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Maya Shepherd

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Beschreibung

Es ist nur ein flüchtiger Moment des Widerstands. Doch dieser Augenblick verändert nicht nur das Leben zweier Menschen, sondern bringt eine ganze Welt ins Wanken. Zoe wurde in Freiheit geboren. Als die Legion ihr Zuhause angreift, muss sie nicht nur den Tod ihrer Eltern mit ansehen, sondern wird vom Feind entführt. Um zu überleben, ist sie gezwungen, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und sich den strengen Gesetzen der Legion zu beugen. C515 ist ein treuer Kämpfer der Legion. Er besitzt weder einen Namen noch eine Persönlichkeit. Sein Dasein dient einzig und allein dem Schutz der letzten überlebenden Menschen in der Sicherheitszone unter der Erde. Bis er einem Mädchen begegnet, das aus der Menge hervorsticht. In ihren Augen erstrahlt das Leben. (Zoe & Clyde kann unabhängig von der Radioactive-Reihe gelesen werden. Es ist kein Vorwissen nötig.)

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MAYA SHEPHERD • ZOE & CLYDE 1 •

GLÄSERNE WELT

MAYA SHEPHERD

 

ZOE & CLYDE

GLÄSERNE WELT

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

EINE RADIOACTIVE-GESCHICHTE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2018 Maya Shepherd

Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing

[email protected]

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns; www.jaqueline-kropmanns.de

Covermodel: Miranda Hedman; https://mirish.deviantart.com

Korrektorat: Martina König

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

www.facebook.com/MayaShepherdAutor

E-Mail: [email protected]

 

Triggerwarnung

 

Die Dystopie „Zoe & Clyde“ sollte nicht von Personen unter 14 Jahren gelesen werden.

In einigen Kapiteln sind Szenen mit folgenden Inhalten enthalten:

- Erwähnung körperlicher, seelischer oder

sexualisierter Gewalt

- Suizid
- Selbstverletzung
- Blut
- Tod

 

Personen, die solche Themen beunruhigend finden könnten, lesen Zoe & Clyde auf eigene Verantwortung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine Leser,

denen ich verdanke, diesen wundervollen Traum

leben zu dürfen

 

Klassifizierung innerhalb der Legion

 

A (Weiß) – Legionsführer

B (Grün) – Arzte, Lehrer, Forscher

C (Blau) – Kampfeinheit

D (Braun) – Helfertätigkeiten

E (Rot) – Heranwachsende

F (Gelb) – Kinder

G – Verstoßene

 

100 – 199 Erste Generation (ca. 80 Jahre alt, feierten bereits ihren Abschied)

200 – 299 Zweite Generation (ca. 60 Jahre alt)

300 – 399 Dritte Generation (ca. 40 Jahre alt)

400 – 499 Vierte Generation (ca. 30 Jahre alt)

500 – 599 Fünfte Generation (ca. 20 Jahre alt)

600 – 699 Sechste Generation (ca. 15 Jahre alt)

700 – 799 Siebte Generation (ca. 10 Jahre alt)

800 – 899 Achte Generation (ca. 5 Jahre alt)

900 – 999 Neunte Generation (entsteht durch die nächsten Paarungskämpfe)

 

 

 

 

 

Das ist der Tag, vor dem unsere Eltern sich immer gefürchtet haben.

Das ist der Tag, vor dem sie uns immer gewarnt haben.

Das ist der Tag, von dem ich geglaubt habe, dass er niemals eintreten würde.

Und obwohl es der Tag ist, mit dessen täglicher Erwähnung ich aufgewachsen bin, trifft uns der Angriff der Legion völlig unvorbereitet. Wir wussten immer, dass er irgendwann kommen würde. Die Lage hat sich immer mehr zugespitzt. Während wir zu Beginn noch mit ihnen zusammengearbeitet haben, entzweiten sich unsere Vorstellungen über die Jahre immer weiter voneinander, bis sie so verschieden waren, dass selbst ein friedliches Gespräch längst nicht mehr möglich war.

Die Legion will die Kontrolle behalten, aber wir wollen das Gegenteil: unsere Freiheit.

Wenn meine Eltern und die anderen Rebellen über die Legion sprechen, wissen sie, wovon sie reden, denn sie waren einst ein Teil von ihr. Sie lebten in einer Sicherheitszone unter der Erde, sahen niemals die Sonne, den Mond oder die Sterne, fühlten keinen Regen oder Wind auf ihrer Haut, ernährten sich von Tabletten und folgten dem obersten Gebot: Keine Gefühle! Denn Gefühle sind der größte Feind der Menschheit. Sie bringen einen dazu, Dinge zu tun. Schreckliche Dinge. Dinge, die so grausam sind, dass sie einen ganzen Planeten zerstören können – die Erde.

Als im Dritten Weltkrieg die Atombomben fielen, war danach alles radioaktiv verseucht und den letzten Überlebenden blieb nur die Zuflucht in die Legionen und ihre Sicherheitszonen.

Seitdem sind nun achtzig Jahre vergangen und die Erde hat es geschafft, sich selbst zu heilen. Es geht keine Gefahr mehr von ihr aus, dafür ist der Retter der Menschheit zu einer geworden: die Legion.

Wenn die anderen von ihr sprechen, sind ihre Worte für mich wie Erzählungen aus einer fremden Welt, denn ich habe diesen Ort nie von innen gesehen. Ich bin in Freiheit geboren. Es gibt keine Mauern, die mich eingrenzen, außer jene, die ich mir selbst errichte.

 

Jep wickelt sich eine Strähne meines langen blonden Haares um den Finger. Ein schelmisches Lächeln liegt in seinem Gesicht, als sein Daumen über meine Wange streift. Seine Haut ist rau von der harten Arbeit.

»Deine Augen haben dieselbe Farbe wie der Himmel«, behauptet er, woraufhin ich nur die Augen verdrehe und ihn frech angrinse, als ich ihm den Flachmann aus der anderen Hand nehme und die Öffnung an meine Lippen setze. Er braucht mir nicht zu schmeicheln.

Der scharfe Geruch des Alkohols steigt mir in die Nase, bevor ich einen großen Schluck nehme und dann angewidert das Gesicht verziehe.

Jep prustet laut los, woraufhin ich ihm erschrocken eine Hand auf den Mund presse.

»Sei still, du Idiot!«, fauche ich alarmiert. »Oder willst du, dass sie uns erwischen?«

Er blickt mich mit großen Augen an und ich lasse meine Hand nach unten gleiten, was er zu bedauern scheint.

Wir sitzen am Seeufer, abseits von den Höhlen, die unser Zuhause sind. Der Flachmann gehört Gustav. Er hat den Alkohol selbst gebrannt und rückt ihn nur zu besonderen Anlässen heraus. Dieser alte Geizhals!

Meine Eltern wollen nicht, dass ich davon trinke. Sie sagen, ich sei dafür noch zu jung. Aber sie schreiben nicht die Regeln dieser neuen Welt, sondern das Leben selbst. Und wenn ich entscheide, dass ich mit sechzehn Jahren alt genug bin, um Alkohol zu probieren, können sie mich nicht daran hindern.

Obwohl wir in ständiger Bedrohung durch die Legion leben, kann es oft sehr eintönig und langweilig sein. Die meisten Tage laufen gleich ab. Wir stehen bei Sonnenaufgang auf, danach gibt es Frühstück und dann sucht jeder nach einer Möglichkeit, um sich irgendwie nützlich zu machen. Wir gehen jagen, füttern die Ziegen und Hühner, holen Wasser, kümmern uns um die Felder, reparieren etwas, backen, kochen oder putzen. Es gibt hier nur wenig Abwechslung. Die Besuche von Ruby oder einem anderen Spion aus der Legion sind dabei ein Highlight. Sie berichten uns über alles, was die Legion plant, um uns so vor drohenden Gefahren zu schützen. Der letzte Kontakt ist jedoch schon Wochen her.

»Du bist eben doch noch zu jung dafür«, zieht Jep mich auf, als er mir den Flachmann wieder entwendet und selbst daraus trinkt.

Ich boxe ihm in die Seite, woraufhin er sich ruckartig auf mich stürzt und mich am Bauch zu kitzeln beginnt. Krampfhaft versuche ich, mein Lachen zu unterdrücken, doch dann platzt es laut und schallend aus mir heraus. Ich lasse mich zu Boden fallen und winde mich kreischend, um seinen flinken Fingern zu entkommen. Der Stoff meines kurzen Kleides raschelt bei jeder Bewegung.

Nun presst er mir seine Hand auf den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. Er liegt auf mir und blickt auf mich hinab. Ein Funkeln liegt in seinen grünen Augen, das immer dann zutage tritt, wenn wir allein sind.

