Glänzende Geschäfte - Katharina Münk - E-Book

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Katharina Münk

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Beschreibung

Von Autisten und anderen Wirtschaftsbossen Eine akute Sinnkrise verhilft Dr. Wilhelm Löhring, Wirtschaftsboss und ehemals Insasse der Nervenklinik St. Ägidius, zu einem unverhofften Comeback in der deuschen Wirtschafts-Community. Dass ausgerechnet Keith Winter, Ex-Investmentbanker, Genie, Autist und Mitinsasse in St. Ägidius, der Kopf hinter dem vielversprechenden Big Deal ist, erregt Löhrings Misstrauen: Ist das alles eine Inszenierung, um seine High-Level-Conflict-Performance zu testen?

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Katharina Münk

GLÄNZ€NDE G€SCHÄFTE

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

»Well, it’s the same room, but everything’s differentyou can fight the sleep, but not the dream.«

Crowded House:Always take the weather with you

DIE TRAINIERTE SEELE

Wenn Massagen nichts für ihn seien, dann solle er eben fechten, hatte man ihm gesagt. Ganz, wie er wolle. So könne er sich schon mal ein wenig die Perspektiven freischlagen, locker werden. Löhring streifte also die Maske über. Er zog aus der Grundstellung heraus seine Waffe, führte sie zum imaginären Gegner und dann zurück mit der Klingenspitze nach oben. Kein Kampf ohne Begrüßung des Gegners. Also dann. Er begann zu tänzeln, flink und überlegt, wie er nun einmal war, im richtigen Abstand, auf Zeitpunkt und Tempo bedacht und vor allem lautlos. Dann Kurzpräsentation der Florettpositionen, ohne hektisches Gerassel. Und noch einmal, schneller dieses Mal und in alle Richtungen. Löhring drehte sich um die eigene Achse, schnitt die Luft in Einzelteile, als wolle er um sich herum ein Vakuum erkämpfen. Niemand hätte ihm jetzt vor die Klinge kommen dürfen.

Ihm wurde bald heiß unter dem Kopfschutz. Kleine Schweißperlen bahnten sich ihren Weg nach unten, durch die kleinsten Ritzen und schneller da, wo der Kopf keinen direkten Kontakt zur Maske hatte, bis sie an der dünnen Haut am Hals entlangtropften und kitzelten. Es fühlte sich nach Verausgabung an, aber auf eine sehr elegante Weise. Der Gesichtsschutz mit den feinen Gitterchen verbarg jeden unsouveränen Anflug in der Mimik, gab ihm etwas Geheimnisvolles, etwas Insektenhaftes, fand er. Er stach weiter zu. Er hatte alle Zeit der Welt. Luxus. Das Gespräch mit seinem Coach würde erst in zwei Stunden beginnen.

Der Trainingsraum ging nach Südosten hinaus, und die Morgensonne schien nur ganz dezent durch die feinen hölzernen Lamellen. Man sah kein einziges Staubpartikelchen auf dem Wengeholz-Parkett, hörte nur das schrille Quietschen von Löhrings Hallenschuhen, die ihn mehr ausbremsten, als ihm lieb war. Doch wer kämpfte schon auf Socken? Der Raum war um diese Uhrzeit in einem fast jungfräulichen Zustand, wenn man einmal von seiner Person absah. Und um hundertprozentig sicherzustellen, dass er allein und ungestört blieb, hatte er auf den Hotelbriefbogen, der auf jedem Zimmer lag, »Parkettversiegelung« geschrieben und ihn außen an die Tür geklebt.

Löhring war klar, dass sein Training normalerweise durch geschultes Personal beaufsichtigt werden musste, durch Fachkräfte, die sich in der Fechtkunst und beim Menschen per se auskannten und gegebenenfalls verhindern sollten, dass sich Geburnoutete in die Klinge fallen ließen oder aufeinander losgingen. Doch Löhring war sich selbst genug, stand hier und jetzt in vollem Lebenssaft. Und nie und nimmer hätte er die Beinarbeit ohne Waffe geübt – was nützte die raffinierteste Strategie, der exakteste Angriffspunkt, wenn am Ende die Klinge fehlte? Das wäre nur der halbe Spaß und so, als würde er ohne Visitenkarte ins Akquisegespräch gehen. Nein, schließlich hatte er bereits auf die weiße Weste verzichten müssen, bestritt das Training in anthrazitfarbenem Sportanzug mit Streifen.

Löhring ging erst einmal so geschmeidig wie möglich auf die Stoßpuppe los – ein weiß bespanntes Kautschukkonstrukt in Körpergröße mit kleinen Stummelchen für Arme und Beine. Sie ließ es gleichmütig über sich ergehen, knautschte nur dann und wann ein wenig zusammen. Sie war ihm nicht unähnlich, fand er, ein probater Gegner, stabil und doch flexibel, unverwundbar nach außen hin, allerdings mehr defensiv als aggressiv. Also drauf, immer drauf. Und noch einmal die Armpositionen. Löhring fühlte sich ein in die Puppe, so gut es ging, nahm sie als Gegner an, begann zu spielen, forderte sein Angriffsrecht: Sixt, Quart, Oktav – er stach stärker zu. Nix mit locker. Doch selbst beim Katapultangriff nach vorne, Klinge in Linie, aus einem kurzen Ausfallschritt heraus, verzog die Puppe keine Miene.

Löhring ließ von ihr ab und strich mit dem Daumen über die Blutrinne seiner Waffe, holte tief Luft und begann von vorn. Er pustete durch die Maske, atmete dabei die eigene heiße Luft wieder ein, und es pocherte tierisch in den Schläfen. Nicht aufgeben, jetzt nur nicht aufgeben. Löhring sprang wieder nach vorn und versetzte dem Gestell den finalen Stoß. Die Klinge bog sich gegen den Kautschuk, und er versuchte weiterzubohren. Wer hatte sich bloß diese Scheißpuppen ausgedacht? Es könnte ja wenigstens ein weißes Fähnchen aus einem der Ärmchen kommen oder etwas rote Farbe aus den Gummiporen. Da hatten es die Typen auf den kühlen, nebligen Lichtungen morgens um fünf leichter – mit einem Gegner aus Fleisch und Blut und vor allem freier Wahl der Waffen.

Nach weiteren zehn Minuten riss er sich die Maske vom Kopf, ging zu einem der Elemente der durchgehenden Fensterfront, zog die Jalousie hoch und öffnete das Fenster. Eine frische Brise wehte herein, die Luft war feucht und roch nach Kräutern, und Löhring pumpte seine Lungen voll damit. Durchzug. Auch innerlich. Irgendwo bimmelte eine Schafherde. Er hob den Blick und betrachtete die Gipfelkette, die man hier praktisch aus jedem Fenster sah: schroffe Felsstrukturen mit Schneeresten in den Spalten, Wolken dazwischen, dann weiter unten dunkle Fichtenwälder, über denen Nebelschleier lagen. Die reinste Chippendale-Landschaft. Von seiner Suite aus hatte er sie stets durch große Panoramafenster vor Augen, und schon beim ersten Augenaufschlag brannte sich einem der Berg durch die Vorhänge hindurch ins Hirn wie die DAX-Eröffnungskurve.

