufmerksamkeitsgeste ihres Mannes, um derentwillen sie ihn sogar, wenn eine gewisse Zeit ohne Prügel verstrichen war, mit Absicht reizte, bis Vater explodierte und die Beherrschung verlor. Mutter war eine attraktive Frau und machte davon reichlich Gebrauch. Aber tatsächlich hat sie Vater nie hintergangen. Mit Männern zu flirten und sich in Szene zu setzen, gehörte zu ihrer Natur, aber darüber hinaus ging es nie. Mutter erklärte, auf dieser Welt gebe es keinen Kerl, der an Vater heranreiche, da müsste es schon mit dem Teufel zugehen. Mutter sagte, sie würde sich nur in die Arme eines anderen Mannes werfen, wenn Vater vor ihr stürbe. Als sie das sagte, war sie gerade mal fünfundzwanzig. Jetzt ist sie sechzig und Vater quicklebendig und kerngesund. Es steht außer Frage, dass Mutter ihr Versprechen gehalten hat. Daher entbehrt Vaters Verdacht, Bruder Sieben sei ein vom Nachbar Bai Liquan ins Nest gelegtes Kuckucksei, jeder Grundlage. Bai Liquan ist achtzehn Jahre jünger als Mutter. Natürlich konnte Mutter der Versuchung nicht widerstehen, ihm schöne Augen zu machen, gelegentlich kam es auch zu Fummeleien, aber Bruder Sieben war zweifellos Sohn seiner Eltern. Nur einer wie Vater war in der Lage, einen Sohn wie Bruder Sieben zu zeugen. Vater begriff das erst fünfundzwanzig Jahre später, als Bruder Sieben ihm unerwartet eröffnete, dass er auf einen Beamtenposten im Parteikomitee des Provinz-Jugendverbandes versetzt worden war. Vater erfuhr von Bruder Sieben, dass der nächste Schritt für jemanden aus dem Parteikomitee des Provinz-Jugendverbandes ins Provinz-Parteikomitee führe und von dort aus sei es mit etwas Glück nur ein kleiner Sprung ins Zentralkomitee. Vater bereitete es gewisse Schwierigkeiten, diese Tatsachen zu akzeptieren. Er hatte sein Lebtag nicht einmal einen Funktionär der Kreisverwaltung zu Gesicht bekommen. Der bedeutendste Beamte seiner Bekanntschaft war der Vorsteher der Transportstation, und mit dem hatte er insgesamt nur zweimal ein Wort gewechselt. Und noch ehe er zu Ende gesprochen hatte, war der Stationsvorsteher ans Telefon gerufen worden. Und jetzt stand sein kleiner Siebter mit kaum mehr als zwanzig Jahren plötzlich rangmäßig hoch über dem Stationsvorsteher. Diese Lektion erklärt Vaters gegen alle seine Gewohnheiten verstoßende Nachsicht mit dem auftrumpfenden, gockelhaft unablässig seine Flügel spreizenden und mit seinen Schwanzfedern wackelnden Gehabe seines Siebten.

2. Kapitel

Seit seiner Hochzeit bewohnte Vater mit seiner Frau, seinen sieben Söhnen und zwei Töchtern ein dreizehn Quadratmeter großes Zimmer mit Wänden aus Holzbrettern in den Henan-Baracken in Hankou. Hier zeugten und gebaren er und Mutter im Verlauf von siebzehn Jahren ihre neun Kinder. Ein achter Sohn starb einen halben Monat nach der Geburt. Vater war über den frühen Tod des kleinen Lebewesens untröstlich. Er war damals achtundvierzig Jahre alt. Nicht nur, dass das Neugeborene, wie er, im Jahr des Tigers geboren wurde, sondern es erblickte auch am selben Tag, im selben Monat, zur selben Zeit das Licht der Welt. Überglücklich wiegte Vater den kleinen Sohn fünfzehn Tage in seinen Armen, keinem der anderen Kinder war ein solches Maß an Vaterliebe vergönnt gewesen. Am 16. Tag jedoch wurde das Baby plötzlich am ganzen Körper von Krämpfen geschüttelt und hauchte am Abend desselben Tages sein Leben aus. Mutters Schreck über Vaters bodenlose Trauer ließ sie fast ohnmächtig werden. Vater kaufte Bretter, zimmerte einen winzigen Sarg und begrub das Baby unter dem Fenster vor der Baracke. Das Baby bin ich.