Das ist jedoch nicht oft der Fall. Sein Zwillingsbruder Pep folgt ihm stets überall hin und mein älterer Bruder Finn hält sich für meinen persönlichen Kommandeur. Bestimmt suchen sie schon nach uns. Wir verstecken uns nicht nur wegen des Alkohols, sondern vor allem um einmal Zeit für uns zu haben.

Jep nimmt seine Hand weg. Ich kann seinen beschleunigten Herzschlag an meiner Brust spüren. Wir kommen uns nicht zum ersten Mal nahe. Es ist ein Spiel, das wir seit ein paar Wochen spielen. Ich kann Jep gut leiden, aber verliebt bin ich nicht. Glaube ich zumindest. Meine Auswahl ist nicht sonderlich groß: er oder sein Bruder. Das war’s. Vielleicht gibt es in den anderen Rebellenlagern noch mehr Jugendliche in unserem Alter, aber die sind zu weit weg, um sich öfter als alle paar Monate treffen zu können.

Er senkt seinen Kopf zu mir herunter. Seine schwarzen Haarspitzen kitzeln mich an der Stirn.

»Wenn ich dir erlaube, mich zu küssen, muss ich es Pep dann automatisch auch gestatten?«, feixe ich herausfordernd.

Seine Lippen verziehen sich zu einem Schmunzeln. »Wir teilen nicht alles miteinander.«

»Wenn ich dir erlaube, mich zu küssen, wird Finn dich einen Kopf kürzer machen«, scherze ich weiter.

»Er muss es ja nicht erfahren.«

Unsere Nasenspitzen berühren sich fast. Sein Atem schlägt mir entgegen und ich rieche erneut den scharfen Geruch des Alkohols. Heute ist nicht der Tag, an dem ich ihm erlaube, mich zu küssen. Sorry, Jep!

»Oder wir erzählen ihm, es wäre Pep gewesen«, erwidere ich grinsend, woraufhin auch Jep lachen muss und sich von mir runterrollt. Rein optisch sind die Zwillinge kaum voneinander zu unterscheiden.

Er nimmt mir meine Zurückweisung nicht übel. Auch er hat nicht viel Auswahl. Sogar noch weniger als ich, denn ich bin das einzige Mädchen in unserem Alter. Wir sind Freunde. Es ist so schön, einfach nur neben ihm auf dem moosbedeckten Boden liegen zu können und in den wolkenlosen Himmel zu blicken, der sich hinter dem Blätterdach der Bäume erstreckt. Alles ist friedlich.

Ich halte inne. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist so still – die Vögel zwitschern nicht einmal. Ich stütze mich auf meine Ellbogen und lausche angestrengt.

Jep mustert mich von der Seite. »Was ist los?«

»Hörst du das?«

Für einen Moment hält er den Atem an, dann schüttelt er den Kopf. »Ich höre nichts.«

»Das meine ich ja! Ist es nicht zu still?« Unruhig setze ich mich auf.

Jep macht es mir nach, während er seinen Blick über die umstehenden Bäume gleiten lässt. »Es sind keine Vögel da.«

»Wa…«

Ein ohrenbetäubender Knall lässt die Erde unter uns erbeben. Wimmernd schlage ich mir die Arme über dem Kopf zusammen und lege mich flach auf den Boden. Ein Piepen bleibt in meinen Ohren zurück, als der Knall längst vorbei ist.

Mit vor Schreck geweiteten Augen blicke ich zu Jep neben mir. Er wirkt genauso verängstigt wie ich, aber ihm fehlt nichts. Gleichzeitig rappeln wir uns auf und schauen uns suchend um. Was immer den Knall verursacht hat, es muss weiter weg passiert sein.

»Was war das?«, flüstere ich ängstlich und denke an die Warnungen meiner Eltern. Ist es jetzt so weit? Wir haben oft darüber gesprochen, was in diesem Fall zu tun ist. Wenn es auch nur das kleinste Anzeichen für einen Angriff durch die Legion gibt, versteckt ihr euch in der Schutzkammer und bleibt dort für mindestens einen Tag und eine Nacht.

Die Schutzkammer ist ein Raum in dem Höhlensystem, welches wir bewohnen. Sie unterscheidet sich dadurch von den anderen Zimmern, dass keine Tür in das Innere führt, sondern man sie nur erreichen kann, wenn man durch eine Öffnung in der Decke hineinklettert.

Jep beantwortet meine Frage nicht. Vielleicht weiß er die Antwort auch nicht oder er fürchtet sich davor, sie auszusprechen. Stattdessen ergreift er meine Hand und zieht mich plötzlich mit sich.

Ich möchte rennen, doch er hält mich zurück. Es ist zu gefährlich. Solange wir nicht wissen, was los ist, müssen wir unsere Umgebung im Auge behalten.

Wir kommen nur ein paar Meter weit, da lässt ein erneuter Knall die Erde erbeben. Jetzt bekomme ich es wirklich mit der Angst zu tun. Ich klammere mich an Jep fest, der wie Espenlaub zittert. Ich kann nicht sagen, ob die Erschütterung oder seine Furcht daran schuld ist. Aber obwohl er sich selbst sichtbar fürchtet, spielt er mir zuliebe den Starken und zieht mich bestimmt mit sich.

Vorsichtig tasten wir uns von einem Baum zum nächsten. Nach den ersten beiden Erschütterungen folgen noch drei weitere im Minutentakt. Wir haben die Höhlen noch nicht erreicht, da hören wir bereits die Schreie. Für mich gibt es kein Halten mehr – was immer dort vorgefallen ist, ich will helfen. Ich muss helfen!

Jep kann nicht schnell genug reagieren, da habe ich mich bereits von ihm losgerissen und renne geradewegs auf die Höhlen zu. Eine einzelne Person kommt mir völlig außer Atem entgegen. Es ist mein Bruder Finn. Sein Haar, das dieselbe Farbe hat wie meins, klebt ihm in der Stirn. Schweiß und Blut rinnen ihm gleichermaßen über das Gesicht.

Seine blauen Augen leuchten vor Erleichterung auf, als sie mich erblicken. Ich stürze ihm in die Arme und war noch nie zuvor so froh, ihn zu sehen.

»Was ist passiert?«, wispere ich völlig verängstigt, während er mich so fest an sich drückt, als wolle er mich nie wieder loslassen.

»Wir werden angegriffen«, spricht er aus, was ich bereits befürchtet habe. Doch bis jetzt habe ich nicht wirklich daran geglaubt. Erst sein Blut beweist mir, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist.

»Warum bist du nicht in der Schutzkammer?«, bringe ich bestürzt hervor, als ich mich von ihm löse. So war doch unser Plan. Er darf nicht hier draußen sein, sondern muss sich in Sicherheit bringen.

Die Erleichterung wird aus seinen Augen von Wut verdrängt. Bei Finn wechseln sich die Emotionen ab wie bei einem Sommergewitter. In einem Moment ist noch strahlender Sonnenschein und im nächsten schüttet es wie aus Eimern.

»Mutter und Vater suchen nach dir«, erwidert er vorwurfsvoll und schließt seine Hand so fest wie ein Schraubstock um mein Handgelenk.

»Und die anderen?«, stößt Jep aus. Es gelingt ihm nicht länger, den Starken zu markieren. Er wirkt vollkommen hilflos, wie er mit seinen dünnen Armen vor uns steht.

Finn wirft ihm einen anklagenden Blick zu. »Weiß ich nicht, es ist Chaos ausgebrochen!«

In Jeps Augen zeichnet sich die Sorge um seinen Zwilling ab. Ruckartig rennt er los.

»Jep!«, schreit Finn ihm nach und knirscht mit den Zähnen, als dieser nicht reagiert. Ich will ihm hinterher, doch Finn hält mich zu fest. »Komm mit!«

Im Gegensatz zu den Zwillingen ist sein Körper von harter Arbeit und Training gestählt.

»Wohin?«, japse ich, während er mich zurück in den Wald zerrt. »Wir müssen doch zur Schutzkammer!«

»Dafür ist es zu spät«, entgegnet er zornig. »Die Kämpfer der Legion sind bereits da. Wenn sie dich sehen, wie du auf der Höhle herumkletterst, verrätst du ihnen das Versteck der anderen.«

»Aber was ist mit Mama und Papa? Sie müssen doch wissen, dass sie nicht mehr nach mir suchen brauchen!« Ich habe Angst um meine Eltern. Wenn ihnen etwas passiert, ist das allein meine Schuld.

»Ich kümmere mich um sie, aber erst wenn du in Sicherheit bist.«

Das ist typisch Finn! Er traut mir nichts zu und versucht mich vor allem und jedem zu beschützen. Dabei merkt er gar nicht, wie sehr er mich einzwängt.

Ich versuche mich von ihm loszureißen, aber mit dieser Reaktion hat er schon gerechnet und hält mich deshalb nur noch umso fester.

