Gläserne Zeit - Ein Bauhaus-Roman - Andreas Hillger - E-Book

Gläserne Zeit - Ein Bauhaus-Roman E-Book

Andreas Hillger

4,9

Beschreibung

Eine dramatische Dreiecksgeschichte verbindet sich mit dem Bauhaus-Projekt und dem politischen Geschehen der Zwanziger Jahre: einfühlsam, hellsichtig und absolut lesenswert!Dessau, 1920'er Jahre. Am Bauhaus werden Häuser aus Stahl und Beton gebaut und Träume in Teppiche gewebt, während die Welt längst auf den Abgrund zusteuert. Clara Cohn, Tochter aus gutem Hause, hat mit allem Bürgerlichen gebrochen und sich für das Bauhaus entschieden. Seitdem verweigert ihr Vater jeden Umgang mit ihr. Nur zu! Die junge Frau hat entdeckt, dass man das Leben auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten kann. Aber war diese radikale Entscheidung richtig? Und wie soll sie nur zwischen Karl und Lukas wählen – zwischen links und rechts, Hirn und Händen? "Der erste Bauhaus-Roman: zuverlässig in der historischen Sache, farbig im szenischen Detail. Wer wissen will, was am Bauhaus geschah, wird von Hillger bestens bedient." - Mitteldeutsche ZeitungMan "sollte aber auch einen anderen, zu Unrecht vergessenen Bauhaus-Roman lesen: Andreas Hillgers "Gläserne Zeit" von 2013. (...) Perfekt beleuchtet, präzise erzählt, ein Buch, so scharfkantig wie die Silhouette des Dessauer Bauhaus-Gebäudes". - Christoph Stölzl, Cicero-

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Andreas Hillger

Gläserne Zeit - Ein Bauhaus-Roman

Saga

Gläserne Zeit - Ein Bauhaus-RomanCopyright ©, 2019 Andreas Hillger und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726355079

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«

Walter Benjamin: Angelus Novus

Das Wort schien vor seinen Augen zu schweben. Im stillen Gestöber des Schnees wäre es ihm wohl länger verborgen geblieben. Doch die aufgetürmten Rechtecke und die stürzende Linie aus Licht hatten seinen Blick vom tintigen Blau der Nacht auf die schwärzeren Schatten des Hauses gelenkt. So waren die Buchstaben zwischen erhellten Fenstern hervorgetreten, hatten ihn angezogen und ins Gestern gestoßen.

Zögernd stellte er seinen Koffer in den sternglitzernden Himmel zu seinen Füßen, dessen Kälte sich durch die Schuhsohlen fraß, und putzte die Schneetropfen von seiner Brille. Mit klammen Fingern tastete er nach Tabak, drehte eine Zigarette und schirmte die Flamme des Streichholzes gegen den Wind. Der Schwindel kam schnell und so zuverlässig, wie man ihn auf nüchternen Magen erwarten durfte.

Das Zählen hatte er längst aufgegeben. Wohl mehr als tausend Menschen waren seit der frühen Dämmerstunde an ihm vorübergezogen. Er aber hatte am Rand dieses allmählich abebbenden Stromes breitbeinig, mit trotzig verschränkten Armen ausgeharrt und den kleinen Papierball beobachtet, der zwischen dem blanken Lack und dem stumpfen Leder der Schuhe hin und her tanzte.

Jetzt erst bückte er sich, hob den schmutzigen Zettel auf und strich ihn mit einer energischen Bewegung glatt. Druckerschwärze blieb an seinen Fingern haften. Fraktur, natürlich! Bei diesen Schreiberlingen konnte man die Gesinnung schon am Setzkasten erkennen. Und so altbacken wie die Lettern waren auch ihre Attacken.

Viel zu teuer sei der undeutsche Spuk, der das Handwerk bedrohe und den Bolschewisten in die Hände spiele. Von Weimar solle man lernen, wo man nach Jahren der Verirrung endlich wieder zur Vernunft gekommen sei. Grote und Hesse müsse man aus dem Amt fegen, weil sie Steuern und Baugrund für diesen Palast der Entartung geopfert hätten.

Carl spuckte auf das Flugblatt, knüllte es zusammen und warf es zurück auf den Boden. In Berlin waren sie umworben worden, in Frankfurt am Main! Stattdessen aber hatten sie sich wieder für eine Provinz entschieden, der man das Gestern mit Gewalt aus dem Kopf schlagen musste.

Wie sie dieses Klirren hasste! Seit Stunden begleitete sie das leise Geräusch, hüllte sie ein und trennte sie vom Lärm der Menge. Sie hörte es, sobald sie vor dem großen Fenster zur Küche in eine leichte Hocke ging, um das Tablett mit der rechten Hand auf die ausgestreckte Linke zu ziehen. Es blieb an ihrer Seite, wenn sie sich mit ihrer mühsam ausbalancierten Last durch die Gruppen der Gäste schob. Und es steigerte sich zum Alarm, wenn jemand beiläufig ein volles Glas Sekt aus dem Rund nahm oder achtlos einen geleerten Kelch zurückstellte.

