Glory of Broken Dreams - Ruby Braun - E-Book

Glory of Broken Dreams E-Book

Ruby Braun

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Beschreibung

- mit außergewöhnlicher Ausstattung nur in der ersten Auflage -  Magie hat immer einen Preis. Diesmal ist es deine Liebe. Die junge Charlotte erhält die Chance ihres Lebens, als sie als Varietétänzerin im sagenumwobenen Luxushotel Lichtenstein anfangen kann, einem berauschenden Ort voller Spektakel und Magie, zu dem nur die Reichen und Mächtigen Zutritt haben – und nun auch Charlie. Sie will auf den verzückenden Bällen tanzen, auf denen Wünsche wahr werden, denn für ihren geheimen Herzenswunsch ist sie bereit, jeden Preis zu zahlen. Doch für den Besuch der magischen Bälle braucht sie eine Begleitung – wie (un)glücklich, dass sie auf den schweigsamen Showboxer Willem trifft. Willem ergreift seine Chance, sich auf die lasterhaften Tanzbälle einzuschleusen. Denn er weiß, dass die Magie des Hotels diabolisch ist. Menschen verschwinden, wie einst sein Bruder, den er finden will. Auf den Bällen wird die große Liebe wird exzessiv gefeiert, doch endet stets in einer Tragödie. Willem muss alles riskieren, doch unter keinen Umständen sein Herz … Die neue fesselnd-fantastische Reihe der SPIEGEL-Bestsellerautorin Band 1: Glory of Broken Dreams Band 2: Glory of Broken Hearts

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Seitenzahl: 569

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Glory of Broken Dreams

RUBY BRAUN, 1995 in Heilbronn geboren, lebt und schreibt in Köln. An der dortigen Universität studierte sie zunächst Deutsche Sprache und Literatur sowie Medienkulturwissenschaften, dann im Master Theorien und Praktiken professionellen Schreibens. Sie gibt auf Instagram und TikTok Einblicke in ihr Autorinnenleben unter @xrubybraun.

MAGIE HAT IMMER EINEN PREIS. DIESMAL IST ES DEINE LIEBE.Die junge Charlotte erhält die Chance ihres Lebens, als Varietétänzerin im Lichtenstein anzufangen. Denn auf den sagenumwobenen Bällen dort werden Träume wahr – und Charlie ist fest entschlossen, sich ihren sehnlichsten Herzenswunsch zu erfüllen, koste es, was es wolle. Sie bittet den verschwiegenen Showboxer Willem, ihre Begleitung zu spielen, der nicht ablehnen kann. Denn Willem ist auf der verzweifelten Suche nach seinem Bruder, der zuletzt auf einem der Bälle gesehen wurde. Doch er hat nicht mit Charlie gerechnet, die seine Pläne – und sein Herz – durcheinanderbringt. In einem Hotel, das gebrochene Herzen liebt, geraten beide in ein gefährliches Netz von Lügen und Geheimnissen, aus dem es kein Entkommen gibt …

Die neue Urban Romantasy der Spiegel-Bestsellerautorin

Ruby Braun

Glory of Broken Dreams

The Devil's Dance

Forever by Ullsteinwww.ullstein.de

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Charlie

Kapitel 2

Charlie

Kapitel 3

Willem

Kapitel 4

Willem

Kapitel 5

Charlie

Kapitel 6

Charlie

Kapitel 7

Charlie

Kapitel 8

Willem

STILLE POST

Robert’s Girls: Lügnerinnen, Betrügerinnen, Verbrecherinnen

Kapitel 9

Charlie

Kapitel 10

Willem

Kapitel 11

Charlie

Kapitel 12

Willem

Kapitel 13

Charlie

Kapitel 14

Willem

Kapitel 15

Charlie

Kapitel 16

Willem

STILLE POST

Wer hätte das gedacht? Robert Lichtenstein hat ein Herz – und was für eins!

Kapitel 17

Charlie

Kapitel 18

Willem

Kapitel 19

Charlie

Kapitel 20

Willem

Kapitel 21

Willem

Kapitel 22

Charlie

Kapitel 23

Charlie

Kapitel 24

Willem

Kapitel 25

Charlie

Kapitel 26

Charlie

Kapitel 27

Willem

Kapitel 28

Charlie

Kapitel 29

Charlie

Kapitel 30

Willem

Kapitel 31

Charlie

Kapitel 32

Charlie

Kapitel 33

Willem

Kapitel 34

Willem

Kapitel 35

Charlie

Kapitel 36

Charlie

Kapitel 37

Charlie

Kapitel 38

Charlie

Kapitel 39

Charlie

Kapitel 40

Willem

Kapitel 41

Charlie

Kapitel 42

Charlie

STILLE POST

Fröhliche Weihnachten und ein gesegnetes Fest, ihr Armseligen

Kapitel 43

Charlie

Kapitel 44

Charlie

Kapitel 45

Charlie

Kapitel 46

Willem

Kapitel 47

Wanda

Danksagung

Contentwarnung

Leseprobe: Vengeance

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Für die Frauen* in meinem Leben.

Für meine Oma, Mama und meine Schwestern.

Für meine Freundinnen, Leserinnen, Kolleginnen.

Für die Fremde, der ich nachts auf dem Heimweg begegne,

und das unausgesprochene Versprechen,

einander falls nötig zu helfen.

Eure Fähigkeit zu lieben – stark und klug und fehlerhaft – lässt mich hoffen.

Hinweis auf Contentwarnung

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte, weshalb ihr auf der letzten Seite eine Contentwarnung findet.

Bitte passt gut auf euch auf.

Ich wünsche euch das bestmögliche Leseerlebnis und alles Liebeeure Ruby

Prolog

Aus dem Tagebuch der Sunny L.:

Der Doktor sagt, ich bin krank.

Der Doktor sagt, ich trauere.

Der Doktor sagt, ich bin hysterisch.

Der Doktor sagt, ich bin psychisch instabil.

Der Doktor sagt, ich habe Wahnvorstellungen.

Der Doktor sagt, ich bin nicht zurechnungsfähig.

Der Doktor sagt, ich bin eine Gefahr für das Kind.

Er sagt, ich soll es gar nicht erst versuchen.

Er sagt, er wird mich finden.

Er sagt, er wird mich überall finden.

Sie sagt, sie wird mir helfen.

Ich sage

Warum hört mir niemand zu?

Kapitel 1

Charlie

Ich werde mich kein zweites Mal auf einen Mann verlassen, der mich groß rausbringen will, nein, diesmal bin ich vernünftiger und hoffe auf Magie.

Deshalb muss ich beim heutigen Vortanzen im Grandhotel Lichtenstein überzeugen. Auch wenn meine Beine ganz weich sind, während ich auf den imposanten Bau zugehe. Selbst der silbergraue Oktobernachmittag mit seinem bewölkten Himmel und dem Nieselregen kann den Glanz des Hotels nicht trüben. Majestätisch ragt die weiße, von Rosen umrankte Marmorfassade vor mir auf, jede Säule, jedes Relief, jede Verzierung strahlt wie poliert. Der bloße Anblick lässt mein Herz flattern, halb aus Angst, halb vor Freude.

Ein Portier eilt zu einem haltenden Wagen. In der einen Hand hält er einen Regenschirm, mit der anderen öffnet er die Autotür und begrüßt die aussteigende Dame im Kaschmirmantel. Während sie über den ausgerollten Teppich zur Drehtür laufen, richtet er den Schirm präzise über ihrer Hochsteckfrisur aus, während ein zweiter Portier das Gepäck aus dem Wagen lädt.

»Junges Fräulein, kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Ich wende mich dem Mann zu, der gerade zwei Hutkoffer aufeinanderstapelt und argwöhnisch auf die ramponierte Reisetasche in meiner Hand schaut. Dennoch lächle ich ihn breit an. »Ich komme zum Vortanzen für das Varieté.«

»Oh, das erklärt …«, sein Blick wandert vom Koffer zu meinen Riemchenballerinas, die einst leuchtend rot waren, mittlerweile jedoch vergraut und durchnässt sind. Sein penetranter Blick auf meine Füße lässt mich beschämt mit meinen kalten Zehen wackeln, aber ich halte das Lächeln.

»Dann benutzen Sie doch bitte nicht den Haupteingang, sondern den für die Angestellten. Rechts um das Gebäude herum finden Sie eine vergitterte Tür. Die sollte offen sein. Sie können sie nicht verfehlen.«

»Danke.«

Ich folge seiner Wegbeschreibung, wobei meine Beine mit jedem Schritt wackeliger werden. Wie soll ich gleich auf ihnen tanzen, wenn sie jetzt schon unter mir nachgeben wollen? Regen nieselt auf mich nieder, die Luft riecht nach nassem Asphalt und Abgasen und meinem größten Traum. Meinem verdammt noch mal größten Traum, der sich im Lichtenstein erfüllen wird, wenn ich jetzt überzeuge. Es ist nicht die Zeit für butterweiche Knie. Es ist einzig und allein die Zeit für einen spektakulären Auftritt. Koste es, was es wolle, denn ich brauche diese zweite Chance dringender als alles andere.

Als ich die Tür erreiche, die der Portier beschrieben hat, schiebe ich das rostige Gitter auf und öffne die Blechtür dahinter. Ein letztes Mal halte ich inne.

Ich kann das. Ich kann, kann, kann das. Ich bin ein Feuerwerk.

Wenn ich eins von meinem ehemaligen Cheftrainer John van Dam mitgenommen habe, dann das Mantra, ein Feuerwerk sein zu müssen.

