Glück mit kleinen Fehlern - Helen Brown - E-Book

Glück mit kleinen Fehlern E-Book

Helen Brown

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Beschreibung

Ausgerechnet am fünfzigsten Geburtstag von Lisa Katz stellt sich durch eine falsche Blumenlieferung heraus, dass Lisas Ehemann eine Geliebte hat. Lisa entschließt sich, New York hinter sich zu lassen und nach Australien zurückzukehren. Dort erwirbt sie das Anwesen ihrer Vorfahren: Trumperton Manor. Als es schon beim ersten Unwetter durch die Decke regnet, kommt ihr Scott, der Gärtner, zu Hilfe. Und obwohl Lisa das Kapitel Männer für beendet hält, gelingt es ihr nicht, seinem Charme zu widerstehen. Helen Brown ist eine großartige Erzählerin, die zu vermitteln weiß, dass private Katastrophen der Weg zum Glück sein können – mit dem einen oder anderen Umweg.

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Deuticke E-Book

Helen Brown

Glück

mit kleinen

Fehlern

Roman

Aus dem Englischen

von Andrea Stumpf und

Gabriele Werbeck

Deuticke

Die Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel Tumbledown Manor im Verlag Arena/Allen & Unwin, Australien.

ISBN978-3-552-06290-0

Copyright © Helen Brown 2014

Umschlag: Lübbeke Naumann Thoben, Köln; unter Verwendung eines Fotos von © Sarah Bossert/Getty Images

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2015

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Martina Schmidt,

meine österreichische

Seelenverwandte

Ein Glas Prosecco in der Morgendämmerung ist romantisch. Es prickelt verheißungsvoll, während der Morgen mit einem Gähnen erwacht.

Wenn der Tag älter wird, verleiht ein Schluck Sekt einem trägen Nachmittag magischen Schimmer.

Doch verfärbt sich schließlich der Himmel über den Hügeln, und der Abendstern zwinkert in Erwartung eines Kusses, dann muss es Champagner sein.

Kapitel 1

Es bestand kein Grund, um einen Geburtstag mit einer Null viel Aufhebens zu machen. Es gab genug, wofür sie dankbar sein konnte – ihre Gesundheit, eine intakte Ehe, Kinder, die (offiziell) aus dem Haus waren, eine halbwegs erfolgreiche Karriere als Schriftstellerin. Was man daran feiern sollte, dass man der Füllung einer Urne ein Jahrzehnt näher gerückt war, wollte Lisa Katz nicht in den Kopf.

Dennoch verspürte sie beim Frühstück in einem Diner unweit ihrer Wohnung einen Stich, als ihr klarwurde, dass Jake den Geburtstag vergessen hatte. Was aber wiederum kein Wunder war. Der arme Jake schuftete Tag und Nacht in der Bank. Seine ehemalige Lockenpracht war zu einem schmalen schwarzen Kranz verkümmert, und unter den dunklen Augenringen hingen mittlerweile Tränensäcke.

»Du bist immer noch mein Mädchen«, sagte er, trank seinen Kaffee aus und tupfte sich den Mund mit einer Papierserviette ab.

Er stand auf, beugte sich über den Tisch und streifte mit seinen Lippen ihren Mund. Das war eine ihrer weniger linkischen Positionen für einen Kuss, übertroffen nur von der, wenn sie nebeneinanderlagen.

Als Lisa sich als Teenager der 1,80-Meter-Marke näherte, dachte sie, dass sie jemanden heiraten würde, der so groß – wenn nicht sogar größer – war wie sie. Während sie sich mit dem Gedanken abfand, ihr Leben in Ballerinas zu verbringen, stellte sie fest, dass die meisten großen Männer auf Frauen in Puppengröße fixiert waren. Lisa wiederum übte eine magnetische Anziehungskraft auf Westentaschen-Napoleons aus.

Was Jake an Statur vermissen ließ, machte er durch Energie wett. Der Größenunterschied hatte anfangs vor allem ihren Einfallsreichtum im Bett gesteigert. Damals hatte er ihren großen Hintern gestreichelt, als wäre er das Vorgebirge zum Paradies.

Mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Erleichterung sah Lisa zu, wie Jake in seinen Mantel schlüpfte und in den grauen Herbstmorgen verschwand. Sie setzte ihren Hut auf, zog ihr Cape und die fingerlosen Handschuhe an und trat hinaus, um ihren Geburtstag allein zu begehen, einen Tag, an dem sie zur Abwechslung ausschließlich das machen würde, was sie wollte.

Nach zwei Stunden im MoMA genoss Lisa einen sündhaften Besuch bei Mark. Es erschien ihr irgendwie unmoralisch, einen Fremden dafür zu bezahlen, dass er ihren Rücken mit Öl massierte, aber Jake war die letzte Zeit immer zu müde gewesen – und Marks Hände gerieten nicht auf Abwege.

Ölglänzend und rotwangig machte sie sich auf den Weg nach Hause. Ihre Wohnung in der Upper East Side lag einige Blocks vom Central Park entfernt in dem mit Abstand hässlichsten Gebäude weit und breit und blickte missmutig auf die enge, finstere Straße hinunter.

Pedro begrüßte sie an der Tür mit seinem immerwährenden Lächeln – ein Wunder, wenn man bedachte, dass er drei Jobs hatte, um sich und seine Familie über Wasser zu halten. »Da hatten Sie aber Glück, dass Sie nicht in den Regen gekommen sind, Mrs Trumperton«, sagte er strahlend.

Sie hatte es aufgegeben, ihn zu bitten, sie Lisa zu nennen. Es war typisch Pedro, dass er sie mit ihrem Künstlernamen ansprach. Für die meisten war sie einfach Mrs Katz, Jakes schlaksiger Anhang.

Als Lisa die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, wäre sie beinahe rückwärts umgefallen.

»Überraschung!«

Jake trat auf sie zu, seine Augen leuchteten triumphierend. Was machte ihr Mann denn schon hier? Er nahm ihre Hand und führte sie ins Wohnzimmer.

»Herzlichen Glückwunsch, Mom!« Ted schloss sie in die Arme, und ihr Hut fiel zu Boden.

»Ted? Du hast doch nicht extra den weiten Weg von Australien hierher gemacht?« Lisa merkte plötzlich, dass sie zitterte. »Wann bist du denn angekommen?«

»Heute Morgen«, sagte ihr Sohn strahlend, hob ihren Hut auf und strich mit der Hand darüber.

»Konntest du dir denn einfach so freinehmen?« Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und hoffte, er würde das Massageöl nicht bemerken.

»Die nächste Prüfung ist erst in einer Woche«, sagte er.

Ted hatte bei der Genlotterie ein paar Gewinnlose gezogen. Er hatte nicht nur die dunklen Haare und Augen seines Vaters statt ihrer nordisch rotgeäderten wasserblauen Augen geerbt, er war auch noch großgewachsen und muskulös. Der Bartschatten betonte sein Kinn und hob die Augen hervor. Womit er sich neben dem Architekturstudium auch die Zeit vertrieb, es tat ihm jedenfalls gut.

Lisa wollte ihn gerade wegen seines australischen Akzents aufziehen, als die Tür zur Speisekammer aufsprang. »Überraschung!« Portia stakste in Schuhen auf sie zu, die als Stelzen durchgegangen wären.

Ihre Tochter beugte sich vor und gab ihr in einem Gestöber aus blonden Haaren und blauen Fingernägeln einen Kuss. Lisa entdeckte an Portias Hals ein neues Glücksbärchi-Tattoo. Hatte sie abgenommen? Egal. Jetzt war nicht die richtige Zeit, herumzustreiten. Nicht, wenn Portia wertvolle Stunden ihres glamourösen Lebens in Santa Monica für sie opferte.

Lisa schlug das Herz bis in den Hals. »Wie lieb«, stammelte sie und fragte sich, ob sie erwarteten, dass sie etwas für sie kochte, und wenn ja, was sie ihnen vorsetzen könnte. Den Anweisungen ihres neuesten Diätbuchs folgend hatte sie den Kühlschrank ausgemistet. Wenn sie sich recht erinnerte, stand außer einer halben Flasche abgestandener Coke Zero nichts darin. »Ich hatte ja keine Ahnung …«

»Überraschung!«

Wieder zuckte sie zusammen. Kerry, den sie einmal in der Woche zum Mittagessen traf, tauchte mit einer eingetopften Friedenslilie im Arm aus dem Flur auf. Sie entspannte sich ein wenig. Ihm auf den Fersen folgte Vanessa aus dem Verlag. Jake hatte eine gute Auswahl getroffen. Wenn sie mit jemandem nicht im Traum gerechnet hätte, dann waren es die beiden …

»Überraschung!«

Nicht noch eine. Zu viel war zu viel. Lisas Blut sackte in ihre Füße, als ihre ältere Schwester Maxine mit Ehemann Gordon im Schlepptau aus dem Schlafzimmer auftauchte.