Gut Meinberg lag auf einer kleinen Anhöhe, ein gründerzeitlicher Hauptbau aus ochsenblutrotem Fachwerk in der Mitte und einigen modernen Anbauten, deren Ausstattung dem Hotel den fünften Stern eingebracht hatte. Man warb damit, ein »Cultural Hideaway« zu sein – eine recht mutige Umschreibung der Tatsache, dass der nächste kleine Ort etwa einen Zweistundenmarsch querfeldein entfernt war. Keine Bahnstrecke führte hier hoch, nur eine schmale, mautpflichtige Privatstraße. Es war weniger wahrscheinlich, dem Dorfbäcker über den Weg zu laufen als dem mit etwas Pech ebenfalls vor Ort urlaubenden Aufsichtsratsmitglied. So konnten einhundert Quadratmeter Hotellobby tatsächlich zum Hideaway werden, je nachdem, wen man da gerade beim Einchecken erspähte. Es ließ sich andererseits recht gut aus dem Wege gehen, denn es gab mehrere Restaurants, verschiedene Bibliotheken, im Notfall eiskalte Tauchbecken im Außensaunabereich, in die sich sonst niemand traute.

Löhring persönlich war das hier alles ein bisschen zu viel Wellness: Raumaromen, die den Geist umnebelten und einem noch nachts in der Nase hingen, an jeder Ecke überflüssige Deko, Windlichter, bestimmt Hunderte von unrentabel vor sich hin flackernde Kerzen, blubbernde Getränkespender, eine Armee herumhockender Buddhas vor deutscher Hochgebirgskulisse und kleine Kärtchen auf dem Kopfkissen, auf denen Dinge standen wie: »Sleep is the best meditation«. Aber kein einziger Feuerlöscher weit und breit. Man riskierte mitunter, gar nicht mehr aufzuwachen. Unten auf der Kiesauffahrt hielten Geländewagen und entließen junge Familien mit lärmenden Kindern oder einfach nur langweilige Menschen mit dünnen Steppjacken und Hornbrillen. So veränderte man nicht die Welt. So nicht. Ja, hier hätte man einiges auf Vordermann bringen können, fand Löhring. Doch deswegen war er nicht hier. Dieses Mal nicht.

Eigentlich hatte er sich dieses Wochenende auch gar nicht ausgesucht, und dass die Wahl gerade auf eine solche Luxushütte gefallen war, um ein paar Gespräche mit ihm zu führen, sah eher nach Ablenkungsmanöver aus. Es war überhaupt ein Affront gewesen, ihm, Löhring, eine solche Maßnahme anzubieten. Nicht nur Massagen, Gummimatte und Qui Gong, sondern nun auch noch Coaching. Ein verdammter Affront. Geistige Magenspiegelung sozusagen. Unverschämtheit. Alles Angsthasen. Risikovermeider, Weicheier. Aber es gehörte wohl zum Anforderungsprofil seines Jobs, so etwas souverän und ohne die geringste emotionale Verstrickung wegzustecken.

Miranda Beck hatte es getan. Um 16.10 Uhr laut Digitalanzeige auf dem Telefon. Nach all den Jahren war es letztendlich doch recht spontan über sie gekommen. Es war auch höchste Zeit für eine Veränderung gewesen, denn die Arthritis hatte sich bereits auf die Knochen, Knorpel und Bänder gelegt, besonders an der linken Hand, die, so wurde ärztlich befunden, mit fünfundfünfzig Prozent aller PC-Anschläge stärker belastet war als die rechte. Allein der linke Mittelfinger hatte zwanzig Prozent aller jemals getätigten Tastendrucke hinter sich. Mit den Zeichen, die allein er in all den Jahren in die Welt getippt hatte, hätte man Schloss Sanssouci mit Papier auslegen können. Diagnose: Burnout der Fingergelenke. Ja, auch Finger besaßen ein Gedächtnis. Sie hatte es nicht nur aus gesundheitlichen Gründen getan, sondern vor allem aus Wut und aus der Befürchtung heraus, irgendwann in zwanzig Jahren zurückzublicken und sagen zu müssen, nichts gewagt zu haben, nichts unternommen zu haben außer einer Busreise durch den Kaukasus während des Urlaubs. Jetzt also Kündigung statt Kaukasus.

Am Ende hatte es an einem Glas Marmelade gelegen. Orangenmarmelade. Aus England. Duty free. »Ich weiß doch, dass Sie so gerne Marmelade essen«, hatte er gesagt, und man hätte das nett finden können – ein Chef, der seiner daheimgebliebenen Sekretärin ein Mitbringsel hinstellt, zuletzt die Lucky Cat mit dem blöden winkenden Ärmchen aus Taipeh. Sah sie so aus, als könne man ihr so etwas schenken? Sie hatte dieses Mal nicht »Gute Reise« auf den Umschlag mit den Devisen geschrieben, auf die Geldscheine lediglich mit letzter Kraft ein Post-it geklebt: »Do not return the coins please«. DO NOT RETURN in Großbuchstaben. Wenn es Winter gewesen wäre in England, hätte sie ihm ein Auto ohne Winterreifen gebucht. So weit war es gekommen. Und jetzt Marmelade als Dankeschön. Nichts weiter als ein in Geliermittel verpacktes Ablenkungsmanöver von den eigentlichen Führungsschwächen, fand sie. Sie hatte das Glas genommen und es in den Papierkorb gedonnert.

Ihr Chef hatte sich als »frischen Wind« gesehen, und tatsächlich hatte sie ihn eher als Luftzug erlebt, da er selten fünf Minuten an einer Stelle geblieben war. Gefolgschaft war wahrlich eine hohe Kunst, aber mit ihm hatte sie an Selbstverleugnung gegrenzt. Am Ende war sie auch nicht mehr nahe dran gewesen an seinen Wutanfällen, spontanen Ideen und Service-Attacken. Sie hatte sich irgendwann räumlich emanzipiert, mit drei Kolleginnen im Großraumbüro, im »Open Space«.

Als sie ihm den Umschlag mit der Kündigung auf den Tisch gelegt hatte, war sie unsicher geworden, hatte keinerlei Vorstellung davon gehabt, was in einer solchen Situation von ihm zu erwarten war. Verwunderung, gar das Bemühen, sie umzustimmen? Trauer oder nur ein leises, versöhnendes Bereuen? Sie war ihm in den zwei Jahren seit seiner Ankunft nahegekommen – räumlich, organisatorisch, in beruflichen wie privaten Belangen, mitdenkend, als rechte Hand.

Er hatte dann das Kuvert geöffnet und gesagt: »Och. Wie schade. Ich werde Sie vermissen und wünsche Ihnen viel Glück auf Ihrem weiteren beruflichen und privaten Lebensweg. Schauen Sie mal wieder auf einen Kaffee vorbei, wenn Sie in der Nähe sind.«

Da war es 16.15 Uhr gewesen auf der Digitalanzeige.

Raum »Camus« war schlecht ausgeschildert. Löhring hasste es, so zu wirken, als sei er auf der Suche, als stolpere er orientierungslos vor sich hin, wie auf diesen neuen Bahnhöfen in den neuen Bundesländern. Die Sonne stand mittlerweile auch verdammt tief, sie blendete in all diesen Räumen, und als er schließlich »Camus« gefunden und betreten hatte, kippte er erst einmal die Jalousien. Nix mehr mit Gipfelblick. Und es fehlte noch, dass einem vor lauter Blinzelei irgendwann das Wasser in die Augen schoss.