Den Henkel der Reisetasche fest umklammernd, betrete ich den Hotelkeller und finde mich am Ende eines langen breiten Flurs wieder.

Es herrscht große Betriebsamkeit, überall eilen Angestellte umher, ihr Stimmengewirr hallt von den Wänden wider. Ein Kellner schlängelt sich mit Weinflaschen in den Händen durch eine Gruppe von Akrobatinnen. Beim Anblick ihrer glitzernd grünen Paillettenanzüge, den aufwendig geschminkten Gesichtern und den hohen, strengen Dutts kribbelt mein ganzer Körper vor Vorfreude und verdrängt für einen Moment die Nervosität.

Denn genau deswegen bin ich hier: um wieder auf der Bühne zu stehen und das Publikum zu begeistern. Und um mir zu beweisen, dass meine Karriere als Tänzerin nicht vorbei ist, sondern die Chance auf einen Neuanfang hat.

»Vorsicht!«

Bevor ich aus dem Weg springen kann, kracht mir etwas in die Fersen. Stöhnend drehe ich mich um.

Die schwarzhaarige Frau, die gerade ihren Rollwagen gegen mich gefahren hat, zuckt mit den Schultern. »Ich habe gerufen.«

Das nächste Mal vielleicht zwei, drei Sekunden früher?, will ich sagen, aber der Anblick ihres Wäschereikittels verschlägt mir die Sprache.

Ich habe lange nicht mehr an unsere Mutter gedacht. Selbst als ich aus meiner alten Tanzcompagnie herausgeworfen wurde und beschlossen habe, mich im Lichtenstein zu bewerben, habe ich nicht Mama, sondern nur meine ältere Schwester Wanda im Kopf gehabt. Doch jetzt, im Angesicht des weißen Kittels und der gefalteten Handtücher auf dem Wagen, denke ich an sie. An ihr schwarzes Haar, das sie penibel auf Kinnlänge trug. An ihre Hände, die nach einem langen Arbeitstag in der Wäscherei des Lichtenstein aufgequollen waren. An die Geschichten, die sie uns mit müder Stimme über das Hotel erzählte. Wanda und ich saßen in unseren gebügelten Schlafanzügen im Bett, die Decke bis unter die Nasen gezogen, hibbelig vor Neugier. Was unsere Mutter uns berichtete, war so unglaublich, dass uns die Knie schlotterten. Sie sprach von den köstlichsten Süßspeisen, einem märchenhaft wilden Garten, von Betten, auf denen man wie auf Wolken schlief. Und von Tanzbällen, auf denen Herzenswünsche wahr wurden.

Was würde unsere Mutter heute sagen, wenn sie wüsste, dass ihre beiden Töchter an diesen Ort zurückgefunden haben? Dass ihre ältere Tochter seit drei Jahren genau wie sie in der Wäscherei arbeitet, aber das Hotel täglich verflucht, während ihre jüngere Tochter sehr wohl noch auf die Magie hofft?

Die Frau mit den schwarzen Locken schiebt den Rollwagen ungeduldig gegen mich. »Aus dem Weg, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich mache einen großen Schritt zur Seite, ziehe den Kopf ein und schaue mich um. Wo eine Wäschereimitarbeiterin ist, kann eine zweite nicht weit sein. Doch Wanda darf mich nicht entdecken.

Seit fünf Tagen bin ich zurück in unserer Heimatstadt L., und statt bei meiner Schwester zu übernachten, geht mein letztes Geld für ein Pensionszimmer drauf. Auf keinen Fall will ich Wanda vor dem Vortanzen begegnen. Sie würde nicht verstehen, warum ich so auf das Engagement angewiesen bin, und mit allen Mitteln versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Es ist besser, ich meide sie, bis ich weiß, ob ich die Stelle bekomme oder nicht.

»Warte!«, rufe ich der schwarzhaarigen Angestellten nach.

Entnervt schaut sie zu mir zurück, aber ich lächle sie höflich an. »Kannst du mir sagen, wie ich zum Vortanzen fürs Varieté komme?«

Sie sieht von meinen regenfeuchten Locken über den dünnen Mantel zu den durchweichten Ballerinas. »Noch so eine naive Träumerin, die glaubt, das Lichtenstein würde sie retten. Ich hatte heute schon fünf von deiner Sorte hier im Keller stehen und musste ihnen den Weg erklären.« Mit dem Kopf nickt sie den Flur hinab. »Geh da runter bis zur Feuerschutztür, dann durch das Treppenhaus in den ersten Stock. Dort nimmst du nicht die Tür mit dem Henkel, sondern die mit dem Knauf, damit dich der Dienstbotengang direkt hinter die Bühne in den Ballsaal führt.« Mit einem letzten langen Blick geht sie davon.

Noch so eine naive Träumerin, die glaubt, das Lichtenstein würde sie retten. Die Frau hört sich an wie Wanda, aber da ich mir geschworen habe, mich nicht entmutigen zu lassen, schiebe ich ihre Worte von mir und folge nur ihrer Wegbeschreibung.

Im Treppenhaus kommen mir weitere Mitarbeitende entgegen, sie strömen auf- und abwärts über die blau gefliesten Stufen. Umso näher ich dem Dienstbotengang komme, desto nervöser schlägt mein Herz. Als ich das Ende des schwach beleuchteten Gangs erreiche, befindet sich dort ein breitschultriger Mann mit Klemmbrett und Stift.

»Name?«, brummt er, als ich vor ihm stehe.

»Charlotte Engel.«

Er sucht die Bewerberinnenliste ab und setzt einen Haken hinter meinen Namen, schließlich habe ich mich bereits vorgestern an der Rezeption angemeldet.

Wortlos winkt er mich durch, sodass ich aus dem Gang in den Garderobenbereich hinter der Bühne trete und direkt in das Gewusel der anderen Tänzerinnen gerate.

Ich kann das. Feuerwerk, Feuerwerk, Feuerwerk.

Überall sind Teilnehmerinnen, die sich an den Schminktischen zurechtmachen, ihre Kostüme anziehen oder sich bereits aufwärmen. Ich sehe Frauen in Akrobatikanzügen, Ballett-Tutus, Flamencokleidern, Hüfttüchern mit Münzgürteln – alles wunderschöne Konkurrenz, die meine Aufregung weiter in die Höhe treibt.

Ich lächle und grüße höflich, aber um mich nicht im Anstarren der anderen zu verlieren, setze ich meine Tasche ab und hole meinen Volantrock, die Korsage und die Stiefeletten hervor.

»Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich im sagenumwobenen Lichtenstein sind«, höre ich eine Bewerberin neben mir schwärmen.

»Als ich mitbekommen habe, dass sie die alte Tanzgruppe ersetzen, habe ich vor Freude geweint. Kein Scherz, ich bin in Tränen ausgebrochen«, erwidert ihre Sitznachbarin, während sie sich die Ballettschuhe schnürt. »Fürs Geld tanzt man hier sicher nicht, die Bezahlung soll unterirdisch sein, aber die Karrieremöglichkeit, die einem das Hotel bietet, ist wirklich einmalig. Es kann dich über Nacht berühmt machen. Heute bist du eine gewöhnliche Bühnentänzerin, morgen eine Ikone, zack, boom, ein Welterfolg. So wie die Sängerin Luna de Silva. Hat hier als kleine Gesangsnummer im Varietéprogramm angefangen, bis sie der Inhaber persönlich zum Star gemacht hat. Bald soll sie für ein Engagement nach New York übersiedeln, hast du das gehört?«

Als die andere laut »Ja, so eine Chance bekommt man nur einmal im Leben!« jubelt, zwinge ich mich dazu, nicht länger ihrer Unterhaltung zu lauschen, sondern mich umzuziehen. Ich streife meine Kleidung ab und schlüpfe in das Showoutfit, während mir vor Aufregung immer übler wird.

Die beiden Frauen haben recht. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben, und ich darf unter keinen Umständen versagen.

Nachdem mich John van Dam aus seinem Ensemble geschmissen hat, habe ich in Paris versucht, eine neue Anstellung als Tänzerin zu finden. Vergeblich. Keine Bühne wollte mich haben, meine Ersparnisse sind in der teuren Hauptstadt von Woche zu Woche geschrumpft, während meine Verzweiflung größer wurde.

Heute rede ich mir ein, dass es Schicksal war, nirgendwo unterzukommen, denn hätte ich mich nicht auf den Heimweg nach Deutschland gemacht, dann wäre ich auf der Zugfahrt nicht zufällig mit meiner Sitznachbarin ins Gespräch gekommen, die mir von dem Vortanzen im weltbekannten Grandhotel Lichtenstein erzählte.

Plötzlich habe ich das Hotel in einem anderen Licht gesehen. Zum ersten Mal in meinem Leben ist es mir nicht als das Zentrum meiner Familientragödie erschienen, sondern als Chance für einen Neuanfang.

Dass das Lichtenstein ein magischer Ort sein soll, hat uns nicht nur unsere Mutter vor dem Schlafengehen erzählt. Neben den zahlreichen Gerüchten und dem Geraune berichtet selbst die internationale Presse über den jährlichen Silvesterball, auf dem sich im wahrsten Sinne des Wortes Träume erfüllen. Ich habe die letzten zwei Jahre außerhalb Deutschlands verbracht und dennoch immer wieder vom Lichtenstein gehört und gelesen.

