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Nach dem Konkurs seines Arbeitgebers sucht der Buchhändler Thomas eine neue Aufgabe und reist zu seiner Schwester nach Dublin. Im Westen Irlands findet er nicht nur eine neue Stelle, sondern auch die Liebe seines Lebens – und entdeckt eine ganz besondere Begabung. Der junge Schweizer wird ungewollt Zeuge des Familiendramas auf einer bäuerlichen Hofstatt im Irland des 12. Jahrhunderts, erschüttert von der Invasion aus dem benachbarten England. Hin- und hergerissen zwischen seinem Alltag in Limerick und den Intrigen im Karstgebiet des Burren, muss er sich schliesslich entscheiden – für ein Leben im Hier und Jetzt mit seiner attraktiven Gefährtin oder einer längst vergangenen Zeit, auf deren Verlauf er keinen Einfluss hat.
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Seitenzahl: 1422
Veröffentlichungsjahr: 2023
Alexander F. Stahel
Glenglas
Eine irische Erzählung
Alexander F. Stahel
Glenglas
Eine irische Erzählung
© 2023 Alexander F. Stahel
ISBN Softcover: 978-3-347-89617-8
ISBN Hardcover: 978-3-347-89618-5
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH
An der Strusbek 10
D-22926 Ahrensburg
Titelbild:
Emily McCulla, IRL-Ballyvaughan, Co. Clare
Titelgestaltung:
Typowerkstatt GmbH, CH-8750 Glarus
www.typowerkstatt.ch
Das Werk, einschliesslich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung «Impressumservice»,
An der Strusbek 10, D-22926 Ahrensburg
Gewidmet meinen geliebten Eltern, meiner Familie sowie meinen Freunden in Irland und anderswo.
Dank
Einmal mehr bin ich meiner Familie, die mir die Auszeit zum Verfassen dieser Erzählung ermöglicht hat, von Herzen dankbar.
Mein Dank gilt der Grünen Insel und vor allem der Grafschaft Clare in ihrem Westen sowie dem Karrengebiet des Burren, dessen Landschaft und freundliche Bewohner mich immer wieder inspirieren und die Grundlage für die Geschehnisse in diesem Buch bilden.
Und nicht zuletzt danke ich Ihnen, die Sie sich die Zeit nehmen, das von mir zu Papier Gebrachte zu lesen, und die mich ermutigen, immer wieder neue Geschichten in Angriff zu nehmen.
Alexander F. Stahel Flaggy Shore / Braunwald 2023
Geschichte und Geografie
Das Vorliegende ist ein Roman und somit eine von mir frei erdachte Erzählung. Die Gegend aber, wo sich grosse Teile der Geschehnisse zutragen, findet sich noch heute so, wie ich sie beschreibe, und ich habe einige, wenn auch nicht alle der tatsächlichen Ortsnamen unverändert übernommen. Wer den Westen Irlands bereist, wird sowohl den weitläufigen Strand von Lahinch finden als auch die Abtei der Maria der fruchtbaren Steine oder das grüne Hochtal, in welchem das fiktive Glenglas angesiedelt ist.
Auch historisch spielt die Geschichte vor dem Hintergrund tatsächlicher Ereignisse, wenn ich mir auch zahlreiche dichterische Freiheiten zu deren Ausschmückung erlaubt habe. Während es erwiesen ist, dass Diarmuid MacMurrogh im Bestreben, seinen Thron wiederzuerlangen, das Unglück der englischen Knechtschaft über Irland brachte, liegen keine Beweise vor, die belegen, dass zu jener Zeit auch die Stämme des Westens den Eindringling bekämpften. Und, auf einer historisch weniger bedeutenden Ebene: Dass die Bewohner Irlands ihre Ponys vor der Ankunft der Engländer ohne Halfter, Trense oder Sattel ritten, gilt als gesichert. Ob sie aber ihre Behausungen schon damals mit Torf heizten, ist bei Historikern umstritten. Doch wer immer den süssen Geruch eines Torffeuers eingeatmet hat, wird mir nachsehen, dass ich mich dafür entschieden habe, in Áines Hütte ein solches zu entfachen.
Irische Namen
Irische Namen haben nicht selten ihren Ursprung im Gälischen, der Sprache, die auch heute noch in einigen Gegenden der Insel (an Gaeltacht) gesprochen wird. Auch wenn viele inzwischen anglisiert worden sind, stellt ihre Aussprache nicht nur für Englischsprachige eine Herausforderung dar – zumal diese von Provinz zu Provinz variiert.
Ich versuche deshalb im Folgenden, eine Idee zu vermitteln, wie sich einige der im Buch verwendeten Namen anhören.
Aobh (Schönheit)
Iif oder Uuf
Aodh (Feuer)
Eyih
Áine (Glanz, Schönheit)
Oonia
Aisling (Traum, Erscheinung)
Äschling
Athair (Vater)
Aher
Caomhóg (Geliebte)
Kyovog
Deoch (Getränk)
Doch
Diarmuid (Der ohne Feinde)
Dirmed
Eimear (schnell, rasch)
Iimer
Fiachra (Rabe, König der Jäger)
Fiekra
Fionnula (Die Blonde)
Finnula
Gráinne (Liebe)
Gronia
Maebh (Die Belebende)
Meivi
Níall (mutmasslich Der Sieger)
Niil
Niamh (hell, strahlend)
Niif
Róisin (Kleine Rose)
Rouschiin
Séamus (Verdränger)
Schemas
Sinéad (Gottes Gnade)
Schine-id
Siobhán (Gott ist gnädig)
Schivoon
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Prolog
Insel der Säufer
Westwärts
Gespenstergeschichten
Der Burren
Glenglas
Áine
Grosse und kleine Kinder
Gäste
Der Ruf des Königs
Kinder und Kälber
Inisheer
Die Kinder von Lir
Mor
Eine Nachricht aus dem Krieg
Besuch
Die Abtei
Nachbarn
Aengus
Róisin
Freunde
Familie
Der Antrag
Eine Hochzeit
Weihnachten im Schnee
Gespräche
Alltag
Ausflug mit Begleitung
Zu zweit
Pläne
Verwandte im Geist
Josephs Reisen
Hochzeitsglocken
Der neue Alltag
Die Rückkehr
Neuigkeiten
Ängste und Hoffnungen
Elisabeth
Ein Spaziergang zu zweit
Nachwuchs
Kriegsrat
Trennung
Flaggy Shore
Unerwartete Abwesenheit
Zukunftspläne
Verschollen
Die Hinterlassenschaft
Andrew
Familienausflug
Epilog
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
Prolog
Epilog
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Prolog
Der Reiter zügelte sein Pferd und liess die kleine Kolonne schwer beladener Tiere mit ihren Begleitern an ihnen vorbeiziehen. Seine Augen folgten dem Blick des Jungen auf seinem viel zu grossen Reittier.
«Weshalb sind die Berge weiss?», fragte der von einem weiten, warmen Wollmantel vor der kalten Morgenluft geschützte Junge seinen Vater.
«Das ist Schnee», antwortete der Mann. «Er liegt im Winter meterhoch und macht es monatelang unmöglich, die Pässe zu queren und nach Helvetien zu gelangen oder in die nördlichen Länder der Franken und Allemannen.»
«Und wir wollen es trotzdem versuchen?» Der Junge blickte zweifelnd zu seinem Vater hoch. «Ist er gefährlich, dieser Schnee?»
Der Reiter lächelte. «Es ist gefrorenes Wasser. Nicht mehr und nicht weniger bedrohlich als das Wasser des Meeres, in dem du schwimmst, wenn das Wetter es zulässt.» Er führte seinen Schimmel zum Pferd seines Sohnes und zauste liebevoll den dunklen Haarschopf. «Keine Angst, die Männer Gottes, die wir in der Herberge angetroffen haben, versicherten mir, dass das Gebirge passierbar sei. Nur an der höchsten Stelle des Überganges hätten sie sich erst einen Weg bahnen müssen und es werden wohl noch zwei Tage vergehen, bis wir oben sind. Die Sonne steht auf unserer Seite und wird dafür sorgen, dass der Pfad frei ist bis dahin.»
