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"Glücklich frei" ist eine unterhaltsame Lektüre, deren Handlung in Berlin und im Norden Deutschlands in der Gegenwart spielt. Hans kommt aus Norddeutschland und wohnt seit über zwanzig Jahren als Single in Berlin. Seine Zwillingsschwester Regina ist an der Küste geblieben. Nun steht der gemeinsame 50. Geburtstag bevor, den Regina eifrig vorbereitet. Doch Hans will nicht Geburtstag feiern, schon gar nicht den 50sten, und dann noch in einem spießigen Lokal mit der ganzen Familie, alten Schulfreunden und Nachbarn inklusive, zumal er für die Feier auf Wunsch seiner Schwester eine Frau mitbringen soll. Dafür lässt sie ihm nur zehn Tage Zeit - ein spannender Countdown beginnt.
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Heidrun Lange
Glücklich frei
Dieses eBook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
.
Kapitel 1 - Das erste Mal allein
Kapitel 2 - Pferdeäpfel vakuumverpackt
Kapitel 3 - Die Anzeige auf der Litfasssäule
Kapitel 4 - Das Stadtgespräch
Kapitel 5 - Die russische Flirtdame
Kapitel 6 - Suche Frau zum Pferde stehlen
Kapitel 7 - Schöner Tanzabend im Ballhaus
Kapitel 8 - Angebote im Internet
Kapitel 9 - Eine eigene Website
Kapitel 10 - Geburtstag mit besonderem Gast
Impressum
.
Wenn mir eine Frau hinterherläuft, verliere ich das Interesse.
Ich fliehe, wenn sie mich verfolgt.
Kapitel 1 - Das erste Mal allein
Mein alter klappriger Opel holpert über die löchrige Straße. Die Baumwipfel der großen alten Kiefern wiegen sich im Wind und lassen Blicke auf die Hausfassaden durch. Ein Dreihundertseelendorf oder das Dorf hinter den hohen Kiefern. Es gibt keine richtige Straße, keinen Supermarkt. Nicht einmal einen Bahnhof haben die Leute hier. Würde da nicht ab und zu das Hengstgewieher über die freien Ackerflächen wehen, dann würde selbst der Wind sich hier langweilen.
Links und rechts steigt der Nebel aus den Wiesen und Wäldern und verspricht einen sonnigen Tag. Nur noch einige Minuten Fahrt, dann bin ich da. Bin heraus gefahren aus dem Dorf mit den hohen Kiefern und fahre auf die niedrigen schwarz-weißen Fachwerkhäuser zu. Kurz vor Ellis Reiterfarm in Wiesenbusch quält sich mein Opel mühsam durch den zerfurchten, aufgewühlten Feldweg. Reiterfarm sagen die Berliner und die Chefin Elli Stark. Ich sage Pferdehof. Die Stallungen gruppieren sich wie ein Viereck um den weitläufigen Hof. Morgens, wenn ich die Pferde füttere, höre ich den Kuckuck rufen, den Wendehals schreien. Bald kommen die Schwäne vom nahe gelegenen See über die Waldwipfel geflogen. Es gibt nichts Schöneres, als im Galopp mit ihnen zu reiten.
Während ich das Auto auf das Tor zusteuere, sehe ich die Chefin wild mit den Armen fuchteln. Sie dirigiert mich bis vor den Stall. Ich lasse das Fenster herunter und rangiere in einer Staubwolke vor und zurück. Es ist wie immer mühselig auf dem engen Pfad. Schließlich steht der Wagen, der Staub verflüchtigt sich und ich springe aus dem Führerhaus.
„Wird Zeit, dass sie kommen“, zeigt die Chefin auf die Armbanduhr. „Es ist gleich soweit. Unser Pferdemodel Dakota bekommt in wenigen Minuten ihr Fohlen. Es ist für unsere sensible Dakota das erste Mal. Ich habe einfach Angst, dass es Komplikationen gibt. Sicherheitshalber wollte ich eine erfahrene Kraft dabei haben.“
„Warum haben sie nicht den Tierarzt gerufen? Den haben sie doch Tag und Nacht um Bereitschaft gebeten.“
„Der Arzt geht nicht ans Telefon. Gestern meinte er noch, er ist sich sicher, dass Dakota in der Nacht nicht fohlen wird.“
„Elli, bei Komplikationen kann ich nicht eingreifen. Ich bin Reitlehrer und kein Arzt.“
„Sicher, da gebe ich ihnen Recht. Aber Dakota kennt sie. Sie hat Vertrauen und falls wir den Tierarzt holen müssen, dann habe ich gleich jemanden hier, der bei ihr bleibt. Wenn es um meine Pferde geht, ist auf sie immer Verlass, Herr Selling.“
Wir gehen zu den Ställen. Elli öffnet die Tür und fährt vorsichtig mit der Hand über Dakotas dicken Bauch. Die Stute schaut uns mit warmen braunen Augen an. Auf ihrem dunkelbraunen Fell haben sich Schweißtropfen gebildet.