Zweimal vermied sie nur mit knapper Not einen Zusammenstoß, der die allgegenwärtige Bedrohung in eine Katastrophe verwandelt hätte. Seitdem die Kapelle ihre Zuhörer auch noch zu wilden Tänzen ermutigte, war die Bedrohung sogar größer geworden. Clara hatte erkannt, dass es gleichgültig war, ob sie regungslos am Rand des Geschehens verharrte oder geschickt in die Lücken der wogenden Menge vorstieß. Immerhin konnte sie dabei die wildesten Strudel umgehen und in ruhigere Regionen ausweichen, wobei freilich die Stufen und die schmalen Gänge der Aula zusätzliche Risiken bargen.

Lukas raffte seinen Mantel enger, setzte sich auf seinen Koffer und blies den Rauch in Richtung der Schrift. Flüchtig umspielte die aufsteigende Wolke die sieben Buchstaben, die er schon so oft geschrieben hatte. Nun erschienen sie ihm dennoch fast unwirklich – nicht mehr waagerecht auf Linie, sondern wie ein Menetekel aus allen Wolken fallend. Ein von klarer Kante beschnittener, doppelter Bogen am Beginn, die stabile Harmonie im Zentrum, der kontrollierte Schwung des Endes, dazwischen die zweifache Verbindung aus einem nach unten geöffneten A und einem aufwärts weisenden U, die sich erst in der Vertikalen als fast geschlossene Einheit zeigte: ein stummes Echo, das aus der Vergangenheit herüberhallte und auf diesem langen Weg seinen vertrauten Klang eingebüßt hatte.

Das war keine Beschwörung mehr, deren Initial man in mönchischer Versenkung verschnörkeln durfte, während der Prophet am Pult aus dem Leben Jesu vorlas. Das war auch keine Parole, an der sich Eingeweihte erkennen mochten. Das war eine Weisung, die weder Ornament noch Widerspruch duldete. Vor ihr war Lukas fortgelaufen, um endlich wieder bei ihr anzukommen.

Vor dem Panoramafenster im Foyer, das sich auf die schwarzweiße Nachtlandschaft öffnete, standen die hohen Herren beisammen – rauchend, plaudernd und lachend. Den Mittelpunkt bildete Gropius, der soeben die letzte Führung durch seine Schöpfung vollendet hatte und nun eine Zigarette zwischen den langen, schlanken Fingern hielt. An seiner Seite Klee, der aus schmalen Lippen Zigarrenqualm zur Decke steigen ließ und mit geneigtem Kopf einer Anekdote von Feininger lauschte. Kandinskys Brillengläser blitzten, Muche hielt sich wie stets ein wenig abseits und Breuer kritzelte etwas in sein Skizzenbuch, wobei ihm Albers neugierig über die Schulter schaute. Da war Scheper, dort Moholy … nur Schlemmer fehlte. Er bereitete vermutlich gerade das nächste Spektakel auf seiner Bühne vor.

Clara trat näher an die Gruppe heran und hielt ihr Tablett den Meistern hin. Wieder war da dieses kaum hörbare Klirren, von dem sie meinte, es müsse nun zumindest bei diesen Hohepriestern des Angemessenen wie ein Weckruf wirken. Denn falls es noch eines Beweises für die Notwendigkeit ihrer Schule bedurft hätte, dann trug sie ihn ja hier in Händen – den denkbar schlimmsten Verstoß der Form gegen die Funktion, den zerbrechlichen Albtraum aller Statiker. Wenn es doch wenigstens schweres Kristall wäre, wie es zu Hause bei ihren Eltern auf den Tisch kam. Aber diese viel zu kleinen Glasfüße, die auf der feuchten Oberfläche des Tabletts kaum Halt fanden! Und das alles für eine schäumende Süße, die sich in den engen Röhren schnell erwärmte und schal wurde. Sie fing einen Satzfetzen von Kandinsky auf: »… ist nicht mehr das ›Oder‹ das Bindewort. Wir wollen Synthese, wir wollen das ›Und‹ …«

Viel zu langsam ging das alles! Was half es, am Haus der Zukunft zu bauen, wenn dann doch der gegenwärtige Mensch mit seiner Vergangenheit einzog? Auch die Meister waren am Ende nur Bürger, die bei anderen Bürgern um Geld für ihre Projekte betteln mussten. Warum sonst bestanden sie darauf, dass man ihnen nun einen Professoren-Titel gestattete? Ausgerechnet dieses spießige Etikett, das sie früher so sehr verachtet hatten?

Aber zusammen mit Itten und Schreyer war wohl auch die alte Idee von den Dombaumeistern ausgetrieben worden. Mit ihrem Wechsel nach Anhalt hatte sich die Schule abermals in den Dienst derer gestellt, die offensichtlich nur wenig mit ihr anzufangen wussten. Carl klemmte seine Daumen hinter die breiten Hosenträger und summte die Musik mit, die aus der Aula herüberklang: »Berliner Luft« in der Fassung für Klarinette, Posaune, Banjo, Klavier und Bumbässe.