«Ich wäre lieber in Rom geblieben», schmollte der Junge und rückte sich im Sattel zurecht. «Was wollen wir denn bei den Barbaren im Norden?»
Der Mann sah ihn tadelnd an. «Du vergisst, dass der Norden auch unsere Heimat ist. Auch wenn du ihn nie gesehen hast und ich mich kaum mehr erinnere an die rauen Länder meiner Jugend.» Er zupfte am Ohr seines Sohnes. «Und du sollst dich nicht herablassend äussern über Menschen, die du nicht kennst. Mögen die Städte des Nordens auch nicht dieselbe Pracht aufweisen wie Rom, so wurden sie doch von den Kindern Gottes erbaut und werden von unseren Brüdern bewohnt. Du wirst schnell neue Freunde finden in unserer neuen Heimat und die Zeit deiner Kindheit in der Heiligen Stadt wird bald nichts mehr weiter sein als eine ferne Erinnerung.»
Der Junge drängte den grossen Braunen mit einem bestimmten Schenkeldruck vorwärts, vorbei an seinem Vater. «Ich will aber keine neuen Freunde. Und sobald du deine Geschäfte abgeschlossen hast und der Bischof uns zurückruft, können wir wieder nach Hause.»
Die raumgreifenden Schritte des Schimmels brachten seinen Vater in wenigen Augenblicken neben das Tier des Jungen und schweigend folgten sie der kleinen Karawane, die vor ihnen hinter einer Wegbiegung verschwunden war. Vor acht Tagen erst hatten sie Rom verlassen und doch schienen ihm der Gestank und der Lärm der Stadt unendlich fern in diesem steilen, grünen Tal, an dessen Flanken sich nur selten eine aus den Steinen der Berge zusammengefügte Behausung zeigte. Er verstand den Unwillen seines Sohnes; nachdem ihn seine geliebte Gattin vor weniger als sechs Monaten verlassen hatte, um ins ewige Himmelreich einzugehen, war er das einzige, was ihm von ihr blieb, und es erschien grausam, ihm nach dem Verlust seiner Mutter auch noch die Welt zu entreissen, in der er aufgewachsen war. Auch er war nicht begeistert gewesen, als ihn der Bischof damit beauftragt hatte, die Klostergemeinschaft jenseits der Alpen mit seinem Besuch zu beehren und dafür zu sorgen, dass die Bande, die sie an Rom fesselten, sich mit dem Tode des Kaisers nicht unversehens lockern würden. Doch war er sich der Ehre bewusst, die dies für ihn als einfachen weltlichen Beamten bedeutete, und des Vertrauens, das der Bischof damit zeigte. Und in seinem Innersten war er froh, den Ort, der so viele Erinnerungen an seine Frau barg, hinter sich lassen zu können und die Gelegenheit zu erhalten, an einem ihm gänzlich fremden Ort ein neues Leben zu beginnen.
Es war dies nicht der erste Neubeginn in seinem Leben, doch vermochte er sich die Zeit kaum mehr in Erinnerung zu rufen, als er die Heilige Stadt zum erstenmal betrat, nach einer endlos scheinenden Reise über die raue See und durch die von Wegelagerern und Kreuzfahrern durchseuchten Strassen des Frankenreichs. Nach ihrer Ankunft vertrauten ihn seine Begleiter der Obhut einer reichen römischen Adelsfamilie an, die für seine Schulung und die Einführung in die Gesellschaft sorgte und deren einzige Tochter seine Geliebte und schliesslich seine Ehefrau wurde. Seine Zieheltern nannten ihn, nach der Insel, die sein Geburtsort war, Hibernicus; er konnte sich seines eigentlichen Namens nicht erinnern und trug den neuen mit Stolz.
Im Laufe der Jahre stieg er dank seiner Sprachkenntnisse – er beherrschte die Zunge der Thraker ebenso wie jene der Hellenen und die in Persien und Arabien gesprochenen Idiome waren ihm nicht weniger vertraut als die rauen Dialekte der Alemannen und Franken –, seiner Fähigkeit, die Interessen unterschiedlichster Seiten vereinbaren zu können und nicht zuletzt dank den Verbindungen seines Stiefvaters sowohl in weltlichen als auch in kirchlichen Kreisen weit über die Stellung hinaus, die sein Stand ihm versicherte. Als Romana ihm nach einem guten Jahr gesegneten Ehelebens einen Sohn gebar, schien ihr Glück vollkommen, und der Junge erfüllte jede seiner Hoffnungen.
Der Tod seiner Ziehschwester und Geliebten, herbeigeführt durch einen unglücklichen Unfall in den Stallungen ihres Vaters, liess seine Welt zusammenbrechen. Er kam seinen Pflichten nach, wie es sich für einen Mann seiner Stellung gehörte, doch fand er weder in seiner Arbeit noch bei seinen Freunden die Erfüllung, die ihm das Leben mit seiner Frau geboten hatte, und sein Sohn wurde zum einzigen Lichtblick in einer zunehmend dunkler werdenden Welt. So ergriff er die Gelegenheit, die ihm der Bischof mit seinem Auftrag bot, die Verbindungen mit dem Kloster des Heiligen Gallus im Norden des Reiches zu prüfen und zu festigen, mit beiden Händen, in der Hoffnung, die Distanz von der Stadt, in der er mit seiner Gemahlin die glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht hatte, und eine neue Aufgabe vermöchten seinen Schmerz zu verdrängen und seinem Leben einen neuen Sinn zu verleihen.
Er hatte sich in den vergangenen Wochen öfter die Frage gestellt, ob seine Entscheidung richtig gewesen sei, ob er das Recht hatte, seinen Sohn aus der gewohnten Umgebung herauszureissen und in eine ungewisse Zukunft zu geleiten. Die dem Zorn des Kaisers zum Opfer gefallenen zerstörten Städte nördlich von Rom, Banden von Gesetzlosen, die ihnen auf den Strassen begegneten, nur ungenügend im Zaum gehalten von einer noch nicht wieder intakten Rechtsstaatlichkeit, schienen kaum das Umfeld, das einem Heranwachsenden gedeihlich war. Dennoch hatte sich der Junge tapfer gehalten und ein gelegentliches Aufbegehren, so sehr es seinen Vater tief im eigenen Herzen traf, erlöschte meist mit der nächsten spannenden Entdeckung am Wegesrand.
Hibernicus richtete seinen Blick auf die schneebedeckten Gipfel, die sie von ihrem Ziel trennten. In weniger als einer Woche würden sie das Kloster erreicht haben, so ihnen das Wetter wohlgesinnt blieb. «Die Ländereien jenseits der Alpen werden dir gefallen. Die Sommer sollen mild sein und fruchtbar, die Männer willensstark und fleissig und die Mädchen reizvoll und weich.» Sein Sohn schürzte seine Lippen skeptisch, setzte zu einer Antwort an, entschied sich aber eines Besseren und folgte dem Schimmel des Vaters in schnellem Trab, der seinen Mantel wie eine braune Flagge hinter ihm herwehen liess.