Zu diesem ersten Anamnesegespräch mit seinem Personal Coach hatte er sich für ein klassisches dunkelblaues Jackett entschieden, darunter offenes weißes Hemd zu Jeans, also casual mit einem Hauch stringenter Eleganz. Der Coach war schließlich der Grund seines Aufenthalts hier, hatte angeblich beste Referenzen in der Szene. Wenigstens das. Löhring ging zum Fenster, zog eine der Jalousien ganz hoch und versuchte statt des Berges sich selbst in der Glasscheibe zu betrachten. Er sah sich nicht. Also bückte er sich und bewegte den Kopf vor dem Glas hin und her – da, wo die Kiefernwälder anfingen, wo es dunkler wurde, weiter unten, ging es dann recht gut: Er fasste sich ins Haar, überprüfte den Seitenscheitel, den Sitz der dezenten Brille, weiter unten den Hemdkragen, groß und mit Wäschestärke gebügelt, wie die Tragflächen eines abflugbereiten Jumbos, dazu Einstecktuch, gold schimmernde Knöpfe am Sakkoärmel. Er sah so aus wie seine private Anlagenstrategie: konservativ und ohne Risiken.

Sollte sich sein Gesprächspartner vorher ein Bild von ihm gemacht haben, so war es mit Sicherheit genau das, was er gerade abgab, dachte Löhring. Sein Wiedererkennungswert war enorm, musste es auch sein. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, das aus sich zu machen, was er jetzt war: selfmade bis hin zum letzten gezupften Augenbrauenhärchen, ein Typ – »Big L« eben. Give the people what they want – es war ein Opfer, das er ihnen brachte. Ein verdammtes Opfer. Löhring ließ die Jalousie wieder herunterrattern.

Die Tür öffnete sich, und ein Asiate trat ein, näherte sich Löhring mit schnellen, geschmeidigen Bewegungen, als hätte er kleine Rollen unter den Schuhen oder ein Aufziehschlüsselchen im Rückgrat. Er war von drahtiger, kleiner Gestalt, trug schwarze Hose zu schwarzem T-Shirt und streckte seinem Gegenüber lächelnd die Hand entgegen. Alles an ihm glänzte eigenartig: die Haare, die Haut, die Augen.

Löhring guckte. Ausländer. Jetzt hatte man ihm einen mit Migrationshintergrund zugeteilt. Wie aus dem Prospekt gehüpft. Diversity trotz Hideaway. Hätte er sich ja denken können. Er selbst war ja auch global.

»Hi Lang.«

Löhring verstand nicht ganz: »Entschuldigung. Wie bitte? Ich habe keinen Sprachkurs gebucht.«

Es wurde weitergelächelt. »Ich heiße Hi Lang und bin Ihr Personal Coach. Ich vermute, Sie sind Herr Dr. Löhring? Grüß Gott!«

»Na, wir wollen doch mal die Kirche im Dorf lassen.«

»Wie bitte?« Lang ging zum Fenster und öffnete die Jalousien. »Es ist ein wenig dunkel hier drin, finden Sie nicht?«

»Wo ich bin, ist es niemals dunkel. Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?« Löhring wusste, dass er jetzt erst einmal Zeit gewinnen musste, um sich aufzustellen.

»Nun, bei meinen Eltern und meiner Grundschullehrerin, vermute ich. Und seit wann sprechen Sie?«

Unverschämtheit. Löhring stand auf und ging im Raum umher. »Hören Sie, so kommen wir nicht weiter. Ich sage Ihnen jetzt erst mal, was ich nicht brauche: Ich habe bereits drei Physio-Relax-Massagen gehabt, zwei Floating-Behandlungen, bis ich schrumpelig wurde, und eine Einheit Nordic Walking, Gehen am Stock sozusagen. Das ist doch wohl alles nicht Ihr Ernst. Ich will auch keine fernöstliche Akupunktur, die Nadeln müssen raus statt rein, wenn Sie mich verstehen. Und sehe ich aus wie Tai-Chi?« Ihm war wahrlich nicht nach Spaß zumute.

Doch der Asiate schien sich immer noch zu amüsieren: »Sehe ICH denn aus wie Tai-Chi?«

»Ja. Genau so. Ich würde sagen, fleischgewordene Wellness.«

Löhring ließ seinen Gegner nicht aus den Augen.

Dieser nahm sich einen Freischwinger und ließ sich langsam darauf nieder. Das Timing seiner Bewegungen und seiner Worte war präzise, präziser als Löhrings eigene und daher zu präzise, fand Löhring. Und lauter Sonnengrüße. Fürchterlich. Er hasste diese asiatische Zugewandtheit, die einen wie einen verstockten Autisten aussehen ließ, und diese verdammte Sanftmut in der Sprache, als Lang sagte: »Sie haben Humor. Sehr gut. Aber Sie lassen sich nicht gern überraschen, nicht wahr?«

Löhrings Antwort kam schneller, als er erwartet hatte: »Ich rechne immer mit dem Schlimmsten. In allen Bereichen.« Schluss mit Sonnengruß.

»Und ich bin also das Schlimmste?«, fragte Lang.

»Wollen wir hier über Sie oder über mich sprechen?« Löhring bereute es in der Sekunde, in der er es gesagt hatte. Doch es war zu spät. Lang lehnte sich offenbar sadistisch befriedigt zurück. Seine Freundlichkeit musste Teil einer perfiden Tarnung sein, dachte Löhring.

»Richtig. Also Sie.«

Jetzt bloß keine Pause machen, sagte sich Löhring, nicht groß nachdenken, kein Zögern. Er reagierte sofort: »Ja, also ich. Bin eigentlich jetzt in London. Aber wissen Sie, ich habe ja Haus und Familie hier. Selbstverständlich ist Deutschland noch mein Lebensmittelpunkt, wenn man das so sagen mag.« Er setzte sich wieder hin, lehnte sich zurück. Entspannte Körperhaltung, man konnte sicher sein, dass der Asiate auf Nonverbales achten würde. Gerade weil er vielleicht sprachlich doch nicht so versiert war. Löhring fuhr fort: »Tja, und ansonsten geht es mir hervorragend, bin enorm erleichtert. Wissen Sie, die öffentliche Wahrnehmung hat mir zuletzt so zugesetzt, dass ich der Meinung war, es wäre richtig, aus meinen letzten Unternehmungen in Deutschland auszuscheiden. Ich hatte mich eindeutig verschlissen. Aber jetzt, jetzt gehört mein Leben wieder mir selbst. Sicher, da sind noch ein paar Aufsichtsratmandate, aber sonst bin ich wieder ganz Unternehmer. Unternehmerischer Investor, um genau zu sein. Auf der Insel. Die juristischen Auseinandersetzungen in Deutschland werden sich ja noch ein wenig hinziehen. Daneben möchte ich einfach wieder ein paar Dinge bewegen. Alles ist – wie soll ich sagen? – sehr lebendig. Und man hat ja viel mehr Möglichkeiten in London. Da läuft die Zeit schneller als hier, und die Investoren dort sind in gewissen Feldern einfach viel besser bewandert als auf dem Festland. Mehr money-driven eben.« Löhring wischte sich kurz über die Stirn: »Und ich bin noch lange nicht fertig.«