Ich bin Vater unendlich dankbar, dass er mir zu einer Existenz aus Fleisch und Blut und zu einer ewigen Gemeinschaft mit meiner Familie verholfen hat. In aller Stille habe ich das Leben und Aufwachsen meiner Geschwister beobachtet, ihre Kämpfe mit den armseligen Verhältnissen und ihre Prügeleien untereinander. Ich habe jeden von ihnen aus dem Fenster gelehnt sagen hören, der kleine Bruder Acht habe es von allen am besten getroffen. Obgleich ich in keiner Weise dafür verantwortlich bin, dass das Schicksal mir gegenüber, verglichen mit ihnen, so viel gnädiger gewesen ist, plagen mich häufig Gewissensbisse. Beim Beobachten meiner Eltern und Geschwister fühle ich mich oft schuldig, dass ich so viel glücklicher und ruhiger bin als sie. In für sie besonders schlimmen Momenten überfällt mich der Impuls, aufzustehen, mein rundum seliges Refugium zu verlassen und ihr Elend zu teilen. Aber am Ende schrecke ich davor zurück. Ihre Welt jagt mir, ehrlich gesagt, Angstschauer ein. Ich bin feige, ein Schwächling und bitte dafür meine Lieben oft um Verzeihung. Ich bitte sie um Verzeihung, dass ich als Einziger die Ruhe und Wärme genieße, die ihnen allen zusteht, bitte sie um Verzeihung, dass ich mit ungerührtem Blick bis in jedes Detail ihre Mühseligkeiten und Aufregungen verfolge, ihre Qualen und Ängste beobachte.

Das war der Fall im Jahr 1961, als die neun Kinder mit vor Hunger stumpfen Blicken ihre mageren Hälse Vater und Mutter entgegenreckten.8 Damals erst begruben Vater und Mutter ihren in jungen Jahren gefassten Plan, einen kompletten Zug9 in die Welt zu setzen.

Im Zimmerchen gab es ein großes Bett und einen niedrigen kleinen Esstisch. Mit Kleidern voll gestopfte Holzbottiche und Kartons stapelten sich in einer Ecke. Für die beiden Töchter hatte Vater ein winziges Dachgeschoss gebaut. Die sieben Söhne schliefen nebeneinander aufgereiht auf abends provisorisch auf die Erde gelegten Matten. Vater zählte sie jeden Abend vor dem Schlafengehen, ihm genügte die Feststellung, dass alle noch am Leben waren. Anschließend fiel er aufs Bett, benutzte Mutters Arm als Kopfkissen und begann zu schnarchen.

Vater erzählte, dass dieser Ort Henan-Baracken10 genannt wurde, weil Großvater sich mit einer Gruppe anderer auf der Flucht vor einer Hungersnot hier angesiedelt habe. Heute ist das Gelände der Henan-Baracken mehr oder weniger Teil des Stadtzentrums. In Richtung Süden stieß man nach Überquerung der Peking–Kanton Bahnlinie auf die Bahnhofstraße. An ihrem Ende erhob sich, düster wie eine Kirche, der Bahnhof von Hankou. Bog man von der Bahnhofstraße nach rechts ab, kam man auf den Abschnitt des Sun-Yatsen-Boulevards, auf dem sich Geschäft an Geschäft reihte. Hier befanden sich nahezu alle die von Menschengedränge erfüllten Orte, zum Beispiel das Iron-Bird-Fotostudio, das Tongcheng-Hotel, die Bekleidungsfabrik Nr. 1, die Yangtze-Straße, die Jianhan-Straße, die Liudu-Brücke. Vater überquerte jeden Tag den Sun-Yatsen-Boulevard, um direkt in den Binjiang-Park11 zu gelangen, wo er Taijiquan praktizierte. Er brüstete sich dort vor seinen Taijiquan-Freunden damit, dass er zu den Alteingesessenen der Henan-Baracken gehöre. Um der Wahrheit willen muss jedoch auch gesagt werden, dass die alteingesessenen Bewohner Hankous es unter ihrer Würde gefunden hätten, die Ortsbezeichnung Henan-Baracken anders als im Ton der Verachtung in den Mund zu nehmen.