»Wir saßen im selben Flugzeug wie Ted«, sprudelte es aus Maxine heraus, die in einem quietschbunten Kaftan auf Lisa zuschwebte, in dem sie wie ein Emu auf Drogen aussah.

Ab einem gewissen Alter erbleichten die meisten Frauen zu einem dezenten Blond. Maxine hatte sich dagegen für ein helles Rot entschieden, das im Lauf der Zeit immer intensiver geworden war. Ein solches Tiefrot stand eigentlich niemandem, aber in Verbindung mit Maxines schimmerndem blassem Teint hatte es etwas Reizvolles. Mit den grünen Augen, die aus einem runden, sommersprossigen Gesicht strahlten, hätte Maxine als Statistin in Herr der Ringe auftreten können. Über Maxines Schulter hinweg lächelte verlegen Gordon, der mit seinen buschigen weißen Haaren und dem pausbäckigen rosa Gesicht einem mannsgroßen Koala ähnelte.

»So eine weite Reise nur meinetwegen«, sagte Lisa.

»Ach, dich haben doch schon immer alle verwöhnt«, säuselte Maxine und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »War nur Spaß.« Maxines Lächeln geriet nicht zu hundert Prozent überzeugend, und Lisa fragte sich, ob Maxine jemals aufhören würde, ihr vorzuwerfen, der Liebling ihres Vaters gewesen zu sein. Ganz oben auf der Beweisliste stand der Tag, an dem Lisa ihren Vater überzeugt hatte, sie könnte wegen »Bauchweh« nicht zur Schule gehen, obwohl das eine glatte Lüge gewesen war, während Maxine gehen musste, obwohl sie tatsächlich die Masern ausbrütete. Maxine sollte mal zum Psychologen. Sie durfte sich nun wirklich nicht beschweren, schließlich hatte sich die Welt ihrer Mutter ausschließlich um sie gedreht. In dem Moment, in dem Maxine ihren ersten Atemzug tat, erkannte ihre Mutter Ruby in ihr eine Miniaturversion von sich selbst. Alles an Maxine – von den roten Haaren über die stämmige Figur bis hin zu der beängstigenden Präsenz auf jedem Sportplatz – war typisch MacNally.

Ihr Vater, William Trumperton, war dagegen ein feinfühliger, konfliktscheuer Mann gewesen. Lisa dachte immer noch an das, was er ihr in einem seiner seltenen offenherzigen Momente gestanden hatte – es falle ihm schwer zu glauben, dass sie und Maxine aus demselben Stall kämen. Hin und wieder hatte sie sich gefragt, ob das wörtlich gemeint war und sie verschiedene Väter hatten. Ruby wäre es zuzutrauen gewesen.

Maxine stellte sich auf die Zehenspitzen, um Lisa aus ihrem Cape zu helfen. »Warst wohl mal wieder betteln, hm?«, sagte sie mit einem Blick auf Lisas fingerlose Handschuhe.

Normalerweise hätte Lisa eine schnippische Antwort gegeben in Sachen rote Haare und mit hässlichen falschen Rubinen besetzte Kaftane. Maxine war mit einem fürchterlichen Geschmack geschlagen, der sich hartnäckig jeder äußeren Einflussnahme widersetzte. Aber die überfallartige familiäre Zuneigungsbekundung hatte sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Maxine nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und inspizierte das Etikett. Sie kniff die Augen zusammen. »Das ist aber nicht der echte, der kommt nämlich ausschließlich aus einer bestimmten Region in Frankreich.«

Lisa versicherte ihr, sie sei mit Sekt aus Kalifornien völlig zufrieden. Jake hatte erklärt, er gehöre zu dem der globalen Finanzkrise geschuldeten Sparkurs. Er sei nicht allzu süß und hätte mehr oder weniger dieselbe Wirkung.

Korken knallten. Gläser schäumten und wurden herumgereicht. Als Jake eine Platte mit Horsd’œuvres aus dem Kühlschrank holte, wusste Lisa wieder, warum sie sich in ihn verliebt hatte. Jake Katz, der Romantiker, der Zauberer … »Das nenn ich Planung!«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Sie war erstaunt, dass er überhaupt wusste, wie man einen Caterer fand.

»Na ja. Du wirst schließlich nicht jeden Tag f-«

»Pst!« Sie legte ihm sanft die Hand über den Mund. »Das ist sehr aufmerksam von dir, Schatz.«

Jake räusperte sich und streckte die Brust raus, seine Art, sich größer zu machen. Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über das Zimmer. Der arme Schatz – die paar Haare, die ihm noch geblieben waren, ergrauten an den Schläfen. Aber er alterte in Würde. Nicht nur, was sein Aussehen anging. Auch wenn ihr Sexleben die letzte Zeit etwas ins Stottern geraten war, machte es Lisa insgeheim stolz, dass er noch nicht angefangen hatte, Viagra-Anzeigen zu studieren.

»Ich möchte euch allen danken, dass ihr gekommen seid und zum Teil einen sehr langen Weg auf euch genommen habt«, sagte er und hob sein Glas in Richtung Maxine und Gordon.

»Ach, die Zwischenstation vor unserer Alaska-Kreuzfahrt kam uns ganz gelegen«, rief Maxine dazwischen – unnötigerweise, fand Lisa.

»Die Eisbären zählen sicher schon die Tage, bis sie dich endlich in die Arme schließen können.« Jake gluckste.

Lisas Lächeln gefror. Jake und Maxine waren sich allzu ähnlich. Keiner konnte es ertragen, wenn der andere im Rampenlicht stand. Zu Lisas Erleichterung senkte Maxine den Blick und nippte an ihrem Glas.

»Und wir dürfen Ted nicht vergessen«, fuhr Jake fort.

Ted hockte auf der Lehne des schwarzen Ledersofas und war mit seinem Handy beschäftigt. Als er seinen Namen hörte, drückte er schnell eine Taste und richtete das Spielzeug auf seine Eltern. Rasch beugte Lisa die Knie, sodass Jake seinen Arm um ihre Schulter legen und dümmlich Richtung Handy grinsen konnte.

Portia stand mit verschränkten Armen in einer Ecke. Sie verdrehte die Augen, als Jake bat, das Foto sehen zu dürfen. »Und dich natürlich auch nicht, Portia«, sagte er, nickte zustimmend und gab Ted das Handy zurück. »Venice Beach liegt ja auch nicht gerade um die Ecke. Wie dem auch sei, jedenfalls würde ich gerne die Gelegenheit ergreifen und meiner wunderbaren Frau für die vierundzwanzig gemeinsamen Jahre danken.«

»Dreiundzwanzig!«, berichtigte Maxine ihn.

»Wirklich?«, sagte Jake und sah Lisa hilfesuchend an.

Lisa stand mit Zahlen auf Kriegsfuß. Sie hatte keine Ahnung.

»Ja«, sagte Maxine und deutete mit ihrer schwer beringten Kralle auf ihn. »Ihr beiden habt genau zwei Jahre nach Gordon und mir geheiratet. Natürlich haben wir uns kirchlich trauen lassen …«

Als wüssten sie nicht alle zur Genüge, dass Maxine und Gordon Frogget mit Gottes Segen und dem der Hälfte aller Börsenmakler von Camberwell in den heiligen Stand der Ehe getreten waren.

Erstaunlich gelassen lockerte Jake seine Krawatte und zog einen Zettel aus seiner Brusttasche. »Als wir uns vor all den Jahren auf den Fidschis kennenlernten, konnte ich nicht wissen, wie sehr ich mich in diese kleine Australierin verlieben würde«, las er vor.

»O Jake«, sagte Lisa mit feuchten Augen.

»Lisa, ich kann dir gar nicht genug danken dafür, dass du mir über die Weltmeere gefolgt bist und unsere beiden Kinder großgezogen hast. Du bist mein Fels, meine Muse …«

Lisa bekam Schuldgefühle wegen all der Male, die sie ihn angeschrien hatte, weil er so spät nach Hause kam und zu diesen endlosen Konferenzen fuhr.

»Du bist der Freigeist zu meiner stupiden Erbsenzählerei«, fuhr er fort. »Der sonnenblumenübersäte Strohhut zu meinem Anzug. Du erinnerst mich an das Wesentliche im Leben. Du bist –«

»Der Wind unter deinen Flügeln?«, warf Portia süffisant ein.

Ehrlich, manchmal hätte Lisa ihren Nachwuchs erwürgen können. Aber das ging natürlich wieder vorüber.