Er nahm einen letzten tiefen Zug, drückte die Kippe in den Schnee und erhob sich. Obwohl er gelernt hatte, neben dem Hunger auch die Kälte zu ertragen, fröstelte er nun doch unter dem dünnen Stoff seiner Uniform. Er trug sie noch immer, auch wenn er den darin verwobenen Glauben längst abgelegt hatte. Dort vorn, am Ende seines Weges, würden ihn die weiten Hosen, die kragenlose Bluse und der Gurt mit der großen Schnalle unweigerlich verraten. Einigen Älteren dürfte es sogar eine Schrecksekunde bereiten, wenn ein weinrot gewandeter, kahl geschorener Apostel aus dem Gestern am Beginn ihrer neuen Zeit auftauchte. Aber schließlich war er von Pius höchstpersönlich gerufen worden – und Gunta brauchte ihn hier in Dessau wie zuletzt in Herrliberg.

Entschlossen griff er den Koffer und schritt auf die Fassade zu, deren schmale Lichtkante sich im Näherkommen zu einer gewaltigen Kaskade aus Glas öffnete. Ein Gespinst aus Metallbändern war als Netz über die dahinter liegenden Räume geworfen. In seinen Maschen zappelten und lachten, sprachen und tanzten auf drei Etagen festlich gekleidete Menschen. Weiter hinten leuchteten drei schmalere Bänder, die ihm den Weg um den Rand des gefrorenen Wasserfalls und schließlich zu einer Brücke wiesen, die auf Säulen zwischen die ungleichen Hälften des Hauses gespannt worden war.

Zur Rechten fand er den Eingang, signalrot, und darüber wieder das Wort – kleiner und waagerecht diesmal, aber erneut in stolzen weißen Versalien: Bauhaus. Lukas legte seine Rechte auf das kalte Metall des Türgriffs, atmete einen letzten Zug Nachtluft und trat ein.

Wenn ihr Vater sie so sehen würde … Aber der saß zur Stunde wohl unter Stuck und Kronleuchter in der guten Stube und schnitt mit seiner kleinen Papierschere sorgfältig neue Beweisstücke aus der »Anhalter Woche« aus, zu denen der Herr Hoflieferant Cohn als Leserbriefschreiber gern selbst einiges beitrug. Seitdem er sein einziges Kind an die vaterlandslosen Gesellen verloren hatte, pflegte er jeden Appell an die besseren Bürger und jeden Hinweis auf den Verfall von Moral und Sitte in ein Album einzukleben, das am Stammtisch und bei Familienfeiern die Runde machte.

Die wachsende Akte hatte längst die Rolle der Fotos und Zeugnisse übernommen, mit denen Bekannten und Verwandten einst unermüdlich und ungefragt Claras geglückte Erziehung vor Augen geführt worden war. Mittlerweile diente das Dossier von Mutmaßungen und Verdächtigungen, Halbwahrheiten und polemischen Angriffen als Beleg für die Ohnmacht der Rechtschaffenen, die mit dem Krieg auch den Einfluss auf die eigenen Kinder verloren hatten.

Nun posierte diese irregeleitete Tochter auch noch als stummes Dienstmädchen zwischen den Meistern, während Pius einen Toast auf Kandinsky ausbrachte, der heute seinen 60. Geburtstag feierte. Clara verlagerte das Gewicht des Tabletts von der schmerzenden linken auf die rechte Hand und bahnte sich ihren Weg zurück zur Mensa. Dies sollte ihre letzte Runde gewesen sein, jetzt wollte sie Carl suchen und tanzen.

War es wirklich eine gute Idee gewesen, der Reichshauptstadt dieses Kaff vorzuziehen? In seiner Heimat, die man wegen der vielen Russen auf den Spitznamen »Charlottengrad« getauft hatte, konnte er an einem gewöhnlichen Nachmittag mehr interessante Menschen entdecken, als an diesem besonderen Abend in der Provinz versammelt waren. Zwar hatte er Ostwald unter den Gästen ausgemacht, diesen skurrilen Greis, der auf seinem Landsitz »Energie« im Sächsischen an der Verbesserung der Welt im Allgemeinen und dem Atlas ihrer Farben im Besonderen arbeitete. Reichskunstwart Redslob war am Nachmittag gemeinsam mit ausländischen Journalisten durch die Törtener Siedlung geführt worden. Aber sonst? Biedermänner mit Uhrenkette an der Westentasche und süß parfümierter Gattin zur Seite!

Wie sollten die begreifen, geschweige denn zu schätzen wissen, was hier in Tischlerei und Weberei, Bildhauerei und Metallwerkstatt versammelt war? Wer sich Elfenreigen über das schwere Eichenbett hängte, würde sich wohl kaum für Kandinskys Drucke oder Breuers Stahlrohrstühle erwärmen können – vom fröhlichen Krach der Kapelle und von Weiningers Clownerien ganz zu schweigen. Tatsächlich hatte sich die Strömung der Besucher inzwischen umgekehrt. Immer mehr Gäste verließen das Haus, manche kopfschüttelnd und einige sogar fluchend. Bald würden die Bauhäusler wieder unter sich sein. Dann konnte auch Carl endlich seinen Posten aufgeben und mitfeiern. Doch gerade als er sich dazu entschlossen hatte, wurde die Tür zur Winternacht noch einmal aufgezogen und ein seltsamer Heiliger trat ins Licht.