Der Asiate blickte ins Hochgebirge, schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich weiß nicht, auf welche Frage Sie antworten.«

Als er das sagte, schien die Sonne nur ihm ins Gesicht. Er mochte jünger aussehen, als er tatsächlich war, hatte diese weiche Alterslosigkeit, die sich über alles zu erheben schien und sich durchaus als Waffe einsetzen ließ, wenn man die vierzig einmal überschritten hatte. Löhring dagegen war rein genetisch nicht so ausgestattet, war zwar von schlanker, stattlicher Statur, hatte einen hohen, aber noch vollen Haaransatz und ein symmetrisch geschnittenes Gesicht mit einer wenig markanten, doch wohlproportionierten Nase darin sowie einem durchaus schönen, vollen Mund. Auch er konnte sein Alter mit spitzbübischem Charme und geschmeidigen, schwungvollen Bewegungen wettmachen, wenn er wollte, achtete zudem auf eine gesunde, konstante Bräunung. Doch es war nicht dasselbe.

Lang wandte sich ihm wieder zu: »Nun, Herr Dr. Löhring, wie auch immer, ich denke, das war jedenfalls gerade eine gute Dezentrierung.«

Löhring glaubte, nicht recht zu hören: »Wie bitte?«

Lang nickte verständnisvoll, was Löhring als Affront empfand. Verständnis war das Letzte, was er brauchte. Doch Lang hielt sich nicht länger mit Erklärungen auf: »Wir sollten erst einmal Ihr Anliegen genau klären. Ihre Partner in London haben mich schon ein wenig gebrieft.«

Löhring war immer noch beim Dezentrieren und unterbrach: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich dezentrieren lassen möchte, mit Verlaub. Ich bin hier ja schon am Ende der Welt, verdammt. Dezentraler geht’s wohl kaum.«

Der Asiate schien sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und fuhr fort, ohne mit der Wimper zu zucken: »Sie sollten auf sich und auf die Dinge mit ein wenig mehr Abstand blicken. Deshalb werden wir erst einmal zwei Tage miteinander verbringen, heute und morgen, und den Sonntag können Sie dann frei gestalten. Da können Sie reflektieren und gleich ein paar optionierte Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen ausprobieren.«

Löhring verzog keine Miene: »Optionierte Verhaltensweisen? Diese Phase habe ich längst hinter mir, das können Sie mir glauben. Und damit hier eines klar ist: Ich habe Sie nicht beauftragt. Ich schlage daher vor, dass wir erst einmal klären, inwieweit überhaupt irgendein Synergieeffekt zwischen meinem Niveau und Ihrer Arbeit herstellbar ist.« Nein, so einfach würde er es dem Typen nicht machen. Er, Löhring, wusste doch längst Bescheid, und es reichte, wenn andere unter verzerrten Wahrnehmungen litten. Schwächen bei der Teamarbeit, beim Konfliktmanagement und beim Fremdbild-Selbstbild-Abgleich, er solle mal mit sich ins Reine kommen, Entwicklung zulassen, hatte man ihm gesagt. Und dann würde womöglich noch ein Bericht an seine Partner gehen. Wie kleinkariert war das denn? Nix mit Optimierung, wohl eher eine perfide Denunzierung, dachte Löhring.

Lang beugte sich zu Löhring vor und sah ihm aus gefühlten fünf Zentimetern in die Augen: »Kennen Sie das innere Team?«

»Wenn Sie meinen, dass ich Stimmen höre, muss ich Sie enttäuschen. Dann hätte man mich gleich anderswo eingeliefert. Und nicht nur übers Wochenende.« Löhring spürte wieder, wie es rot und eng wurde unter seinem Hemdkragen und die Haut spannte. Er kannte das. Es war stärker als er, und der Kraftakt, es zu überspielen, war enorm. Bisher hatte das niemand in den Griff bekommen, schon gar kein Asiate. Es musste anders gehen. »Hören Sie, das haben vor Ihnen schon ganz andere versucht. Ich bin kein Team. Ich hasse Teams. Vergessen Sie’s. Ich will hier keine Therapie machen. Ich weise alle Unterstellungen zurück. Dürfen Sie das überhaupt? Haben Sie überhaupt eine Zulassung dafür? Da kann ja jeder kommen. Und morgen steht das wieder in den Zeitungen. Fuck.«

Lang schien nun doch ein wenig verunsichert zu sein, und sein Lächeln verkürzte sich um wenige Millimeter, als er sagte: »Dieser anale Sprachgebrauch kommt tief aus Ihrem Wurzelchakra. Haben Sie Magen-/Darm- und/oder Verdauungsprobleme?«

Löhring schwieg. Sollte sein Gesprächspartner doch sehen, wie er aus diesem Schlamassel wieder herauskam, denn die Frage war eine einzige Unverschämtheit, fand er.

Lang ließ das Thema tatsächlich auf sich beruhen: »Nun, wie Sie wollen. Sie machen die Vorgaben. Und ich frage Sie: Weswegen sitzen wir dann hier? Was ist Ihr Ziel? Was macht das mit Ihnen, wenn Sie daran denken?«

Löhring blickte seinerseits dem Asiaten in die schmalen Augen, soweit das ging: »Was das mit mir macht? Nix macht das mit mir. Sie sollen was mit mir machen. Dann machen Sie mal.«

Lang sagte: »Sie machen die Vorgaben.«

Es war ein Missverständnis. Ein einziges gigantisches Missverständnis, fast schon zum Lachen. Also gut, dachte Löhring, man musste es dem angeblichen Fachmann wohl ein bisschen einfacher erklären: »Wollten Sie früher auch immer auf den Tiger?«

»Wie bitte?«, fragte nun Lang.

»Na, auf dem Rummel, auf diesen Kinderkarussells mit den Tieren. Giraffen, Elefanten und eben Tiger. Oder gab’s bei Ihnen nur Drachenboote? Wissen Sie, ich sitze vorne auf dem Tiger, und es fährt rund, immer rund, unaufhörlich.« Löhring ruderte raumgreifend mit den Armen. »Und ich kann einfach nicht mehr abspringen. Das ist ein hochkomplexes Gefährt, wissen Sie? Und alle stehen da unten am Rand und gucken, versuchen zu rufen, arbeiten sich an mir ab. Nur ich, ich sitze auf dem verdammten Viech und kann nicht absteigen.«

»Warum nicht?«

»Herrje, weil ich Löhring bin. Die Karussells, auf denen ich sitze, sind verdammt schnell, und wer den Tiger reitet, darf nicht einfach so abspringen. Ich sitze vorne, muss das Teil am Laufen halten.«

»Aber ein Karussell ist doch rund?«

»Erzählen Sie mir nicht, wo vorne und wo hinten ist!«

Lang rückte ein wenig ab von Löhring und sagte: »Aber Sie haben sich doch ganz gut entwickelt da vorne auf dem Tiger, nicht wahr?«

»Ich brauche keine Entwicklung. Ich bin bereits fertig. Fix und fertig.« Es begann zu sprudeln in Löhring, ja, er war nun endlich in seinem Element: »Wissen Sie, ab einer gewissen Position muss man sich als Marke verstehen. Die Leute wollen Typen, Leader, einen hohen Wiedererkennungswert, den Vintage-Löhring eben. Keinen glatten Mainstream, kein Team. Forget it. Man muss eben damit leben, nicht von allen geliebt zu werden, es sozusagen als Zugeständnis an systemische Notwendigkeiten begreifen.«

»Sehr schön.« Lang lächelte, als er es sagte.