Jake straffte die Schultern und blickte auf seinen Zettel. Er verlieh seinen Reden gerne ein gewisses Pathos. Lisa sah ihm an, dass er auf den Höhepunkt zusteuerte.

»Als bei dir letztes Jahr Brustkrebs festgestellt wurde, waren wir alle plötzlich mit dem schrecklichen Gedanken konfrontiert, dass wir dich verlieren könnten …«

O Gott. Sie hatte die Krankheit längst in einem mentalen Aktenordner mit der Aufschrift VORBEIUNDVERGESSEN abgelegt. Ihr ging es wieder gut, basta.

Es klopfte an der Tür. Ted schlich in den Flur, um aufzumachen, während Jake weitersprach. »Und jetzt, wo das alles vorbei ist, wissen wir umso mehr, was wir an dir …«

Alle seufzten voll Bewunderung, als Ted mit einem riesigen Korb roter Rosen zurückkam. So etwas hatte Lisa noch nie gesehen. Das Arrangement war so groß, dass ihr Sohn dahinter verschwand.

»Mein Gott, Jake!« Sie griff nach dem kleinen weißen Umschlag, der an einem der Stiele baumelte.

Jake erbleichte. Er stürzte zu ihr, um ihr den Umschlag zu entreißen. Lächelnd stupste sie ihn weg.

Lisa spürte, wie sich ihre Wangen röteten, als sie den Umschlag öffnete und eine herzförmige Karte herauszog. Jake war wirklich ein alter Romantiker. Sie warf ihm einen Kuss zu, aber er starrte sie nur mit offen stehendem Mund entgeistert an.

»Für meine liebste … Belle«, las sie vor.

Das musste ein Versehen sein. Die Handschrift war die von Jake. Ihr Hals schnürte sich zu. Sie wollte innehalten, aber ihre Stimme las einfach weiter. »Ich kann es kaum erwarten, bis wir endlich für immer zusammen sind.«

Lisa versteinerte. Sie kannte Belle, die Blondine aus der Personalabteilung der Bank. Belle mit dem Riesenvorbau und den Gazellenbeinen, die sagte, sie habe alle Bücher von Lisa gelesen und sei ihr größter Fan.

»Dann kann ich jede Nacht meinen Kopf zwischen deine Beine wühlen … Ich liebe dich, Jake.«

Stille.

Jakes Gesicht begann panisch zu zucken, während alle Blicke von Lisa zu ihm schossen. »Das ist ungeheuerlich!«, rief er und kramte nach dem Handy in seiner Jackentasche. Mit glühendem Gesicht suchte er die Nummer von Evas Blumenladen heraus.

Normalerweise bemühte sich Lisa, ihren Mann zu beruhigen, wenn er so rot anlief, weil er zu gerne Käse aß und nicht genug Sport trieb. Aber die normale Lisa war durch einen hasserfüllten Klon ersetzt worden, der versuchte, per Telepathie die Herzarterien von Jake zum Platzen zu bringen.

»Was soll das heißen, Sie haben sie zu der üblichen Adresse geschickt?!«, brüllte Jake in das Plastikteil in seiner Hand.

Er hätte es besser wissen müssen und Eva nicht trauen dürfen. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie angefangen, mit ihren Nelken zu reden. Jetzt hatte Eva diese albernen Rosen, ohne nachzudenken, zu der üblichen Adresse geschickt.

Lisa sah zu, wie eine Irre durchs Zimmer stürzte und Jake eine schmierte. Wer war das? Ach ja. Es war die andere Lisa, die so wütend und verletzt war, dass sie morden könnte. Nein, Moment mal, lieber schwer verletzen. Jake wäre wochenlang an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Sie würde es genießen, ihn leiden zu sehen, während aus jeder seiner Körperöffnungen Schläuche und Kanülen ragten, bis sie das Vergnügen hatte, die Maschine abzustellen.

Dann sah sie Portia und Ted, die sich in der Zimmerecke aneinanderklammerten, als würden sie die 3-D-Version von Tanz der Teufel ansehen. Die nette Lisa, ihre Mutter, wollte sie vor dem Grauen, das sich vor ihren Augen abspielte, beschützen. Aber die böse Lisa wollte, dass sie ihren Schmerz sahen, damit sie wussten, wer hier das Opfer war.

Sie packte Jake an den Schultern und schüttelte ihn. Aus weiter Ferne war das Klicken eines Türschlosses zu hören. Vanessa und Kerry hatten sich diskret zurückgezogen und die Friedenslilie als einziges Zeugnis ihrer Anwesenheit zurückgelassen.

Gordon tapste in die Küche und beugte sich über die Spüle. Er entwirrte den Brauseschlauch und musterte ihn, als verberge sich darin die Lösung für das Problem der globalen Erwärmung.

Lisa die Irre trommelte mit den Fäusten gegen Jakes Brust. Dann schwebte ein gigantischer Emu herbei, zog sie von Jake weg und legte schützend seine Flügel um sie.

Maxine fühlte sich stark und muskulös an, als Lisa weinend das Gesicht an ihrem Hals vergrub. Ihre Ohrringe klimperten, und ihr Atem roch nach Sekt und Poison von Dior.

»Hau ab, du Schwein!«, brüllte Maxine.

Lisa war plötzlich wieder sechs Jahre alt und stand auf dem Schulhof. Die große Schwester beschützte sie und bewarf Colin, den Fiesling aus dem Metzgerladen, mit Stöcken, bis er sich hinter den Fahrradunterstellplatz verzog.

Jake war völlig erstarrt, die Augen aufgerissen wie eine Maus, die gleich von der Schlange verschlungen werden würde.

»Und nimm deine beschissenen Blumen mit!«, kreischte die Verrückte, in der Lisa wieder sich selbst erkannte, riss einzelne Rosen aus dem Korb und pfefferte sie Jake ins Gesicht. Ein vernünftiger Teil von ihr war froh, dass die Rosen keine Dornen hatten – nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, wenn er geblutet hätte.

Jake wieselte ins Schlafzimmer.

»Lügner!«, brüllte sie und hieb ihm ihre Nägel in den Rücken. »Ich hasse dich!«

Jake zog eine Reisetasche aus dem Schrank und stopfte panisch Socken und Unterhosen hinein.

»Seit wann geht das schon?«, brüllte Lisa seinen kahlen Hinterkopf an.

Jake tat so, als hätte er sie nicht gehört.

»Seit wann?«

»Weiß nicht …«, murmelte er. »Seit neun Monaten oder so.«

Sie rechnete schnell nach. Das musste kurz nach ihrer Operation gewesen sein, ungefähr zu der Zeit, als ihr letztes Buch erschienen war. Belle hatte sie penetrant angelächelt, während sie darauf wartete, dass Lisa ihr ein Exemplar von Charlotte signierte, den ersten Band der Drei-Schwestern-Trilogie. »Was für eine tolle Idee, historische Liebesromane über die Brontë-Schwestern zu schreiben«, hatte Belle sie mit Zahnpastalächeln und falschen Diamantohrsteckern angeschleimt.

Moment mal. Was, wenn die gar nicht falsch gewesen waren? Vielleicht waren Belles Ohrringe der Grund für Jakes jüngste Sparmaßnahmen, derentwegen sie sich auf einen Milchkaffee am Tag beschränken mussten. Egal, Cow Belle (so würde Lisa sie von jetzt an nennen!) hatte gesagt, sie könne es gar nicht abwarten, etwas über Emily Brontë im nächsten Roman mit dem Titel Drei Schwestern: Emily zu lesen. Dann war sie davongeeilt, um mit dem Ehemann ihrer Lieblingsautorin zu vögeln. Vielen Dank auch, Cow Belle.

»Liebst du sie?«, fragte Lisa, die Stimme in Eis getaucht.

Jake hielt inne und starrte auf den Teppich.

Kurz nach Erscheinen des Buchs war er auf eine Konferenz gefahren, die mit zwei Wochen eigentlich verdächtig lang war. Jetzt konnte Lisa über ihre Dummheit nur den Kopf schütteln. Sie hätte so schlau sein sollen, seine Mails zu checken. Aber sie hatte ein so naives Vertrauen zu ihm, dass sie sich nicht einmal sein Passwort gemerkt hatte.

Dann folgte der Kondom-im-Waschbeutel-Zwischenfall. Eines Morgens hatte sie auf der Suche nach Zahnseide darin gewühlt und dabei plötzlich das kleine silberglänzende Tütchen in den Fingern gehabt. Das war seltsam, weil sie damals schon seit Monaten ihre Tage nicht mehr gehabt hatte. Als sie es ihm zeigte, wurde er rot, dann schwor er, dass es schon seit Ewigkeiten darin läge, und warf es in den Abfalleimer.