»Es gibt keinen sicheren Ort!«, fahre ich ihn außer mir vor Wut an. »Wir müssen zusammenbleiben und uns gegenseitig beschützen.«

Er dreht sich zu mir herum und packt mich an den Schultern. Mein Handgelenk pocht noch von seinem festen Griff. »Zoe, ich kann nicht auf uns beide aufpassen! Bitte hör ein einziges Mal auf mich und klettere auf den höchsten Baum, den du finden kannst, und bleibe dort.« Seine Augen flehen mich voller Verzweiflung an, ihm zu gehorchen. »Bitte!«, drängt er eindringlich.

Die Angst schnürt mir den Hals zu. Mir ist klar: Je länger wir hier stehen und diskutieren, umso größer ist die Gefahr, dass uns jemand entdeckt oder unsere Eltern in Sorge um mich getötet werden – wenn sie nicht bereits tot sind. Sie müssen sich selbst in Sicherheit bringen, und das können sie erst, wenn ich es bin. Genauso wie Finn.

Ich fühle mich schrecklich dabei, nachzugeben, trotzdem nicke ich nun widerwillig. Er schlingt dankbar seine Arme um mich und vermittelt mir einen Wimpernschlag lang ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Als mein Gesicht an seiner Brust liegt, fließen die Tränen. Ich kann sie nicht länger zurückhalten und blicke zitternd zu ihm empor. Seine Lippen drücken einen Kuss auf meine Stirn.

Bitte lass es keinen Abschiedskuss sein!

Ich möchte mich an ihn klammern und ihn anflehen, bei mir zu bleiben, aber stattdessen lasse ich ihn gehen. Er rennt zurück in sein Unglück, während ich mich wie ein Feigling in der Krone eines Baumes verstecke. Von hier oben kann ich nicht einmal die Höhlen erkennen, aber ich sehe von dort, wo sie sich befinden, dicke Rauchschwaden aufsteigen. Mein Herz zieht sich vor Angst und Sorge schmerzhaft zusammen. Ich bilde mir ein, Schreie zu hören, doch jedes Geräusch wird von den immer wiederkehrenden Explosionen verschluckt. Der Geruch von Feuer und Asche liegt in der Luft.

Auf einmal dringt ein Rascheln zu mir durch und ich blicke nach unten. Zwischen den Bäumen nehme ich eine Bewegung wahr und im nächsten Augenblick taumelt mein Vater hervor, dicht gefolgt von meiner Mutter. Sie sind auf der Flucht und blicken nicht nach oben. Aber sie müssen doch wissen, dass ich am Leben bin.

»Ich bin hier!«, schreie ich, so laut ich kann. Sofort bleiben sie stehen und schauen sich panisch zu allen Seiten um.

»Hier oben«, brülle ich und beginne bereits, von dem Baum hinabzusteigen. Meine Mutter entdeckt mich als Erste und winkt mir aufgeregt. Sie rennen mir entgegen, während ich mich von einem Ast zum anderen hangele. Die letzten zwei Meter springe ich zu Boden.

Wir haben einander fast erreicht, da schießt ein einzelner roter Lichtstrahl zwischen uns hindurch und mein Vater gerät ins Straucheln. Meine Mutter kommt ihm zu Hilfe und stützt ihn. Nun sind es mehrere Lichtstrahlen, die durch die Bäume schießen. Ihnen folgen Menschen in blauen Anzügen: die Kämpfer der Legion. Sie umzingeln uns.

Als ich meine Eltern erreiche, ist das grüne Hemd meines Vaters dunkel verfärbt. Er liegt am Boden, meine Mutter neben ihm. Sein Atem geht stoßweise, während ihre Augen mit Tränen gefüllt sind. Blut sickert aus einer Wunde an ihrem Kopf. Irgendwo schreit jemand herzzerreißend. Ich kann es nicht sein, denn ich sterbe in dem Moment, als das Licht in den Augen meiner Eltern erlischt und alles um mich herum schwarz wird.

Dies ist der Tag, der mein bisheriges Leben für immer auslöscht.

 

Gleißende Helligkeit blendet mich. Ist es das Licht am Ende des Tunnels, welches man sieht, bevor man stirbt? Angeblich ziehen sämtliche Erinnerungen, die ein Leben ausmachen, dann an einem vorbei, aber ich kann mich kaum an etwas erinnern. Meine Ohren tun weh. Da waren Explosionen und Schreie. Es hat nach Rauch gerochen. Unwillkürlich beginne ich zu husten.

Ein blutdurchtränktes Hemd. Mein Vater.

Blut, das zu Boden rinnt. Meine Mutter.

Der Schmerz schneidet in mein Herz wie eine Klinge. Ich möchte meine Hand auf meine Brust pressen, damit sie nicht auseinanderspringt, aber ich kann nicht. Irgendetwas hindert mich daran. Ich drehe den Kopf zur Seite, weg von dem grellen Licht, und erkenne, dass ich gefesselt bin.

Der Raum, in dem ich mich befinde, ist gefliest und so steril, dass er definitiv kein Teil der Höhlen sein kann. Von irgendwo oberhalb meines Kopfes dringt ein schrilles Piepen zu mir durch. Es scheint sich zu beschleunigen, je mehr ich mich bewege. Als ich beginne, an den Fesseln zu ziehen, schwillt es zu einem lauten Alarm an.

Schritte kommen immer näher, bis sie direkt an meiner Seite verharren. Eine Person in einem grünen Anzug beugt sich über mich. Ich kann noch erkennen, dass sie schwarze Gummihandschuhe und eine Gasmaske trägt, bevor sie mir die Öffnung eines Schlauchs vor Mund und Nase hält.

Augenblicklich fällt es mir schwer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Trotzdem gelingt es mir noch, zu realisieren, dass ich nicht tot bin. Das hier ist viel schlimmer: Ich bin in der Legion.

 

Absolute Stille: Kein Windrauschen. Kein Vogelgezwitscher. Kein Geschirrgeklapper aus dem Gemeinschaftsraum. Kein Stimmengewirr.

Instinktiv weiß ich, dass etwas nicht stimmen kann, und reiße meine Augen auf. Ich blicke zu einer grauen Decke empor, die so ebenmäßig ist, dass sie kein Teil meines Zuhauses sein kann. Quadrate reihen sich aneinander und scheinen den Raum dadurch zu erleuchten.

Panisch jagt mein Blick weiter durch das Zimmer, doch viel zu sehen gibt es nicht: weiß geflieste Wände, ein grauer Boden, eine komische Vorrichtung, die ich nicht benennen kann, und das Metallbett, auf dem ich liege. An der Decke reihen sich leuchtende Platten aneinander, deren Licht mir Kopfschmerzen verursacht. Es gibt kein Fenster, dafür aber eine schwere Stahltür.

Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich zwinge mich, ruhig zu atmen, um nicht in Panik zu verfallen. Wenigstens bin ich nicht mehr gefesselt. Die Erinnerungen prasseln auf mich ein und ich kauere mich ängstlich zusammen, ziehe meine Beine dicht an meinen Bauch und schlinge die Arme um sie. Warum bin ich noch am Leben? Was passiert jetzt mit mir?

Erschrocken fahre ich mir mit der Hand an den Kopf und stoße einen schockierten Schrei aus. Meine Haare! Meine langen Haare, die mir bis zur Hüfte reichten. Meine Haare, die im Sonnenlicht beinahe weißblond erstrahlten. Sie sind weg! Mein Kopf fühlt sich nicht einfach nur kahl, sondern glatt an – als wären dort nie Haare gewachsen. Hastig taste ich auch mein Gesicht ab, fahre über meine Nase und meine Lippen. Alles fühlt sich verändert an. Meine Nase hat jetzt eine andere Form als zuvor. Nicht geschwollen oder verletzt, sondern einfach nur fremd. Bilde ich mir das nur ein? Vielleicht werde ich verrückt.

Obwohl ich weiß, dass keiner da ist, schaue ich mich nach einem Spiegel um. Es gibt auch keine ebene Fläche, die mir mein Spiegelbild zeigen könnte. Überall nur matte Fliesen, die sich gleichmäßig aneinanderreihen. Mich macht ihr Anblick bereits jetzt wahnsinnig.

Was haben sie mir noch genommen außer meinen Haaren? Ich fahre von meinem Gesicht bis zu meinem Hals. Ich trage ein einfaches knielanges rotes Kleid. Darunter nichts. Der Stoff ist fest und kratzt etwas auf der Haut. Wer hat es mir angezogen?

Ich halte die Luft an, als ich es am Kragen von mir ziehe und einen Blick auf meinen nackten Körper riskiere. Er sieht aus wie der eines Mädchens meines Alters, aber nicht wie meiner. Sämtliche Narben, die ich mit Erinnerungen verknüpfe, sind verschwunden. Ungläubig taste ich über mein Knie. Ich bin auf dem Kiespfad hingefallen, als ich Finn vor einigen Jahren nachrannte, weil er sich die letzte Kartoffel von meinem Teller stibitzt hatte. Das Knie war komplett aufgeschürft und hat geblutet. Die Narbe ist immer geblieben, doch jetzt ist sie weg.