Vater erzählte, Großvater sei 1886, im zwölften Regierungsjahr des Guangxu-Kaisers, auf der Flucht vor einer Hungersnot aus Zhoukou in der Provinz Henan nach Hankou gekommen und dort Dockarbeiter geworden. Bruder Vier war daher in der dritten Generation in diesem Gewerbe tätig. Bruder Drei sprach häufig davon, dass, wenn Großvater Soldat geworden wäre, er womöglich an der Qinhai-Revolution12 teilgenommen und sich zu einem Anführer aufgeschwungen hätte. Dann wäre die Familie vielleicht zu Vermögen gekommen, und er und die Geschwister würden heute zu den Pekinger »Söhnen und Töchtern hoher Funktionäre«13 gehören. Er rede einen Scheißdreck, brüllte Vater dann. Im Vergleich zu Großvaters Leben sei das Leben von Leuten, die anders gelebt hätten, total bedeutungslos. Großvater sei ein Baum von einem Mann gewesen, kraftstrotzend wie ein Büffel, großzügig und hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe. Er sei früh Mitglied der Hong-Bruderschaft14 geworden. Es war damals die Hochzeit der Kämpfe zwischen den Dock-Gangs. Großvater habe dabei seine außergewöhnlichen Fähigkeiten bewiesen und sei von sämtlichen »Drachenkopf-Krückstöcken«15 der Bruderschaft hoch geschätzt worden. Großvater habe zu hundert Prozent zu seinen Kumpels gestanden und habe sich bei jedem Ruf mit Feuereifer an vorderster Front ins Getümmel gestürzt. Vater erzählte, er habe als Vierzehnjähriger Großvater zu den Dockkämpfen begleitet und habe mit eigenen Augen Großvaters Heldenmut und Wildheit gesehen. Später sei Großvater bei einem üblen Kampf schwer verwundet worden. Mehrere Rippen seien gebrochen, sein gesamter Körper blutüberströmt gewesen, als hätte man ihn in ein rotes Tuch gewickelt. Als man ihn dem Tode nahe auf einer Bahre nach Hause schaffte, habe auf seinem Gesicht noch immer ein Lächeln gestanden. Vater erzählte, Yan Qizhou, Chef aller Chefs, habe extra Leute mit Weißpulver aus Yunnan zu Großvater geschickt. Yan Qizhou war damals der in Hankou berühmteste »Kaiser der Docks«, und Vater spricht noch heute seinen Namen mit ehrfürchtigem Schauder aus. Aber auch dessen Medizin konnte Großvaters Leben nicht retten. Großvater klopfte Vater zweimal auf die Schulter und verschied. Vater kniete tränenüberströmt vor dem Sterbenden. Als er Großvaters Kopf sich zur Seite neigen sah, schrie er auf und stürzte sich über ihn. Alle Anwesenden begriffen sofort, dass es mit Großvater zu Ende gegangen war. Schluchzen und Klagen erhoben sich wie aus der Ferne heranrollender Donner. Die Zahl der um Großvater Trauernden war schier unüberschaubar. Bis heute versteht Vater nicht, warum es so viele waren. Er vermutet, es habe daran gelegen, dass Großvater sich bei den Dockkämpfen so hervorgetan hatte. Vater war damals zwanzig. Abgesehen davon, dass er etwas weniger robust gewachsen war, glich er Großvater aufs Haar. Drei Tage nachdem er Großvater beerdigt hatte, sei er zu einem Dockkampf gerufen worden. Den Gegnern sei der Mund offen stehen geblieben, als er sich mit Funken sprühenden Augen ins Gefecht stürzte, und manche hätten sich zitternd gefragt, ob sie einem Menschen oder einem Dämon gegenüberstanden.

An dieser Stelle seiner Erzählung angelangt, brach Vater jedes Mal in dröhnendes Gelächter aus. Hatte er sich ausgelacht, nahm er einen kräftigen Schluck Schnaps, schob sich an die zehn Sojabohnen auf einmal in den Mund und zerkaute sie krachend.