Insel der Säufer
Sein Blick folgte der Gruppe junger Männer, während sie ihre Reisetaschen vom Rollband hievten und durch den weiten Korridor dem Ausgang entgegen torkelten. Der Gestank nach Bier durchzog die an Kerosindämpfen reiche Luft in der Gepäckhalle; er hob prüfend den Ärmel seiner ladenneuen Regenjacke an die Nase, nur um sicherzugehen, dass sich nicht der Inhalt einer der Budweiserdosen seiner Sitznachbarn über ihn ergossen hatte im Gedränge der das Flugzeug verlassenden Passagiere. Seine Schwester hatte ihn gewarnt: dies ist das Land der Säufer und Nichtstuer. Aber dass er sich schon in der Enge des Airbus A320, noch auf dem heimischen Asphaltband des Zürcher Flughafens, inmitten einer angetrunken grölenden Fussballmannschaft wiederfinden würde, damit hatte er trotz aller düsteren Vorahnungen nicht gerechnet.
Der gut zwei Stunden dauernde Flug hatte seine schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit werden lassen; weder das Dröhnen der Düsentriebwerke noch die aufs Maximum des Erträglichen aufgedrehte Musik aus seinen Ohrstöpseln vermochten den fröhlichen Gesang und die lauten Zurufe von Sitzreihe zu Sitzreihe zu übertönen. Wobei er widerwillig zugeben musste, dass die Sänger ungeachtet ihrer Alkoholseligkeit nicht nur ein beachtliches Rhythmusgefühl zeigten, sondern auch die Töne in einer Weise trafen, wie er dies selbst in nüchternem Zustand nicht fertiggebracht hätte.
Dass er schliesslich sein kaum verdautes Frühstück in der Papiertüte, die er gerade noch rechtzeitig in der Rückenlehne des Vordersitzes gefunden hatte, deponieren musste, trug wenig dazu bei, seine Stimmung aufzuhellen. Ein kleines Luftloch nur, hatte der Pilot gutgelaunt in einem schwer verständlichen Akzent durch die Lautsprecheranlage verkündet, als der Airbus plötzlich und ungebremst gefühlte zweitausend Meter der Erde entgegenstürzte.
Und das mitten im Sommer.
In leuchtend gelbe Jacken gehüllte Gestalten huschten über das regennasse Flugfeld, während unerbittliche Sturmböen gegen die wandhohen Fenster peitschten und der Himmel über den düster grauen Pisten sich hinter dicken schwarzen Wolken verbarg – es sah aus, als wäre die Nacht bereits über die irische Hauptstadt hereingebrochen. Dabei war es noch nicht einmal halb drei Uhr an diesem Nachmittag Anfang Juni.
Endlich spuckte die Lücke in der Wand seinen Koffer auf das Förderband; gerade eine Handvoll Mitreisender wartete noch mit ihm auf ihre Habseligkeiten. Woran es wohl lag, dass sein Gepäck immer als letztes ausgeliefert wurde? Er zerrte den grossen blauen Samsonite seiner Mutter vom unbeirrt weiterlaufenden Band und rollte ihn durch die grün gekennzeichnete Zone dem Ausgang entgegen, vorbei an zwei jungen uniformierten Frauen, die in eine angeregte Diskussion mit einem Mann mit langem, grauem Pferdeschwanz vertieft waren. Thomas sah aus den Augenwinkeln, wie eine der Frauen eine grüne Flasche in die geöffnete Tasche des Mannes zurücklegte, wobei sie liebevoll mit einer Hand darüberstrich.
Vom betrunkenen Fussballteam war keine Spur mehr zu sehen, doch seine Schwester war so gut wie ihr Wort. Wenigstens hielt sie keine Schweizerfahne oder irgendwelche peinlichen Willkommensgrüsse in ihren eleganten Händen, mit denen sie ihn gebieterisch zu sich winkte. «Hallo, ich nehme an, du hattest einen angenehmen Flug», begrüsste sie ihn. Was auch immer sie zu diesem unsinnigen Schluss verleitete.
«Schön, dich wiederzusehen.» Der Händedruck ihres Mannes fühlte sich an, als würde einem ein Büschel Seetang über die Handfläche gezogen. «Dich auch», erwiderte Thomas wenig enthusiastisch, während er seinen Schwager einer unauffälligen Prüfung unterzog. Sein Haar schien noch schmutziger als bei ihrer letzten Begegnung und den wohl einst hellbeigen Regenmantel hatte auch keiner gebügelt seither, er musste die vergangenen drei Jahre darin geschlafen haben. Und obwohl für einmal keine Zigarette zwischen den nikotingelben Zähnen steckte, begleitete eine Mischung aus kaltem Rauch und Cognac-Dämpfen seine nicht unfreundlichen Worte. Liebe schien nicht nur blind, sondern auch geruchsunempfindlich zu machen – etwas, das ihm, der seine Umwelt zu einem grossen Teil durch die Nase zu beurteilen gewohnt war, in grösstem Masse unverständlich war. Doch das ist nun wirklich nicht mein Bier, wie er es in Erinnerung an seine Reisegefährten in Gedanken formulierte; seine Schwester jedenfalls schien glücklich zu sein mit ihrem Büschel Seetang.
Sie fuhr, wofür er eingedenk der Cognac-Fahne seines Schwagers dankbar war. Elisabeth war nie eine besonders sichere Fahrerin gewesen und daran hatte auch der Linksverkehr nichts zu ändern vermocht. Dennoch fand sie sich gut zurecht auf den mehrspurigen Kreiseln und der vielbefahrenen Autobahn, die sie vom Flughafen weg und über die Stadtumfahrung gegen Norden führte. Kein Wunder, schliesslich lebte sie seit bald zehn Jahren hier, in diesem Städtchen im Südosten der Grafschaft Meath, keine zwanzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Vor einem Jahr waren sie von ihrem Appartement an der Hauptstrasse in das kleine Reihenhaus gezogen, das ihnen die Eltern ihres Mannes hinterlassen hatten; mit seinen vier Räumen – Wohnzimmer und Küche im Erdgeschoss und den zwei Schlafzimmern und einem winzigen Bad unter dem Dach – war es zu klein, um noch einen Gast aufzunehmen; sie hatten Thomas darum in einem der Hotels des Ortes einquartiert.
Er betrachtete seine Schwester, die ungeachtet des schnell fliessenden Verkehrs die rechte Fahrspur mit konstanten siebzig Stundenkilometern blockierte. Mit ihren graublauen, leicht schräg gestellten Augen, der hohen, von nur wenigen Falten durchzogenen Stirn unter dem streng zurückgekämmten dunkelblonden Haar und zwar dünnen, aber klar gezeichneten Lippen über den schneeweissen Zähnen war sie noch immer eine schöne Frau, nicht nur im Vergleich zu ihrem vom Alkohol- und Nikotinmissbrauch gezeichneten Ehegatten.
Sie hatte Harry in der Bar in Limerick kennengelernt, wo sie nach ihrer Ausbildung einen Job gefunden hatte, um ihre Englischkenntnisse aufzupolieren. Er war geschäftlich im Westen und begoss mit drei seiner Bankerkollegen die Aussicht auf einen gelungenen Abschluss. Während die Geschäftsfreunde ihr Guinness aus Halblitergläsern genossen, hielt er mühelos mit Hennessy V.S.O.P. Schritt; nach irischem Brauch bestellte jeder eine neue Runde, sobald sich der Inhalt des eigenen Glases dem Boden zu nähern drohte. Sie war Anfang zwanzig und selbstbewusst und die Aufmerksamkeit des um vielleicht zehn Jahre älteren Mannes in seinem leicht zerknitterten Anzug schmeichelte ihr. Er verfolgte das Gespräch seiner Begleiter mit nur einem halben Ohr, während er die junge Barmaid über ihr Heimatland, ihre Pläne, ihre Familie befragte und ihr bereitwillig von seinem Job in der Investmentabteilung einer grossen englischen Bank in der Hauptstadt und seinen Reisen auf den Kontinent erzählte. Nach der Sperrstunde wartete er vor dem Hintereingang auf sie und sie testeten die Kompatibilität ihrer Körper in Flannery’s in Catherine Street und ausführlicher in seiner Suite im Royal George. Drei Wochen später packte sie ihre wenigen Habseligkeiten, verliess die düstere Absteige in der vierten Etage über dem Pub und bestieg den Zug Richtung Dublin, wo er sie mit seinem dunkelblauen Ford Focus am Bahnhof von Heuston erwartete. Ihr neues Zuhause überblickte die Hauptstrasse Ashbournes und der Bus brachte sie in einer guten halben Stunde bis vor die Schwelle ihres Arbeitsortes, einem kleinen Buchhaltungsbüro im Norden der Hauptstadt.