„Es ist Dakota nichts anzumerken. Sie ist weder unruhig noch legt sie sich öfter hin. Gestern Abend, beim Rundgang durch die Ställe, habe ich gesehen, dass sich an Dakotas Zitzen Harztropfen gebildet haben. Jetzt tropft schon Milch heraus. Es geht bald los. Schön Herr Selling, dass sie ihren freien Tag geopfert haben“, sagt sie zu mir und streicht über Dakotas schwarze Mähne.
Während ich den Schweif der Stute bandagiere, höre ich es plätschern. Das Fruchtwasser. Dann geht alles schnell, blitzschnell. Es zeigen sich erst die
Vorderhufe, dann der Kopf. Ich helfe nach. Eine Stute, ein richtiger kleiner Wonneproppen, landet auf dem Boden. Eine Geburt, ohne Komplikationen. Sogar die Nachgeburt kommt von allein. Das Fohlen versucht aufzustehen. Nach zehn Minuten läuft es staksig zur Mutter und will trinken.
Elli Stark ist außer sich. Sie flitzt sofort in ihr Büro und kommt mit einem großen Plakat heraus. Sie musste nur noch die Uhrzeit der Geburt des Fohlens einsetzen.
Heute Morgen um 5.05 Uhr erblickte das Fohlen von unserem Pferdemodel Dakota das Licht der Welt.
Wir suchen einen Namen für das Neugeborene. Wichtig ist,
dass der Name mit F beginnt. Der Name des Pferdevaters ist Filou.
Der Gewinner wird mit einem Ausritt am Wochenende inklusive Frühstück belohnt.
Sie drückt mir das Plakat in die Hand.
„Hängen sie es bitte an die Wand des Pferdestübchens. Und, Herr Selling, Sie
begleiten doch den Ausritt? Doris ist auch dabei“, zwinkert mir Frau Stark zu.
Ich weiß nicht, warum sie „Doris ist auch dabei“ so betont. Ich nicke, dass ich verstanden habe und hänge das Plakat an die Wand.
Donnerwetter, da hat sie sich nicht lumpen lassen. Das Geschenk: Ein Ausritt mit Frühstück. Immerhin darf ich den Ausritt sogar begleiten. Für mich wieder mal eine Gelegenheit, mit den Damen zu plaudern. Sonst ist dafür wenig Zeit.
Elli Stark hat in aller Frühe einige Reiterinnen zusammengetrommelt. Wie sie das wohl geschafft hat? Alle haben ein Glas Champagner in der Hand. Sie reicht auch mir ein Glas. Schon am frühen Morgen Champagner? Auf das Fohlen trinken? Schön ist es ja. Ich habe trotzdem keine Lust. Heute ist mein freier Tag. Ich verabschiede mich von Elli Stark und den anderen und wünsche einen schönen Tag.
Ein frischer Wind kommt von den Wiesen. Ich ziehe den Kragen hoch und husche an den Ställen vorbei. Vor Dakotas Stall bleibe ich noch einmal stehen. Es lässt mir keine Ruhe. Ob alles in Ordnung ist?
Die zwölfjährige Stute ist zum ersten Mal Mutter geworden. Die junge Pferdedame, noch ohne Namen, stakst zu ihr und trinkt. Ich klopfe und streichle Dakota’s Hals: Hast Du prima gemacht, meine Braune. Sogar die Nabelschnur ist von allein durchtrennt. Deine erfolgreiche Karriere als Pferdemodel ist vorläufig beendet. Nun musst du nicht mehr zur Präsentation von Pferdedecken für das Reitsportgeschäft Tierbedarf Ross & Reiter in die Kamera lächeln. Dakota stupst mich mit dem Maul an. Sie versteht mich.