Als das Bild später unter dem roten Licht der Dunkelkammer seine Umrisse gewann, stieg in den Graustufen noch einmal die ganze Symbolkraft des Moments vor Clara auf. Links Carl mit seinem schwer zu bändigenden schwarzen Schopf, die kräftigen Arme vor dem Oberkörper verschränkt und die Beine zu festem Stand gespreizt. Und direkt vis-à-vis der kahlgeschorene Schädel von Lukas über dem exotischen Kostüm und dem offenen Mantel … ein ungleiches Paar, das sich am Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft begegnet zu sein schien. Sie hatte genau in jenem Moment die Treppe erreicht, als sie sich in die Augen blickten – und war froh gewesen, dass sie in ihrem Studio im Vorübergehen nach der Leica gegriffen hatte.

Das Klicken des Auslösers ließ die eingefrorene Szenerie bersten, beide Männer sahen zu ihr empor. Carl grinste schief. »Gut, dass du kommst! Ich habe gerade ein Fossil gefunden.«

Der Ankömmling versuchte ein freundlicheres Lächeln, das ihm aber gründlich misslang. »Fossil? Wenn es uns nicht gegeben hätte …«

Carl winkte ab. »… dann stünden wir heute nicht hier. Ich weiß – Sankt Johannes und seine Jünger!« Er spitzte die Lippen zum Erkennungspfiff der frühen Weimarer Jahre: »Itten Muche Mazdaznan!« Dann sah er den Besucher herausfordernd an.

Inzwischen war sie die Stufen herabgekommen, nun streckte sie dem Unbekannten ihre Rechte entgegen. »Clara Cohn!« »Lukas Hoffmann, angenehm!« Seine Hand war erstaunlich warm und trocken, die Berührung einen Wimpernschlag zu lang.

»Früher«, sagte Lukas entschuldigend, »hätte ich nach einer solchen Begrüßung geglaubt, schon viel über Sie zu wissen. Kalt und ein wenig feucht, blasser Teint … Aber das war einmal. Der Glaube ist weg, nur das Kleid ist noch da.«

Carl, der die seltsame Intimität gespürt zu haben schien, eroberte sich die Aufmerksamkeit energisch zurück. »Na, wenn das so ist – dann kann ich Dir ja auch die Hand geben. Carl Engels! Je später der Abend …« Er griff nach dem Koffer des Gastes und zog ihn nach oben ins Vestibül. »Aber jetzt wird getanzt!«

Hinter den Schwingtüren empfing sie der ungefilterte Lärm der Kapelle, die gerade ausprobierte, ob man den »Dessauer Marsch« auch bei doppeltem Tempo noch erkennen konnte. Aus der Aula kam ihnen der Direktor entgegen. »Hoffmann! Schön, dass sie endlich da sind! Und Anschluss haben sie auch schon gefunden, wie ich sehe.« Gropius lächelte Carl und Clara aufmunternd zu. »Na, dann könnt ihr dem Neuen ja gleich unser Haus zeigen. Und macht ordentlich Werbung, der Mann ist schwer zu begeistern.«

Das sollte heiter klingen, aber Lukas kannte Pius zu gut, um unter der Oberfläche nicht Erschöpfung und Enttäuschung zu erahnen. »Ärger, Herr Professor?«

Gropius schüttelte den Kopf. »Nichts, was wir nicht schon aus Weimar kennen würden. Selbst an einem Tag wie heute wollen alle nur über Geld reden. Der Bürgermeister ist uns wohlgesonnen, doch der Gemeinderat sitzt ihm im Nacken. Aber lassen wir das. Wir wollen uns den Abend nicht verderben.« Er nestelte eine Zigarette aus der Packung. »Und am Montag sehen wir uns in meinem Büro, Hoffmann. Sie müssen mir von Itten und von Herrliberg erzählen.«

Wenig später war die Besichtigung dann doch zugunsten des Festes verschoben worden. Nachdem Lukas sein Gepäck in der Weberei im ersten Obergeschoss verstaut hatte, waren sie in die Mensa zurückgekehrt. Hier gönnten die Musiker den Tänzern gerade eine Pause und lauschten andächtig Klee, der auf seiner Geige eine Partita von Bach spielte. »Das«, flüsterte Lukas in Carls Ohr, »war in Weimar immer das beste Mittel gegen dicke Luft. Wenn die Meister Streit hatten, wurde eine Soiree angesetzt und danach war alles wieder gut.«

Carl nickte. »Dann müsste Klee jetzt eigentlich hauptamtlich fiedeln. Die Nerven liegen hier praktisch ständig blank.« Clara warf ihm einen bösen Blick zu und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Welch eine Musik, welch ein Kontrast zwischen den alten Klängen und den neuen Mauern!

Da wuchs sie, die Kathedrale, inmitten der Säulen, die den Bühnenraum in ein Triptychon zerteilten. Klee hielt die Geige nur lose zwischen der Schulter und dem breiten Unterkiefer, der ihn in Verbindung mit seinem stechenden Blick fast bedrohlich wirken ließ. Im Vergleich zur immer leicht entrückten Eleganz seines russischen Freundes Kandinsky schien der Schweizer von erdenschwererer, bodenständigerer Natur. Und doch entsprangen diesem kantigen Bauernschädel hauchzarte Wunder, die aus den gleichen Sphären zu stammen schienen wie die Klänge von Bach. Klee war ein Märchenerzähler, ein Morgenlandfahrer, der mit seinen Zaubergärten und Traumstädten, seinen Schutzengeln und Zwitschermaschinen Claras Fantasie beflügelte.