Ich halte mir meine Hände vor die Augen und drehe sie hin und her. Sie sind makellos. Ohne Kratzer oder Schwielen. Sie gehören mir nicht.

Meine Haut erscheint mir auch unnatürlich hell, aber das könnte an dem grellen Licht liegen.

Ich fasse mir an die Stirn und weiß nicht, was ich glauben soll. Es ist unmöglich, dass die Legion meine Gedanken und mein Bewusstsein in einen fremden Körper implantiert haben. Aber das bedeutet, dass sie meinen Körper zu etwas Fremdem gemacht haben müssen. Wie? Wie ist so etwas möglich?

Ein irres Lachen entweicht meiner Kehle und ich versuche es mit einem Kopfschütteln zu vertreiben. Es bleibt mir im Hals stecken.

Meine Eltern sind tot.

Vielleicht nicht nur sie. Finn. Jep und Pep. All die anderen Rebellen. Ich weiß nicht, was mit ihnen ist.

Lachen ist in der Legion strengstens verboten, so viel weiß ich zumindest. Was für eine sinnlose Regel für einen Ort, an dem ohnehin niemand lachen würde, an dem es überhaupt keinen Grund zum Lachen gibt.

Die Legion hat mir nicht nur meinen Körper genommen, sondern viel mehr: meine Familie, meine Freunde und meine Freiheit. Alles, bis auf mein Leben. Warum? Was wollen sie von mir?

 

Es ist schwer zu sagen, wie viel Zeit vergeht, wenn man den Himmel nicht sehen kann und es keine Uhr gibt. Seitdem ich in diesem Raum aufgewacht bin, müssen bereits Tage vergangen sein. Sie dunkeln das Licht nach einiger Zeit ab, fast als wollten sie es dem Lauf der Sonne nachempfinden. Aber die Leuchtplatten an der Decke haben nicht die Wärme der Sonnenstrahlen. Sie erreichen nicht mein Innerstes.

Es ist kalt in der Zelle, wenn man nur still dasitzt und vergeblich darauf wartet, dass irgendetwas passiert. Deshalb bin ich dazu übergegangen, mir die Zeit mit Sportübungen zu vertreiben. Ich laufe auf der Stelle, mache Liegestütze und Hampelmänner. Alles, um in Bewegung zu bleiben. Es hilft mir nicht, den Verstand zu verlieren.

Nach dem Training lege ich mich auf die Liege und zähle die Fliesen, die sich an der Wand befinden. Es sind 256. Ich zähle sie jeden Tag aufs Neue, ohne Sinn, nur um etwas zu tun zu haben.

Während es mir bei Licht unmöglich ist, Schlaf zu finden, fallen meine Augen geradezu automatisch zu, wenn sich die Leuchtplatten abdunkeln. Es erscheint mir nicht normal und ich vermute, dass die Legion dahintersteckt. Vielleicht leiten sie durch die Lüftungsschächte irgendein Gas in den Raum und betäuben mich. Das würde auch meine Kopfschmerzen nach dem Aufwachen erklären.

Zwei Mal am Tag öffnet sich eine Luke neben der Tür. Darin befinden sich ein Becher mit Wasser und ein kleiner Behälter mit verschiedenen Tabletten, die ich nicht anrühre.

Ich glaube nicht, dass sie mich vergiften wollen, denn wenn sie mich töten wollten, hätten sie das schon längst tun können. Aber ich habe Angst davor, was die Tabletten mit mir machen könnten. Vielleicht würden sie mich vergessen lassen, wer ich bin. Das kann ich auf keinen Fall zulassen.

Selbst das Wasser schmeckt hier irgendwie seltsam. Aber es ist nicht der Geschmack, der es seltsam macht, sondern eher das Fehlen jeglichen Geschmacks. In den Höhlen haben wir das Wasser aus dem See geholt und obwohl wir es abgekocht haben, hat es trotzdem noch nach Schlamm und Algen geschmeckt. Das hört sich eklig an und war es auch, aber ich bin daran gewöhnt.

Mein Magen zieht sich vor Hunger schmerzhaft zusammen. Es tut so weh, dass ich manchmal kaum atmen kann. Das sind die Momente, in denen ich mir verbiete, an den köstlichen Duft von frischem Brot oder den süßen Geschmack der Beeren zu denken, die rund um die Höhlen an Sträuchern wachsen. Die Sehnsucht macht mich schwach.

Die Vorrichtung, die ich zu Beginn nicht benennen konnte, hat sich als Toilette herausgestellt. Ich habe so etwas noch nie gesehen, aber Florance hat sich in den Höhlen oft über deren Fehlen beklagt. Sie hat immer gesagt:

Es gibt nichts, was ich aus der Legion vermisse, außer Toiletten!

Dabei hat sie immer theatralisch geseufzt und sich die blonden Locken hinters Ohr gestrichen. Wie die meisten der Rebellen ist sie in einer Legion aufgewachsen. Aber nicht in dieser, sondern in einer anderen weit im Norden. Ich weiß nicht, wie viele Legionen es insgesamt gibt. Sie sind quer über das Land verteilt.

Florance gelang zusammen mit den Zwillingen die Flucht und sie mussten sich meilenweit allein durchkämpfen, bis sie zu uns stießen. Ihre Geschichte lässt mich Hoffnung schöpfen, denn wenn sie fliehen konnten, kann ich es vielleicht auch.

Meine Freunde fehlen mir. Sie alle fehlen mir. So sehr, dass ich kaum glauben kann, dass mein Herz auch ohne sie weiterschlägt. Heißt das, sie sind noch am Leben? Würde ich spüren, wenn es anders wäre?

Seitdem ich aufgewacht bin, hat niemand mit mir gesprochen. Ich verstehe nicht, was das soll. Frustriert und wütend stehe ich auf und hämmere zum wiederholten Mal gegen die Stahltür.

»Hallo!«, brülle ich laut und rechne nicht damit, dass jemand darauf reagieren wird. Niemand sagt mir, was jetzt aus mir wird. Wird es immer so weitergehen? Werde ich den Rest meines Lebens allein in dieser Zelle sitzen müssen? Was würde ihnen das bringen? Warum haben sie mich nicht getötet? Irgendetwas müssen sie doch von mir wollen. Was ist es?

 

Es erscheint mir wie eine Halluzination, als sich die Tür öffnet und eine atmende Person hindurchtritt. Es ist eine Frau mittleren Alters. Sie trägt einen weißen Anzug, der sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegt. Ihr Schritt ist zielstrebig. Vor meinem Bett bleibt sie stehen und starrt mit ausdrucksloser Miene auf mich hinab.

»Meine Bezeichnung lautet A350.« Sie deutet auf ein Schild, das sie über ihrer Brust trägt. Dort steht

A350

. »Ich trage einen weißen Anzug, weil ich eine Legionsführerin bin. Dafür steht auch das A in meiner Bezeichnung. Die Nummer beginnt mit einer drei, weil ich der dritten Generation Überlebender entstamme. Die fünfzig ist meine persönliche Kennzahl. Jede Generation misst exakt hundert Menschen.«

Ihre Stimme ist monoton, was es mir schwer macht, ihr zuzuhören, und noch schwerer, zu verstehen, was sie sagt. Fast als würde sie gar nicht wirklich sprechen, sondern nur ein Band ablaufen lassen und dazu die Lippen bewegen.

Ich weiß nicht, was ich ihr antworten soll. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich ein Wort gesagt habe. Genauso lange habe ich auch keine Nahrung mehr zu mir genommen. Wie lange ist es wirklich her? Es können nicht mehr als ein paar Tage sein, sonst wäre ich verhungert.

Meine Stimme gehorcht mir nicht mehr.

Die Legionsführerin scheint keine Antwort zu erwarten, denn sie fährt unbeirrt mit ihrem Monolog fort. »Dein Nachthemd ist rot, weil du eine Heranwachsende bist. E steht für Heranwachsende. Du entstammst der fünften Generation.«

Ich entstamme keiner Generation. Ich bin in Freiheit geboren und entspreche keinem ihrer Fortpflanzungszyklen.

»Deine Bezeichnung lautet E523.«

Nein, ich habe keine Bezeichnung. Ich habe einen Namen.

»Ich heiße Zoe«, teile ich ihr mit. Ich wollte es ihr laut und willensstark entgegenbrüllen, aber meine Stimme ist nichts als ein Krächzen.