Jedes Mal wenn Vater trank, erzählte er endlos von seinen »Kriegsabenteuern«. Alle Söhne hatten dann brav und still um ihn herum zu sitzen und aufmerksam seiner »Traditionserziehung« zu lauschen. Als Bruder Zwei einmal zu einem Freund gehen wollte, um zur Vorbereitung der Aufnahmeprüfung der weiterführenden Schule Unterrichtsstoff zu wiederholen, kamen wie aus dem Nichts, noch ehe er die Wohnungstür erreicht hatte, von Vater geworfene geröstete Sojabohnen einschließlich des Tellers hinter ihm hergeflogen. Die Schwestern Großer Duft und Kleiner Duft stießen spitze Schreie aus, die Sojabohnen verstreuten sich auf dem Fußboden, der Teller flog Bruder Zwei ins Gesicht und hinterließ eine bluttriefende Schnittwunde auf seiner Stirn. »Los, setz dich«, sagte Vater, »und hör deinem Alten zu, wie aus ihm ein anständiger Mensch geworden ist.« Seither traute sich keiner mehr in solchen Situationen auch nur mit dem Hintern zu wackeln. Bruder Sieben konnte ein paarmal vor Angst das Wasser nicht halten und pinkelte sich in die Hosen.

Wenn Vater aus der Vergangenheit erzählte, war Mutter seine treueste Zuhörerin. Sie hatte ein weitaus besseres Gedächtnis als er und bei der Nennung von Daten, Orten und Namen war er vollständig auf Mutters Angaben angewiesen. Konnte auch Mutter sich nicht erinnern, musste sich Vater verzweifelt gegen die Stirn trommeln, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen, wobei sich sein Gesicht vor Anstrengung zu einer schmerzvollen Grimasse verzerrte. Wenn er sich an ein Detail nicht erinnern konnte, war er außerstande, die Geschichte fortzusetzen. Solche Aussetzer bedeuteten für seine Kinder eine Art vorzeitiger Haftentlassung. In einem Fall grübelte Vater eine ganze Woche über das Datum des sensationellen Kampfes um das Dock der Xujia-Baracken zur Republikzeit im Jahre 1936. Auch nachdem die Woche verflossen war, und er seine Zuhörerschaft erneut versammelte, konnte er sich nicht erinnern und war gezwungen, das genaue Datum durch die Jahreszeit zu ersetzen. Es sei im Winter 1936 gewesen, die Japaner seien kurz zuvor weggerannt16, die Bahnlinie Kanton–Hankou habe gerade ihren Betrieb wieder aufgenommen, und am Dock der Xujia-Baracken habe man plötzlich schweres Geld verdient. Das habe die gierigen Blicke einiger Chefs auf sich gezogen, ein paar Kämpfe untereinander mit Knüppeln und ähnlichen Waffen hätten kein klares Ergebnis herbeigeführt. Wang Lisong, der Chef der Hong-Bruderschaft, hatte Leute zu ihm geschickt, um ihn zu mobilisieren. Vater, den es in den Fäusten juckte, hatte auf der Stelle zugesagt. Für den Kampf um das Dock an den Xujia-Baracken sei er um drei Uhr morgens aufgestanden. Es war noch stockdunkel, als er über den Strom setzte, ein eiskalter Wind blies ihm wie Nadeln entgegen, die ihm ins Gesicht stachen und seine Haut taub werden ließen. Vater trug eine gefütterte schwarze Baumwolljacke, seinen Dajian-Umhang17 hatte er fest um die Hüfte gewickelt, ein imposanter und Schrecken einflößender Anblick. Vor dem Besteigen des Schiffs hatte er nahezu einen Liter Schnaps getrunken, der Alkohol hatte sein Blut zum Kochen gebracht, es schwappte in Wellen durch seinen ganzen Körper. Daher bereitete ihm der bis in die Knochen dringende eisige Wind eine seltsame Freude. Er betrachtete den weit dahinströmenden Yangtze, seine Miene zeigte die unbekümmerte Furchtlosigkeit eines mit erhobener Waffe ins Gefecht stürmenden Guan Yu18. Vaters Hand hielt eine Tragestange, dieselbe, der er sich bei solchen Gelegenheiten stets bediente, dunkelbraun und glänzend vor Öl. Er handhabte sie mit absoluter Geschicklichkeit und hatte das Gefühl, sie stünde Guan Yus »Grüner Drachen-Hellebarde« in nichts nach. Sein