Sehr schön? Jetzt sagte der einfach so »Sehr schön«! Also gut, dachte Löhring, Lang schien harte Kost zu brauchen. Konnte er haben. »Nun, vor nicht allzu langer Zeit habe ich versucht, eine psychiatrische Klinik an die Börse zu bringen.«

»Schön.«

»Ja, durchaus erfolgreich zunächst.«

»Wo lag das Problem?«

»Ich war einer der Insassen.«

»Oh.«

Miranda hatte in der Eingangshalle an zwei dunkelblau gekleideten Herren des »Wachpersonals« vorbeigemusst, die wissen wollten, ob sie spitze Gegenstände dabeihabe. Nein, hatte sie geantwortet, sie sei ziemlich abgestumpft. Und jetzt hatte sie die Türklinke in der Hand. Eigentlich fehlte nur noch ein Schild an der Tür, auf dem stand: »Ihr, die Ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.« Oder etwas Ähnliches. Wollte sie da wirklich rein, in diese andere Welt?

Es half nichts. Sie drückte die Klinke herunter und trat in den klimatisierten Wartebereich »Anmeldung und Formularwesen« der Arbeitsagentur, setzte sich auf den einzigen freien Platz und installierte sich so unauffällig es ging. Ihre Finger schmerzten, als sie den Mantel über ihrem Hosenanzug aufknöpfte und den nassen bordeauxroten Regenschirm neben sich aufspannte, ihre Dokumententasche auf den Knien. Bis dato hatte sie immer alles getan, was möglich und erwünscht war. Jetzt musste sie warten, dass man etwas für sie tat. Sie war innerhalb von zwei Wochen aus der Firma weggewesen, husch, denn die kurze gesetzliche Kündigungsfrist war nur einer der Vertragsinhalte, die man in all den Jahren nie geändert hatte. So schnell konnte es gehen …

Auf dem kleinen schwarzen Tisch in der Mitte der Sitzgruppe lag »Zukunft gemeinsam gestalten«, und sie blickte in die Gesichter derer, die mit ihr warteten. Man konnte dies ausführlich und länger tun, denn sie merkten es nicht, starrten vor sich hin ins Leere und schienen weder mit sich selbst noch mit irgendjemand anderem beschäftigt. Auf Beschäftigungssuche eben. Es war nichts Überraschendes an ihnen, ein bemerkenswerter Menschenquerschnitt, mehr oder weniger routiniert im Dasitzen, wie an einem ganz normalen Tag im Linienbus. Alles deutete darauf hin, dass sie es war, die aus einer Art Nebenwelt kam. Ein Kind in der Kinderecke steckte sich einen Legostein in jedes Nasenloch und noch zwei hinterher.

Sie wurde aufgerufen. Mit Namen. Die Zeit der Nummern war vorbei, und die Wege waren kürzer geworden. Die Bildschirmarbeitsplätze der Sachbearbeiter befanden sich im selben Raum, mit jeweils einer Trennwand und einem Stuhl davor, der noch warm war. Open Space auch hier. Und doch schaute der Sachbearbeiter mittleren Alters nicht einmal auf, als er mit ihr sprach, zog ihre Unterlagen wie durch den Schlitz einer unsichtbaren Glasscheibe hindurch zu sich herüber. Sie hatte sich perfekt vorbereitet: Pass, Steuernummer, Versicherungsnummer, Krankenversicherungsnachweis, Lohnsteuerkarte, Arbeitsbescheinigung, Kündigung, Lebenslauf, letzte Stationen, berufliche Fertigkeiten, bewertet auf einer Skala zwischen 1 und 5. Er war zufrieden, wollte nur noch wissen, was als Kündigungsgrund einzutragen sei. »Ich habe gekündigt.« Sie legte die Betonung auf »ich« und neigte den Oberkörper so lange seitwärts, bis sie glaubte, in die Blickrichtung des Herrn zu gelangen. »Brauchen Sie da auch einen Grund? Ich leide an Polyarthr…«

Nein, den brauche man an dieser Stelle noch nicht, sagte er, während seine beiden Zeigefinger abwechselnd in die Tasten schlugen, was nicht schön aussah, wenn man zehn Finger hatte. Die Frage nach der Kündigung sei auf dem »Fragebogen zur Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitnehmer« zu beantworten. Und natürlich mit der Agentin zu besprechen.

»Mit der was?«

Na, mit der Jobagentin, die man ihr zur Seite zu stellen gedenke, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. Es klang wie demonstrativ vorgelesen.

Was für ein Luxus, dachte Miranda. Bisher war sie immer allein gewesen mit ihrer Zukunft.

Aber sie sei da ja reichlich spät dran, sagte der Herr.

»Mit der Zukunft?«, fragte Miranda.

»Nein, mit der Meldung«, sagte der Herr. Es sei die »Anhörung zum Eintritt einer Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung« auszufüllen, fuhr er fort. Und dann schob er die Dokumente über den Tisch wieder zu ihr herüber wie ein Skatspieler, blickte in die nähere Umgebung, nach rechts, nach links und dann ihr in die Augen: »Auch die Nase voll gehabt, was?«

Und ihr war fast so, als sei auch er irgendwann aus der Nebenwelt gekommen. Er war gnädig mit ihr, ließ ihr keine Zeit zu antworten und händigte ihr das ID-Kärtchen aus, mit Kundennummer und Hotline, falls Fragen auftauchten.

»Ich bin Kundin bei Ihnen?«, fragte Miranda

Ja, das sei doch das Mindeste, was man jetzt für sie tun könne.

Ungefähr zur selben Zeit versuchte Löhring immer noch, dem Asiaten zu erklären, wie er seinen Job zu machen habe. Er hätte das in Rechnung stellen können, fand Löhring. »Sie müssen da ganz anders ansetzen. Sie müssen mir auch gar nichts erklären. Die Leute denken immer, ich würde mir keine Gedanken machen. Aber ich bin ja nicht doof, sonst wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Ich meine, die meisten von uns, so am Arbeitsplatz, haben doch Angst davor, etwas leisten zu müssen, wozu sie nicht fähig sind. Bei Leuten wie mir ist es genau andersherum. Wir haben Angst vor der Leistung, zu der wir fähig sind. Sicher, das ist nicht schön, aber nur so bringen wir Dinge voran. Sollten Sie mal darüber nachdenken.«

Lang guckte jetzt so, wie man einen nassen Hund betrachtet, kurz bevor dieser sich schüttelt, fand Löhring. Doch der Asiate schien hartnäckig zu bleiben und sagte: »Kognitive Dissonanz.«

Das reichte. »Hören Sie, Sie werfen hier immer nur so knappe, komische Wörter in den Raum, so neutral irgendwie. Aber so einfach kriegen Sie mich nicht neutralisiert. Sie nicht!«