Carl hatte für solche Sentimentalitäten natürlich nur Spott übrig, ihr aber waren Künstler mindestens ebenso wichtig wie Techniker – nicht zuletzt, weil sie über die Kraft verfügten, das Alte mit dem Neuen zu versöhnen. Nach dem Vorkurs wollte sie sich unbedingt für Klees Malklasse einschreiben, auch wenn ihre Werkstatt wohl die Weberei werden würde – der Hort der holden Weiblichkeit …

Jetzt schwieg die Musik und Clara nutzte die kurze Stille, die der Geiger regungslos auskostete, für einen Schnappschuss. Dann brandete Applaus auf, den Klee mit einer Verbeugung quittierte, die eher einem skeptischen Nicken als dem Triumph des selbstbewussten Künstlers glich. Und prompt trat wieder Weininger in die Manege, der in Schlemmers Clownskostüm wahrlich eine komische Figur abgab: Mit der Rechten hielt er einen unbespannten Regenschirm über seine Glaslocken, unter denen ein Brillengestell mit Glotzaugen und eine Ballonnase hervorschielten. Seine Brust glich einer Ziehharmonika, am linken Arm klingelte ein Xylofon, in der Hand hielt er ein Kindersaxofon, auf das trichterförmige Beinkleid war eine Militärtrommel montiert und an der Hüfte baumelte eine kleine Fiedel – ein wandelnder Musikautomat, der in spitzen Schnabelschuhen auslief. »Danke, Maestro! Das war Zaubageigä mit magische Musik«, schnarrte er mit ungarischem Akzent. »Abär jetzt wiedä Spaß – Kapälle bitte.«

Er lief hinter das präparierte Klavier, gab mit einer Trillerpfeife das Startsignal und schlug so heftig in die Tasten, als wolle er das ganze Instrument in Stücke hauen. Lux Feininger blies ungefähr Ähnliches auf seiner Klarinette, Jackson Jacobson schlug einen Wirbel – und langsam kristallisierte sich aus ohrenbetäubendem Lärm eine Melodie heraus, die Weininger mit schmachtendem Falsett aufnahm: »Ich hab’ das Fräulein Hälen baden sähn«, der Schlager der Saison.

Carl nahm Clara bei der Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Übermütig fasste er sie um ihre Taille und drehte sich mit ihr im Kreis. Clara warf lachend den Kopf zurück. Im Vorbeiwirbeln sah sie Nina Kandinsky, die ihren wie stets auf seine Würde bedachten Mann wie eine Arabeske umtanzte. Weiter hinten im Gestühl der Aula erspähte sie Junkers mit Bürgermeister Grote, die jedoch eilig den Rückzug in das Foyer antraten, als sich Josef und Anni Albers an der Spitze einer schnell wachsenden Polonaise durch dieses Labyrinth schlängelten. »So kann man Vorkurs natürlich auch verstehen«, schrie Carl in ihr Ohr. »Lokomotive Albers!«

Kalter Schweiß stand plötzlich auf Claras Stirn, die Musik und die bunten Lichter tanzten in ihrem Kopf, das eben noch wohlige Schwindelgefühl wurde ihr jetzt unangenehm. Nun erst erinnerte sie sich, dass sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte. »Lass mal«, rief sie nach hinten, befreite sich von Carls Händen und scherte aus der Schlange der Tänzer aus. Sie klappte einen der Sitze herunter, ließ sich fallen und atmete tief durch. Die Metalllehnen kühlten ihre nackten Unterarme angenehm, sie ließ ihren Kopf sinken und schloss die Augen.

»Geht’s wieder?« Lukas hatte ihr aus der Mensa eiskalte Limonade gebracht. Die Kolonne der Tänzer war, angeführt vom Klarinetten-Rattenfänger Lux, inzwischen in höhere Gefilde abgewandert und walzte nun wohl über die Brücke. Clara drückte das beschlagene Glas an ihre Stirn.

»Ja. Ich brauch’ nur ein bisschen frische Luft. Und was zu essen. Komm mit.« Sie zog Lukas zum Büfett, auf dem noch wenige Reste der ursprünglichen Pracht vor sich hin welkten. Die Schüsseln mit dem russischen Salat waren geleert, auch die Suppen aus den großen Waschtöpfen und die Platten mit den gefüllten Kaviareiern hatten längst ihre Abnehmer gefunden. Sie griff sich ein Tablett mit kleinen Sandwiches, die sie am frühen Morgen mit Hilfe von Metallförmchen zu Dreiecken, Kreisen und Quadraten ausgestochen hatten – die Elementarformen des Bauhauses, zusammengehalten von kleinen Holzspießen in den Grundfarben Blau, Gelb und Rot. Von der Bar angelte sie eine Flasche Apfelwein, die sie sich unter den Arm klemmte: »Kellnerlohn.« Dann zog sie Lukas die Treppe des Atelierhauses hinauf, holte eine Decke aus ihrem Zimmer und öffnete die Tür zur Dachterrasse. Die Flocken fielen nicht mehr, dafür blies ihnen nun der Wind mit läuternder Schärfe ins Gesicht. Weit unter sich hörte Clara Fetzen von Musik und Lachen, hier oben aber war es kalt und still. Sie wischte den Schnee von der Balustrade und breitete die Decke aus.