Seither war ein gutes Jahrzehnt vergangen. Weder Thomas noch ihre Eltern waren zur Hochzeit eingeladen gewesen; eine nüchterne Karte informierte die Familie, dass Mrs. und Mr. Elisabeth und Harold Heathcliffe Winter im September dieses Jahres mit einer kleinen, privaten Feier in der anglikanischen Kirche von Dunboyne den Bund der Ehe geschlossen hätten.
Elisabeth nahm sich jedes Jahr zwei Wochen Zeit für einen Besuch ihrer alten Heimat, Harry hatte sie dreimal auf ihrer Reise begleitet und war von ihren Eltern liebevoll willkommen geheissen worden. Nur Thomas konnte sich nicht so recht erwärmen für den hageren Mann seiner grossen Schwester und dessen zynische Art. Harrys liberaler Umgang mit den Cognac-Vorräten seines Schwiegervaters half wenig dabei, das Vertrauen des den Vorzügen von Alkohol gegenüber skeptischen jüngeren Bruders zu gewinnen.
Elisabeth war es gelungen, die Grundkenntnisse ihrer Buchhalterlehre mit langen Stunden des Studiums und verschiedenen Abendkursen so zu erweitern, dass sie mittlerweile über ein eigenes modernes Büro am Stadtrand verfügte, wo sie vor allem den Geschäftspartnern und Freunden ihres Mannes dabei half, ihre Vermögen, so weit das Gesetz es gestattete – und zuweilen auch ein wenig weiter –, dem Zugriff des irischen Staates zu entziehen. Harry hatte sich nach dem zweiten grossen Banken-Crash vor einigen Jahren selbstständig gemacht und betrieb, soweit Thomas das beurteilen konnte, mit gutem Erfolg eine Beratungsfirma für alle, die willig waren, ihr Geld an der Börse zu riskieren. Ein guter Teil seiner Kunden kannte ihn von seiner vormaligen Stelle bei der Central Bank of Southeastern England, viele entstammten wie seine Eltern einer sich ihrer Herkunft nur allzu bewussten Schicht von Engländern, deren Vorfahren irgendwann in den vergangenen Jahrhunderten in Irland eine Anstellung gefunden hatten. Ihr tiefes Misstrauen und die Verachtung, die sie allem Irischen entgegenbrachten, hatten nicht nur Harry, sondern auch seine Frau geprägt, so dass diese ihre Bemühungen, die Gelder ihrer Kunden dem gierigen Griff der Republik zu entziehen, beinahe schon als patriotische Pflicht erachtete. Als Harrys Eltern vor zwei Jahren im Abstand vor nur wenigen Wochen das verhasste Irland gegen die heiligen Hallen aller gottesfürchtigen Anglikaner tauschten, hinterliessen sie ihrem einzigen Sohn neben dem kleinen Reihenhaus und einer unbedeutenden Geldsumme die unumstössliche Gewissheit, einer besseren Klasse anzugehören als die grosse Masse seiner einstigen Schul- und Arbeitskameraden oder gar seiner Nachbarn, die in der jüngeren Vergangenheit zu allem Elend noch zahlreichen Zuzug aus Ländern wie Litauen und Polen erfahren hatte.
Elisabeth schrammte den silbernen Mercedes vor einem langgezogenen dreigeschossigen Ziegelbau mitleidlos gegen den Randstein und schob den Automatikwählhebel in die Parkstellung. Der Schriftzug Ashbourne Court Hotel zeigte Thomas, dass sein Ziel erreicht war, noch bevor Harry seine magere Gestalt aus dem Rücksitz gefaltet und ihm die Beifahrertüre geöffnet hatte. Elisabeth winkte ihm beiläufig zu, während sie in rascher Abfolge eine Reihe Zahlen in ihr iPhone tippte. «Wir haben hier ein Zimmer für dich gebucht, du weisst ja, das Haus…» Harry liess den Satz in der regennassen Luft hängen und hievte den Samsonite aus dem Kofferraum. «Da hast du ja einiges vor, alter Junge», schnaubte er, während er die Türe für Thomas offen hielt. «Hast den ganzen Zollfreiladen leergekauft, was?» Er zwinkerte seinem Schwager zu, bevor er sich an die elegant gekleidete junge Frau hinter der Theke wandte. «Hallo, Teresa, ich hab dir da jemanden mitgebracht. Sieh zu, dass er auch bezahlt, was er trinkt, ich komm nur für das Zimmer auf!»
Dieses erwies sich als hell und geräumig, mit zwei Fenstern, die einen grosszügigen Blick auf das Einkaufszentrum einer deutschen Detailhandelskette auf der gegenüberliegenden Strassenseite erlaubten. Eine hochstehende Sonne – hatte es nicht gerade noch wie aus Kübeln gegossen? – beleuchtete das grosse, erhöhte Französische Bett und die bequeme, mit dunkelrotem Samt bezogene Polstergruppe unter einem grossen LCD-Bildschirm. Messingfarbene Leselampen mit grünem Glasschirm schmückten die zwei Nachttische und das Pult, vor dem ein mit demselben roten Samt bezogener Stuhl wartete. Thomas schälte sich aus seinen Kleidern und suchte vergeblich an der Innenwand des fensterlosen Badezimmers nach dem Lichtschalter. Er hatte sich schon auf eine Dusche im Lichtkegel seines Telefons eingestellt, als er ihn vor der Badezimmertüre schliesslich fand. Ihm blieb reichlich Zeit, sich den Reiseschmutz vom Leib zu waschen und seine Unterkunft oder gar das Städtchen zu erkunden, bevor seine Schwester ihn zum Abendessen erwartete. «Wie weit ist es denn?», hatte er seinen Schwager gefragt. «Fünfhundert Meter vielleicht, einen Kilometer höchstens, hab’s nie gemessen. Aber wir holen dich ab, kein Problem.» – «Kommt nicht in Frage. Wenn du mir eine kleine Skizze machst, finde ich das, ich freu mich auf einen Spaziergang. Ich glaube, der Regen lässt schon ein wenig nach.» – «Wie du meinst.» Harry hatte mit den Schultern gezuckt, eine Schachtel mit Zigarettenpapier aus seiner Brusttasche gefischt und mit einem teuer aussehenden Kugelschreiber einige Linien auf einem der Blätter gezogen, bevor er es Thomas überreichte. «Deerpark 151, wenn du dich verfranst, fragst du einfach jemanden. Oder du rufst mich an. Ich geh dann noch schnell nach unten, deine Schwester telefoniert noch immer.» Thomas musste sich nicht gross anstrengen, um zu erraten, was Harry unten suchte. Wenigstens braucht sich Elisabeth keine Sorgen wegen einer allfälligen attraktiven Barmaid zu machen, solange sie nur genügend Brandy hinter dem Tresen hat, dachte er, während er mit beiden Händen das diskret nach Lavendel riechende Hotelshampoo in sein Haar massierte, um es kurz darauf unter dem dünnen Wasserstrahl wieder auszuspülen.