Lang schien ruhig zu bleiben: »Wo sollen wir Ihrer Meinung nach ansetzen?«

Löhring rückte näher an Lang heran. Es war mehr ein Sprung. »Also, noch einmal für Sie: Ich kann Ihnen nur sagen, dass mein Körper definitiv in Bestform ist, gut im Training. Und ich denke, das müsste auch für den Rest funktionieren. Dafür werden Sie doch bezahlt.«

»Für den Rest?«

»Nun, das, was man so in sich hat.«

»Wie meinen Sie das?«

»Na, so eine Art Kern. Für die Fachterminologie sind ja wohl Sie zuständig, oder?«

Lang legte den Kopf schräg: »Die Seele?«

Eigenartiger Begriff, dachte Löhring. Doch alles war besser als »innere« oder »äußere Teams«. Dann lieber Seele. »Nehmen Sie das jetzt bitte nicht persönlich, aber für so puffige Dinge wie die Seele fehlt einem wie mir ein wenig die Naivität. Doch ich bin kein Spielverderber. Wenn Sie es so ausdrücken wollen, meinetwegen.«

Der Asiate kam schließlich aus einem anderen Kulturkreis, und man mochte es ihm nachsehen, als er fragte: »Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen Ihre Seele trainieren?«

»Ja, die Muskeln im Kopf sozusagen. Und es wäre schön, wenn Sie auf meine Fragen auch einmal mit einer Antwort reagieren würden und nicht ständig mit Gegenfragen.« Mein Gott, das konnte doch nicht so schwierig sein, dachte Löhring, aber manche Leute mussten eben an die Hand genommen werden, wenn sie die Vorgaben nicht sofort verstanden. Da musste man ruhig bleiben, sich das aber gleichwohl merken. Es piepte in Löhrings Jacketttasche. Er nahm sein Smartphone und betrachtete das Display. Es war seine Trink-App. »Entschuldigen Sie. Ich denke, ich sollte etwas Kaffee trinken. Oder zur Not Wasser.« Er nahm die Glasflasche vom Tisch und schenkte sich ein.

Der Asiate schien ihn genau zu beobachten: »Sie trinken, wenn es bei Ihnen piept? Glauben Sie nicht, dass das eine Missachtung des körpergesteuerten Trinkverlangens ist, sozusagen die Entfremdung vom eigenen Körper?«

»Nun werden Sie mir hier mal nicht kompliziert. Wir waren bei meiner Seele.« Löhring trank das Wasserglas in einem Zug leer und stellte es stumm wieder ab.

Lang schwieg.

»Hallo? Können Sie mir folgen?« Löhring hatte sich nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf den Oberschenkeln. »Sie müssen da schon ein wenig mitdenken, sich meinem Tempo anpassen.«

»Sind Sie sicher, dass Sie überhaupt eine Seele zum Trainieren haben?«

Schon wieder eine Frage. Löhring atmete schwerer, und Lang lenkte ein: »Entschuldigung, war nicht so gemeint. Ich würde vorschlagen, Sie sagen mir noch einmal, welche Muskelpartien wir da genau trainieren sollen. So eine Seele ist ja recht unübersichtlich. Vielleicht haben Sie sogar zwei davon, sodass wir verschiedene Trainingspläne ausarbeiten müssen.«

Na also, geht doch, dachte Löhring. Er stand auf und ging wieder durch den Raum, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als er die Fensterfront abschritt. »Manchmal befürchte ich, dass einige meiner Synapsen etwas, nun ja, schlapp geworden sind mit der Zeit. Sicher kennen Sie das.« Er blickte zum Asiaten hinüber. Der saß lächelnd, sehnig und hellwach auf seinem Stuhl. Keine Spur von Schlappheit. Nein, er schien das nicht zu kennen.

»Können Sie mir ein Beispiel nennen?«, fragte Lang.

Löhring fuhr fort: »Sie hören plötzlich Wörter und fragen sich, wann Sie die eigentlich zuletzt ausgesprochen haben. Die haben Sie zwar einsatzbereit im Kopf, benutzen sie aber nicht. Wie vernachlässigte Muskelpartien.«

»Ein Beispiel?«

Der Asiate fing an zu nerven. Man schien ihm alles erklären zu müssen. »Herrje, Sie mit Ihren Beispielen. Wie soll ich sagen? Ich krieg einfach meinen Mund immer schlechter auf, so im kleinen Kreis. Ich maile lieber.«

»Ein Beispiel?«

Scheiße, dachte Löhring und sagte: »›Danke‹, manchmal auch nur ›Guten Morgen, wie geht es dir?‹ Klappt einfach nicht. Und überhaupt die Fragen. Ich weiß gar nicht mehr, wie man Fragen stellt.«

Lang schien jetzt in seinem Element zu sein: »Wunderbar. Sie sind bereits in der Selbstreflexion, kurz vor der Meta-Ebene. Wir nähern uns der Seele, wenn ich das einmal so sagen darf.«

»Ach.«

»O ja, durchaus. Und hier können wir gleich mit den ersten Muskelpartien beginnen.« Er richtete sich auf. »Das Wort ›Danke‹ ist doch nicht so schwer auszusprechen als Wort.«

Der hat gut reden, dachte Löhring, kam aus dem Land der aufgehenden Sonne. Man konnte sich das Leben auch zu einfach machen: »Arbeiten Sie erst einmal da, wo ich arbeite. Kontext, ich sage ja, es ist alles kontextgesteuert. Da vergeht einem schnell das Danke.«

Lang spitzte den Mund und hob das Kinn in Löhrings Richtung. »Nun, vielleicht hilft es, wenn Sie jedem Buchstaben ein Artikulationsgebiet in Ihrem Mund zuordnen. Schauen Sie, das D findet an der Rückseite Ihrer Schneidezähne statt, im Übergangsbereich zum Oberkieferdamm. Da haftet sich die Zungenspitze ganz leicht und etwas länger als gewöhnlich an und löst sich dann mit einem Plopp. Da haben Sie dann schon das D. Das sind immerhin zwanzig Prozent des ganzen Wortes. Und es lässt sich trainieren!« Lang machte den Mund wieder zu.

Der ist ja lustig, dachte Löhring. Doch das war noch nicht alles.

»Die große Kunst dabei ist das Embodiment.«

»Wie bitte?«

»Es ist die Verkörperung«, fuhr Lang fort, »die Verkörperung der Worte. Denn auch mit den Augen wird gesprochen, das müssen Sie mittrainieren. Sie müssen Ihrem Wort durch die synchrone Augenbewegung Nachdruck verleihen. Wissen Sie, die Bedeutung eines Wortes ist nichts Abstraktes, sondern ein Körperzustand. So«, und jetzt blickte er Löhring direkt an, dass diesem ganz anders wurde.

Ein durchaus interessanter Ansatz, fand Löhring. Psycholinguistik. Der Typ schien seine gute Reputation in der Community zu Recht zu haben, auch wenn man deswegen nicht gleich von einem Durchbruch sprechen mochte.