Sie ignoriert meinen Einwand völlig und fährt unbeirrt mit ihrem Vortrag fort. »Du verweigerst deine Tablettenrationen. Wenn du sie nicht einnimmst, wirst du verhungern.«

»Na und?«, blaffe ich sie an. »Was kümmert dich das?«

»Die Legion hat für dich eine Verwendung, E523. Dafür ist es jedoch entscheidend, dass du dich an die Gesetze hältst. Dazu zählt auch die Einnahme der Tabletten.«

Zu hören, wie sie mich mit dieser schrecklichen Buchstaben- und Zahlenkombination anspricht, macht mich rasend. »Was für eine Verwendung?«, hake ich ungeduldig nach. »Was wollt ihr von mir?«

»Du bist noch jung, E523. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir und kannst ein Teil von etwas Großem werden …«

Ich falle ihr ungehalten ins Wort. »Ich soll in der Legion leben?«

Ihr ernster Gesichtsausdruck lässt mich wissen, dass genau das ihr Plan ist.

»Niemals«, schreie ich. »Lieber sterbe ich.« Das meine ich auch so.

»Das wirst du, wenn du weiter die Tabletten verweigerst«, versichert sie mir. Würden sie das zulassen? Würden sie mich – ihr kleines Experiment – einfach so sterben lassen, nur weil es mein Wille ist? Bleibt mir zumindest diese Wahl?

»Was habt ihr mit den anderen Rebellen gemacht?«, fordere ich nun, zu erfahren, auch wenn mir die Angst den Hals zuschnürt. Ich muss es wissen. Ich brauche Gewissheit.

»Eine Rekrutierung kam für sie nicht infrage.«

Mein Herz gefriert zu Eis. Sind sie etwa tot? Alle?

Ich blicke der Frau vor mir in ihre kalten blauen Augen, die nicht mehr Leben in sich tragen als eine Spielzeugpuppe. Sie hasst mich nicht. Ich bin ihr schlicht egal. Menschenleben bedeuten für sie nichts. Sie weiß nicht, welche Schmerzen sie mir mit ihren Worten bereitet. Sie kann mich nicht verstehen und deshalb kann sie auch nicht ahnen, dass ich mich mit einem Satz auf sie stürze, meine Hände um ihren Hals schlinge und so fest zudrücke, als könnte ich mit ihrem Tod alles ungeschehen machen.

Es dauert nicht einmal eine Sekunde, da wird die Tür hinter mir erneut aufgerissen und ein grüner Lichtstrahl zischt an mir vorbei, bevor mich etwas am Rücken trifft und ich komplett verkrampfe. Mein Körper gehorcht mir nicht länger. Ich breche über der Legionsführerin zusammen, die sich hastig unter mir hervorwindet. Sie atmet schwer und presst sich eine Hand an den Hals. Zum ersten Mal wirkt sie nicht mehr wie ein Roboter. Ich sehe zwar keine Angst in ihren Augen, aber zumindest habe ich sie erschreckt.

Der Mann, welcher das Zimmer gestürmt und mich bewegungsunfähig gemacht hat, trägt einen blauen Anzug. Er ist ein Kämpfer. Die Kämpfer der Legion haben uns überfallen. Sie haben meine Eltern und alle anderen getötet. Vielleicht hat auch er zu ihnen gehört. Vielleicht war sogar er es, der den tödlichen Schuss abgegeben hat. Ich hasse sie! Ich hasse jeden Einzelnen von ihnen.

Er blickt fragend zu A350.

»Sie ist noch nicht so weit«, erwidert diese und verlässt den Raum. Der Kämpfer folgt ihr und schließt die Tür hinter sich.

Im ersten Moment empfinde ich Erleichterung und Stolz, mich gegen sie behauptet zu haben, doch die beiden Emotionen brechen innerhalb von Sekunden wie ein Kartenhaus zusammen und zurück bleiben nur Angst und Verzweiflung. Sind wirklich alle tot? Haben sie alle umgebracht? Finn, Jep und selbst die kleine Emily? Sie ist doch noch nicht einmal zehn Jahre alt! Warum hätten sie das tun und mich als Einzige verschonen sollen?

Die Legionsführerin muss gelogen haben. Sicher konnten die anderen sich verstecken und sie wollte mir das nur nicht verraten, um mich leichter brechen zu können. Es muss so sein. Alles andere kann ich nicht ertragen.

 

Es vergehen Tage, bis sich die Tür wieder öffnet, und obwohl in der Legion alle Menschen gleich aussehen sollten, habe ich keinen Zweifel daran, dass wieder dieselbe Legionsführerin vor mir steht wie beim letzten Mal, denn in ihren Augen lese ich einen winzigen Funken von Angst. Die Erfahrungen, die wir in unserem Leben sammeln, prägen uns, ob wir das wollen oder nicht. Ihre Erfahrung mit mir hat sie verändert. Sie wird nie wieder dieselbe sein, genauso wenig wie ich. Bei näherem Hinsehen kann ich außerdem ihre Bezeichnung von dem Schild über ihrer Brust ablesen: A350.

»Wie lautet deine korrekte Bezeichnung?«, will sie von mir wissen, kaum dass sich die Tür hinter ihr schließt.

Selbst wenn ich wollte, könnte ich ihr nicht die Antwort geben, die sie hören will. Ich erinnere mich nämlich nicht mehr an diese dämliche Zahlen- und Buchstabenkombination. Aber ich will es auch gar nicht.

»Mein Name ist Zoe«, fauche ich sie an. Dieses Mal zeigt meine Stimme keinerlei Schwäche.

Aber auch A350 ist vorbereitet, denn sie hebt ihren Arm, an dem sich ein breites Armband befindet, und ein grüner Laserstrahl zischt daraus hervor, der mich direkt in die Brust trifft.

Mein Körper krampft sich zusammen und ich sacke zu Boden. Ich habe keine Kontrolle mehr und bin wie gelähmt. Ich spüre nicht einmal den Schmerz des Aufschlags.

Vom letzten Mal weiß ich, dass diese Wehrlosigkeit in ein paar Minuten wieder vorbei sein wird. Während mein Körper ausgeknockt ist, bin ich bei vollem Bewusstsein.

Die Legionsführerin beugt sich über mich und blickt auf mich hinab. »Deine korrekte Bezeichnung lautet E523. Du bist eine Überlebende der fünften Generation. Ich rate dir, dich beim nächsten Mal daran zu erinnern, ebenso wie deine Tabletten zu nehmen. Die Geduld der Legion ist nicht unerschöpflich und sollte sich herausstellen, dass du eine Verschwendung von wertvollen Ressourcen darstellst, werden wir dieses Experiment für gescheitert erklären.«

Ich möchte sie anschreien und ihr sagen, dass sie sich ihre Ressourcen sonst wohin stecken kann und ich kein verdammtes Experiment, sondern ein Mensch bin. Aber ich kann meine Lippen nicht bewegen.

Die Tür öffnet und schließt sich wieder.

 

»Die Blutproben der Versuchsperson zeigen keinerlei Auffälligkeiten«, berichtet A350 in der Konferenz der Legionsführer. »Obwohl sie bereits im Mutterleib einer leichten radioaktiven Reststrahlung ausgesetzt war, sind bei ihr keine Symptome für eine Genveränderung feststellbar. Sie verfügt über eine gute Gesundheit und ein starkes Immunsystem.«

»Wäre es möglich, dass ihr Abwehrmechanismus durch die vermehrte Aussetzung von Bakterien und anderen Krankheitserregern gestärkt, zu Teilen sogar immunisiert wurde?«, erkundigt sich ein anderer Legionsführer interessiert.

Er und auch alle anderen Anführer sind sehr gespannt auf den Verlauf des Experiments. Im Vorfeld gab es Uneinigkeit über dessen Durchführung. Manche sorgten sich um mögliche Gefahren, andere hielten es für Zeitverschwendung. Es ist das erste Mal, dass sie eine Verstoßene in die Sicherheitszone geholt haben. Die Ergebnisse der Versuchsreihe könnten ihr weiteres Leben sowohl im medizinischen als auch psychischen Bereich beeinflussen.

»Das ist durchaus denkbar«, bestätigt A350, die für das Experiment verantwortlich ist. »Die radioaktive Strahlung ist in den letzten zwanzig Jahren so weit zurückgegangen, dass sie kaum noch Einfluss auf den menschlichen Organismus hat. Die Probandin ist dafür der beste Beweis.«

»Das sind rein medizinische Fakten«, entgegnet A489, einer der größten Gegner des Versuchs. »Wie sieht es mit der geistigen Gesundheit des Objekts aus? Ich habe gehört, dass es einen Angriff gab und ein Kämpfer hinzukommen musste.«

»Die Probandin zeigt sich noch sehr resistent«, pflichtet A350 ihm bei. »Ich habe jedoch auch nichts anderes erwartet. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie unter Verstoßenen aufgewachsen ist. Sie wird eine gewisse Zeit brauchen, um sich unterzuordnen.«

»Wenn das Objekt es überhaupt tut«, kontert A489 missbilligend. Er glaubt nicht daran, dass es möglich sein könnte, die Verstoßenen wieder in die Legion einzugliedern. Sie sind für ihn Wilde, die nicht zu kontrollieren sind. Ein Gefahrenrisiko.