Als er kurze Zeit später in einem sauberen T-Shirt unter der Regenjacke die um diese Zeit weitgehend menschenleere Bar betrat, empfand er zum ersten Mal, seit er in Zürich das Flugzeug bestiegen hatte, eine Art verhaltener Vorfreude auf die bevorstehenden Wochen. Er liess seinen Blick über die drei grossen Bildschirme schweifen, die tonlos drei verschiedene Programme zeigten: ein Fussballturnier zwischen zwei englischen Teams, die neuesten Nachrichten aus einem modernen, scheinbar über den Dächern der Stadt liegenden Studio und ein ihm auch beim zweiten Hinsehen unverständliches Ballspiel mit einem Körpereinsatz, der jeden Rugbymatch liebevoll erscheinen liess.
Er hatte nicht vor, seiner Schwester länger als eine Woche zur Last zu fallen. «Ich habe wirklich keine Verwendung für ihn», hatte sie ihrer Mutter geklagt, «und du weisst ganz genau, dass unser Haus viel zu klein ist, um irgendwelche Gäste aufzunehmen. Von mir aus kann er zwei Wochen bleiben, dann brauch ich wenigstens in der Zeit nicht auch noch selbst zu kochen. Aber schlafen wird er im Hotel!» Die Diskussion war nicht für seine Ohren bestimmt gewesen, er war schliesslich selbst nicht gerade begeistert über den Vorschlag seiner Eltern, für einige Wochen nach Irland zu fahren, und schon gar nicht zu seiner erfolgreichen Schwester, die ihm den Konkurs seines Arbeitgebers mit Sicherheit persönlich anlasten würde. Aber seine Mutter hatte wohl recht, eine Auszeit würde ihm kaum schaden nach der Achterbahnfahrt der vergangenen Monate. Und weshalb nicht Irland? Amerika reizte ihn wenig unter diesem Präsidenten, den die eine Hälfte der Welt für einen schlechten Scherz und die andere für das erste Anzeichen des Endes unserer Zeit hielt, und Australien war doch arg weit weg von zu Hause… Er war ein Heimwehkind, immer gewesen, hatte es nie länger als zwei Wochen ausgehalten ohne die heimatliche Kleinstadt. Nicht, dass er da über einen speziell engen Freundeskreis verfügt hätte – wenn er ehrlich sein wollte, gehörten die meisten Menschen, die ihm in irgendeiner Weise nahestanden, dem anderen Geschlecht an. Aber er fühlte sich einfach zu Hause in der Übersichtlichkeit des im schützenden Schatten eines imposanten Bergkegels gelegenen Städtchens, im alten Holzhaus, wo er aufgewachsen war, in der Gesellschaft seiner Eltern, die er nie ein böses Wort hatte wechseln hören.
Er bestellte ein zweites Tonic Water und der Junge hinter der Bar füllte sein Glas ungefragt mit Eis und dekorierte es mit einer Zitronenscheibe. Die Ärmel seines makellosen schwarzen Hemdes waren hochgekrempelt und auf seiner Stirn glänzten kleine Schweissperlen, während Thomas trotz der Regenjacke fröstelte. Ich wäre gescheiter nach Italien gefahren, dachte er, da ist es wenigstens Sommer im Juni. Doch in Italien hatte er keine Schwester und schliesslich hatte er nicht vor, seine Tage am Strand zu verbringen. Gar nicht zu reden davon, dass seine Italienischkenntnisse nicht weit über Cappuccino und Gelato hinausreichten. Was man eben so braucht als Tourist. Aber ob es ihm hier gelingen würde, seiner plötzlich aus den Fugen geratenen Welt wieder eine sinnvolle Ausrichtung zu geben… Wohl kaum, solange ihm dabei Elisabeth über die Schulter schaute.
Er leerte sein Glas und legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tresen. Als ob ich erwartet hätte, dass ihr für mich aufkommt, dachte er, die Worte seines Schwagers in den Ohren. Es regnete noch immer nicht, die Sonne verbreitete sogar eine gewisse Wärme, so dass er den Reissverschluss seiner Jacke, den er vor dem Verlassen des Gebäudes bis unters Kinn hochgezogen hatte, mit nur leichtem Zögern wieder öffnete. Zwei kleine Mädchen in grünen Schuluniformen lachten ihm zu, als sie an ihm vorbeihüpften mit diesen unregelmässigen Sprüngen, wie sie nur kleine Mädchen kennen. Selbst der in einen blauen Overall gekleidete Mann, der hoch auf seiner Leiter mit sorgfältigen Strichen den Goldlack des Fassadenschriftzuges nachzog, welcher in stolzen Lettern Dunne’s Pharmacy verkündigte, nickte ihm freundlich zu.
«Was hast du denn nun vor?» Elisabeth platzierte vorsichtig ein Lammkotelett neben dem anderen in das heisse Öl. «Wenn du willst, nehm ich dich morgen mit in die Stadt. Ich zeig dir, welchen Bus du nehmen kannst von meinem Büro, das ist am einfachsten. Auch wenn die Busse nicht sehr zuverlässig sind. In der Guinness-Brauerei machen sie Führungen, wenn dich das interessiert. Oder du schaust dir das Book of Kells an im Trinity College, das machen die meisten Touristen. Wir müssen aber spätestens um acht los, ich glaub nicht, dass du da schon Frühstück kriegst.»
«Keine Sorge, ich verhungere schon nicht. Hast du auch Salatsauce?» Thomas leerte den Beutel mit Schnittsalat in die rote Plastikschüssel, die sie ihm hingestellt hatte.
«Da hinten, im Kühlschrank. Ich mach das selbst, das Zeugs, das sie hier verkaufen, ist ungeniessbar.» Elisabeth war schon immer eine ambitionierte Köchin gewesen, auf Perfektion bedacht wie in jedem Bereich ihres Lebens. Sie legte zwei Rosmarinzweige über die Koteletts und schwenkte sorgfältig die Kartoffeln in der Butter. «Ich meine, ich hab ja nichts dagegen, wenn du eine Weile hier bleibst. Aber zum Babysitten hab ich wirklich keine Zeit.»
«Ich dachte mir, dass ich vielleicht an die Westküste fahre. Ich möchte eigentlich nicht in der Stadt bleiben, du weisst, dass ich Platzangst krieg unter zu vielen Menschen.»
«Reichst du mir mal den Rotwein?» Sie nahm ihm die Flasche ab und goss einen grosszügigen Schluck in die Stielpfanne. «Und was war da eigentlich los in deiner Firma? Habt ihr ganz zugemacht?»
Sein enger Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht hatte ihn gelehrt, sich von plötzlichen Themenwechseln nicht überraschen zu lassen. Und schliesslich hatte er die Frage erwartet. «Es hat sich halt nicht mehr gelohnt. Mit der zunehmenden Konkurrenz der Online-Anbieter reichten die Stammkunden einfach nicht mehr. Wir haben alles probiert – Autorenlesungen, Filmabende, Lesenächte, Spielnachmittage… Alles für die Katz.»
«Ich sagte dir gleich, dass es unsinnig ist, dein Leben mit einer Buchhändlerlehre zu verschwenden. Wer liest denn noch heutzutage? Das sind Träumereien, du solltest dich endlich damit abfinden, dass wir heute und jetzt leben. Informatiker hättest du werden können oder den Job in der Bank annehmen – die hätten dich vom Fleck weg engagiert. Aber nein, Herr Ichweiss-es-immer-besser war sich zu gut für diese Welt. Wach endlich auf, Thommy.»
«Ich mag halt keine Computer. Und keine Zahlen. Und jeden Tag nur seine Stunden absitzen und auf die Pensionierung zu warten – nein, das ist nicht das, was ich mir vom Leben erhoffe. Dafür bin ich noch zu jung.»