Lang ging noch weiter: »Eine noch mutigere Übung mit noch größerem Trainingseffekt basiert auf der These, dass Sie auch eine andere Umgebung brauchen, sozusagen einen anderen Trainingsraum. Wir sollten Sie in einen gänzlich neuen Kontext setzen. Das wirkt antidepressiv, denn es liefert Ihnen neue, kreative Assoziationsketten. Change Management nennt man das bei Ihnen, nicht wahr?«

Löhring mochte es nicht, wenn Leute glaubten, Sie müssten seine Sprache sprechen, obwohl sie keinen blassen Schimmer von den Dingen hatten. »Schwachsinn. Wenn Sie so wie ich in der Welt vorankommen möchten, dann suchen Sie sich Ihren Kontext selbst, und wenn Sie den nicht finden, dann schaffen Sie sich die verdammten Verhältnisse oder krempeln sie so lange um, bis sie passen und es Ihnen gefällt. Das ist nicht Pippi Langstrumpf, mein Lieber. Das, genau das ist Change Management!«

Lang schien das alles nicht gehört zu haben und verkörperte seine Worte abermals, während er sagte: »Wir sollten Sie noch mehr in die Meta-Ebene bringen, den Abstand zu den Dingen vergrößern.«

»Ich bin schon ziemlich meta da oben.«

»Und? Werden die Probleme kleiner?«

»Nein. Ich würde sagen, größer. Gute Leute brauchen große Herausforderungen.«

»Sie müssen aber kleiner werden, die Probleme. Sonst haben Sie meta-technisch etwas falsch gemacht. Sie müssen nur die Perspektive wechseln! Sehen Sie«, und jetzt zeigte Lang auf das Panoramafenster, »dieser Berg da, der sieht von hier aus doch gar nicht so groß aus. Genauso ist es, wenn man sich ein wenig entfernt von den Dingen. Dann werden die Probleme kleiner, und man sieht plötzlich auch mehr davon.«

»Mehr? Und Sie wollen mir erzählen, dass das gut ist?«

Lang lächelte nachsichtig: »Mehr fremde Probleme, Herr Dr. Löhring, andere Probleme, nicht die eigenen Probleme.«

»Also, mir reichen meine.«

»Aber dafür sind die ihrigen dann, wie gesagt, kleiner im Vergleich zu den anderen, so mit Abstand betrachtet. Und mit etwas Glück sehen Sie plötzlich, wo Ihre Probleme überhaupt herkommen und wohin sie gehen.«

Es reichte. »Hören Sie, ich glaube nicht, dass Sie die Größe oder die Fortbewegungsrichtung meiner Probleme erfassen, geschweige denn beeinflussen können. Das ist ja lächerlich.«

Lang lehnte sich zurück. »Waren Sie schon mal im Knast?«

Und dann begann er zu erzählen, und Löhring empfand alles, was jetzt folgte, endgültig als Unverschämtheit.

WINTER BERRY GROUP

Die Erdbeerfarm befinde sich im Grünen vor den Toren der Stadt, hatte die Arbeitsagentur gesagt, man sei in zwanzig Minuten vor Ort, schneller also als einmal quer durch die City. Das Stellenangebot sei kurzfristig eingegangen, nicht unspannend, ein seltenes Teilzeitmodell, somit finanziell eine gute Überbrückung und eben einmal »etwas ganz anderes«. Sie könne es sich ja mal anschauen. Und Miranda hatte sofort angerufen und einen Termin gemacht. Ob sie in der Gärtnerei selbst Hand anlegen müsse, hatte sie noch gefragt, denn sie sei ja mehr der administrative Typ. Nein, hatte man ihr versichert, der Inhaber denke da in ganz anderen Dimensionen.

Also »Winter Berry Group«. Es gab Orte, die Miranda gerade deswegen gefielen, weil sie so völlig anders waren, als sie sie sich vorgestellt hatte. Dieser war anders und gefiel ihr trotzdem nicht. Sie wusste zugegebenermaßen auch nicht, was sie erwartet hatte, vielleicht etwas Bodenständiges, Solides, Gummistiefel statt englischem Leder, nichts Cooles, nichts Hektisches. Aber als sie um 15.10 Uhr in die Hofeinfahrt eingebogen war, sah sie, dass die Parkplätze gekachelt und kameraüberwacht waren und das Verwaltungsgebäude vollverglast in der Sonne blendete.

Sie saß im Foyer, wartete auf ihr Gespräch und starrte auf das einzige Bild, das dort hing: eine riesige Makro-Aufnahme, das Motiv purpurrot, glänzend und doch pelzig, mit kleinen Härchen über regelmäßigen, wulstigen Ausbuchtungen, die jeweils einen kleinen gelben Kern freigaben. Man konnte es praktisch mit den Augen erfühlen, es sah eher nach einer immens vergrößerten Darstellung eines Geschwürs oder eines Bakteriums aus, jedenfalls nicht so, als könne man es verzehren, sondern eher, als wolle es einen verzehren. Man fühlte sich abgestoßen und angezogen zugleich. Sie ging zu dem Bild und beugte sich leicht zur unteren Kante hin, um das zu entziffern, was darunterstand. Mieze Schindler.

Was immer es sein mochte, es hieß Mieze Schindler. Oder es war von Mieze Schindler.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr und sah sich dann diskret weiter um. Doch nur einen Augenblick später steuerte eine dunkelhaarige Dame mittleren Alters in schwarzem Blazer und Jeans mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Sie hatte eine kleine Zahnlücke, als sie lächelte, und zarte, knochige Frauenhände, die sich Miranda selbst immer gewünscht hatte. Sie war schnell, wirkte distinguiert oder zumindest wie aus gutem Hause. Eine solche Ausstrahlung konnte dafür sorgen, dass sich Miranda in Sekundenschnelle irgendwie minderbemittelt vorkam, ja fast plump. Aber für solche Gedanken blieb jetzt keine Zeit.

Schlick. Ihr Name sei Schlick. Sie sei die Produktmanagerin hier im Hause. Wie schön, dass Miranda Zeit habe finden können. Schlicks Blick ging zu dem Bild, vor dem die beiden nun standen, und sie schien froh zu sein, gleich ein Einstiegsthema zu finden: Ja, hier sehe man gleich eine über einhundert Jahre alte Spezies, Winters Lieblingssorte, die Praline unter den Erdbeeren: Mieze Schindler. Sie sei etwas kleinwüchsiger und zarter, jedoch sehr aromatisch, mit ausschließlich weiblichen Blüten. Die optimale Befruchtungssorte liefere man selbstverständlich gleich mit, meistens die Senga Sengana, weitere seien im Entwicklungsstadium.

Also doch eine Erdbeere. Miranda strich im Vorbeigehen reflexartig über das Bild, musste an diese Briefmarken mit den Obstmotiven denken, die einen Duft freigaben, wenn man mit dem Finger darüberrubbelte. Was mochte ihr erst aus diesem Bild entgegenströmen?