»Sie ist ein Mensch und somit wird sie irgendwann nachgeben, um in die Gesellschaft zurückzukehren«, beteuert A350 überzeugt. Sie sieht das Experiment als eine Chance an, um das Leben der Bewohner der Sicherheitszone nachhaltig zu verbessern. Die daraus gewonnenen Forschungsergebnisse könnten wegweisend für ihrer aller Zukunft sein.

Irgendwann verliere ich den Überblick darüber, wie viele Tage vergangen sind, seitdem ich in der Legion bin. Selbst das Hungergefühl hat nachgelassen und ist nur noch in unregelmäßig auftretenden Krämpfen zu spüren. Das Fehlen jeglicher Nahrung schlägt sich jedoch auf meine körperliche Verfassung nieder. Es fällt mir schwer, weiter an meinen Trainingsübungen festzuhalten. Mir wird dabei oft schwarz vor Augen, sodass ich mich gezwungen sehe, mich minutenlang auf die Liege zu legen, um meinen Kreislauf wieder in den Griff zu bekommen. Dadurch ist mir oft so kalt, dass ich am ganzen Körper zittere.

Jedes Mal, wenn ich die Fliesen an der Wand zähle, bekomme ich nun eine andere Zahl heraus, weil ich mich einfach nicht mehr konzentrieren kann. Aber auch das Schlafen will ohne künstliche Hilfe durch ein Gas, oder was auch immer es sein mag, nicht klappen. Meine Gedanken rasen wild durcheinander und vermischen sich mit Erinnerungen.

Von dem vielen Liegen schmerzt mein Rücken unerträglich.

Es gibt aber auch positive Effekte, denn meine Haare wachsen wieder. Ich kann einen zarten Flaum erstasten, wenn ich mit meinen Händen über meinen Kopf fahre. Auch meine Nase fühlt sich wieder mehr nach meiner eigenen an. Ebenso kehren meine Narben langsam wieder zurück. Es ist, als würde ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangen, was jedoch ein Trugschluss ist, da ich immer noch gefangen bin und sich daran auch nichts ändern wird, wenn ich der Legion nicht nachgebe.

Vielleicht ist meine Reaktion deshalb nicht ganz so abweisend, als die Legionsführerin A350 mir erneut einen Besuch abstattet. Dieses Mal hat sie ein Glas mit einer Flüssigkeit und einen Behälter mit Tabletten bei sich. Es ist die Ration, die ich jeden Tag in meine Zelle geschoben bekomme und immer verweigere, abgesehen von dem Wasser. Ich muss trinken, um zu überleben. Noch bin ich für den letzten Schritt nicht bereit. Nicht, solange ich noch Hoffnung habe meinen Bruder und meine Freunde wiederzusehen.

Ich erhebe mich von der Liege und merke direkt, wie sich wieder alles zu drehen beginnt, aber ich widerstehe dem Drang, die Augen zu schließen und mich wieder zurücksinken zu lassen. Vor ihr will ich keine Schwäche zeigen.

Die Tür schließt sich hinter ihr und sie mustert mich abwartend. Ihr Schweigen macht mich nervös. Glaubt sie etwa, dass ich ihr meine Bezeichnung nenne? Da kann sie lange warten!

Sie macht einen Schritt in meine Richtung und reicht mir das Wasserglas.

Ich strecke meine Hand danach aus und sehe zu meiner Bestürzung, wie meine Finger zittern. Schnell balle ich sie zur Faust und lasse meinen Arm wieder sinken.

»Dir bleibt nicht mehr viel Zeit«, teilt A350 mir trocken mit. Es ist eine Tatsache. »Wenn du nicht bald die Tabletten zu dir nimmst, wirst du sterben.«

»Warum holen Sie sich nicht einen Ihrer Kämpfer dazu, der mich festhält, und kippen mir die Tabletten gewaltsam in den Rachen?«, frage ich sie verächtlich. Das wäre eine Methode, die der Legion ähnlichsehen würde.

»Das wäre nicht in unserem Interesse«, widerspricht sie mir. »Eine Wiedereingliederung muss auf freiwilliger Basis erfolgen.«

Ich lache höhnisch auf. »Nennen Sie es etwa freiwillig, jemanden einzusperren und ihn zu erpressen? Ihnen muss doch klar sein, dass ich die Tabletten nur nehmen würde, weil ich keine andere Wahl habe.« So weit bin ich mittlerweile. Die Tabletten einzunehmen, ist nicht mehr ausgeschlossen, sondern zu einer Möglichkeit geworden. Eine Chance, diese Zelle vielleicht irgendwann zu verlassen. Vielleicht meine einzige Chance.

Sie nimmt eine der Tabletten aus dem Behälter. Es ist die größte von ihnen und davon gibt es mehrere. Sie ist gelb und wie ein Würfel geformt. Wenn man nicht genug trinkt, bleibt sie sicher leicht im Hals stecken.

Die Legionsführerin hält sie zwischen ihren schlanken, blassen Fingern. »Das ist ein Cerealienwürfel«, erklärt sie mir. »Er dient der Sättigung und liefert Energie. Bei normaler Belastung reichen für eine Frau fünf Stück pro Tag.« Sie holt auch alle anderen der Tabletten hervor. Es sind insgesamt vier.

Offenbar ist meine Belastung ihrer Einschätzung nach nicht als normal einzustufen, immerhin sitze ich den ganzen Tag nur in diesem Gefängnis.

Sie streckt mir das Glas mit Wasser entgegen. Ich kann sie nicht ansehen, als ich es ergreife, weil ich mich zu sehr schäme. Als Nächstes hält sie mir ihre geöffnete Handfläche mit den gelben Cerealienwürfeln hin. »Nimm die Tabletten und es geht dir noch heute besser«, versichert sie mir einladend, dabei klingt ihre Stimme nicht ganz so emotionslos wie sonst. Fast ein wenig bittend und einfühlsam. Menschlicher.

»Diese Tabletten machen nichts mit meinem Körper?«, hake ich zögernd nach. »Sie verändern ihn nicht und sorgen auch nicht dafür, dass mir zum Beispiel keine Haare mehr wachsen?« Meine Stimme zittert vor Erschöpfung und Angst, wodurch ich mich noch schwächer fühle. Ich will stark sein, aber ich kann nicht kämpfen, wenn mein Körper mir seinen Dienst verweigert.

»Dafür sind andere Tabletten zuständig«, sagt sie und bestätigt damit meine Vermutung, dass meine Haare wieder wachsen, weil ich die Tablettenrationen verweigert habe. Sie müssen mir eine Dosis verabreicht haben, als ich noch bewusstlos war. Deshalb fühlte sich mein Körper so seltsam an, als ich wieder zu mir kam.

»Willst du sterben oder leben?«, fragt A350, während ihre Hand immer noch geöffnet vor mir liegt.

Ich schließe meine Finger etwas fester um das kalte Glas und lege mir einen der Cerealienwürfel auf die Zunge. Er schmeckt nach gar nichts. Mit einem großen Schluck spüle ich ihn hinunter und verfahre so auch mit den drei anderen. Dabei fühle ich mich nicht besser, sondern schlechter. Ich schäme mich für dieses Eingeständnis. Für dieses kleine Entgegenkommen.

Meine Kapitulation scheint die Legionsführerin jedoch zu ermutigen, denn als Nächstes hält sie mir eine oval geformte weiße Tablette entgegen. »Das ist eine Eiweißkapsel. Sie gehört nicht zur täglichen Ration, sondern wird nur vor oder nach körperlicher Höchstbelastung eingesetzt. Sie stärkt die Sehnen und Knochen.«

»Irgendwelche Nebenwirkungen?«, hake ich skeptisch nach.

Zu meiner Überraschung zögert sie nun, ehe sie mir antwortet: »Sie beeinträchtigt die Sexualität.«

Das Thema ist ihr sichtlich unangenehm, was mir ein spöttisches Lächeln entlockt. Es wundert mich nicht, dass die Bewohner der Legion prüde sind, immerhin gibt es in ihrer Welt keine Gefühle.

»Sie betäubt den Trieb, das ist sehr wichtig für ein friedliches Miteinander und unterscheidet den Menschen vom Tier«, fährt sie fort. »Außerdem verhindert sie die Menstruationsblutung der Frauen.«

Das ist nicht unbedingt ein negativer Nebeneffekt, dennoch stört es mich, etwas einzunehmen, das meine Hormone völlig durcheinanderwirbelt. Mensch und Tier sind sich in ihrer Natur gar nicht so unterschiedlich, nur dass der Mensch immer wieder auf die Idee kommt, etwas Besseres sein zu wollen.