«Das Leben macht uns nicht automatisch glücklich.» Sie rührte in der Sauce, bevor sie die Fleischstücke noch einmal umdrehte. «Harry sollte jeden Moment hier sein, er wollte nur noch die Verträge zur Unterschrift vorbeibringen. Ich bin gleich fertig hier. – Such du dir einen Job, der genügend Geld einbringt, dann kannst du dir dein Glück kaufen. Dafür brauchst du deine Arbeit nicht zu lieben.»
Er hätte sie gerne gefragt, ob sie denn glücklich sei. Doch dazu kannte er seine Schwester zu gut, er wusste die Antwort und er wusste auch, welche Antwort sie ihm geben würde.
«Vielleicht verkaufen wir das Haus. Harry möchte nach England ziehen, ein ehemaliger Arbeitskollege hat ihm eine Partnerschaft vorgeschlagen. Und ich hab’s sowieso satt hier. Die Ignoranz, der ganze Dreck, das Komm-ich-heut-nicht-kommich-morgen – das Land geht mir dermassen auf die Nerven…!» Sie vermied seinen Blick, drückte prüfend mit der Gabel auf die Fleischstücke. «Es würde auch weniger Stress bedeuten für ihn. Und», ihre Stimme wurde leiser, «vielleicht klappt’s dann ja mit dem Kind. Ich würd mir auch Zeit nehmen, wir können es uns leisten.»
Er richtete all seine Aufmerksamkeit auf die grünen Spargeln, die still in der Butter vor sich hin brieten. Elisabeths Kinderwunsch war ein Tabuthema, das niemand in der Familie aufzugreifen wagte. Die zwei Frühgeburten, zuerst ein knappes Jahr nach der Hochzeit im fünften und zwei Jahre später im siebten Monat – die ihr beinahe das Leben gekostet hätte –, hatten sie an den Rand einer ernsthaften Depression gebracht und tiefe seelische Wunden hinterlassen. Es war das erste Mal, dass sie in seiner Anwesenheit davon sprach.
«Ich bin nicht mehr so jung, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.» Ihrer Stimme waren keine Emotionen zu entnehmen.
«Aber du bist noch keine fünfunddreissig! Heute ist das doch kein Alter, um Mutter zu werden!»
«Ich will nicht, dass meine Kinder unter alten Eltern leiden müssen. Und Harry wird diesen Herbst siebenundvierzig; wenn das Kind erst mal mit der Schule fertig ist, ist er bald siebzig.»
Wenn seine Leber und seine Lunge solange mitmachen, dachte Thomas. «Und was sagt er denn dazu? Ich meine, kann er sich vorstellen, Vater zu werden?» Und hat er keine Angst um dich?
«Wir haben noch nicht darüber gesprochen. Ich will ihn nicht unter Druck setzen. Vielleicht, wenn das mit dieser Partnerschaft klappt… Du sagst ihm kein Wort!» Sie blickte ihn drohend an, die Fleischgabel in der erhobenen Hand.
«Wo werd ich denn… Es geht mich schliesslich nichts an. Wenn ihr nicht miteinander redet…»
«Natürlich reden wir miteinander. Alles zu seiner Zeit. Das wirst du auch noch lernen müssen, wenn du erst mal eine Freundin hast. Was ist eigentlich mit dieser… Wie hat sie noch gleich geheissen? Sonja?»
«Tanja. Gar nichts ist. Wir sind einfach nur gute Freunde. Sie liest gerne, ich lese gerne, wir mögen dieselbe Musik und ärgern uns über die gleichen Schildbürgerstreiche des Gemeinderates.»
«Und sonst? Ich meine…»
«Da ist nichts sonst. Du brauchst gar nicht zu meinen.»
«Das ist doch nicht normal für einen Jungen in deinem Alter! Jeder andere… Willst du mir etwa weismachen, dass du noch Jungfrau bist?!»
Das Knarren der Haustüre ersparte ihm eine Antwort und Jack der Wellensittich, eine weitere Hinterlassenschaft von Harrys Eltern, begrüsste den Hausherrn mit lautem Trillern.
«Ja wen haben wir denn da? Haben wir noch nichts zu essen gekriegt? An dich denkt keiner, wenn ich nicht hier bin. – Jemand zu Hause?»
«Kannst du nicht die Schuhe ausziehen, bevor du hier reinstapfst?» Elisabeth musterte ihren Gatten mit missbillig gefurchter Stirn, während er seinen breitkrempigen, tropfenden Hut auf dem Kühlschrank deponierte. «Doch nicht da! Was denkst du dir eigentlich?»
«Ich liebe dich auch.» Er zog sie an der anklagend auf ihn gerichteten Fleischgabel zu sich heran, doch fand sein Mund nur ihr Ohr, als sie unwillig ihren Kopf abwandte. «Ich hab zu tun. Essen ist gleich fertig. Deiner guten Laune entnehme ich, dass deine Verhandlungen erfolgreich verlaufen sind?»
«Da gab’s nichts zu verhandeln. Ich hab ihn gepflückt. Wie einen reifen Apfel. Er ist praktisch vom Baum gefallen. Oh, hallo Thommy. Hab total vergessen, dass du auch hier bist. Da brauch ich wenigstens nicht zu spülen!»
«Als ob.» Elisabeth drückte ihm die Salatschüssel in die Hand. «Mach dich nützlich. Und zieh endlich die Schuhe aus!»
Das Lamm war zart, die Kartoffeln knusprig und der Spargel buttrig und bissfest. Harry schwenkte den blaurot schimmernden französischen Rotwein in seinem Glas und musterte ihn mit zugekniffenen Augen, bevor er ihn prüfend unter die Nase hielt und sich schliesslich zögerlich einen ersten Schluck genehmigte. «Warm genug, aber geniessbar. Und?» Der auf Thomas gerichtete Blick ähnelte frappant jenem, mit dem er den Wein begutachtet hatte. «Wie sind deine Pläne? Bleibst du länger? Soll ich dir Arbeit besorgen? Das Buchgeschäft läuft nicht so toll, hab ich gehört.»
«Er möchte die Westküste besuchen», antwortete seine grosse Schwester, bevor Thomas auch nur den Mund öffnen konnte. «Ich dachte, wir könnten ihm den Ford überlassen, der steht hier doch nur im Weg herum. Und morgen nehm ich ihn mit in die Stadt.»
«Was denkst du denn, ist es schwierig, eine Arbeit zu finden? Nur für ein paar Wochen, einige Stunden im Tag vielleicht.» Thomas fragte es eine Spur zu eifrig, wie er zu spät bemerkte.
«Als Buchhändler?!»
«Nein, nein. So wie du», er blickte zu seiner Schwester hinüber, die das letzte Stück rosa gebratenen Fleisches vom Knochen trennte, «in einer Bar oder so. Oder auf einem Bauernhof?»
«In Wexford läuft jetzt die Erdbeerernte, die sind immer auf der Suche nach Saisonarbeitern. Aber du?» Ihre Augen massen die schmale, hoch aufgeschossene Gestalt ihres Bruders. «Du hast doch noch nie was Richtiges getan. Und ausserdem liegt das nicht im Westen. Wieso willst du denn überhaupt arbeiten?»
Er versuchte erst gar nicht, sich zu verteidigen. «Ich muss schliesslich auch von was leben. So viel hab ich nicht verdient, dass ich den ganzen Sommer auf der faulen Haut liegen kann. Aber wenn ihr mir nicht helfen könnt, ich find schon was. Irgendwas.»
«Costello’s vielleicht…» Elisabeth legte ihre blasse Stirn in malerische Falten.
«In Limerick? Kennst du da noch wen? Das ist doch Jahre her!» Harry schüttelte den Kopf, bevor er sich wieder dem Rotwein zuwandte.
«Margreth kennt den Manager. Die hatten mal was, glaube ich. Ich kann sie ja mal fragen. Jedenfalls wärst du dann schon im Westen. Und doch noch in der Zivilisation. Oder zumindest, was man hierzulande darunter versteht.»