»Erzähl mir mehr. Von dir.« Ihre Füße baumelten über der Leere. Das Tablett und die Flasche standen zwischen ihnen.

»Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich komme aus Gelmeroda. Das ist ein Dorf bei Weimar. Und nach dem Krieg …« Lukas fühlte sich unsicher neben der Schönen, deren dunkle, weit geöffnete Pupillen im bleichweißen Gesicht leuchteten. Er zog an seiner Zigarette, mischte den Rauch im Mund mit Wein und hustete. »Nach dem Krieg war – wie alt warst du da?« Er konnte Claras Lächeln sehen, obwohl sich mit dem schmalen Mond nun auch die Sterne hinter Wolken versteckten.

»Zehn. Sexta im Lyzeum. Am Tag von Versailles mussten wir Trauer tragen.«

»Und ich war wieder auf der Suche«, sagte Lukas, »mit Zwanzig. Heimkehrer, Überlebender – wie wir alle. Wir hatten nichts als großen Hunger – und das hier.« Er griff in seine Tasche und zog ein schmales Bändchen hervor. Ohne es aufzuschlagen, sprach er die Verse: »Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister, / und bauen dich, du hohes Mittelschiff. / Und manchmal kommt ein ernster Hergereister, / geht wie ein Glanz durch uns’re hundert Geister / und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.« Lukas nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und sprach lauter: »Wir steigen in die wiegenden Gerüste, / in unser’n Händen hängt der Hammer schwer, / bis eine Stunde uns die Stirnen küsste, / die strahlend und als ob sie Alles wüsste / von dir kommt, wie der Wind vom Meer.«

Clara nickte in die Nacht. »Rilke. Den hört man hier jetzt nicht mehr so gern.«

»Ach nein?«, erwiderte Lukas, »aber damit hat doch alles angefangen!« Er brüllte jetzt gegen den Wind an, der ihm den Atem nehmen wollte: »›Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern / und durch die Berge geht es Stoß um Stoß. / Erst wenn es dunkelt, lassen wir dich los: / Und deine kommenden Konturen dämmern. / Gott, du bist groß.‹ Das hat Itten uns vorgelesen, wenn wir im Atelier den Isenheimer Altar nachzeichneten oder im Tempelherrenhaus dünnen Tee tranken. Klee und Kandinsky, Schlemmer und Schreyer waren gut, Itten aber war der Beste. Vor dem Krieg hatte ich in Vaters Tischlerei gelernt, dann war ich feldgrau – und nun durfte ich plötzlich bunt und besonders sein. Es hat lange gedauert, bis ich begriff, dass wir uns schon wieder die nächste Uniform übergestreift hatten.«

Clara biss in ihr Sandwich, kaute und spülte den faden Brei mit Wein hinunter. »Wieso Uniform? Ihr wart doch das Gegenteil – einfach einzigartig!«

Lukas lachte bitter. »Hast du dich heute mal umgesehen? Die Fräulein mit den Pagenköpfen und den kurzen Kleidern, die Burschen mit den weißen Hemden und breiten Hosenträgern? Alles fängt da wieder an, wo wir hätten aufhören sollen – nur unter anderen Vorzeichen.«

»Und warum bist du dann zurückgekommen?«

Lukas zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil es hier immer noch besser ist als woanders. Oder woanders immer noch schlechter als hier. Nein, im Ernst: Gunta Stölzl hat mich gefragt, ob ich mit ihr nach Dessau gehen würde. Schließlich sind wir damals auch gemeinsam mit Itten in die Schweiz gezogen. Und wenn Papst Pius höchstselbst einlädt in seine neue Kathedrale …« Wieder hob er das Buch: »Wir bauen an dir mit zitternden Händen, / und wir türmen Atom auf Atom. / Aber wer kann dich vollenden, / du Dom.«

Beide lauschten sie schweigend dem offenen Klang des letzten Wortes nach. Saßen sie wirklich auf dem Dach einer Kirche? Sollte hier tatsächlich ein neuer Glauben gestiftet werden? Lukas schluckte die Zweifel an seiner Entscheidung zusammen mit dem Wein herunter. »Und du? Was suchst du hier?«

Die junge Frau an seiner Seite brauchte lange für ihre Antwort. »Fragen. Ja, ich glaube, das ist es. Ich suche Fragen.«

Als Carl sie schließlich gefunden hatte, war er außer sich vor Wut. In allen Winkeln hatte er nach Clara Ausschau gehalten – in den dunklen Werkstätten, in deren Ecken Pärchen flüsternd von ihrer Zukunft träumten. In der Mensa, wo letzte Grüppchen zwischen leeren Gläsern zum Aufbruch rüsteten, während die Kapelle ihre Instrumente zusammenpackte. Auf den Fluren, wo seine schweren Schuhe die Stille mit gespenstischem Widerhall störten. Und auch in ihrem Zimmer, das wie immer unverschlossen war und leicht nach ihr duftete.