Eine große Frau betritt den hinteren Bühnenbereich und geht durch die Grüppchen junger Tänzerinnen. Ihr Frack und der Zylinder auf ihrer apfelroten Dauerwelle sind so auffällig, dass sich alle Blicke auf sie richten.

»Herzlich willkommen im Lichtenstein.« Sie lächelt verkniffen in die Runde. »Ich bin Flora Faber, die Varietéchefin. Auch wenn ich nichts anderes erwartet habe, freue ich mich über euer zahlreiches Erscheinen. Unter euch sind sicherlich neue Talente für unsere Tanzgruppe Robert’s Girls. Ihr werdet gleich die Garderobe verlassen, neben mir im Ballsaal Platz nehmen und dann in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen, um vorzutanzen.«

Aufgeregtes Getuschel bricht aus.

Die Chefin hebt eine Hand in die Höhe und spreizt die Finger. »Ihr habt noch fünf Minuten, um euch fertig zu machen, dann starten wir mit Albers, Antonella. Gebt alles und überzeugt mich, denn dieser Auftritt kann euer Leben verändern.« Sie verlässt die Garderobe, das Gemurmel wird lauter und ich kann die Aufregung förmlich in der Luft knistern hören. Auch ich stehe so unter Spannung, dass es mich nicht wundern würde, wenn mir die Haare elektrisiert vom Kopf stünden.

Ich knie nieder, um meine langen Seidenhandschuhe aus der Tasche zu holen. Dabei fällt mein Blick auf den Flachmann, der am Boden der Reisetasche liegt. Meine Fingerspitzen berühren den kalten Edelstahl. Was macht er noch hier? Wollte ich ihn nicht längst rausräumen? Obwohl ich einen Schluck Alkohol vertragen könnte, um meine Nerven zu beruhigen, gebe ich dem Impuls nicht nach. Denn ich habe mich geändert. Ich bin nicht mehr die lasterhafte Charlie, die zu viel trinkt und raucht und stets zu spät dran ist. Der beste Beweis: Ich habe es pünktlich zum Vortanzen geschafft, bin rechtzeitig von der Pension losgelaufen, ohne Hektik, ohne Zeitdruck.

Ich kann mich ändern. Wer weiß, in welchem Ausmaß, wenn sogar noch Magie ins Spiel kommt?

Den Flachmann ignorierend, durchsuche ich meine Tasche nach dem Lippenstift, der einst meiner Mutter gehörte. Ich benutze ihn nicht als Kosmetik, denn die tiefviolette, fast schwarze Farbe ist zu alt und bröckelig, um sich damit zu schminken. Aber er dient mir als Glücksbringer. Vor jedem Auftritt male ich mir ein winziges öliges Herz aufs Handgelenk und hoffe, daraus Motivation und Selbstvertrauen schöpfen zu können. Doch bislang fängt das Lippenstiftherz nur an zu jucken, sobald ich beim Tanzen schwitze.

Auf dem Weg in den Ballsaal vermeide ich Blickkontakt mit den anderen Tänzerinnen, denn einerseits möchte ich mich nicht von ihnen einschüchtern lassen, andererseits will ich nicht, dass ihre Anspannung meine weiter erhöht. Dennoch wünsche ich wie viele andere »viel Erfolg« und hebe meine gedrückten Daumen in die Höhe.

Ich würde mich gern eingehender im prunkvollen Saal umschauen, aber es fällt mir schwer, mich darauf zu konzentrieren. Was ich wahrnehme, ist ein riesiges Fresko, das sich über alle vier Wände hinwegzieht. Dazu mehrere gigantische Kronleuchter und inmitten der Decke eine gläserne Kuppel.

Wir nehmen im Zuschauerraum Platz. Bis mein Name aufgerufen wird, muss ich mich innerlich mehrmals ermahnen, zwischen den anderen Tänzerinnen sitzen zu bleiben und nicht zurück zu meiner Tasche zu stürmen, um doch noch einen Schluck aus dem Flachmann zu trinken. Aber ich bleibe auf meinem gepolsterten Stuhl und verfolge die Auftritte meiner Mitbewerberinnen. Eine Performance ist grandioser als die andere, sodass ich meine eigene komplett infrage stelle.

»Die Nächste ist Engel, Charlotte«, verkündet Flora Faber.

Ich kneife die Augen zusammen und schicke ein Stoßgebet in Richtung Himmel.

Feuerwerk.

Dann stehe ich auf, schiebe mich durch die Sitzreihe und betrete die Bühne. Die zweifellos größte, imposanteste Bühne, auf der ich je mit meinen wackligen Beinen gestanden habe. Umrahmt von Marmorsäulen, die Vorhänge aus schwerem roten Samt, die Bretter poliert, sodass es leicht nach Lack riecht, breitet sich die Bühne vor mir aus und scheint genauso gebannt wie das Publikum auf meinen Tanz zu warten.

Ich kann das. Ich habe schon unzählige Male vor Publikum getanzt, vielleicht ist es nie so bedeutend gewesen wie jetzt, aber ich kann das verdammt noch mal.

Alles, was ich tun muss, ist, meine Seele aufs Parkett zu bringen.

Ein letzter flacher Atemzug, dann setzt die Orchestermusik ein.

Während ich im Takt der Operette über die Bühne tippele, schwinge ich meinen Volantrock von rechts nach links. Es raschelt und knistert; schneller, immer schneller schwenke ich die kiloschweren Rüschen, strecke den Rücken durch, gewinne noch ein paar Zentimeter, indem ich das Kinn anhebe, und werfe genau in dem Moment das Bein senkrecht in die Höhe, in dem die Trompete ertönt.

Den French Cancan als Einzelperformance vorzuführen, mag riskant sein, denn dieser Tanz lebt von dem Getummel und Getose mehrerer, aber ich muss etwas Außergewöhnliches wagen.

Unter den fieberhaften Streichern und ekstatischen Flötenklängen reiße ich abwechselnd die Beine hoch, strecke sie bis in die Fußspitzen durch, schwinge den Rock. Dabei spanne ich die Muskeln stark an und zementiere ein breites, makelloses Lächeln auf mein Gesicht, als wäre ich ein Mädchen, das noch keinen regengrauen Tag erlebt hat. Gut. Sehr gut.

Abrupt lasse ich die Rocklagen fallen, nehme drei große Schritte Anlauf und schlage ein Rad, doch statt auf den Beinen zu landen, rutsche ich direkt in einen Spagat und stoße einen hellen Jubelschrei aus.

Vier Sekunden lang halte ich die Pose. Normalerweise würde das Publikum in Applaus ausbrechen, doch mir schlägt eine Wand stiller Beobachtung entgegen. Die kritischen Blicke von Flora Faber und den anderen Bewerberinnen ruhen auf mir.

Wenn ich tanze, vergesse ich nicht alles um mich herum. Im Gegenteil, ich nehme mich und mein Publikum überdeutlich wahr, versuche mich durch ihre Augen zu sehen, jede Bewegung, jedes Lächeln, jedes Geräusch noch einmal durch eine Außenperspektive zu bewerten. Es ist etwas ganz anderes, unter weiblichem als unter männlichem Blick zu tanzen. Denn auf den ersten kommt es wirklich an. Männer lassen sich leicht die Köpfe verdrehen, Frauen nicht.

Der Moment lastet schwer auf meinen Schultern, doch ich stemme mich dagegen, springe aus dem Spagat auf die Beine, werfe den Rock hinten hoch und strecke meinen in Satinspitze gekleideten Hintern raus, die einzig frivole Geste, die ich mir noch erlaube.

Die Musik nimmt noch mehr Tempo auf, im schnellen Zweivierteltakt wirbele ich über die polierten Holzbretter, bis ich innehalte, das Bein erneut hochwerfe, doch diesmal nicht sinken lasse, sondern danach greife. Auf einem Bein drehe ich mich im Kreis. Der rot-weiße Volant fliegt, fliegt, fliegt, während ich springe und mich drehe und lächle, so sorgenlos lächle und … zur Seite umknicke.

Nur ein klein wenig. Nur für eine Schrecksekunde, in der ich das Gleichgewicht verliere und schwanke wie ein Setzling im Wind – aber es passiert.

Panik. Versagen. Ich habe …

Nein. Abschlusspose. Jetzt.

Ich lasse mein Bein los, nehme erneut Anlauf und vollführe einen Scherensprung, der nicht zum klassischen Cancan-Repertoire gehört und deshalb ein Risiko darstellt. Sobald ich auf beiden Beinen lande, sinke ich im Spagat nieder, strecke beide Arme von mir und hebe den Kopf. Lächeln. Atmen. Mir den Brustkorb vor Glückseligkeit zerfetzen lassen.

Noch immer kein Applaus, nur stoische Gesichter, die im Dunkeln liegen. Ich schaue nicht zu Flora Faber, sondern ins Scheinwerferlicht. Blinzele gegen die grelle Helligkeit an, spüre den Schweiß auf meinem Gesicht, das wild pochende Herz. Staub glänzt in der Luft. Obwohl mir heiß ist, habe ich Gänsehaut.

Denn ich habe alles gegeben und bin trotzdem umgeknickt.

Kapitel 2

Charlie

Nachdem sich alle Teilnehmerinnen präsentiert haben, versammeln wir uns wieder hinter der Bühne und warten auf Flora Fabers Entscheidung. Ich sitze breitbeinig auf den Holzdielen, betrachte die abgelaufenen Absätze meiner Stiefeletten und versuche, das Getuschel um mich herum auszublenden. Es funktioniert nicht.