Warum glaubte sie ihm alles?

»Ich habe dich gefragt, ob du sie liebst?« Ihre Stimme nahm einen gefährlichen Ton an.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er leise.

»Du weißt es nicht?«

»Es gibt zwei Arten von Liebe«, sagte er nach einer ganzen Weile. »Die, wenn man jemanden hat, und die, wenn man jemanden begehrt. Ich hab dich … aber …«

»Sie begehrst du!«

Lisa marschierte ins Wohnzimmer und schnappte sich die Überreste des Rosenkorbs. Zurück im Schlafzimmer, wo Jake gerade auf den Knien T-Shirts in die Tasche stopfte, kippte sie ihm mit einem Gefühl größter Genugtuung die Blumen mitsamt dem Inhalt der gut gefüllten Vase über den Kopf.

Jake erhob sich und wischte das Wasser von seinem Anzug. Dann nahm er seine Tasche, fuhr sich durch die Haare und machte sich davon. Lisa lief ihm ins Wohnzimmer hinterher, aber er war zu schnell. Er schlüpfte durch die Tür Richtung Aufzug und war weg.

Während sie atemlos dastand und ihre verstörten Gäste anblickte, wusste sie auf einmal genau, was sie hatte – einen Geburtstag mit einer Null.

Kapitel 2

Lisa erwachte eingewickelt in ihre schützende, wärmende Decke. Nach dem grauen Lichtrahmen um die Vorhänge zu urteilen, hatte die Sonne – wenn man das so nennen mochte – sich bereits ächzend erhoben. Sie glitt mit der Zunge an den beruhigenden Rändern ihrer Zahnschiene entlang. Ihr Zahnarzt hatte gesagt, sie würde im Schlaf mit den Zähnen knirschen. Lisa war sich ziemlich sicher, dass seine dringende Empfehlung, sich von ihm eine Schiene anpassen zu lassen, mehr mit der Sonderausstattung seines Audis zu tun hatte als damit, dass sie ihre Zähne zermahlte. Ergänzt wurde die Schiene durch Ohrstöpsel – Jakes Schnarchen wurde nicht leiser. Die Nacht zuvor hatte sie sie aus reiner Gewohnheit in die Ohren gesteckt – und um sich einzureden, dass alles beim Alten bliebe.

Leise nahm sie die Schiene und die Ohrstöpsel heraus und verstaute sie in ihren jeweiligen Dosen. Dann drehte sie sich um und streckte die Hand nach der vertrauten Form von Jakes Kopf aus. Aber sein Bettzeug lag so nackt und unberührt da wie die Antarktis. Lisa rollte sich zusammen und schluchzte in ihr Kissen – lautlos, um Maxine und Gordon oder die Kinder nicht zu stören. Es war ihr Lieblingskissen, so alt, dass mittlerweile wahrscheinlich Monstermilben darin hausten. Sie hatte mehrfach versucht, es wegzuschmeißen, war jedoch jedes Mal vor dem Müllschlucker stehen geblieben und hatte es zurück zu ihrem Bett getragen. Mit den paar verklumpten Federn und Daunen war es im Vergleich zu Jakes Anti-Schnarch-Kissen geradezu anorektisch. Aber es war geduldig und schmiegte sich an die Falten ihres Gesichts, ohne den Versuch zu unternehmen, ihre Haltung zu verbessern. Jetzt durchweichten Tränen die Federn und verwandelten das Kissen in einen nassen Schwamm.

Als keine Tränen mehr kamen, drehte sie sich auf den Rücken und fuhr mit der Hand über die Einbuchtung, wo einmal ihre linke Brust gewesen war. Der Chirurg hatte ihr angeboten, mit der Mastektomie auch gleich eine Rekonstruktion vorzunehmen. Die Mastektomie sollte innerhalb von vierzig Minuten erledigt sein, während die Rekonstruktion mindestens sieben Stunden dauern würde. Nachdem sie Stunden im Internet recherchiert und mit Freundinnen gesprochen hatte, die ihrerseits Frauen kannten, die sich für oder gegen eine Rekonstruktion entschieden hatten, beschloss sie, abzuwarten. Die Medizin machte im Minutentakt Fortschritte. Bald würde es Pillen geben, die neue Brüste sprießen ließen.

Jake brillierte in der Rolle des sorgenden Ehemanns und verkündete, er würde jede ihrer Entscheidungen mittragen. Als er gesagt hatte, ihm sei egal, wie sie aussehe, war ihr ganz warm ums Herz geworden. Außerdem hatte der Chirurg ihnen versichert, dass sie die Rekonstruktion auch später vornehmen lassen könnte. Bisher hatte sie sich noch nicht dazu durchringen können, und jetzt bezweifelte sie, dass sie es jemals tun würde. Lisa war schließlich noch nie besonders eitel gewesen. Dafür hatte ihre Mutter Ruby gesorgt. (»Zieh dir was Ordentliches an, Lisa … Iss weniger Kuchen, Mädchen. Irgendwann werden sie dich Donnerschenkel nennen … Kämm dir die Haare!«) Wie mit dem Lineal gezogen verlief die Narbe quer über ihren Brustkorb, als hätte dort jemand einen Schlussstrich gezogen.

Obwohl Jake behauptete, dass es ihm nichts ausmache, zeigte er nie Interesse oder auch nur Neugier an ihrer Narbe. Wenn sie miteinander schliefen, widmete er sich ausgiebig ihrer rechten Brust, streichelte und küsste sie (saugte aber nie daran, sonst bekam sie einen postkoitalen Lachanfall, weil erwachsene Männer an der Brust hingen). Ihre linke Seite mied er wie ein der Abrissbirne zum Opfer gefallenes Stadtviertel.

Sie konnte es nicht fassen, dass er sie in dem Glauben gewiegt hatte, mit ihrer Ehe sei alles in bester Ordnung. Bei all seinem scheinheiligen Getue war er doch nur ein triebgesteuertes Männchen, das ein Weibchen mit zwei Körbchen Größe C wollte. Jake machte eindeutig irgendeine Art von Mannopause durch, und es war wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis er zur Vernunft kam und sie anflehte, zurückkehren zu dürfen.

Auf der anderen Seite der Schlafzimmertür brummte der Staubsauger. Die Vorstellung, ihren Gästen gegenüberzutreten, war grauenvoll. Aber wie oft hatte sie schon Gelegenheit, ihre Kinder zu sehen? Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, tapste sie also ins Wohnzimmer.

Maxine saugte die Schäden des gestrigen Abends weg. Ted war in der Küche und verknotete eine Mülltüte. Beide hielten inne und starrten sie an, als wäre sie ein Kristall, der bei der kleinsten Bewegung zerbrechen könnte.

Gordon tauchte aus dem Gästezimmer auf und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, während Maxine mit dem Staubsauger eine Großoffensive auf das Schlafzimmer startete. Lisa bot ihre Hilfe an, aber Maxine bestand darauf, dass sie sich setzte und zur Ruhe kam.

Das schwarze Ledersofa quietschte, als Lisa sich darauf sinken ließ. Die Knöpfe bohrten sich ihr in den Rücken. Die ganze Wohnung roch nach Jake. Früher einmal hatte er ihre Leidenschaft für »Seelenstücke«, wie sie es nannte, nett gefunden. Die Masken aus Neuguinea und die Buddhas, deren Bemalung abblätterte, erinnerten sie an die Freiheit, die sie auf ihren Reisen erlebt hatte. Das änderte sich, als Jake sich in die Arbeit bei der Bank stürzte, und da änderte sich auch sein Geschmack. Schlussendlich war es leichter gewesen, ihn »den Kram« in ihr Arbeitszimmer schleppen zu lassen und sich seiner Begeisterung für »klare Linien« zu unterwerfen. Jetzt verliehen gläserne Tischplatten und Stapel von Yacht-Magazinen der Wohnung die Atmosphäre eines Wartezimmers.

Lisa ließ ihren Blick über Jakes Sammlung von mittelmäßigen Fauvisten wandern. Wenn man sie gefragt hätte, hätte sie Teds und Portias Kindergartenwerken den Vorzug gegeben. In einer Ecke standen in völlig verrenkter Haltung ineinander verkeilte lebensgroße Akte aus rostfreiem Stahl, die der Künstler Lüsternes Bein genannt hatte. Ein paarmal hatte sie Jake zuliebe versucht, die Haltung nachzumachen. Als sie das Bein über die Schulter schob, hatte sich etwas in ihrer Hüfte äußerst schmerzhaft verklemmt. Genau wie bei dem weißen Stutzflügel, auf dem nur Ted spielen konnte, tat sie so, als wären die Dinger gar nicht da.