Erst weit nach Mitternacht war er schließlich auf die Idee gekommen, auf dem Dach nachzusehen. Da endlich entdeckte er sie, auf der Balustrade sitzend und halblaut in die Nacht sprechend. Und neben ihr ausgerechnet dieser Kohlrabi-Apostel! Carl verharrte schweigend in der Tür. »Seitdem ist es Essig mit meinen Eltern. Mutter steckt mir manchmal noch heimlich Geld zu, aber Vater weigert sich, auch nur mit mir zu sprechen. Und dabei hat er mir selbst die Kamera geschenkt, mit der das alles anfing.«

Carl räusperte sich. Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, wie die Schattenrisse herumfuhren. »Guten Abend! Störe ich?«

Clara hob die Beine über den Sims und kam auf ihn zu. »Carl? Verzeih, aber das Fest war zu viel für mich. Ich brauchte einfach ein bisschen Ruhe.«

Carl griff zum Lichtschalter, sie blinzelte in die Helligkeit. »Und Gesellschaft, nicht wahr? Du hättest mir wenigstens Bescheid geben können.« Zu allem Überfluss hatte ihr der Hungerkünstler auch noch seinen Mantel um die Schultern gelegt.

»Aber das war doch nur … Ihr wart so ausgelassen, da wollte ich nicht stören.«

Jetzt trat auch ihr Begleiter ins Licht. »Kein Grund zur Aufregung. Wir haben noch Brot und Wein genug. Setz dich einfach zu uns.«

Das wurde ja immer besser: Gerade erst angekommen und schon den Gastgeber spielen! »Nein danke!« Carl machte auf dem Absatz kehrt. »Ich will das Tête-à-tête nicht weiter stören. Und außerdem muss ich noch ein ganzes Stück durch die Nacht.« Er lief polternd die Treppen hinunter.

»Aber du wolltest doch bei mir …« Clara beugte sich über das Treppengeländer und sah ihm nach, dann blickte sie Lukas an. »Wo wirst du eigentlich schlafen?«

Sie hatte keinen Widerspruch geduldet, also hatten sie sein Gepäck aus der Werkstatt geholt und waren gemeinsam in ihr karg möbliertes Zimmer gegangen. Ohne jede Scheu hatte sie ihr schwarzes Kleid über die Schultern gezogen und sich gewaschen, während Lukas die kahlen Wände anstarrte, um seine Gedanken von ihrem halb nackten, schlanken Leib abzulenken.

Nun lag er auf einem dünnen Teppich, den Clara gewebt hatte, und hatte sich mit seinem Mantel zugedeckt. Er blickte zur Decke und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen schräg über seinem Kopf. So schnell fand man Freunde – und so leicht machte man sich Feinde!

Carl schien ebenso unberechenbar wie unbeherrscht zu sein. Dass er aus Berlin kam und das Architekturbüro seines Vaters übernehmen sollte, hatte ihm Clara erzählt. Und auch von der kommunistischen Zelle war die Rede gewesen. Die Roten! In Weimar hatten anfangs noch alle friedlich nebeneinander her gelebt, im Laufe der Zeit aber war die Stimmung zwischen den Fronten immer feindseliger geworden. Als er schließlich vor drei Jahren das Haus verlassen hatte, um Itten in die Tempel-Gemeinschaft am Goldufer des Zürichsees zu begleiten, waren einige seiner einstigen Kommilitonen schon mit Klappmessern in der Tasche herumgelaufen. Sogar Revolver sollten im Umlauf sein – und nachts tauchten an den Wänden des Bauhauses Parolen auf, die zum Umsturz in der Schule und im ganzen Land aufriefen.

Wie harmlos waren dagegen die Streiche in den ersten Jahren gewesen! Den Kranz am Goethe-Schiller-Denkmal hatten sie zu nachtschlafener Zeit in einen Farbkreis umgestrichen, ohne zu bedenken, dass sie damit automatisch den Verdacht auf das Bauhaus lenken würden. Und zum Drachenfest hatten sie ein Walmdach-Haus in den Himmel steigen lassen, aus dessen Fenster ein Porträt des alten Hasspredigers Schultze-Naumburg blickte – ein Skandal für die Herren der Kunstgewerbeschule, die sich von den Neuen ohnehin permanent verhöhnt und beleidigt fühlten. Lukas erhob sich und blickte aus dem Fenster in die schwarzweiße Leere. Er würde keinen Schlaf finden, also konnte er genauso gut nach einem offenen Lokal suchen. Leise schloss er die Tür, ging die Treppe hinab und stapfte durch die Kälte, die ihm den letzten Rest Müdigkeit aus seinen Knochen fror.

Carl spülte seinen Ärger in der Kneipe hinter den Gleisen mit Bier und Schnaps hinunter. Außer ihm saßen zu dieser frühen Stunde nur zwei Kohlenträger am Tresen, die vor der Schicht ihren Kater bekämpfen wollten. Die Stühle im Gastraum standen noch auf den Tischen, die vergilbte Lampe über dem Ausschank spendete tranig gelbes Licht. Wie hatte er sich nur so vergessen können? Natürlich konnte Clara tun, was immer sie dachte. Er starrte zu den beiden Trinkern hinüber, denen der Ruß jede Falte ihrer Gesichter gefärbt hatte. Kohlezeichnung, dachte er und unterdrückte nur mühsam ein Grinsen. »Noch mal dasselbe!« Der stiernackige Wirt zapfte wortlos ein Pils und goss Korn aus der Flasche nach, dann zog er seinen Bleistift hinter dem Ohr hervor und machte zwei Striche auf dem Pappdeckel.