Ich ergreife auch diese Tablette, da ich nun zumindest weiß, dass ihre Wirkung nachlassen wird, sobald ich sie wieder absetze, und spüle sie gehorsam mit einem Schluck Wasser herunter. Anders als die Cerealienwürfel, hinterlässt sie einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.

Nun sind nur noch drei kleine pinkfarbene Tabletten übrig, welche die Legionsführerin ebenfalls in ihre geöffnete Handfläche legt. »Das sind Vitamintabletten. Sie bieten Schutz vor Krankheiten und verbessern die Gesundheit.«

»Außerdem verändern sie das Aussehen«, ergänze ich ablehnend, denn so muss es sein. Schließlich sind das die einzigen Tabletten, die noch übrig sind.

»Sie passen das Äußere an einen Prototyp an«, stimmt sie mir zu. »Aber das ist nicht so negativ, wie du vielleicht annimmst. In der Legion sehen alle Menschen gleich aus, dadurch gibt es kaum Unruhen. Andersartigkeit sorgt für Neid und Ausgrenzung. Gleichheit hingegen eint Menschen. Es gibt keine Unterschiede zwischen ihnen. Wir sind eine große Gemeinschaft …«

Ich falle ihr ins Wort, weil ich ihre Lügen nicht länger aushalte. »So ein Blödsinn! Ihr unterdrückt Menschen und lasst sie nicht einmal eine eigene Persönlichkeit entwickeln. Es sind nicht alle gleich und das ist gut so!«

Sie reagiert mit Wut auf meine Äußerung, das erkenne ich an ihren aufeinandergepressten schmalen Lippen. Ihre Hand mit den Tabletten liegt immer noch vor mir. »Nimm sie ein«, fordert sie mich auf und etwas Drohendes liegt in ihrer Stimme.

»Nein.« Ich bin nicht bereit, mein Aussehen aufzugeben. Sie haben mir meine Freiheit und meine Familie genommen, sie bekommen nicht auch noch meine Persönlichkeit. Je mehr ich bereit bin, ihnen zu geben, umso mehr werden sie von mir verlangen, bis nichts mehr von mir übrigbleibt.

»E523, nimm die Tabletten oder du wirst diese Zelle niemals verlassen!«

Sie betont das Wort niemals, dabei bräuchte sie das gar nicht. Es hallt ohnehin in meinem Kopf nach. Niemals ist ein endloser Zeitraum. Eine Ewigkeit, die ein Leben überdauert. Der Ausdruck ist für mich nicht greifbar.

»Nein!«, zische ich und rechne damit, dass sie ihre Waffe auf mich richten wird, um mir einen Schock zu verpassen, aber stattdessen erhebt sie sich nur und wendet sich zum Gehen. Es enttäuscht mich beinahe.

Vor der Tür bleibt sie noch einmal stehen und dreht sich zu mir herum. »Du wirst diese Tabletten nehmen«, versichert sie mir. »Menschen sind wie Pflanzen. Sie wachsen nicht einsam, sondern brauchen Artgenossen, um gedeihen zu können. Wenn du länger in diesem Raum bleibst, wirst du eingehen.«

Sie öffnet die Tür und lässt mich allein zurück.

Menschen brauchen nicht nur Artgenossen, sondern viel mehr, um ihr Dasein als wirkliches Leben bezeichnen zu können: Sonne, Regen, Wind, richtiges Essen und vor allem ihre Freiheit.

 

Als ich das nächste Mal eine Tablettenration in meine Zelle geschoben bekomme, nehme ich die gelben und weißen Tabletten ein. Mein Körper hat durch sie seine alte Stärke zurückerlangt und ich fühle mich insgesamt besser. Ich kann meine Übungen wieder machen und die Fliesen an der Wand ergeben nach jeder Zählung wieder 256.

Die pinke Tablette ignoriere ich weiterhin, auch wenn ich spüren kann, wie meine Gegenwehr immer mehr schwindet. Ich befinde mich an einem Punkt, an dem ich nicht weiterkomme. Wenn ich mich weiterhin weigere, mich der Legion anzupassen, werde ich diese Zelle nicht verlassen können. Ich habe keine Möglichkeit, ihr aus eigener Kraft zu entkommen. Dazu bin ich vollkommen abgeschottet von sämtlichen Informationen. Ich kann mit niemandem reden. Wenn ich hierbleibe, werde ich niemals erfahren, was aus Finn und den anderen wurde. Würde ich hingegen zumindest so tun, als ob ich bereit wäre, einen Schritt auf sie zuzugehen, könnte ich vielleicht unter andere Bewohner gelangen. Vielleicht wissen sie mehr oder ich könnte sogar Ruby irgendwo unter ihnen ausmachen.

Sie ist eine Rebellin, aber lebt seit zehn Jahren in der Legion und arbeitet für uns als Spionin. Wenn jemand weiß, ob meine Freunde noch am Leben sind, dann sie. Davon hängt mein gesamtes weiteres Vorgehen ab. Ich muss wissen, ob es sich überhaupt noch lohnt, weiterzukämpfen. Ob es dort draußen noch irgendetwas gibt, für das es sich zu leben lohnt.

»Wie ist deine korrekte Bezeichnung?«, fragt A350 bei ihrem nächsten Besuch wieder.

Ich starre sie an und weiß, was ich sagen müsste, aber es kommt mir schwer über die Lippen. Mein Mund weigert sich beharrlich, die Worte auszusprechen. Es fühlt sich beinahe an, als wäre meine Zunge verknotet.

»Meine korrekte Bezeichnung lautet E523«, antworte ich ihr ganz leise. Jede Silbe brennt wie Gift in meiner Kehle. »Ich bin eine Überlebende der fünften Generation.«

Mir ist bewusst, dass das mein einziger Ausweg ist, und dennoch fühle ich mich erniedrigt und gebrochen. Es ist nur eine Lüge, die mein Leben retten soll, aber ich schäme mich ihrer zutiefst.

Meine Haltung verrät ihr, dass ich die Worte nicht aus Überzeugung spreche, sondern aus Verzweiflung. Sie schaut mich prüfend an. Vielleicht reicht es ihr für den Anfang.

»Wirst du heute die pinke Tablette schlucken?«, hakt sie weiter nach. Es ist ihr nicht genug.

Ich habe geglaubt, dass ich zu allem bereit bin, aber die Vorstellung, wieder auf Hände zu schauen, die nicht mir gehören, und mich in einem fremden Körper wiederzufinden, ängstigt mich mehr, als ich mir eingestehen wollte.

»Darf ich etwas fragen?«, entgegne ich ihr. Es ist ein verzweifelter Versuch, Zeit zu schinden, um keine Entscheidung treffen zu müssen.

Sie stutzt und runzelt die Stirn. »Was willst du wissen?«

Es gibt so vieles, das ich wissen möchte, aber auf das wenigste davon würde ich eine ehrliche Antwort erhalten, deshalb beschränke ich mich auf das, was mir am unverfänglichsten erscheint.

»Sie haben mir gesagt, dass jede Generation aus genau hundert Menschen besteht. Wie kann es dann sein, dass ich die Nummer 523 bin? Müsste diese Nummer nicht bereits an jemand anderen vergeben sein?«

A350 wirkt überrascht von meinen Überlegungen. »Deine Bezeichnung ist frei geworden«, antwortet sie mir jedoch nur ausweichend.

»Was bedeutet das? Was ist mit E523 vor mir geschehen?«

Die Legionsführerin beugt sich zu mir hinab und sieht mir auf eine Weise in die Augen, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt – völlig emotionslos. »Sie ist gestorben.«

»Woran?« Ich versuche, der Angst keinen Platz in meinem Herzen zu gewähren. Angst macht mich schwach.

Ihre Augen formen sich zu schmalen Schlitzen. »Ihr Geist war krank. Sie hat zu viele Fragen gestellt.«

Ich starre sie fassungslos an. Das ist ihre Antwort? Es sollte mich nicht schockieren, immerhin wusste ich, dass es strenge Gesetze in der Legion gibt, aber ich habe mir nicht vorstellen können, dass sie so leichtfertig ihre eigenen Leute von sich stoßen würden, nur weil sie merken, dass all die Lügen keinen Sinn ergeben. Die Legion stützt ihre Macht durch Unterdrückung und Furcht. Sie suchen nicht nach friedlichen Lösungen, sondern töten alles und jeden, der sich ihnen in den Weg stellt.

So wie meine Eltern. Sie haben nie auch nur einen Versuch unternommen, die Legion anzugreifen, und trotzdem sind sie nun tot. Ermordet.

Der Hass kocht erneut in mir hoch.

A350 zieht eine der pinken Tabletten aus ihrem Anzug hervor und hält sie mir hin. »Nimm die Tablette ein und ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass deine Wiedereingliederung schon bald beginnt«, verspricht sie mir.