»Ich habe schon als kleines Mädchen davon geträumt, im Lichtenstein aufzutreten«, sagt eine Tänzerin mit schwarz-grünem Haar. »Seit ich von der Nachtigall gehört habe, wollte ich sein wie sie. Ich bin zwar keine Sängerin, aber das Publikum so in den Bann zu ziehen, wäre großartig.«

»Meine ganze Familie erwartet, dass ich es schaffe«, stöhnt eine andere. »Ich habe keine Ahnung, wie ich meiner Mutter unter die Augen treten soll, wenn ich nicht genommen werde.«

»Das wirst du ganz bestimmt. Du warst umwerfend, Antonella.«

»Danke. Du auch, Nelly.«

Die Varietéchefin lässt sich Zeit. Mit jeder vergehenden Minute steigt die Spannung. Je länger ich auf meine Absätze starre und meinen Fehler Revue passieren lasse, desto mehr Wut auf mich selbst mischt sich unter meine Aufregung.

Flora Faber hat mein Straucheln gesehen. Alle haben es gesehen. Ob es ein unglücklicher Moment oder meine tatsächliche Unfähigkeit gewesen ist, ist egal. Meine Performance war nicht tadellos. Punkt.

Nelly lacht glockenhell auf. Ohne aufzusehen, erkenne ich sie nach ihrem Auftritt an ihrer Sopranstimme. Sie kann nicht nur tanzen, sondern auch singen wie ein verdammter Opernstar. »Ach, ich hoffe nicht wegen der Tanzerei auf das Engagement, sondern …«, ihre Stimme ist nun voller Entzücken, »… wegen der Bälle.«

Nun ruckt mein Kopf doch hoch.

»Die Bälle?«, fragt die Schwarzhaarige, deren Namen mir entfallen ist. Irgendwas mit C … Claudia oder Claudette oder so ähnlich. »Glaubst du etwa den haarsträubenden Gerüchten über dieses Hotel?«

Nellys buschige Augenbrauen springen auf. »Du etwa nicht?«

»Nein.« Sie rümpft die Nase. »Ich glaube, dass der Hotelgründer Robert Lichtenstein Frauen berühmt machen kann. Wie die Nachtigall eben. Aber all das Gerede über die Magie, die das Hotel wirken kann, oder die Tanzbälle, auf denen sich ein Traum erfüllen soll … Ich bitte euch. Wir sind erwachsene Frauen und keine kleinen Mädchen, die auf Märchen hoffen. Der große Zauber des Lichtenstein ist Geld. Sehr viel Geld.«

»Glaubst du, als Tänzerin im Varieté darf man die Bälle automatisch besuchen?«, fragt Antonella Nelly. »Sind sie dafür nicht zu exklusiv?«

Interessiert kommen die anderen näher und bilden einen Kreis um die silberblonde Nelly. »Vielleicht landet mein Name nicht automatisch auf der Gästeliste, aber ich kann die Chance sicherlich erhöhen, wenn ich bereits Zutritt zum Hotel habe.« Mit ausgestreckten Armen dreht sie sich um die eigene Achse. Auch wenn Gesangstalent nicht explizit für die Stelle als Varietétänzerin gefordert wird, hat Nelly durch ihre Stimme einen immensen Vorteil. Außerdem war ihr Auftritt im Vergleich zu meinem fehlerfrei. Verärgert balle ich die Hände zu Fäusten und ramme die Fingernägel in meine Handballen.

»Wäre an den Gerüchten etwas dran, wäre der Bürgermeister längst eingeschritten. Er würde doch nicht zulassen, dass es in L. ein Hotel gibt, in dem es nicht mit rechten Dingen zugeht«, echauffiert sich die Schwarzhaarige.

»Also ich habe gehört, dass es sehr wohl einen Politiker gab, der das Lichtenstein schließen wollte, doch der endete als Weihnachtsfigur in einer Schneekugel«, mischt sich eine weitere Tänzerin ein.

»Das war kein Kommunalpolitiker, sondern ein Journalist, der rufschädigende Artikel über das Hotel geschrieben hat und nun als Frosch in einem Puppentheater gefangen ist.«

»Das ist doch vollkommen absurd!« Claudia oder Claudette oder so ähnlich stemmt die Hände in die Seiten. »Wie überall auf der Welt ist Geld das große Geheimnis. Keine Magie, sondern ein profaner Haufen Kohle!«

Die Diskussion wird hitziger, bald mischen sich immer mehr Frauen ein. Der Streit mag für einige eine willkommene Abwechslung zur Warterei sein, mich jedoch wühlt er nur noch mehr auf. Meine Nerven sind bereits so gespannt und die Wut auf mich selbst so groß, dass ich die Debatte kaum aushalte. Als eine beteuert, dass man nach dem Vortanzen mehreren Initiationsriten und Teufelsbeschwörungen beiwohnen müsse, und eine andere darauf in Tränen ausbricht und schluchzt, sie wolle ihre Bewerbung zurückziehen, stehe ich auf.

Mehrere Tänzerinnen schauen mich irritiert an. »Ich muss auf die Toilette«, murmele ich, und durchquere die Garderobe, eile den Dienstbotengang entlang und laufe durch das Treppenhaus. Erst als ich im Keller bin, stoppe ich und lehne mich gegen die kalte Steinwand.

Wem mache ich etwas vor? Ich könnte bis zur Pension zurückgehen, nein, ich könnte die Stadtgrenzen von L. hinter mir lassen und würde nicht genug Abstand zwischen mich und mein Versagen bringen.

Gerade als ich mich von der Wand abstoßen will, biegt eine schwarzhaarige Frau in weißem Kittel um die Ecke. Meine Frustration wird schlagartig vom Adrenalin weggespült, denn ich kann nur einen Namen denken: Wanda.

Ich wage es nicht, noch einmal genauer hinzusehen, zu groß ist die Angst, dass ausgerechnet meine Schwester mich jetzt entdeckt. Also reiße ich die erstbeste Tür auf.

Der Geruch von Schweiß, Gummi und Metall kommt mir entgegen. Ich stehe in einem riesigen Trainingsraum. Während mein Herz noch vor Wanda davonläuft, höre ich … ein Keuchen?

Ich gehe tiefer in den fensterlosen Raum. Auf der einen Seite gibt es eine bodentiefe Spiegelwand mit Ballettstange, auf der anderen einen Boxring, und dazwischen zahlreiche andere Geräte, Matten und Bälle.

Im Ring steht ein Mann in knöchelhohen Schuhen, der auf den Boxsack einprügelt. Seine Bewegungen sind zwar fließend, aber alles andere als elegant, vielmehr drischt er mit eisenharten Schlägen auf den Sack ein, als hinge sein Leben davon ab. Schlag, Schlag, Atem.

Für ein paar Sekunden schaue ich ihm zu, denn so viel ungezügelter Zorn hat etwas Faszinierendes. Doch plötzlich hält der Mann inne und fährt zu mir herum. Sein Blick trifft mich wie ein präziser Faustschlag. Sofort schäme ich mich, weil ich ihn wie eine amateurhafte Stalkerin beobachtet habe, zwar gruselig, aber lausig auffällig.

Seine nackte Brust hebt und senkt sich mit jedem hektischen Atemzug, Schweiß fließt von seinen Schlüsselbeinen über seine definierten Muskeln, er sagt kein Wort, hebt nur minimal die Augenbrauen.

»Hallo, ich … ich bin die neue Varietétänzerin.« Mit beiden Händen schließe ich meine Aufmachung ein, von dem ausladenden Volantrock über die enge Korsage bis zur Federboa. Sein Blick folgt meiner Bewegung nicht, sondern bleibt auf mein Gesicht gerichtet, zuckt nicht einmal in die Richtung abwärts meines Halses. »Also ich bin fast die neue Varietétänzerin, ich habe das Engagement noch nicht bekommen, aber es könnte jede Minute so weit sein oder auch nicht, da ich …« … offensichtlich eine Tänzerin bin, die nicht einmal ihr Gleichgewicht halten kann.

»Wie dem auch sei«, wiegle ich ab. »Vielleicht willst du mir ja die Daumen drücken?«

Seine Miene rührt sich nicht. Bis auf die angehobenen Brauen bleibt sein Ausdruck starr. Ich habe in den ersten Sekunden verstanden, wie bedenklich attraktiv er ist, doch ebenso, dass er um seine Schönheit weiß. Diese stoische Selbstsicherheit, mit der er vor mir steht und mich auflaufen lässt, verrät mir, dass er seine Wirkung auf andere genau kennt.

»Dann … keine gedrückten Daumen?«

Er lässt die Augenbrauen ein winziges bisschen mehr in Richtung seines dunkelbraunen Haaransatzes wandern. Ich erkenne Selbstsicherheit nicht nur, sie macht mich für gewöhnlich auch unsicher, sodass ich die Beine kreuzen und die Arme verschränken, mich unter seiner Präsenz klein machen möchte. Aber da ich mich nicht mehr so schnell einschüchtern lassen will, kämpfe ich dagegen an, stelle mich breitbeinig hin und recke das Kinn. »Du scheinst eine Anstellung im Lichtenstein bereits bekommen zu haben, herzlichen Glückwunsch. Was erhoffst du dir hier? Ruhm? Reichtum? Oder hoffst du etwa auf Magie?«

Noch immer sagt er nichts, sondern schnaubt nur abfällig und wendet sich wieder dem Sack zu. Springenden Schritts verfällt er in seinen Schlag-Schlag-Atem-Rhythmus und hat für mich nicht einmal mehr die gehobenen Brauen übrig.