In diesem Moment blickte der Ältere der Arbeiter aus glasigen Augen herüber. »He! Schmeißt du ne Runde? Ein Kurzer käme jetzt richtig gut.« Carl tat so, als hätte er die Frage überhört. »He, Tollhäusler, ich rede mit dir. Du bist doch einer von denen, oder?«

Nun stimmte auch der andere in den aggressiven Ton ein. »Lass mal gut sein, Bruno. Der redet nicht mit jedem. Ist ein feiner Herr.«

Bruno nahm einen großen Schluck, rülpste und ließ die Fingerknochen knacken. »Wenn er ein feiner Herr wäre, dann hätte er auch Manieren.«

Carl nickte über den Tresen. »Also gut. Zwei Kurze für die Herren!«

Der andere drückte den Rücken durch und erhob sich langsam. »Was hast du gesagt? Zwei Kurze, Kerl? Sehen wir wie Kurze aus?«

Der Wirt warf sich das durchgeweichte Handtuch, mit dem er bis eben vergeblich Gläser poliert hatte, über die Schulter und verschränkte die Arme. »Nee. Für dich ist hier Ausschankschluss. Wer Ärger macht, fliegt raus!«

Carl wollte etwas entgegnen, besann sich dann aber. Er stürzte den Schnaps hinunter und spülte das Bier hinterher. »Was macht das?«

Sein Gegenüber legte die Stirn in Falten, als würde er dahinter tatsächlich die Rechnung überschlagen. »Zweisechsundsiebzig!«

Carl knallte drei Markstücke auf den Tresen. »Stimmt so! Wiedersehen.« Sie griffen ihn sich, als er gerade aus der Tür getreten war. Während Bruno ihn von hinten festhielt, schlug ihm der andere seine Faust mitten ins Gesicht.

Schon zum zweiten Mal in dieser Nacht trafen sich ihre Blicke, diesmal allerdings hatte sich die Perspektive geändert. Lukas hielt Carls Kopf in seiner Armbeuge und tupfte ihm mit dem Taschentuch vorsichtig über Nase und Lippen. »Wer war das?«

Carl wandte sich ab und spuckte Blut in den Schnee. »Proleten. Kohlenkutscher. Die wissen es nicht besser.«

Lukas half ihm beim Aufstehen. »Aber warum?«

»Einfach so – weil ich Bauhäusler bin. Du solltest dich besser daran gewöhnen, dass wir nicht überall willkommen sind. Vor allem, wenn du weiter deine komische Montur tragen willst.« Stöhnend hob er seine Schiebermütze aus dem Schnee und betastete sein Gesicht. »Wenigstens nichts gebrochen. Ich hab’ genug für heute. Gute Nacht!«

Lukas hielt ihn auf. »Du kannst so nicht allein …«

Der Jüngere wollte unwirsch die Hand abschütteln, besann sich dann aber: »Also gut. Ist nicht weit. Und Cognac hab’ ich auch noch.«

Als Clara am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne tief und kalt über dem Horizont. Der Platz auf dem Teppich war leer. Lukas musste schon aufgestanden sein. Heute war der zweite Advent, ihre Eltern saßen gewiss in der Kirche, deren trutziger Turm vor den Fenstern ihrer Wohnung aufragte. Später würde es Stollen und Bohnenkaffee geben – nicht diese bittere Zichorienbrühe, die in der Mensa ausgeschenkt wurde.

An den langen Tischen dort herrschte dennoch schon reges Treiben. Da war Margarete, die wie Clara aus Dessau kam und auf einen Platz in Schlemmers Bühnenklasse hoffte. Max, der romantische Wandervogel, schmiedete Pläne mit Heinrich, dem sein Auftritt als Ganzkörper-Karo beim »Weißen Fest« unter dem Richtkranz des Neubaus einen legendären Ruf eingetragen hatte. Die Schweizer, die Ungarn und die Polen bildeten wie üblich eigene Grüppchen, nur Lukas war nirgendwo zu sehen.

Clara trank ihren Muckefuck aus – das Etikett »Lob« war wirklich reiner Hohn – und ging hinüber zu den Werkstätten. Hier musste dringend aufgeräumt werden, damit morgen der Unterricht weitergehen konnte. Sie rollte ihre Stoffmuster zusammen, die über dem Webstuhl ausgebreitet waren, und sammelte die Papiermodelle aus dem Vorkurs ein. Irgendwer hatte während des Festes eine ihrer Probearbeiten entwendet – einen Gobelin mit asymmetrischen Rechtecken und aufwärts weisenden Dreiecken in Ockertönen – und sie wusste nicht, ob sie Wut oder Stolz über diesen Diebstahl empfinden sollte.

Gerade hatte sie den Entwurf aus einer der flachen Schubladen des Grafikschranks geholt und wollte das Stück noch einmal beginnen, als Carl ihr die Hand auf die Schulter legte. Er sah entsetzlich aus, seine Nase und das rechte Auge waren blutunterlaufen, die Oberlippe geschwollen. Clara schrie auf.