Sie fragte sich, wie es dazu hatte kommen können, dass sie in einer Umgebung gelandet war, die überhaupt nicht zu ihr passte. War sie so sehr mit den Kindern oder ihrer Arbeit beschäftigt gewesen? Sie erinnerte sich, dass sie oft müde gewesen war, vielleicht sogar am Rande einer Depression. Als Bankiersgattin war sie jedenfalls eine Niete. Ihre Haare waren nicht zu einem Bob geschnitten und nicht blond genug, und sie lachte zu laut und röhrend.

Die Kaffeemaschine zischte und furzte und hüllte Gordon in eine Dampfwolke. Sie war Jakes ganzer Stolz, auch wenn sie noch nie einen anständigen Cappuccino produziert hatte. Gordon bedachte Lisa mit einer Pfütze flüssigen Schlamms in einem Becher mit einem bösartig grinsenden Schneemann darauf. Fröhliche Weihnachten wand sich in roter Schrift den Rand entlang. Normalerweise fristete der Becher sein Dasein ganz hinten auf dem obersten Regalbrett. Weihnachten war erst in gut zwei Monaten. Der Geschirrspüler musste offenbar mal wieder ausgeräumt werden.

Damit die Stille nicht überhandnahm, erkundigte sich Gordon nach ihrem Schreiben. Fragten die Leute eigentlich auch Installateure nach ihren Abflüssen? Der erste Teil ihrer Brontë-Trilogie verkaufte sich ganz gut, aber mit Drei Schwestern: Emily war sie ins Stocken geraten und hatte bislang nicht mehr als eine kurze Stichwortliste. Sie war so dumm gewesen, die Abgabe des Manuskripts für kommenden März zu vereinbaren, und mittlerweile näherte sich die Deadline im bedrohlichen Tempo eines Asteroiden mit Kurs auf die Erde.

Portia tauchte auf, blass und mit völlig zerzausten langen blonden Haaren. Lisa hätte sie ihr am liebsten zu einem ordentlichen französischen Zopf geflochten, wie damals, als Portia sechs war. Ihre eigene Mutter hätte ohne Zögern die erwachsene Tochter mit einem Kamm traktiert. Lisa verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Jede Generation musste wenigstens ein bisschen klüger als die vorhergehende sein. Wenn sie irgendetwas aus Rubys Fehlern gelernt hatte, dann war es das, ihren Zopf-Tick zu beherrschen.

Maxine legte zwei Holzohrringe in der Größe von Samoa an und streifte eine goldfarbene Vinyl-Jacke über. (»Das nennt ihr in New York Herbst?«) Dann breitete sie einen Stadtplan von Manhattan auf dem Klavierdeckel aus.

Lisa wusste, was Maxine vorhatte. Wenn sie als kleine Mädchen nachts wachlagen und hörten, wie sich ihre Eltern im Wohnzimmer anbrüllten, spielte Maxine »Lass uns so tun, als wäre nichts«. Während die Stimme ihrer Mutter durch die Wände donnerte, verwandelte sich Maxine in eine Prinzessin oder in Dorothy aus Der Zauberer von Oz. Lisa musste natürlich die Kammerzofe der Prinzessin spielen. Oder die Vogelscheuche.

Mit verkniffenem Mund machte sich Maxine daran, ihrer aller Tag zu verplanen. Die Frauen würden sich einer Shopping-Schocktherapie unterziehen und die Männer über die Brooklyn Bridge spazieren.

Gordons Gesicht ging wie der rote Planet hinter der Kaffeemaschine auf. Er war sich nicht sicher, ob er die richtigen Schuhe dabeihatte. Maxine tätschelte seinen Weinwanst und versicherte ihm, dass sie seine Turnschuhe eingepackt hatte.

Nach einem geisttötenden Vormittag, an dem sie durch die Geschäfte gezogen waren, machten die drei Frauen in einer französischen Bäckerei halt. Bevor sie ihre Zähne in einem Croissant versenkte, bot Maxine Lisa an, die Kreuzfahrt abzusagen, damit sie und Gordon bleiben und sie »stützen« könnten. Lisa lächelte bei der Vorstellung von Maxine als gigantischem Stütz-BH.

Maxines Erleichterung war deutlich zu erkennen, als Lisa ablehnte. »Ich hab heute Morgen mit Ted gesprochen«, fuhr Maxine fort und wischte sich den Mund ab. »Er ist bereit, seinen Flug umzubuchen und dir ein, zwei Wochen Gesellschaft zu leisten.«

Lisa fühlte sich wie ein hungriger Bär, dem man einen Teller Fleisch hinhielt. Ted eine ganze Woche nur für sich zu haben … Aber seine Prüfungen!

»Keine Sorge. Ich komm schon zurecht«, sagte sie und tätschelte ihrer Tochter das Knie.

Portia stand auf und ging zum Klo. Als die hagere Göttin mit dem Schweif goldener Haare an den Tischen vorbeirauschte, wandten sich alle Köpfe nach ihr um. Lisa sah auf der Speisekarte nach, wie viele Kalorien die drei Löwenzahnblätter hatten, auf denen Portia herumgekaut hatte (schätzungsweise siebzehn). Sie hatte keine Ahnung, was im Kopf des Kindes vor sich ging. Vielleicht war sie traumatisiert vom Verhalten ihrer Eltern.

»Um die musst du dir keine Sorgen machen«, sagte Maxine und rammte ihre Gabel in eine entzückende kleine Erdbeertarte.

Lisa schloss aus Maxines Ton, dass Portia es abgelehnt hatte, länger in New York zu bleiben, um für ihre waidwunde Mutter da zu sein. Vielleicht hatte sie einer nicht nachvollziehbaren Logik folgend beschlossen, sich auf Jakes Seite zu schlagen.

Unwillkürlich kam ihr ein Bild von Jake in den Sinn. Er strich mit seinen Händen über Cow Belles Hintern, während er ihre spitzen, steil aufragenden Brustwarzen leckte. Seine Hand wanderte zu dem Hügel zwischen Cow Belles Beinen, blankgewachst wie bei einem Neugeborenen. Angeblich war Jake in ein Hotel in Chelsea gezogen, aber jeder wusste, dass er in Soho war und zwischen den Beinen dieser Frau Erstickungsanfälle bekam.

Plötzlich war Lisa erschöpft. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause zu gehen, aber Maxine hatte andere Pläne. Mit der Entschlossenheit eines Sklavenhändlers jagte sie sie aufs Empire State Building und dann noch zu den Eisläufern am Rockefeller Center.

Als sich die Familie endlich wieder im Wohnzimmer versammelte, stellte sich Lisa vor, wie Jake und Cow Belle Knie an Knie in einem schummrigen Restaurant saßen. Er würde Champagner bestellen, den echten, französischen. Seine Hand würde Belles Oberschenkel hochgleiten.

Während Maxine Gordon ins Gästezimmer abkommandierte, damit er ihr dabei half, Einkaufstüten in die ohnehin schon platzvollen Koffer zu stopfen, saßen Ted und Portia auf dem Sofa wie zwei Waisenkinder. Portia wand ihre Haare um die Finger und schlug die dünnen Beine übereinander. Irgendjemand oder irgendetwas hatte ihre schwarzen Jeans mit einem Rasiermesser zerschlitzt. Ted tippte auf seinem Handy herum.

»Wann sehe ich euch beide wieder?«, fragte Lisa so munter wie möglich.

Portia zupfte an einem langen Faden, der von einem der Risse in ihrer Jeans hing. »Ich muss heim nach L.A.«, sagte sie.

L.A. war daheim?

»Wir haben eine Theatergruppe gegründet«, fuhr Portia fort. »Wir schreiben ein Stück. Die brauchen mich.«

Und Lisa brauchte sie nicht? »Wie sieht es an Thanksgiving aus?«, fragte sie.

»Das ist kurz vor der Premiere«, Portia seufzte. »Ich dachte, dieser Besuch würde Thanksgiving ersetzen.«

Vielen Dank auch, dachte Lisa. Sie wandte sich an Ted. »Aber das Gästezimmer halte ich nächstes Jahr für dich frei, oder?«

Teds dunkle Haare fielen ihm in die Stirn. Es gab ein Foto ihres Vaters, auf dem er etwa im selben Alter war. Mit seinem schmalen Gesicht und den warmen Augen sah Ted ihm sehr ähnlich – abgesehen davon, dass er ein dunklerer Typ war. Sein Mundwinkel zuckte. »Ich überlege, ob ich in Australien bleibe.«

Um Lisas Herz schloss sich eine Faust. »Oh. Bestimmt willst du noch ein, zwei Monate surfen, bevor du zurückkommst«, sagte sie.