Seine deutliche Ablehnung lässt meine Wangen heiß werden, aber ich versuche, mir mein Schamgefühl nicht anmerken zu lassen, und wende mich ab. Auf dem Weg hinaus widerstehe ich dem Drang, mich noch einmal zu ihm umzudrehen, denn ich weiß genau, dass er mir nicht nachsieht.

Als ich zu den anderen Tänzerinnen zurückkehre, hat sich ihr Streit gelegt, denn in ihrer Mitte steht Flora Faber. Sie wirft mir einen missbilligenden Blick zu, ich greife entschuldigend zu meiner Toilettengang-Ausrede, und meine Nervosität schlägt mit einem Mal so zu, wie es nicht einmal der schweigsame Boxer könnte.

»Zu Robert’s Girls gehören ab sofort …«, die Varietéchefin macht eine bedeutungsschwere Kunstpause, mein Herz rast so schnell, dass ich fürchte, mein Kreislauf sackt zusammen, »Nelly Nowak, Maria Valentina Vargas, Djamila Haddad, Bunny und Charlotte Engel.«

Da ist er. Mein Name aus ihrem Mund. Ich bin Teil der Tänzerinnengruppe, Teil des Unterhaltungsprogramms des spektakulären Grandhotel Lichtenstein.

O mein Gott.

Ich habe es tatsächlich geschafft.

»Herzlichen Glückwunsch.« Ihre Knopfaugen gehen durch die Reihen der Bewerberinnen. »Dem Rest wünsche ich viel Erfolg für die weitere Karriere. Ich weiß, wie einmalig die Chance ist, im Lichtenstein zu tanzen, doch mit einer Menge Glück habt ihr vielleicht noch einmal die Möglichkeit, euch hier vorzustellen. Robert’s Girls bringen am Montag die unterschriebenen Verträge zum Training mit. Es gibt keine Verhandlungen, kommt mir bloß nicht mit mehr Gage oder Urlaub.« Sie dreht sich zum Gehen um, hält jedoch inne.

»Eins noch«, sagt sie und fasst sich an die Krempe ihres Zylinders. »Im gesamten Hotel gibt es eine Regel, die unter keinen Umständen gebrochen werden darf. Sie lautet: Ihr dürft nicht pfeifen. In keinem Raum, keinem Zimmer, keinem Saal, nirgendwo ist das Pfeifen gestattet.« Mit einem abschließenden Nicken verlässt sie die Bühnengarderobe.

Sofort ertönen enttäuschte Klagen und verärgertes Gemurmel, doch aus meiner Kehle löst sich ein Freudenschrei. Pikiert schauen mich die anderen an, aber das ist mir gleich.

Ich habe es geschafft.

Ich bekomme meine zweite Chance.

Ich werde eine Tänzerin, deren Name so groß ist, dass Männer wie John van Dam allein bei dem Versuch, ihn auszusprechen, kläglich daran ersticken.

Jetzt muss ich die frohe Botschaft nur noch Wanda überbringen. Und hoffen, dass ich am Montag zum Training mit einem Kopf auf den Schultern erscheine.

Kapitel 3

Willem

Ich boxe so lange auf den Sack ein, bis mich der Schwindel erfasst. Keinen Schlag früher oder später höre ich auf, sondern genau in dem Moment, in dem mein Sichtfeld an den Rändern verschwimmt und meine Beine ihren festen Stand verlieren. Dann – genau dann – lasse ich die Arme sinken und stoppe den hin und her schwingenden Sack. Ich atme tief ein und aus, dehne den Brustkorb, um so viel Sauerstoff wie möglich in meine Lunge zu lassen. Mein atemloses Keuchen hallt durch den hohen Raum.

Das war ein brauchbares Training. Nicht einwandfrei, denn ich wurde von dieser redseligen Varietétänzerin unterbrochen, doch ich konnte meinen Körper so weit an seine Grenzen treiben wie nötig.

Mit den Zähnen löse ich die Schnürung der Handschuhe, erst links, dann rechts, ziehe meine nassen Hände hervor und greife zur Wasserflasche. Gierig trinke ich ein paar Schlucke. In einer der Duschen am Ende des Raums wasche und ziehe ich mich um.

Die Anspannung, die ich seit meiner Ankunft im Lichtenstein vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden spüre, fällt von mir ab, zurück bleiben nur übersäuerte Glieder und ein klarer Kopf. Von meinem Heimatdorf in Süddeutschland ist es ein langer Weg bis nach L. gewesen, die Reise hat fast zehn Stunden gedauert. Zehn Stunden, in denen mein Brustkorb enger und mein Atem flacher geworden ist, zehn Stunden, in denen es sich angefühlt hat, als würde sich meine Haut um mich zusammenziehen. Umso besser fühlt es sich jetzt an, die Beklemmung fürs Erste losgeworden zu sein.

Erleichtert verlasse ich den Sportraum. Neben weiteren kleineren Trainingsräumen befinden sich im Hotelkeller noch eine Gastroküche, die Verwaltung, eine Wäscherei und der imposante Weinkeller.

Nur wo der Tunnel hinführt, an dem ich gerade vorbeikomme, weiß ich noch nicht. Meine Schritte verlangsamen sich, und ich starre in den dunklen Schlund. In einiger Entfernung erkenne ich ein blassrotes Licht, es flackert, als würde es von einer Brise erfasst werden. Wie kann das sein? Hier unten gibt es keinen …

Eine Windböe peitscht mir entgegen, reißt an meiner Stoffhose und bringt mein Leinenhemd zum Flattern. Instinktiv hebe ich die Hände vors Gesicht, doch so plötzlich, wie die Böe aufgekommen ist, legt sie sich wieder, lässt nur einen leichten Schwefelgeruch und eine irritierende Granatapfelnote zurück.

Beim nächsten Einatmen riecht die Luft wieder kellermodrig. Beim nächsten Blick in den Tunnel leuchtet das Licht starr und strebsam, kein Flackern, kein Flimmern.

Hätte ich heute keine anderen Pläne, würde ich dem Tunnel sofort folgen, doch das muss noch warten.

Vom Keller bis ins Dachgeschoss des riesigen Hotelbaus sind es sechs Stockwerke. Im Treppenhaus halte ich mich dicht an der Wand und den Blick auf die gefliesten Stufen gesenkt. Die sechseckigen Fliesen schimmern in einem auffälligen Ozeanblau, das stellenweise glänzt wie das Innere einer Muschel. Mir kommen mehrere Bedienstete entgegen. Eine Frauenstimme grüßt, doch ich schaue weder auf noch antworte ich, sondern nehme Stufe für Stufe im Gleichschritt.

Insgesamt hat das Lichtenstein dreihundert Zimmer und fünfzig Luxussuiten, die sich in dem hohen Turmgebäude neben dem Hotel befinden. Wie Francesca von der Rezeption mir gegenüber mehrmals betont hat, sind hier ausschließlich Erwachsene willkommen. Keine Familien, keine Jugendlichen und unter keinen Umständen Kinder. Für den Inhaber Robert Lichtenstein sind Kinder nur eine geschäftsschädigende Teufelsbrut, die ihren Eltern die Nächte rauben.

Von meinen Haarspitzen rinnen letzte Wassertropfen und fallen auf die Fliesen. Die Unregelmäßigkeit stört mich, aber ehe ich mich länger damit aufhalten kann, erreiche ich den fünften Stock. Ich öffne die Treppenhaustür und trete in den breiten Flur des Dachgeschosses, an dessen Ende bodentiefe Holzläden zu einem winzigen Balkon führen.

Meine Schritte werden von dem Teppich geschluckt. Bei meinem ersten Gang durch das Hotel gestern ist mir aufgefallen, dass in den anderen Stockwerken handgeknüpfte Seidenteppiche mit floralen Ornamenten liegen, hier oben jedoch nur welche aus brauner Baumwolle. Alle paar Meter hängen verzierte Messingleuchten an den rot tapezierten Wänden, die gedimmtes Licht spenden. Ansonsten ist der Flur schmucklos, es gibt weder Wandteppiche noch Gemälde oder andere Dekoelemente wie auf den Stockwerken der Gästezimmer. Wozu auch? Unter dem Dach ist das Showpersonal untergebracht, hier geht es nicht mehr um Ambiente, Entertainment und erstklassigen Komfort, hier bekommen die erschöpften Darstellenden wenige Stunden Schlaf und eine lauwarme Mahlzeit.

Alle Räume, die vom Flur abgehen, sind mit unterschiedlichen Buchstabenkombinationen gekennzeichnet. Manche Zimmer werden von drei oder vier Personen bewohnt. Ich habe Glück und teile mir den engen Raum nur mit einem weiteren Showboxer: Ron.

Bei seiner Ankunft gestern Abend hat er mir freundlich die Hand geschüttelt und sich vorgestellt, aber trotz seiner Höflichkeit wird er im Ring keine Chance gegen mich haben. Etwas in mir wollte Ron warnen und ihm raten, sich eine andere Anstellung als Boxer zu suchen, doch wie hätte ich das erklären sollen, ohne arrogant zu wirken? Wie hätte ich erklären sollen, dass ich in all den Jahren jeden einzelnen Kampf gewonnen habe, nicht unbedingt, weil ich stets der Bessere gewesen bin, sondern weil meine Gegner wie vom Pech verfolgt scheinen, sobald sie mir im Ring gegenüberstehen?