«Margreth! Ausgerechnet.» Harry schüttelte den Kopf und faltete seine Zeitung neben den Teller, während Elisabeth konzentriert eine Kartoffel in kleine Stücke schnitt und in der Sauce schwenkte. Die Zeiger unter dem Plexiglasgehäuse der kleinen goldfarbenen Uhr auf dem Kaminsims zeigten halb neun und noch immer spiegelte sich die Sonne auf der regennassen Strasse vor dem Haus, so dass Thomas gezwungen war, beim Blick aus dem Küchenfenster die Augen zusammenzukneifen. In der Einfahrt des gegenüberliegenden Gebäudes spielten ein paar Jugendliche Korbball. Er versuchte vergeblich, das letzte verbliebene Salatblatt – Löwenzahn? – mit der Gabel vom Teller zu angeln. Schliesslich nahm er den Finger zu Hilfe.
Seine Schwester schob ihren Stuhl zurück. «Nachtisch gibt’s keinen. Und jeder räumt sein eigenes Geschirr weg.» Mit einem Seitenblick auf Thomas: «Nimmst du auch einen Kaffee?» Ungeachtet der Weisung seiner besseren Hälfte reichte Harry seinem Schwager den Teller. «Ich brauch erst mal ein wenig frische Luft.» Er klopfte vielsagend auf die vom Tabakbeutel ausgebeulte Jackentasche. «Und das mit dem Focus geht in Ordnung. Ich bring ihn morgen noch in die Werkstatt, nur für den Fall der Fälle. Für mich gerne einen Americano, wenn du schon dabei bist.»
In den nächsten Tagen erkundete er Dublin. Er folgte Elisabeths Empfehlung und reihte sich ein in die endlose Schlange von Touristen aus aller Welt, denen im Guinness-Gebäude die Geschichte und Herstellung des dunklen Gebräus nähergebracht wurde. Der mehrstöckige Bau war einem gigantischen Glas nachempfunden und die Bar in der siebten Etage bot neben cremig schmeckendem, tiefschwarzem Bier einen grandiosen Blick über die Dächer des einstmaligen Industriebezirks. Im Herzen der imposanten Kathedralengänge einer mit wandhohen Büchergestellen voll alter Bände gerahmten Bibliothek im altehrwürdigen Trinity College bewunderte er die am Tag seines Besuches zur Betrachtung freigegebene Seite des Book of Kells mit ihren kunstvollen, farbenfroh gezeichneten Initialen und er besuchte den weitläufigen zoologischen Garten im Phoenix Park, einer immensen Grünanlage am Stadtrand, die auch den Sitz der irischen Polizei und die Residenz des Präsidenten beherbergte.
Er überquerte den Liffey über die Ha’penny Bridge, ohne den Strassenzoll von einem halben Penny entrichten zu müssen, welchem die vormalige Wellington-Brücke ihren Übernamen verdankt und den die Stadt vor gut hundert Jahren abgeschafft hatte, besuchte den Liberty Market mit seinen unzähligen Ständen und bewunderte die Schaufenster der teuren Geschäfte in der exklusiven Grafton Street. Am liebsten aber fütterte in einem kleinen Park namens St. Stephen’s Green die Enten, wenn es nicht gerade regnete, was auch im Juni nicht oft der Fall war in der irischen Hauptstadt. Obwohl mitten in der Stadt und im Blickfeld eines kolossalen, gläsernen Einkaufszentrums gelegen, vermittelte ihm der Park das Gefühl, weit weg zu sein vom hektischen Tagesgeschäft, ein Gefühl, das die Tatsache stärkte, dass ihn die meisten anderen Besucher mit einem seltsam schrägen Kopfnicken oder einem freundlichen «Ein wunderschöner Tag, nicht?» grüssten.
Er hatte Harrys Angebot, mit dem Ford in die Stadt zu fahren, dankend abgelehnt; die kurze Fahrt mit dem Bus bereitete ihm weniger Probleme als der Linksverkehr auf den lebhaften Strassen und eine anschliessende endlose Parkplatzsuche. Doch obwohl ihm die öffentlichen Verkehrsmittel – die sich im übrigen im Gegensatz zu den Befürchtungen seiner Schwester als erstaunlich zuverlässig erwiesen – die Freiheit erlaubten, auch mal auf ein Glas oder zwei länger in einem der gut besuchten Pubs zu verweilen, fand er sich zum Abendessen meist im Restaurant des Ashbourne Court wieder, das für kleines Geld Portionen auftischte, die selbst seinen Magen überforderten. Zu seinem Erstaunen fand er ausnahmslos Kartoffeln in der einen oder andern Zubereitungsart auf seinem Teller, und zwar ganz unabhängig davon, was er bestellt hatte – Curryhuhn mit Reis, Nudeln und Peperoni mit Pilzen, ja selbst zur Pizza – die Kartoffeln begleiteten jedes Gericht ungerufen und hartnäckig. Und ebenso ungerufen und hartnäckig erwartete ihn sein Schwager allabendlich an der Hotelbar, mit einem verlorenen Lächeln, ungewaschenem Haar und einem Cognacschwenker vor sich auf dem Tresen. Überrascht musste Thomas feststellen, dass er sich auf die kurzweiligen Treffen zu freuen begann. Zwar machte sich Harry nach wie vor ungeniert über die Regierungs- wie die Oppositionspartei lustig, genau wie über die staatliche Telekommunikationsgesellschaft oder die bei Weitem nicht mehr so allmächtige Katholische Kirche, die noch vor wenigen Jahren das Land dominiert hatte. Doch schien sein früher so verletzender, mitleidloser Sarkasmus einem leisen, beinahe schon mitfühlenden Humor gewichen zu sein und er verlieh den Protagonisten seiner Erzählungen bei aller Kritik menschliche Züge, die sie, wenn nicht immer sympathisch, so doch glaubwürdig und in gewisser Weise verletzlich erscheinen liessen.
Vielleicht habe ich ihn früher einfach nicht verstanden, sinnierte Thomas, während er an einem grossen Glas Apfelwein nippte, und er glaubte zum ersten Mal zu erkennen, was seine Schwester in diesem ungepflegten, dem Alkohol zugeneigten und nach kaltem Rauch stinkenden um Jahre älteren Mann sah. «Warum seid ihr eigentlich hier geblieben? Ich meine, jetzt, wo deine Eltern… Und ihr habt ja nicht wirklich einen Bezug zu Irland.»
«Einen Bezug? Nun, ich bin immerhin hier aufgewachsen. Und eigentlich kenne ich nichts anderes.» Harry blickte in sein Cognacglas und hob dann den Kopf, um Thomas anzusehen. «Meine Eltern sind schon hier geboren, mein Grossvater hat für die Kirchgemeinde gearbeitet Ende des vorletzten Jahrhunderts. Ja, es stimmt, wir haben weder Irland noch die Iren je sonderlich gemocht. Aber keiner von uns kennt das Land, das wir unsere Heimat nennen. England.» Er liess das Wort langsam über die Zunge gleiten. «Es scheint, dass ich der erste Heathcliffe seit drei Generationen bin, der heimischen Boden betreten wird. Und ironischerweise wird man mich da wohl denIren nennen… Hat Elisabeth dir davon erzählt? Dass wir vielleicht wieder zurückfahren?» Er schmunzelte bei der Formulierung. «Zurück ist gut. Hat sie?»
«Sie hat nur erwähnt, dass ihr das Haus verkaufen möchtet», antwortete Thomas vorsichtig. Immerhin hatte er ihr versprochen, nicht mit Harry über ihre Pläne zu reden.