Ted ließ das Handy diskret in die Tasche gleiten. Das braune Karohemd hob die Farbe seiner Augen hervor. »Man hat mir einen festen Job angeboten«, sagte er.

»Willst du weiter Pilz-Burger auf dem Markt verkaufen?«

Ted schüttelte den Kopf und lächelte. »In einem Architekturbüro. Sie finden meinen ökologischen Ansatz gut.«

Er wollte für immer in Australien bleiben? »Das ist ja toll«, log sie. Bei dem Gedanken, dass Ted für alle Zeiten am anderen Ende der Welt stranden würde, hätte Lisa am liebsten geweint. Allerdings war es heutzutage schwer genug für Studienabgänger, eine Stelle zu finden. »Wirst du in Melbourne wohnen?«

Ted nickte, sein Gesicht nahm eine dunklere Farbe an. Lisa hatte den Eindruck, dass da noch etwas anderes war. Er war mit Horden von jungen Frauen ausgegangen, Hunderten, soweit sie wusste, aber so schnell, wie er sie wieder fallenlassen hatte, musste er an Bindungsangst leiden. Vielleicht hatte er endlich die Richtige gefunden. Bei aller Enttäuschung, dass Ted in Australien bleiben wollte, neugierig war sie jetzt doch.

Am nächsten Morgen standen ihre Gäste mit hochgezogenen Schultern in der Kälte, das Gepäck über den Gehweg verstreut, während sie versuchte, ein Taxi anzuhalten. Pedro, der Türsteher, schien enttäuscht zu sein, als sie sein Angebot, das für sie zu erledigen, ausschlug. Er hätte bestimmt schneller die Aufmerksamkeit eines Taxifahrers erregt, aber noch nach zwanzig Jahren in den USA war ihr unwohl dabei, andere Leute für niedere Dienste zu beanspruchen. Taxi um Taxi rauschte an ihnen vorbei. Entweder waren sie besetzt, oder die Fahrer ignorierten sie.

»Keine Sorge, Mom«, sagte Portia, als endlich eines anhielt. »Ich war die Einzige in meinem Freundeskreis, deren Eltern noch zusammen waren. Jetzt sind wir endlich eine normale Familie.« Portia sprach von ihrem Freundeskreis immer so, als handelte es sich um die Königsfamilie.

»Pass auf dich auf«, sagte Lisa und widerstand dem Drang, ihre Tochter an sich zu ziehen und sie nie mehr loszulassen.

Portia warf die Haare über die Schulter und glitt mit der Mühelosigkeit der Jugend auf die Rückbank des Taxis. Die Kindfrau hatte sie nicht gehört. Weiße Kabel in den Ohren schlossen sie hermetisch von der Außenwelt ab. Im Geiste war Portia schon wieder bei den Hipstern von Venice Beach.

Maxine umfasste Lisas Schultern und küsste sie auf beide Wangen. »Pass du auf dich auf«, sagte sie im Tonfall der großen Schwester, bevor sie sich auf den Beifahrersitz hievte.

Gordon lächelte Lisa verlegen an. Er humpelte immer noch nach dem gestrigen Spaziergang. Die Brooklyn Bridge hatte sich als länger erwiesen, als sie aussah. Er beugte sich vor und zielte mit den Lippen auf Lisas Wange, traf aber nur ihr Kinn. Errötend zog er sich in den Schatten der Rückbank zurück.

Der Abschied von Ted schmerzte Lisa besonders. Sie beide waren aus demselben Holz geschnitzt. Sie hatten beide die Trumperton’sche Neigung zur Melancholie geerbt. Sie lachten über dieselben Dinge und konnten die Sätze des anderen beenden. Australien war einfach zu weit weg. »Vielleicht sehen wir uns ja zu Weihnachten?«, fragte sie und versuchte, sich nichts von ihrer Traurigkeit anmerken zu lassen.

»Klar. Komm doch nach Australien«, antwortete er. »Du kannst auf dem Sofa schlafen.«

»Sehr freundlich, aber die CIA könnte sich das Ding als Folterinstrument ausleihen.« Wenn sie die geringste Hoffnung haben wollte, ihn im Dezember zu sehen, dann würde sie also wohl oder übel ins Flugzeug steigen müssen.

Gewichtige Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Zum Beispiel, ob er sich in die nette junge Frau, mit der er studierte, verliebt hatte. Wie hieß sie noch mal? Aß sie etwas anderes als Samenkörner, die gefährdete südamerikanische Urvölker sammelten? Hatte sie ein gebärfähiges Becken? Aber das Letzte, was Lisa wollte, war, eine dieser Vorabendserienmütter zu werden, die ihre Kinder mit SMS- und Anrufbeantworternachrichten bombardierten. Also küsste sie Ted und beförderte ihn neben Gordon auf die Rückbank.

Maxines Fenster glitt nach unten. Sie fixierte Lisa mit ihren Smaragdaugen. »Ich hab den Idioten noch nie leiden können«, sagte sie.

Als das Taxi sich in den Verkehr einfädelte, erhaschte Lisa noch einen Blick auf Teds Profil. Unverkennbar, die Trumperton-Nase. Sie schluckte einen butterweichen Klumpen in ihrem Hals herunter und winkte ihnen hinterher.

Zurück in der Wohnung, wurde Lisa in ein Vakuum der Einsamkeit gesogen. Sie drehte James Taylor auf volle Lautstärke und stürzte sich in die Hausarbeit. Die Kinder hatten ein Riesenchaos in ihrem Arbeitszimmer hinterlassen. Sie zog eine Socke von Ted unter dem Schlafsofa hervor. Ausnahmsweise ohne Loch. Es musste sich tatsächlich jemand um ihn kümmern. Wie üblich hatte Portia ihr Shampoo und ihre Spülung aus dem Badezimmer mitgehen lassen. Lisa schrieb es ab als Spende für die hungernde Künstlerin in der Familie.

Als ihr Arbeitszimmer wieder halbwegs zivilisiert aussah, schaltete sie ihren Computer ein. Die Stichwortliste für Drei Schwestern: Emily starrte sie an. Nie im Leben würde sie in drei Monaten ein ganzes Buch schreiben. Und der erste Satz war immer der schwerste. Ihre Finger schwebten über der Tastatur.

Dann klingelte in einer grausamen Variante dessen, was Portia Ironie nennen würde, ein Bote und brachte ihr mehrere frisch gebügelte Hemden in einer Plastikhülle. Lisa hatte nicht die Kraft, ihn damit wieder wegzuschicken. Stattdessen trug sie die Hemden wie betäubt ins Schlafzimmer. Sie hängte sie in Jakes Schrankabteil und fragte sich, ob sie seine baldige Rückkehr ankündigten. Vielleicht war ihm klargeworden, dass er einen schrecklichen Fehler beging, dass er Lisa liebte und wieder zurückkommen wollte. Er würde schwören, Cow Belle nie wiederzusehen.

Sie fischte ihr Handy aus der Handtasche. »D Hemden sind da«, tippte sie mit zittrigen Fingern.

Sie machte sich eine Tasse Kaffee. James Taylor säuselte »How Sweet It Is To Be Loved by You«. Beim nächsten Song, »Fire and Rain«, fing ihr Handy an zu vibrieren. »Danke. Komm nachher rüber.«

Und tatsächlich, am frühen Abend klopfte es an der Tür. Lisa öffnete sie einen Spalt. Jake linste wie ein ungezogener Schuljunge durch. Warum klopfte er, wenn er einen Schlüssel hatte? Schweigend musterten sie sich. Selbstverständlich würde Lisa ihn wieder aufnehmen, nachdem er seine Strafe bekommen hatte. Sie hatten schon zu viel miteinander erlebt.

»Tut mir leid«, murmelte er. »Meine Hemden.«

»Oh«, sagte sie, und alles Blut wich ihr aus dem Gesicht.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

»Selbstverständlich.« Ihre Stimme war schneidend wie ein Skalpell. »Eine Sekunde.« Sie ließ ihn im Flur zappeln, während sie die Hemden holte.

»Gib mir Bescheid, wenn du etwas brauchst«, sagte er, als sie ihm die Hemden überreichte.

Was um alles in der Welt sollte das sein?

Sein Zeigefinger wurde langsam lila, die Bügel schnitten die Blutzufuhr ab.

Lisa wusste, worauf er hoffte. Wenn sie wieder einen Wutanfall bekam, konnte er davonwieseln, überzeugt, dass sie eine Schraube locker hatte. Aber sie tat es nicht.