Als ich die Tür zu unserem Zimmer öffne, stelle ich erleichtert fest, dass Ron nicht da ist. Unsere Metallbetten stehen sich an den Wänden gegenüber, jeder hat einen runden Ablagetisch neben dem Kopfende. In einer der Ecken gibt es eine kurze Küchenzeile, in der anderen ein Waschbecken. Toiletten und Duschen befinden sich am Ende des Flurs.

Es riecht immer noch nach dem Vanilleparfüm von Rons Freundin, mit dem er gestern sein Kopfkissen eingesprüht hat. Mit einer Reißzwecke hat er ein Foto der dunkelhaarigen Frau an die Wand über seinem Bett gehängt und mir erzählt, dass sie Rachel heißt. Ron und Rachel, das würde doch wunderbar zusammenpassen. Rachel ist im dritten Monat schwanger, das Kind wollen sie entweder René oder Rebekka nennen, und um für seine Familie eine Wohnung zu finden, müsse Ron viel Geld im Lichtenstein machen. Schließlich seien die Immobilienpreise in der Stadt unbezahlbar. Während er sein Kissen so stark einparfümiert hat, dass es bereits gedampft hat, hat er versichert, alles zu tun, um den anstehenden Bare-Knuckle-Kampf für sich zu entscheiden.

Ich wollte es nicht hören und auch jetzt will ich nicht rüber auf seine Seite und in Rachels Gesicht sehen. Stattdessen werfe ich meine Sporttasche zu Boden, hebe das Ende der durchgelegenen Matratze an und hole mein Notizbuch sowie Briefpapier hervor.

Sehr geehrter Herr Artur Lichtenstein,

schreibe ich mit blauer Tinte auf das Papier,

mit diesem Schreiben bitte ich Sie höflichst um eine persönliche Anhörung in Bezug auf die Showfähigkeit der Hotelboxer. Das hauseigene Trainingsmaterial ist leider in einem derart maroden Zustand, dass sich die Boxer kaum vorbereiten können. Ich fürchte daher um die Qualität der Bühnendarbietung. Bitte lassen Sie uns gemeinsam zur bestmöglichen Lösung kommen.

Hochachtungsvoll

Willem Bakker

Bis ich den Brief bei Francesca am Empfang abgeben kann, stecke ich ihn in meine hintere Hosentasche zu dem Notizbuch.

Alles, was ich bisher über das Hotel in Erfahrung gebracht habe, ist hier notiert. Von Francesca weiß ich nicht nur, dass das Grandhotel ausschließlich Erwachsene beherbergt, sondern auch, dass ein Flugblatt namens Stille Post für Aufruhr sorgt. Ich muss mir zeitnah ein Exemplar des Blattes sichern.

Aber zunächst muss ich einer Sache nachgehen, die der Grund dafür ist, dass ich überhaupt an diesem widerlichen Ort bin und mich als Showboxer zum Idioten mache.

Ich gehe zur schmalen Küchenzeile. Im Schrank unter der Spüle steht ein Putzeimer, dessen Henkel ich aus der Fassung breche. Als ich aus der Zimmertür trete, schaue ich vorsichtig den langen Flur hinauf und hinunter. Während ich zum Ende gehe, biege ich den Metallhenkel des Eimers zurecht, meine Finger arbeiten präzise und schnell.

In meinen Notizen sind mir zwei Fehler unterlaufen, die ich korrigieren muss. Dass das Lichtenstein über dreihundert Zimmer verfügt, hat mir nicht nur Francesca gesagt, ich habe mir die Zahl noch einmal von einem Barkeeper und einem Stammgast bestätigen lassen. Zudem habe ich angenommen, dass die Räume des Showpersonals nicht mit Zahlen, sondern mit Buchstaben nummeriert sind.

Zwei Fehler, die sich nicht wiederholen dürfen.

Am Ende des Flurs liegt ein Zimmer, dessen Nummerierung nicht aus zwei oder drei, sondern anscheinend aus vier Buchstaben besteht: CCCI. Drei C, ein I. Oder in römischen Zahlen: dreihunderteins. Ein Raum, den es nicht geben sollte. Ein Detail, das in der allgemeinen Unaufmerksamkeit untergeht.

Und genau hier kommt ein Hinweis ins Spiel, der mir bei meinem letzten illegalen Boxkampf zu Hause zugesteckt wurde. Ein Zettelchen mit einer Adresse, einem Namen und einer Nummer: 301.

Jemand wollte, dass ich der Adresse folge und sie im Automatenspiel finde, jemand wollte, dass ich nicht länger die Augen verschließe, sondern die Wahrheit über sie erkenne.

Ich sehe über die Schulter, erblicke niemanden und schiebe den Dietrich, den ich mittlerweile aus dem Eimerdraht gebogen habe, in das Türschloss.

Was ich mir im Lichtenstein erhoffe, hat mich diese aufdringliche Varietétänzerin vorhin gefragt. Ob ich auf Magie hoffe.

Nein. Das hoffe ich nicht. Im Gegenteil. Hätte es für mich die kleinste Handlungsalternative gegeben, bestünde die winzigste Chance, meine Angelegenheiten anders zu klären, hätte ich diesen verfluchten Ort niemals auch nur mit der Schuhspitze betreten.

Die Tür springt auf, ein letzter prüfender Blick über den Flur, dann gehe ich in das Zimmer, das es offiziell nicht gibt.

Es ist geräumiger als das von Ron und mir und ähnelt mehr einem klassischen Hotelzimmer. Das Doppelbett ist mittig im Raum platziert, Decken und Kissen darauf akkurat hergerichtet, die Möbel sind aus Mahagoni, es gibt keine Küchenzeile, dafür ein separates Bad.

Dort beginne ich und suche jeden Zentimeter nach etwas Auffälligem ab. Die Luft riecht abgestanden, als wäre die letzte Reinigung lange her, doch es ist sauber, die Schränke sind bis auf eine Tube Zahncreme leer. Ich verlasse das Bad und gehe durch das Zimmer auf den Schreibtisch zu. Trotz Teppich knarzt der Boden unter mir, und ich habe das Gefühl, dass mir eine graue Kälte unter die Haut kriecht. Langsam richten sich die Härchen auf meinen Armen auf, und mein Atem bildet sichtbare Wolken.

Als sich Eiskristalle auf der Fensterscheibe formen, wird mein Puls schneller.

Das kann unmöglich echt sein, die Oktobertemperaturen liegen momentan deutlich über dem Gefrierpunkt.

Ich konzentriere mich auf meine Umgebung. Was sehe ich wirklich?

Zwei weiße Kissen – twee witte kussens.

Eine Tischlampe – masa lambası.

Ein großer Kleiderschrank – une grande armoire.

Was höre ich wirklich?

Entfernte Schritte auf dem Flur, das Knarzen unter meinen Schuhen, als ich vor- und zurückwip… Warum knarzt der Teppichboden?

Ich gehe in die Knie und betrachte ihn genauer, er ist dunkelblau, von einem weißen Linienmuster durchzogen und löst sich ein Stück von der Fußleiste. Ich verlagere mein Gewicht, es knarzt erneut. Mit beiden Händen packe ich das lose Stück des Teppichs und ziehe daran. Ein reißendes Geräusch schneidet durch die Stille, ich wende mehr Kraft auf, zerre weiter, bis unter dem Teppich Holzdielen zum Vorschein kommen.

Ich befühle die Dielen. Eine davon ist lose. Als ich sie anhebe, friere ich nicht mehr, vielmehr sind meine Hände vor Aufregung feucht und ich atme laut.

Unter der Holzdiele liegt ein zusammengebundener Stapel Briefe. Ich greife danach, wische Staub und Dreck mit dem Hemdsärmel ab, lasse den Daumen über das rote Band gleiten, das die Umschläge zusammenhält.

Als ich den Stapel umdrehe und die Namen des Absenders und Empfängers lese, überschlägt sich mein Puls.

Von: Sunny Lichtenstein.

An: Artur Lichtenstein.

Sie hat an den Hotelerben Artur Lichtenstein geschrieben? Mit kaltnassen Händen löse ich das Band und öffne einen der Umschläge, doch er ist leer. Rasch greife ich zum nächsten, aber auch in diesem Kuvert ist kein Brief. Überall fehlt der Inhalt.

Wer hat die leeren Umschläge hier versteckt? Robert Lichtensteins Sohn persönlich? Oder der unbekannte Mann, der mir den Hinweis nach meinem letzten Kampf hat zukommen lassen? Und wo sind ihre Briefe an ihn?

Als ich den Stapel Umschläge unter mein Hemd schiebe, spüre ich, wie die Anspannung in meinen Körper zurückkehrt. Die Wirkung des Trainings hat nicht einmal eine Stunde angehalten, schon fühle ich mich wieder unwohl und eingeengt.

Ich schiebe die Diele zurück, lege den zerrissenen Teppich darüber und verlasse das Zimmer.

Gerade als ich aus der Tür trete und sie hinter mir zuziehen will, betritt eine Frau den Flur. Ihr Kopf ruckt in meine Richtung, unsere Blicke treffen aufeinander. Ich sehe die Überraschung in ihrem Gesicht, wie sie den Schock in meinem sehen muss.

Verdammt.

Die Varietétänzerin hat mich erwischt.

Kapitel 4

Willem

Zwei Monate zuvor

Die Menge tobt und schreit meinen Namen.

Ich fokussiere mich auf Léo, der Vaseline um meine Augen und meine Nase aufträgt und dabei die Zungenspitze zwischen die Lippen schiebt, wie er es immer tut, wenn er sich konzentriert.