»Nicht anfassen, bitte. Es ist ein echter Mapplethorpe«, warnte Schlick. Sie hatte sich schon wieder abgewandt und ging raschen Schrittes auf eine große Freitreppe zu. »Kommen Sie, ich würde vorschlagen, dass wir schon einmal ein kurzes Vorgespräch miteinander führen.«

Miranda folgte ihr die Treppe hinauf und dann ein kurzes Stück den Gang entlang in einen Besprechungsraum mit einem Glastisch in der Mitte und sechs darum herum gruppierten schwarzen Freischwingern. Glastisch. Seine Oberfläche war so makellos, als sei gerade erst die Schutzfolie abgezogen worden. Man würde jeden verdammten Fingerabdruck darauf sehen, dachte Miranda, nach den Besprechungen würde sie mit Sprühreiniger und Ledertuch arbeiten müssen. Die Aussicht war allerdings selbst im ersten Stock atemberaubend: Es glitzerte und funkelte im Sonnenlicht, dass die Augen schmerzten, wenn man zu lange hinschaute. Bis zum Horizont breitete sich eine unüberschaubare Anzahl von verglasten Tunnelröhren aus, die eher an Jules Vernes »Nautilus« als an profane Gewächshäuser erinnerten. Die einzelnen Röhren waren zwar verglast, aber von innen mit einer dicken hellen Folie bezogen. Das alles sah irgendwie nicht nach Erdbeere aus. Es roch noch nicht einmal danach.

Als Schlick zwei Tassen unter eine Espressomaschine stellte, trat Miranda näher ans Fenster. Ihr Blick streifte dabei ein Objekt auf der Fensterbank, das so gar nicht in die ansonsten nüchterne helle Umgebung des Raumes passte.

Löhring fuhr ungefähr zur selben Zeit mit zweihundertvierzig Stundenkilometern auf einen Kombi zu. Gut Meinberg war jetzt schon Lichtjahre entfernt. Er fuhr schnell, und er dachte schnell. Die Geschwindigkeit legte sich aufs Denken. Oder umgekehrt. Und nein, er ärgerte sich nicht. Ganz bestimmt nicht. Keine Spur. So mit Abstand betrachtet. Es war vielmehr ein gehöriger Anflug von Unverständnis, was diesen Asiaten anging, der ihn da am Wochenende in die Zange genommen hatte. Er sah ihn immer noch lächelnd vor seinem geistigen Auge, wie eine dieser kleinen Jadefiguren, die seine Frau immer in ihrer Handtasche mit sich herumtrug.

»Brillenwechsel – eine Weiterbildung in Sachen Menschen« also. Ihm, Löhring, mit diesen Worten eine bezuschusste Fortbildungsmaßnahme auf »neuem Terrain« anzubieten kam einem persönlichen Angriff gleich. Wie genau er denn »neues Terrain« definiere, hatte er den Asiaten gefragt. Das könne beispielsweise eine soziale Einrichtung sein, die Auswahl sei groß, hatte dieser geantwortet. Ob Löhring denn Präferenzen habe? Man hatte schließlich eine Justizvollzugsanstalt in die engere Wahl genommen. Irgendwie das einzig Passende. Er persönlich hätte sich eher mit Kalkutta als mit einer stinknormalen Justizvollzugsanstalt im komfortablen Deutschland anfreunden können. Wenn schon, denn schon. Weit weg. Global. Entschlossen. Mutig. Total meta. Aber er konnte sich immer noch nicht so richtig vorstellen, was das eigentlich mit ihm zu tun haben sollte. Ein Unternehmen mit funktionierender Corporate Social Responsibility, ordentlicher Gehaltsstruktur und Abfindungsvereinbarung war ja schließlich auch eine soziale Einrichtung und für ihn beileibe kein neues Terrain. Etwas Gutes ließ sich schließlich wohl auch irgendwo in jedem aufstöbern, wenn man nur tief genug guckte.

Es waren jetzt ungefähr noch eineinhalb Meter zwischen der Stoßstange seines Wagens und dem Kombi vor ihm. Dass solche Leute mit hundertachtzig auf der linken Spur vor sich hin kriechen mussten! Lichthupe. Doch er war schon zu nah dran. Endlich zog der Kombi nach rechts, und Löhring rauschte an ihm vorbei, guckte. Verdammt langes Teil, man konnte längs in Fahrtrichtung darin liegen, dachte er im Vorbeifahren, und, oh Gott, auch noch pechschwarz getönte Scheiben mit kleinen Gardinen davor, eine einzige geschmackliche Entgleisung. Er blickte in den Rückspiegel, als er den Kombi hinter sich gelassen hatte, und bemerkte einen Priester auf der Beifahrerseite, der sich schnell bekreuzigte. Wie aufmerksam und nett. Ein wenig Segen konnte man immer gebrauchen, fand Löhring.

»Sich mit anderen Menschen umgeben«, hatte der Asiate vorgeschlagen, Menschen, die so ziemlich das Gegenteil von einem selbst waren. Löhring überlegte. Dafür hätte es bereits gereicht, wieder einmal ein Wochenende mit seiner Frau zu verbringen. Auch sie erforderte ein hohes Maß an Akzeptanz von Andersartigkeit, dafür musste man wahrhaftig nicht nach Kalkutta reisen. Er wählte im Display die Nummer von Hartwig, Personalvorstand in seinem Exunternehmen, mit dem er bisher eigentlich on non-speaking terms gewesen war.

»Hallo, Gerhard, alter Junge. Wie geht’s dir so in deiner kleinen Stadt?«

Am anderen Ende der Leitung schien man ins Grübeln zu kommen: »Wilhelm? Bist du es?«

»Klar bin ich’s. London ist ja nicht aus der Welt. Na, quälst du dich immer noch mit der First Lady in eurem Laden herum?« Löhring bemühte sich, ein Grinsen in seine Stimme zu legen.

»Ach, geh mir weg mit diesem Clan. Du weißt ja, wie das in der Verwaltungsgesellschaft zugeht. Dabei wäre sie nun wirklich alt genug, sich auf ihre Stiftungen zurückzuziehen. Und du?«

»Ach, schlag die Zeitungen auf, und du weißt Bescheid. Das ist kein Sonntagsspaziergang, kann ich dir sagen. Aber Hauptsache, die drucken überhaupt noch etwas über mich.«

»Wunderbar. Immer noch der alte Big L. Wie heißt deine Bude noch gleich?«

Bude. Es war schon eine Unverschämtheit, fand Löhring und lächelte unterm Headset: »Invest Busters. London. Bahrain. New york.«

»Ach ja. Gebe ich gleich ans Sekretariat weiter. Und sonst?«

Hartwig schien immer noch derselbe zu sein. Es war typisch für ihn, den Ball sofort zurückzuspielen, ohne sich selbst anzustrengen. Doch da kannte er Löhring schlecht: »Was willst du wissen?«

»Na, wie lebt es sich denn so auf der Insel? Da kriegst du ja eine nette Pendlerpauschale, oder?«

Löhring grinste: »Herrlich! Gute Frage. Nächste Frage.«

Hartwig schien einen Moment seinen nächsten Spielzug zu überlegen und flötete dann nonchalant in den Hörer: »Und, altes Haus, hast du immer noch eine Neigung zur Dominanz und lebst nach einem übertriebenen Leistungsprinzip in fast allen Bereichen?«

Das war kein Ball mehr, das war ein Pfeil. Löhring spürte, wie sich seine Finger um das Lenkrad legten wie um Hartwigs Hals. Zumindest konnte er sich festhalten daran. Beim Telefonieren hatte man sonst ja nur noch ein winziges, dünnes Etwas in der Hand, das man mit zwei Fingern hielt wie eine Gewebeprobe, es gab nichts mehr zum Zugreifen.

»Na, stand doch damals in deiner Personalakte, altes Haus,« fuhr Hartwig munter fort. »Ich war doch schon vor dir da, wenn ich dich daran erinnern darf!«