Stattdessen sah sie zu, wie die kahle Stelle auf seinem Kopf, die an ein gekochtes Ei erinnerte, den Flur hinunter Richtung Aufzug verschwand. Sie bemerkte einen weißen Faden auf seiner Schulter. Jake war fast hysterisch um Ordentlichkeit besorgt, und sie wollte ihm schon nachrufen. Aber wozu? Das ging sie nichts mehr an. Solche Dinge lagen jetzt in Cow Belles Händen. Sollte sie ihm doch die Haare aus den Ohren rupfen.

Die Aufzugtüren schlossen sich mit einem Seufzen.

Damit war Lisa offiziell und endgültig allein.

Kapitel 3

Im Laufe der nächsten Wochen handelte Jake Zeiten aus, zu denen er die Wohnung wie ein geduldeter Dieb aufsuchte. Nachdem er und die Umzugsleute die Kaffeekanne der Familie Katz, seine Gemälde, Skulpturen und den Schreibtisch mitgenommen hatten, gab es kaum noch Zeugnisse seiner Existenz.

Lisa spielte ein Spiel mit sich: Sie tat so, als wäre sie gerade in die Wohnung eingezogen, die eine Hebamme ausgestattet hatte, und Jake hätte nie darin gelebt. Aber das Doppelbett roch immer noch nach ihm. Die Delle auf seiner Seite der Matratze behielt ihre Form. Wenn sie die Küchenschränke öffnete, schwebten die Geister von Jake und Lisa, dem glücklichen Paar, über dem Speiseservice, das ihnen Tante Caroline zur Hochzeit geschenkt hatte.

Weihnachten kam und ging. Portia hatte alle Hände voll zu tun mit ihrem Freundeskreis und dem sogenannten Stück und blieb in L.A. Ted schickte eine Karte, auf der Santa Claus mit Sonnenbrille an einem goldenen Strand zu sehen war. Lisa verbrachte den Tag mit Kerry und seinen Freunden, und sie kreischten über die Witze in Knallbonbons. Dann ging sie nach Hause und heulte, bis sie Halsschmerzen bekam. Die Rippen taten weh. Verlassen, ungewollt, ungeliebt. Selbstmitleid war anstrengend.

Der Gedanke an Jakes Untreue trocknete ihre Tränen zu Salzseen der Wut. Wut gab Kraft, wenn auch immer nur anfallsweise.

Nach Neujahr versuchte sie es erneut mit dem Schreiben, aber die Erinnerungen, die über der Wohnung hingen, vernebelten auch ihren Kopf. Schreibblockade, vermutete sie. Sie war verrückt gewesen, einen Vertrag über drei Bücher zu unterschreiben, besonders in einem Genre, in dem sie unerfahren war. Ihre anderen Bücher waren Sachbücher, die von echten Menschen und echten Tieren handelten, da kannte sie sich aus. Nachdem Vanessa miterlebt hatte, wie Lisas Leben implodiert war, war sie großzügigerweise bereit gewesen, den Abgabetermin für Drei Schwestern: Emily auf Oktober zu verschieben. Dafür war Lisa ihr dankbar, allerdings hätte sie noch lieber den Vorschuss zurückgezahlt und das ganze Projekt abgeblasen. Aber offenbar hatten die Leser Lust auf die Liebeswirren im Leben der Brontë-Schwestern aus feministischer Perspektive. Die armen Schwestern drehten sich garantiert im Grab um angesichts der heiteren, erotisch motivierten Abenteuer, die Lisa für sie ersann. Die begeisterten Kritiken zu Drei Schwestern: Charlotte auf Amazon erstaunten sie.

Lisa sah sich im Arbeitszimmer um: Dieses Zimmer war in dem Meer an Kompromissen, in dem ihr Leben dahindümpelte, das Letzte, das von ihrer Persönlichkeit zeugte. Abgesehen von Schreibtisch und Stuhl, Bücherregalen und Schlafsofa standen keine Möbel darin. Es waren die anderen Sachen – das sogenannte Durcheinander –, die wichtig waren. Bücher, die nicht mehr ins Regal passten, türmten sich auf dem Boden. Von den Wänden blickten Masken auf sie herunter. Zusammen mit der Keule hatte sie sie auf den Fidschis erworben, bevor man Bedenken hatte, Kulturzeugnisse aus ihrem ursprünglichen Kontext zu reißen. Auf dem Schreibtisch stand zwischen den Fotos der Kinder das Porträt einer schwarzen Perserkatze. Sie hatte Bon Jovis Bekanntschaft im Tierheim Bideawee gemacht, wo sie einmal die Woche ehrenamtlich arbeitete. Bon Jovi war ein Flüchtling vor dem Hurrikan Sandy und ein ausgesprochen lustiger und umgänglicher Kater. Die Tierheimbesucher waren entzückt von ihm, verloren aber sogleich das Interesse, wenn sie hörten, dass er unter Urämie litt. Sie hätte ihn am liebsten adoptiert, aber Jake hatte eine Katzenallergie. Glücklicherweise hatte Bon Jovi ein Zuhause gefunden.

Ihr Computer stand auf einem Stück Tapa, Rindenbaststoff, den ihr vor ihrer Heirat pazifische Inselbewohner geschenkt hatten. Steine und Kristalle aus der ganzen Welt lagen in einem Kreis um den Bildschirm herum. Ein Notizbuch, in das sie in groben Zügen die Handlung von Drei Schwestern: Emily gekritzelt hatte, eine Schreibtischlampe, die nicht mehr funktionierte – zwischen all diesen Büchern und Erinnerungen fühlte sie sich nie allein. Ihr Blick fiel auf die Fotoalben auf dem zweitobersten Regalbrett. Nur eines fehlte – das mit Jakes Kinderfotos, in dem sein erstes Lächeln und seine ersten Schritte festgehalten waren, sorgsam aufgezeichnet von seiner Mutter Naomi.

Bei ihrem ersten Treffen hatte sich Naomi als »jüdisch, aber nicht religiös« vorgestellt. Lisa war erleichtert gewesen, da sie naiverweise angenommen hatte, dass Naomi das Wichtigste am Glauben die Feste waren. Als Naomi und Sol erklärten, dass sie es nicht zur Hochzeit schaffen würden, weil Sol so viel zu tun hätte, glaubte sie ihnen. Damals glaubte sie alles noch unbesehen. Aber als Lisa Ted nicht beschneiden lassen wollte, war Naomi ausgerastet. Selbst als Jake und Lisa schon mittleren Alters waren, ließ Naomi keine Gelegenheit aus, Jake irgendwelche Hannahs oder Miriams vorzustellen. Naomi hatte die Hoffnung mit ins Grab genommen, dass Jake zur Vernunft kommen und mit einem netten jüdischen Mädchen davonlaufen würde. Tja, zur Hälfte war Naomis Wunsch in Erfüllung gegangen. Jake war davongelaufen, aber Cow Belle hatte nicht ein jüdisches Gen in ihrem vollbusigen (die Dinger mussten künstlich sein) Leib.

Lisa nahm ihren ganzen Mut zusammen und zog das Album hervor, von dem sie wusste, dass es wehtun würde. Auf der ersten Seite war Jake als bärtiger Radikaler zu sehen, seine langen Haare wehten in der fidschianischen Brise, sein gebräunter Arm lag um ihre Schulter. Lisa war erstaunt, wie hübsch sie mit ihren feinen Haaren und dem offenen Lächeln gewesen war, vielleicht waren das aber auch einfach alle jungen Leute. Sie wünschte, sie könnte die Zeit zurückdrehen und ihrem jüngeren Ich das sagen. Aber sie wusste, was dann geschehen würde. Das Kompliment würde mit Sticheleien gespickt zurückgeworfen werden. Egal was die Leute sagten, sie hatte sich immer als Außenseiter gefühlt.

An den Journalismus, genauer gesagt den Reisejournalismus war sie gekommen wie an die meisten Dinge – durch puren Zufall. Anders als die Leute glaubten, hatte Reisejournalismus wenig mit Kapitänsdinners zu tun. Von selbstgefälligen Hotelmanagern durch Ferienanlagen geschleppt zu werden war ermüdend. Ergüsse über Sonnenuntergänge und Bettwäsche aus feiner ägyptischer Baumwolle absondern zu müssen war nur einen Strichpunkt weit von Prostitution entfernt. Daher hätte sie nie gedacht, dass der Auftrag, über die ehrenamtliche Arbeit von ein paar amerikanischen Studenten in einem Dorf auf den Fidschis zu schreiben, ihr Leben auf den Kopf stellen würde.

Als sie Jake das erste Mal sah, saß er im Schneidersitz in einem Kreis von Fidschianern und trank Kava. Er nippte an der ausgehöhlten Kokosnussschale, sah zu ihr auf und lächelte. Dieses geheimnisvolle, schelmische Lächeln hatte ihr Schauer durch die Leistengegend gejagt. Es hatte sie erwischt.