Er reicht mir den Mundschutz. »Bist du bereit?«

Ich setze ihn ein und nicke, balle meine bandagierten Hände zu lockeren Fäusten und springe auf der Stelle.

»Gut.« Léo klopft mir auf die Schulter. »Du machst ihn sowieso fertig. Merde!«

Als ich aus der Ringecke meinem Gegner gegenübertrete, drängt sich das Publikum dichter um die provisorische Abgrenzung aus Heuballen. Der Jubel bringt die Scheune am Rand des Nachbardorfs zum Beben.

Obwohl ich in all den Jahren keinen Boxkampf verloren habe, genieße ich das Adrenalin, das durch meine Blutbahn rauscht. Es zeigt, dass ich meine Kontrahenten ernst nehme und den Sieg nicht für selbstverständlich halte. Dennoch weiß ich, worauf der illegale Kampf hinauslaufen wird, und will ihn so schnell wie möglich beenden. Ich bin nicht wegen der Show hier, nicht wegen der Menschen, die meinen Namen kreischen, nicht einmal wegen des sportlichen Wettbewerbs, sondern einzig und allein wegen des Preisgelds.

Mein Gegner muss von mir gehört haben, denn er steigt defensiv in den Kampf ein. Ich durchschaue seine Strategie sofort, er will sich nicht gleich in der ersten Runde verausgaben und alles riskieren, weshalb er auf Ausdauer und Abwehr setzt, bis ich müde werde und Fehler mache.

Leider wird das nicht passieren. Ich nähere mich tänzelnd, er weicht zurück und will meinen Schlag blocken, bekommt aber die Arme nicht schnell genug hoch, sodass mein rechter Haken auf sein Kinn trifft.

Er fällt zurück auf einen Heuballen, die Menge grölt, sein Cutman ist bei ihm und spritzt ihm Wasser ins Gesicht. Taumelnd kommt er wieder auf die Beine.

Ich gebe ihm wenige Sekunden, greife dann jedoch an; ich will ihn nicht demütigen, ich will die Nummer für uns beide beenden.

Dass seine Arme bleischwer scheinen und er sie kaum hochheben kann, liegt nicht an ihm, sondern an mir. Das ist meine übliche Wirkung. Sobald mir meine Gegner im Ring gegenüberstehen, passieren ihnen unerklärliche Dinge.

Vorbei an seiner Deckung lande ich eine Kombination aus einem zweiten rechten Haken und einem Schwinger. Der Boxer sackt auf dem Scheunenboden zusammen, das Publikum zählt bis zehn, er versucht sich aufzurappeln, schafft es aber nicht.

Léo stürmt an meine Seite und reißt meinen Arm in die Luft. »L’invincible Willem Bakker!«

Der Jubel ist mir so unangenehm, dass ich ihm mein Handgelenk entziehe, über die Heuballen steige und den Ring verlasse.

Mehrere Zuschauer klopfen mir anerkennend auf die Schultern und beglückwünschen mich, aber ich drängle mich direkt zu Bella durch, die das Preisgeld verwaltet. Sie steht vor einer Blechtonne, auf der sich die Kasse befindet. Die Hälfte geht an ihren Vater, der die illegalen Fights organisiert, die andere an den Sieger.

Sie dreht eine Strähne ihres blauen Haars um den Finger und mustert ungeniert meinen Oberkörper. »Nicht eine Schramme, kein Tröpfchen Blut, bist du überhaupt ins Schwitzen gekommen?«

Nachdem ich auffällig oft gewonnen habe, hat ihr Vater auf einen Drogentest bestanden, weil er geglaubt hat, ich würde aufputschende Mittel nehmen. Obwohl die Tests negativ waren und er mir nichts nachweisen konnte, lässt er mich in letzter Zeit seltener an den Boxkämpfen teilnehmen. Damit sich die Zuschauer nicht langweilen, behauptet er, aber ich frage mich, ob die Gerüchte über mich so langsam die Grenzen meines Heimatdorfs überschreiten und sich in den umliegenden Dörfern verbreiten. Glaubt auch Bellas Vater mittlerweile, dass etwas mit mir nicht stimmt? Fürchtet er sich gar vor mir? Das würde erklären, warum er seiner Tochter nur den nötigsten Umgang erlaubt, obwohl sie sich zweifellos nach mehr sehnt.

Andererseits bin ich ihm dankbar, dass ich überhaupt antreten darf. In meinem Dorf würde mich niemand boxen lassen, geschweige denn bejubeln.

»Das Geld, bitte.«

Bellas Augen liegen lange auf mir, bevor sie die Kasse öffnet und mir einen Umschlag überreicht.

Ich überschlage die Summe und nicke ihr zu. »Danke.«

»Warte«, sagt sie, als ich mich abwende. »Ich habe noch etwas für dich.«

Irritiert schaue ich dabei zu, wie sie die Kasse erneut aufmacht und einen gefalteten Zettel herausholt. Als sie mir das Papier reicht, berühren sich unsere Finger. Sie hält es fest.

»Das hat ein Mann für dich abgegeben.«

»Was für ein Mann?«

Sie zuckt mit den Schultern, lässt das Zettelchen aber nicht los. »Keine Ahnung, ich hab ihn noch nie hier gesehen, kommt vermutlich nicht aus der Gegend. Er hat keinen Eintritt gezahlt, sondern nur das Papier abgegeben und mir gesagt, ich solle es Willem Bakker zukommen lassen.«

»Wie sah der Mann aus?«

»Durchschnittlich. Dunkles Haar, Bartschatten, ein Allerweltsgesicht.«

Ich ziehe an dem Zettel, sodass Bella die Finger davon nimmt. »Sag deinem Vater bitte nichts.«

Es wäre verheerend, wenn er glaubt, dass ich zwielichtige Kontakte pflege. Wenn er mich noch seltener kämpfen lässt, bringe ich kaum noch Geld nach Hause.

»Natürlich.« Sie lächelt, wobei zwei tiefe Grübchen auf ihre Wangen treten. In einem anderen Leben wäre sie Schauspielerin, nicht für die Theaterbühne, sondern für den Film, denn Bellas Gesicht wäre aus jedem Kamerawinkel schön.

Léo wartet am Scheuneneingang auf mich. Er wirft mir mein Hemd zu, das ich auffange und überziehe.

»Du hast drei Schläge gebraucht, um ihn k. o. zu setzen. Nur drei verdammte Schläge.« Sein sommersprossiges Gesicht leuchtet, und ich wünschte, ich könnte annähernd so viel Begeisterung für die Fights aufbringen wie er. Aber ich fühle mich manchmal selbst wie ein Betrüger, wenn ich meine Gegner fast mühelos zu Boden schicke.

»Sehen wir uns beim nächsten Mal?«, frage ich und nehme ihm meine Tasche aus der Hand.

»Du kannst auch noch bleiben und deinen Sieg mit uns feiern.«

Kopfschüttelnd ziehe ich den Geldumschlag aus der Hosentasche und reiche ihm einige Scheine. Statt sie entgegenzunehmen, starrt er sie an.

»Für deine Arbeit als mein Cutman.«

Er hebt den Blick, und wir schauen einander in die Augen. Wir wissen beide, dass ich keinen Cutman brauche, aber es einfacher ist, das als Vorwand zu nehmen, um ihm einen Teil der Gewinnsumme abzugeben. Léo und mich verbindet, dass wir es mit unseren dreiundzwanzig Jahren nicht geschafft haben, unsere Elternhäuser zu verlassen. Er will seine jüngere zuckerkranke Schwester nicht mit dem Vater allein lassen, der das Geld der Familie zu häufig in der Kneipe vertrinkt.

»Willem, ich …«

»Nimm es.«

»Danke.« Er fasst nach den Scheinen, macht einen Schritt auf mich zu und schließt mich in die Arme. »Die Arbeit in der Bäckerei wirft nicht viel ab, und Chloes Medikamente sind teuer.«

Ich umarme ihn fester, dann löse ich mich von ihm. »Bis zum nächsten Kampf.«

Er grinst mich an. »Auf jeden Fall, invincible Willem Bakker.«

Den Umschlag in die Sporttasche gesteckt, kehre ich der lärmenden Scheune den Rücken und gehe durch den späten Augustabend zu meinem Wagen. Die Hitze des Tages hängt noch in der Luft, es riecht schwer nach Blumen und Gräsern.

Ich lasse es selten zu, doch gelegentlich frage ich mich, wie es wäre, eine echte Freundschaft zu Léo aufzubauen oder etwas Langfristiges mit einer Frau wie Bella auch nur in Erwägung zu ziehen. Wie es wäre, andere näher an mich heranzulassen und sie nicht auf Distanz zu halten. Wie es wäre, mir meine Einsamkeit einzugestehen. Aber dann erinnere ich mich an das Unglück, das ich für gewöhnlich über Menschen in meinem Umfeld bringe, und komme zu dem Schluss, dass Einsamkeit leichter zu ertragen ist als Schuld.

Ich werfe die Tasche auf den Beifahrersitz, rutsche hinter das Lenkrad und falte das Zettelchen auseinander, das mir Bella gegeben hat.

Das Mondlicht fällt schwach ins Wageninnere, aber es reicht, um das Geschriebene zu entziffern.

Eine Adresse.

Ein Name: Sanne.

Eine Nummer: 301.

Mein Blick friert an dem Namen fest, sekundenlang kann ich mich nicht davon lösen, bis meine Augen zu der Tasche mit dem Preisgeld zucken, das für Sanne bestimmt ist.