Mein Blick gleitet von ihrem ungeduldigen Gesicht zu ihrer geöffneten Handfläche und ich schlage ihr die Tablette aus der Hand, sodass sie zu Boden fällt. Als Nächstes trifft mich der Laser aus ihrer Waffe und ich sacke bewegungslos zu Boden. Eine Schmerzwelle erfasst meinen Körper. Sie zieht sich durch sämtliche Muskeln, die vom einen auf den anderen Moment erstarren.

Kopfschüttelnd blickt A350 auf mich hinab. »Ihr Verstoßenen fühlt euch so überlegen, aber letztendlich seid ihr nur dumm«, stößt sie verächtlich aus, ehe sie mich verlässt.

Verstoßene … So nennt die Legion die Rebellen. Es hört sich an, als hätten sie sich von den Rebellen getrennt anstatt andersherum. Irgendwann waren sie einmal eins – Überlebende. Heute sind sie Feinde.

 

Ein paar Stunden später, als die Wände immer näher zu kommen scheinen, fühlt sich meine Tat nicht mehr mutig an. Ich möchte ihnen meinen Willen nicht beugen, sondern ihnen beweisen, dass ich immer eine Rebellin sein und niemals vergessen werde, was sie meinen Eltern angetan haben. Es erscheint mir vollkommen absurd, dass sie glauben, mich derart brechen zu können, dass ich mich jemals in ihr System einfügen würde. Aber sie müssen davon überzeugt sein, denn sonst wäre ich tot.

A350 hat mich als Experiment bezeichnet, aber ich bin nicht berechenbar. Ich könnte ihnen vorspielen, dass ich bereit bin, auf ihre Forderungen einzugehen. Wenn ich diese Zelle jemals verlassen möchte, muss ich bereit sein, alles, was mich ausmacht, von mir abzustreifen. Ich muss in einen fremden Körper schlüpfen und meine Seele in seinem Inneren wie einen Schatz verwahren. Aber ich habe Angst, daran zu scheitern und mich letztendlich selbst zu verlieren.

Solange ich mich allein in diesen vier Wänden befinde, kann ich nichts ausrichten. Ich kann niemandem helfen, nicht einmal mir selbst. Irgendwann werden sie mich zerstören.

Nachzugeben bedeutet nicht unbedingt eine Niederlage, sondern vielleicht meinen einzigen Weg in Richtung Freiheit. Als ich das nächste Mal einen Behälter mit Tabletten erhalte, überwinde ich mich und schlucke sie alle, auch die pinke Tablette. Die Tränen, die sich dabei in meinen Augen sammeln, halte ich zurück. Ein letztes Mal fahre ich mir über das millimeterkurze Haar und über mein Gesicht, solange es noch meine Züge hat. Ich verabschiede mich, weil ich weiß, dass ich lange Zeit eine Maske überstreifen werde. Aber ich werde nicht vergessen, wer ich bin. Mein Name ist Zoe und ich bin eine Rebellin.

 

 

»Die Entwicklung der Probandin weist große Fortschritte auf«, berichtet A350 stolz. »Sie hat ihre Bezeichnung angenommen und verweigert nicht länger die Tabletten. Ihr Überlebensinstinkt setzt sich gegen ihre falschen Überzeugungen durch.«

A350 fühlt sich in all ihren Annahmen bestätigt. Letztendlich ist alles so gekommen, wie sie es für das Experiment vorhergesehen hatte.

Einige der anderen Legionsführer nicken zustimmend. Sie sind mit ihrer Arbeit sehr zufrieden.

»Nur weil sich das Objekt nicht länger gegen lebenserhaltende Maßnahmen sträubt, kann man noch lange nicht von einem erfolgreichen Versuch ausgehen«, widerspricht A489 energisch.

A350 weiß, dass er nur nicht zugeben kann, dass sie recht behalten hat und eine Wiedereingliederung durchaus möglich ist. »Ich habe auch nicht behauptet, dass das Experiment bereits abgeschlossen ist«, kontert sie. »Aber wir befinden uns auf einem guten Weg. Als Nächstes möchte ich das Verhalten der Probandin innerhalb der Sicherheitszone im Zusammenspiel mit anderen Bewohnern untersuchen. Ich gehe davon aus, dass sie sich an die Gruppendynamik anpassen wird.«

»Dafür ist es noch viel zu früh«, schimpft A489 zornig. »Nur weil das Objekt ein paar Tage lang brav seine Tabletten schluckt, können wir es nicht auf die Bewohner loslassen. Es könnte sie angreifen oder ihre Gedanken vergiften.«

»Niemand würde ihr glauben«, widerspricht A350. Es ärgert sie, dass A489 von E523 immer nur als Objekt und nicht als Mensch spricht. Auch sie hat ihre Differenzen – große Differenzen – mit den Verstoßenen, aber es sind immer noch Menschen.

»Letztendlich sind alle Menschen gleich«, fährt sie unbeirrt fort. »Wir gehören zur Klasse der Rudeltiere und können nur in der Gruppe überleben. Das wird auch die Probandin schnell einsehen und sich den Bewohnern und ihrem Verhalten anpassen.«

A489 rümpft verärgert die Nase. »Dieses Experiment unterliegt deiner Verantwortung«, erinnert er A350 scharf. »Du wirst die Konsequenzen für das Versagen deines Objekts tragen.«

»Sie wird nicht versagen«, beteuert A350 selbstsicher. »Vermutlich wird sie zu Beginn Anpassungsschwierigkeiten haben, aber das wird vergehen. Ihre Vergangenheit wird immer mehr in den Hintergrund rücken und ihr Handeln wird sich immer deutlicher auf die Zukunft ausrichten. Stellt euch nur mal vor, was das bedeutet!« A350 wird ganz euphorisch. »Wenn wir eine Verstoßene dazu bringen können, sich uns zu fügen, können wir das bei allen erreichen. Eine Ausgliederung der Legion wäre somit möglich.«

»Nicht so voreilig«, fährt A489 erneut dazwischen. »Die Versuchsreihe ist längst nicht abgeschlossen.«

A350 erkennt in seiner beharrlichen Gegenwehr Angst. Sie weiß, dass er sich davor fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Sie alle tun das. Aber im Gegensatz zu ihm ist ihr bewusst, dass sie etwas verändern müssen, um an der Macht zu bleiben. Wenn das Experiment gelingt, werden sie ihre Kontrolle nicht nur sichern, sondern sogar ausweiten. Die Verstoßenen werden keine Bedrohung mehr darstellen, sondern zu einer kontrollierbaren Komponente der Legion werden.

Nach ein paar Tagen regelmäßiger Tabletteneinnahme kann ich zwar meinen eigenen Körper nicht mehr wiedererkennen, aber dafür darf ich die Krankenstation verlassen und werde in die Sicherheitszone verlegt. Dort leben alle Menschen, welche die Legion bewohnen, abgesehen von den Legionsführern.

Es ist ein gewaltiger Komplex. Alles befindet sich unter der Erde, sodass es keinerlei Fenster gibt. Sämtliche Wände sind aus kaltem grauem Beton, der nur von wenigen Farbstreifen unterbrochen wird, die aber auch nicht der Verschönerung dienen, sondern der Kennzeichnung von Klassifizierungsgruppen. Obwohl alle Menschen hier angeblich gleich sein sollen, werden sie in Ränge eingestuft.

Alles in der Legion ist auf einen Zweck ausgerichtet. Es ist kein Ort, an dem man sich wohlfühlen kann, sondern mehr wie eine Fabrik, in der Menschen nichts als Zahnräder eines großen Getriebes sind. Das Zentrum bildet das Atrium. Von dort gehen lange Gänge in sämtliche Richtungen ab. Die Schritte schallen wie Trommelschläge von den Wänden wider und betonen dadurch das Fehlen anderer Geräusche. Es gibt keine leisen Gespräche oder gar Musik. Alles ist beängstigend still, als wären die Bewohner immer in Alarmbereitschaft.

Pflanzen existieren in der Sicherheitszone überhaupt nicht. Vermutlich würden sie ohne Sonnenlicht auch nicht wachsen. Menschen werden hier zwar groß, aber sie entwickeln sich nicht zu ihrer vollen Pracht, sondern verkümmern.

Ich bin eine Fremde, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, und habe erwartet, dass man mich deshalb wie eine Sensation anstarren würde. Aber niemand scheint es zu bemerken oder sich auch nur nach mir umzudrehen. Ich mag nun vielleicht aussehen wie alle anderen, aber trotzdem müsste ihnen doch auffallen, dass ich anders bin. Oder überschätze ich meine Wirkung?

Gleichheit ist für mich reine Illusion. Es sind nur kleine Unterschiede, aber sie stechen einem förmlich ins Auge, wenn man darauf achtet.

---ENDE DER LESEPROBE---