«Ja, ich hab da so ein Angebot. Von einem ehemaligen Kollegen. Nicht, dass ich ihn besonders gut mag. Aber ich bin nicht mehr so jung, und dies ist vielleicht die letzte Gelegenheit. Elisabeth ist nicht glücklich hier. Sie hat keine richtige Freundin, nur wenige Kollegen. Es ist zu feucht hier für sie, zu kalt. Obwohl, in England…» Er zuckte mit den Schultern. «Gibst du mir noch einen? Und einen für den Jungen?» Thomas hielt abwehrend die Hand hoch. «Das ist hier so üblich. Du wirst doch nicht den ganzen Abend vor nur einem Glas verbringen wollen? Zweimal dasselbe», rief er dem Barman zu, der mit der einen Hand den Zapfhahn betätigte, während er in der anderen zwei Halblitergläser hielt. «Aber sie glaubt, dass in England alles besser wird. Und dann die Sache mit dem Kind… Sie denkt tatsächlich, das sei ihre Schuld gewesen. Sie hätte sich zu wenig Zeit genommen. Zu sehr auf ihre Karriere geachtet. Die Abendkurse, die langen Nächte… Das ist natürlich Unsinn. Es hat einfach nicht sein sollen. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde… Ja, der alte William.»
«Habt ihr denn schon was in Aussicht, drüben? Wenn das klappt mit der Partnerschaft?»
«Partnerschaft? Was für eine Partnerschaft? Egal. London ist unglaublich teuer, ich hab mich da mal umgesehen. Aber ein wenig ausserhalb… in Hempstead vielleicht, da wohnt ein befreundetes Paar, die pendeln auch. Von da aus sind’s keine zwanzig Kilometer zur City. Aber konkret, nein, konkret haben wir noch nichts. Hängt ganz davon ab, was wir für die Hütte hier kriegen. Oder hast du Interesse?» Sein breites Grinsen zeigte eine unregelmässige Reihe nikotingelber Zähne. Thomas dachte mit leisem Schaudern an den asphaltierten Hof, den das kleine Reihenhaus mit fünfzehn identischen Gebäuden säumte, an die ballspielenden Jugendlichen in der Einfahrt gegenüber, den mit einem Gasfeuer bestückten Kamin.
«Ich bin nur schon froh, wenn ich Ende Sommer noch genug Geld habe für die Rückfahrkarte. Nein, ein Haus steht definitiv nicht oben auf meiner Prioritätenliste. Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.»
«Was nicht ist, kann ja noch werden. Mach dir mal keine Gedanken; in deinem Alter hab ich das Essensgeld zur Seite gelegt, um am Wochenende mit den Jungs auf den Putz zu hauen. Und jetzt sitz ich hier und trinke Cognac und schmiede Pläne für die Eroberung des Finanzzentrums dieser Welt.» Er hob sein Glas. «Auf uns!»
Thomas wusste nicht so recht, ob das «uns» ihn miteinschloss oder sich auf die Erfolg verheissende Zukunft von Elisabeth und Harry in der englischen Hauptstadt beschränkte. Dies jedenfalls ist nicht meine Zukunft, dachte er, als er sein noch immer halbvolles erstes Glas gegen den Cognacschwenker seines Schwagers stiess, während vom Flachbildschirm über der Theke eine elegant gekleidete Frau hoch über den Dächern der Stadt vom Untergang eines weiteren Flüchtlingsbootes im Mittelmeer berichtete.
Westwärts
Er bedauerte nun, Elisabeths Rat nicht gewürdigt und nicht wenigstens einige Übungsfahrten mit dem Ford unternommen zu haben. Die rechts an ihm vorbeifliegenden Autos irritierten ihn ebensosehr wie die von links auf die Autobahn einfahrenden und er fand sich schliesslich im Windschatten eines grossen Sattelschleppers mit der Aufschrift Nolan’s International, ängstlich bemüht, keines der Schilder zu verpassen, die ihn Richtung Westen wiesen – Dublin, M50, The West, Kildare, Portlaoise, Limerick. «Ich zahl die Maut für dich», hatte Harry versprochen, «der Wagen läuft ja auf mich, wir kriegen sowieso die Rechnung.» «Zahle bis morgen 8 Uhr», befahlen die Schilder über der Umfahrungsautobahn, ohne anzugeben, wo man denn wieviel bezahlen sollte. Kurz nach Portlaoise bog Nolan’s Richtung Kilkenny ab und Thomas fand sich schutzlos dem allmählich nachlassenden Verkehr ausgesetzt. Zwei Zahlstellen zwangen ihn, nach Kleingeld zu suchen; mit nervösem Blick in den Rückspiegel lenkte er den Wagen in Richtung des Symbols, welches eine bemannte Durchfahrt versprach. Die Mitarbeiter in den kleinen Kabinen zeigten sich unerwartet fröhlich in ihrem wenig abwechslungsreichen Job. «West is best», verabschiedete ihn der stämmige Autobahnangestellte mit einem breiten Lächeln unter der glänzenden Glatze, als er ihm das Rückgeld in die Hand zählte. Überhaupt hatte er in den zehn Tagen seit seiner Ankunft auf der Grünen Insel kaum ein unfreundliches Wort gehört, vom mehr oder weniger liebevollen Keifen seiner Familie einmal abgesehen. Selbst in der touristenverseuchten Enge des Guinness-Museums hatte das überwiegend junge Team die Besucher gutgelaunt und mit aufrichtiger Gastfreundschaft begrüsst.
Er drückte die Kupplung – das Pedal befand sich Gott sei Dank an gewohnter Stelle – und zog den Schalthebel übungshalber durch die Gänge, mit der linken Hand und gänzlich problemlos, wie er erleichtert feststellte. Das Tempo ausserhalb Dublins war merklich geruhsamer geworden und er hatte den Ford wiederholt mit Todesverachtung rechts an noch langsameren Verkehrsteilnehmern vorbeigetrieben – wahrhaftig eine reife Leistung auf der breiten, spärlich befahrenen Autobahn ohne Gegenverkehr, wie er sich leicht beschämt zugestand. Längst waren die Einkaufszentren und die Reihenhaussiedlungen im Schatten der Hauptstadt leuchtend grünen, mit Schafen und weissem Vieh gesprenkelten Wiesen gewichen; Hecken und Natursteinmauern überzogen die Hügel und stattliche, doch meist nur eingeschossige Häuser duckten sich unter vom Wind gebeugten Baumgruppen.
Der lebhafte Verkehr Limericks beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit, doch ungeachtet seines Dubliner Kennzeichens zeigten die nachfolgenden Autofahrer Geduld, wenn er wieder einmal vor einem Kreisverkehr überlegen musste, in welche Richtung er denn nun einfahren müsse. Elisabeths Anweisungen erwiesen sich als zuverlässig, so dass er den Focus schliesslich erleichtert vor Costello’s Bar einparkierte, ohne die teuren Roaminggebühren für das Navigationssystem auch nur einmal in Anspruch genommen zu haben.
Ray, der Geschäftsführer des Pubs, mochte in Harrys Alter sein, doch damit endeten die Gemeinsamkeiten. Sein dichtes, grau meliertes Haar war wie der schwarze Bart, der nur gerade seinen Mund umrahmte, sorgfältig zurückgeschnitten und untadelig gekämmt, das blütenweisse Hemd unter der ärmellosen Weste frisch gebügelt und von einer roten Fliege geadelt, die Ray, wie Thomas später mit einiger Bewunderung feststellte, selbst band. In seiner ganzen Pracht war sich Ray Dunne nicht zu schade, bei den täglichen Arbeiten Hand anzulegen, ganz gleich, ob nun ein Glas Guinness gezapft, das Feuer mit frischen Torfstücken gefüttert oder eine Kiste mit Getränken aus dem Lager hinaufgebracht werden wollte. Kevin, Rory und Bríd vervollständigten das fünfköpfige Team, dem am Freitag und Samstag Abend zwei Aushilfen zur Hand gingen.