Ich habe sie noch nie ausspioniert. In all den Jahren habe ich diese Grenze kein einziges Mal übertreten. Ich bin ihr zwar nie gefolgt, aber dass sie ein Problem hat, weiß ich schon lange.

Ihr Name gepaart mit der Adresse im Industriegebiet kann kein Zufall sein. Wer auch immer hinter dem Papier steckt, weiß zu viel über sie, über mich, über uns.

Mein Atem wird flach vor Angst, der Hals wie abgeklemmt, sodass ich nicht genug Sauerstoff bekomme.

Ich starte den Wagen und fahre vom Hof, ringe um Luft, während ich über die dunkle Landstraße zu der Adresse rase, ringe immer noch, als ich das Industriegebiet zwischen den Dörfern erreiche, in die genannte Straße einbiege und auf dem Parkplatz halte.

Als ich aussteige und auf das Gebäude zulaufe, kann selbst die sommerliche Nachtluft nicht dafür sorgen, dass ich tiefer atme.

AUTOMATENSPIEL prangt in dreckig gelber Beleuchtung über dem Eingang. Drei Männer stehen im Kreis davor und durchwühlen ihre Hosentaschen, keiner hebt den Kopf, als ich an ihnen vorbeihetze.

Im vorderen Bereich befindet sich eine Bar, hinter der ein hochgewachsener Mann steht und mich grimmig mustert. Weiter hinten spielt eine Gruppe Darts, eine Frau ist über einem Roulettetisch eingeschlafen, sie schnarcht rhythmisch, an den Casinotischen wird abwechselnd über die Regeln von Poker und Black Jack gestritten und …

Wie erstarrt bleibe ich stehen. Meine Kehle wird noch enger.

Da steht sie. Vollkommen fokussiert auf den Spielautomaten vor sich. Sie trägt ihre besten Schuhe, die reparierten Absätze bohren sich in den fleckigen Teppich. Dazu Strumpfhosen und ihr liebstes schwarzes Cocktailkleid, dessen Nähte und Reißverschlüsse sie unzählige Male geflickt hat. Ihr dunkelblondes Haar fällt in großen aufgedrehten Locken auf ihre Schultern, mit ihrer manikürten Hand greift sie immer wieder zu dem Drink, der neben dem Automaten steht.

Sie wirft Geld in den Münzeinwurf, drückt den seitlichen Hebel hinunter und wartet, bis die drei bebilderten Walzen rotieren und stehen bleiben. Sie hat kein Glück, die Runde endet mit Bildern von unterschiedlichen Früchten, der Jackpot bleibt nichts weiter als eine naive Hoffnung.

Aber sie gibt nicht auf, holt die nächste Münze aus ihrer Handtasche und wirft sie hinein. Ratternd rotieren die Walzen, rasend, schnell, langsamer, stehen still … eine Banane und zwei Kirschen.

Sie deutet einen Tritt gegen den Spielautomaten an, es wirkt nicht aggressiv, sondern schlicht verzweifelt.

Als sie ihr Glas leert und sich von dem Automaten abwendet, quetsche ich mich in eine Sitznische. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sie in ihrem Cocktailkleid auf einen der Casinotische steigt, die Männer, die daran Poker gespielt haben, starren zu ihr empor, manche ehrfürchtig gefesselt von ihrer Schönheit, andere grinsen widerlich und stoßen sich gegenseitig mit den Ellbogen an.

Sie beginnt zu singen und sich langsam im Kreis zu drehen. Obwohl sie betrunken ist, sind ihre Bewegungen elegant, ihr Gesang klar, satt und so frei, wie ich ihn selten gehört habe.

»Willst du auch was bestellen oder nur in der Gegend herumglotzen?« Der Barmann wirft sich das Geschirrtuch über die Schulter und kreuzt die Arme vor der Brust.

Ich stehe auf, kann unmöglich länger hierbleiben und ihren Anblick ertragen. Mit meinem Kopf deute ich in ihre Richtung. »Ist sie öfter hier?«

»Sunny Lichtenstein?«

»Sunny Lichtenstein?«

Nicht Sanne wie auf dem Zettelchen?

Sein Blick wird wieder so mürrisch wie bei meinem Eintreten. »Ja, Sunny ist öfter hier, Stammgast sozusagen. In letzter Zeit trällert sie, um mein Publikum zu unterhalten, dafür gehen ihre Drinks aufs Haus. Warum fragst du? Wenn du ein Problem mit ihr hast, hast du eins mit mir, Bürschlein.«

Ohne Antwort verlasse ich das Automatenspiel. Noch immer stehen die drei Männer davor und kramen in ihren Hosentaschen. Noch immer kann ich kaum atmen.

Kapitel 5

Charlie

Dass das Lichtenstein Unterkünfte für die Angestellten anbietet, rettet mir mein Obdach, denn ich hätte mir keine weitere Nacht in der Pension leisten können.

Es ist kein Muss für das Personal, im Hotel zu wohnen, aber ich frage mich, wie alle, die es nicht tun, sich bei den explodierenden Mieten Wohnungen in der Stadt leisten können.

Noch am frühen Abend des Vortanzens beziehe ich mein Zimmer im Dachgeschoss. Ich teile es mit Tara und Natalia, zwei Theaterkomparsinnen, die eigentlich Ambitionen hegen, es ins Comedy-Programm zu schaffen.

Während ich meine überschaubare Kleidung aus der Reisetasche in den Schrank räume, sitzen sie auf der unteren Etage ihres Stockbetts und erzählen sich Witze, die so flach sind, dass sie verboten gehören. Aber beide lachen Tränen, und ich würde einen Teufel tun und ihnen den Spaß verderben.

Ein Kleid lege ich nicht in den Schrank, sondern auf mein Bett. Nachdem meine Sachen verstaut sind, ziehe ich es an.

»Warte, ich hab noch einen«, keucht Tara atemlos. »Was ist grün und …«

»Nein, jetzt bin ich dran. Welchen Tisch kann man essen?«

»… sitzt hinter Gittern?«

»Einen Nachtisch«, ruft Natalia, während Tara sie ungeduldig mit dem Ellbogen in die Seite stößt. »Ein Essigschurke! Verstehst du? Essig wie … wow, Charlotte, wo willst du denn noch hin?«

Auf die Suche. Nach Magie. Nach dem lebensverändernden Zauber, den man dem Lichtenstein nachsagt. Nach etwas, das größer ist als ich selbst und an dem ich mich festhalten kann.

Ich zupfe die dünnen Träger meines dunkelroten Satinkleids zurecht. »Mich ein wenig im Grandhotel umgucken.«

»Viel Spaß dabei.« Tara fällt rücklings auf das Bett. »Ich bin nach den langen Theaterproben viel zu müde, um auszugehen.«

»Zu müde? Von was denn? Wir mussten doch nur ein paar Mal durchs Bühnenbild spazieren.«

Bevor ich Gefahr laufe, ihren ausbrechenden Streit schlichten zu müssen, verlasse ich den Raum und gehe über den Flur auf die Tür zum Treppenhaus zu.

Bei Zimmer CCCI muss ich unweigerlich an den Boxer denken, den ich vorhin dabei ertappt habe, wie er aus genau dieser Tür getreten ist. Hätte sich nicht der Schock so deutlich in seiner Miene gespiegelt, hätte ich vermutlich angenommen, dass das sein Zimmer ist. Aber sein Entsetzen war so offensichtlich, dass ich sicher bin, ihn bei was auch immer erwischt zu haben.

Während ich das Treppenhaus hinabgehe, schüttle ich die Erinnerung an den Boxer ab.

Ich würde mich gern erfolgreich, siegreich, ruhmreich fühlen, schließlich habe ich es geschafft. Ich bin Tänzerin im Varieté des Lichtenstein. Ich bin keine Göre aus der Gosse, die es nie zu etwas bringen wird, wie John es netterweise ausgedrückt hat.

Doch alles, woran ich denken kann, ist meine ältere Schwester Wanda. Vielleicht ist der Flurfunk des Hotels schneller gewesen und es hat sich bereits herumgesprochen, wer die fünf neuen Varietétänzerinnen sind. Aber bevor ich mich durch den Abend treiben lasse und mich auf die Suche begebe, ist es noch nicht zu spät, Wanda persönlich unter die Augen zu treten – selbst wenn ich großen Respekt vor ihrer Reaktion habe.

Neben ihrem ausbaufähigen Humor kennen sich Tara und Natalia erstaunlich gut im Lichtenstein aus, sodass sie mir sagen konnten, dass die neue Wäscherei im Keller liegt.

Obwohl es Samstagabend ist, herrscht hier reger Betrieb. Es riecht nach Waschpulver und Weichspüler, die Luft ist trocken, riesige Maschinen reinigen Bettwäsche und Handtücher. Ein Industrietrockner piept, sodass eine Angestellte in weißem Kittel und Haarnetz herbeieilt und ihn ausschaltet. Mehrere Rollwagen voll Wäsche werden über das Linoleum geschoben. Die Mitarbeitenden wirken wie Zahnräder, die ineinandergreifen, jeder Arbeitsschritt geht von einer Hand zur nächsten.

Ein alter Mann schleppt zwei große Säcke Hygienebleichmittel durch den Raum, bleibt jedoch stehen, als er mich sieht. Beim Anblick meines Abendkleids und meiner Pfennigabsätze prustet er belustigt.

»Haben Sie sich verlaufen?«