Jakes glatte olivfarbene Haut und sein fremdartiger amerikanischer Akzent machten nur einen Teil seiner Anziehungskraft aus. Selbst als er sich von der Matte erhob und sie sah, wie klein er war, störte sie das nicht. Sie stellte bald fest, dass Jake das ultimative Aphrodisiakum besaß: Er konnte sie zum Lachen bringen. Sie war ihm vollkommen verfallen.

Als Nächstes kam das Hochzeitsfoto, das die Kinder immer zum Schnauben brachte. Was sind das denn für Hippies, sagten sie, die am Strand von Byron Bay heiraten. Okay, das Stirnband aus Frangipaniblüten hatte etwas Hippiemäßiges an sich. Aber dass sie rein zufällig barfuß gewesen waren, wollten die Kinder nicht glauben. Dabei hatte wirklich gerade die Flut eingesetzt, sodass sie ihre Schuhe hatten ausziehen müssen.

Ein paar Seiten weiter, und Jake legte seinen Bart ab und tauschte Bandana und den größten Teil seines Humors gegen einen Anzug von der Stange ein. Sie lebten in New York und hatten die dunklen Augenringe junger Eltern. Sie lächelte den zwei Jahre alten Ted an, der zu seiner Verwunderung eine ernstzunehmende Rivalin bekommen hatte und finster auf seinen Plastiksaurier starrte, während Lisa Portias Windeln wechselte.

Jake und Lisa gerieten in den Hintergrund, während Ted und Portia sich über Geburtstagskuchen freuten, sich zu Klassenfotos aufstellten und bei Ballettaufführungen und Basketballspielen brillierten. Jakes Anzüge bekamen eine Zeitlang ein Armani-Upgrade, bis er wieder zu Finanzkrisen-No-Names zurückkehrte.

Gegen Ende des Albums wurden Lisa und Jake zu mittelalten Nebenfiguren, die Zähne gelber, die Haare dünner und die Taillen unförmiger. Stolz strahlten sie vom Rand der Graduiertenfotos und waren ihren eigenen Eltern verstörend ähnlich geworden.

In all den Jahren war es Lisa nie in den Sinn gekommen, Jake zu betrügen. Na ja, gut, vielleicht einmal auf dem Literaturfest in Berlin, mit dem im Umkreis von vierzig Kilometern einzigen heterosexuellen männlichen Verleger, einem Österreicher, der ihr die Hand küsste und auch sonst sehr charmant war. Ach ja, da war noch der Jazz-Pianist, den sie über einen Freund von Kerry kennenlernte … und vielleicht noch ein, zwei andere. Sie hatte sich gesonnt im Glanz der gegenseitigen Anziehung, aber vor spätabendlichen Turnübungen in Hotelzimmern eine Grenze gezogen.

Wie sie das jetzt bereute. Sie hätte mit allen schlafen sollen, solange sie noch zwei Brüste gehabt hatte. Im Laufe des letzten Jahres war irgendetwas Sonderbares mit ihren Hormonen passiert. Immer wenn sie das Wort »Orgasmus« hörte, musste sie an eine Kirchenorgel denken. Orgasmus, Orgel – beides seltsame Überbleibsel aus ihrer Vergangenheit.

Lisa klappte das Fotoalbum zu. Bei all der Zeit und Kraft, die sie in die Kinder und den Versuch, ihrem Mann eine gute Frau zu sein, gesteckt hatte, war etwas ganz Entscheidendes verlorengegangen – sie selbst? Wer zum Teufel war das?

Erwartungsvoll strahlte der Bildschirm sie an. Mit einem Seufzen sank sie auf ihren Stuhl und öffnete die Datei Drei Schwestern: Emily. Über Charlotte zu schreiben war ihr leichtgefallen, aber Emily war komplizierter. Bis ins Mark ihrer knochigen Gestalt war Emily eine Einzelgängerin gewesen und »trat nur selten über die Schwelle ihres Hauses«, um sich in Gesellschaft zu begeben. Sie war groß und hatte krause Haare, und sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie Tiere Menschen vorzog. Sie wirkte zerbrechlich, war aber unglaublich zäh. Es war leichtfertig, ihr in die Quere zu kommen. Emily erinnerte Lisa in vielerlei Hinsicht an Portia.

Seufzend wechselte sie zu ihren Mails. Maxines Name erschien in Fettschrift. Lisa zögerte, bevor sie das neueste Sendschreiben ihrer Schwester las. Im letzten hatte Maxine so damit angegeben, Ted und seine Freunde dauernd zu sehen, dass Lisa offen gestanden eifersüchtig war. Dieses Mal schrieb Maxine, dass Tante Caroline sie sehen wollte. Caroline war die jüngere Schwester ihres Vaters und mittlerweile über neunzig. Maxine berichtete, ihre Tante spaziere durch das Seniorenheim in Melbourne und erzähle allen, dass sie mit einem Herzog verlobt gewesen sei. Der Gedanke, dass Tante Caroline nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, war traurig. Lisa hatte sie immer gemocht, wenn auch gleichzeitig ein wenig gefürchtet. Außerdem gab laut Maxine das Herz der alten Frau langsam auf. Lisa würde sich wohl bald auf den mühseligen Weg machen müssen, wenn sie ihre Tante noch einmal sehen wollte, bevor die sich auf Schnäppchenjagd im Himmel machte. Das Seniorenheim hatte offenbar einen Busausflug nach Castlemaine organisiert, wo das Haus der Trumpertons stand, aber Tante Caroline hatte sich geweigert mitzufahren: Sie schien irgendwelche irrationalen Vorbehalte gegen das Haus ihrer Vorfahren zu hegen. Erneut erwähnte Maxine, wie sehr sie sich an Teds Besuchen erfreute, dann endete sie mit der herrischen Anweisung, die Termine beim Onkologen nicht zu schwänzen.

Lisa hatte Trumperton Manor, wie es genannt wurde, seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Ihr Vater hatte nur selten davon gesprochen, auch wenn sein Vater Alexander als junger Mann um die Jahrhundertwende dort gelebt hatte. Jetzt nahm sie das Album ihres Vaters aus dem Regal und suchte nach dem sepiabraunen Bild des alten Herrenhauses. Es war genauso beeindruckend, wie sie es in Erinnerung hatte, mit seinen klaren georgianischen Linien und dem von dorischen Säulen getragenen Portikus könnte man es sich wunderbar in England auf dem Land vorstellen. Nur der Garten verriet, dass das Haus an einem sehr viel abweisenderen, wilderen Ort stand – dem ländlichen Australien. Die Versuche, Eichen zu ziehen, waren nur begrenzt erfolgreich gewesen, und der Rasen sah auch nicht gerade englisch aus. Die einzigen Pflanzen, die am Rand der geschwungenen Auffahrt prächtig gediehen, waren einzelne Büschel Pampasgras mit merkwürdigen Staubwedeln.

Ein anderes Foto zeigte einen korpulenten Herrn zu Pferde vor einem prachtvollen Tor mit Pfosten, die von riesigen Kugeln gekrönt waren. Er trug einen Zylinder und, wie es aussah, Abendgarderobe. Hinter ihm stand eine Frau in einem dunklen viktorianischen Kostüm mit einem hellen Hut. Lisa vermutete, dass die beiden die Eltern von Alexander waren. Sie strahlten natürliche Autorität aus.

Das Porträt eines gutaussehenden jungen Mannes mit weißem Halsbinder rutschte aus dem Album. Sein Gesicht war schmal und sensibel, über vollen Lippen trug er einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er wirkte wie der vollkommene viktorianische Gentleman – nur die abgrundtief traurigen Augen passten nicht so ganz zu diesem Eindruck.

Lisa sah einen Widerschein dieses Gesichtes, wenn sie in den Spiegel blickte oder Ted ansah. Portia hatte ihr runderes, kleineres Gesicht von Jake geerbt. Gene waren doch eine komische Sache.

Eine neue E-Mail verkündete mit einem freundlichen Ping ihr Eintreffen. Sie war von Jake.

»Liebe Lisa, ich hoffe, du bist wohlauf.« Der Ton war ungewöhnlich steif. »Belle und mir geht es gut …« Beim Anblick des Namens ihrer Rivalin zog sich Lisas Herz zusammen. »Wie du dir vorstellen kannst, ist ihre Wohnung für unsere Bedürfnisse ein wenig klein …« Wie viel Platz brauchten sie denn für ihre Sexspiele – ein Olympiastadion? »Wir suchen daher nach etwas Größerem. Ich denke daher, dass es gut wäre, wenn wir die Scheidung schnell durchbringen würden. Ich hoffe, du bist damit einverstanden. Herzliche Grüße, J.«