Beim Hinausgehen sammle ich noch einige ältere Pferdeäpfel auf und staple sie in einen Eimer. Pferdeäpfel bringen Glück. Und nicht nur das, sie sind ein guter Blumendünger für meine Geranien, geht es mir durch den Kopf.
*
Ich steige die Treppen zu meiner Wohnung hinauf. Unterm linken Arm das Brot, in der rechten Hand den Eimer mit den Pferdeäpfeln. Im ersten Stock stelle ich den Eimer vor der Wohnungstür auf den Boden. Während ich in meiner Hosentasche zwischen Taschentüchern und Zetteln nach dem Schlüssel suche, meine Stiefel ausziehe, die Tür mit dem Fuß aufstoße, geht vis-à-vis die Tür einen Spalt auf und eine Frau ruft: „Das stinkt. Der ganze Flur stinkt. Schaffen Sie das Zeug da im Eimer fort!“
„Was heißt Zeug, das ist kein Zeug, das sind Pferdeäpfel. Die stinken doch gar nicht. Wussten Sie nicht, die bringen Glück. Und nicht nur das, Pferdeäpfel sind guter Blumendünger.“
„Blumendünger können sie bei Rossmann kaufen. Da liegen hunderte von Säcken aufeinander gestapelt. Rossmann macht jeden glücklich, aber nicht mit solchem stinkendem Mist. Sie wohnen hier in einem ordentlichen Haus“, ruft die Frauenstimme hysterisch und knallt die Tür zu.
Schäpperkötter, steht auf der Wohnungstür. Komischer Name, komische Frau, versteht überhaupt nichts von Pferden und ist schon am Morgen so schlecht gelaunt. An die Nachbarn und an die neue Wohngegend muss ich mich erst noch gewöhnen.
Meine Gummistiefel bleiben vor der Tür stehen. Gerade als ich sie geschlossen habe, geht schon wieder eine Schimpfkanonade los: „Solche schmutzigen Stiefel, da kleben dicke Erdbrocken dran. Jetzt, wo wir Sommer haben. Was macht der Kerl bloß, wo man sich so dreckig machen kann?!“
Soll sie meckern, hat eh keine Ahnung, wende ich mich von der Tür ab. Den Eimer mit den Pferdeäpfeln trage ich auf den Balkon und stelle ihn auf die Balustrade, die einzige freie Fläche, die rechts und links von zwei Blumenkästen begrenzt ist. Das ist mein Beobachtungsposten. Die Wand des Balkons schützt mich. Beine und Bauch sind von unten unsichtbar. Nur Kopf und Brust erkennt man.
Unten auf der Straße kracht es. Ein gelbes Auto wird eingeparkt. Rückwärts.
Eine Frau steigt aus. Ich murmle vor mich hin: Typisch Frau. Fast wäre der Eimer mit den Pferdeäpfeln vom Balkon gerutscht, weil ich mich weit über die Brüstung hänge und zwischen meine Balkonkästen quetsche.
„Falls Du eine Anleitung brauchst“, ruf mich an, brülle ich.
Das musste ich einfach mal los werden. Danach bin ich aber auch gleich in Deckung gegangen. Zehn Minuten habe ich hinter der Balkonmauer gesessen. Als ich wieder über die Straße spähe, sehe ich nur noch die Polizisten, die am gelben Auto stehen und rauchen.
Schöner Job, Strafzettel verteilen und rauchen. Vier Pferdeäpfel nehme ich aus dem Eimer. Kurz kommt mir ein Gedanke, die könnte ich der Schäpperkötter vor die Tür legen. Nein, bringt nichts, sich gleich am Anfang mit allen zu streiten. Wenn sie eben keine Pferde liebt, dann liebt sie eben keine Pferde. Ich zerbrösele die Dinger lieber in die Blumenkästen. Vier Pferdeäpfel, vier Blumenkästen. Bestimmt ein bisschen viel. Aber 20 Geranien, die wollen gepflegt werden. Und Pferdeäpfeldung kostet nichts.
Die roten Geranien haben sich schnell an die neue Umgebung gewöhnt. Sie stehen in voller Blüte. Wenn ich schon Pech in der Liebe habe, dann muss ich Glück bei den Blumen haben. Die Leute, die unten vorbeilaufen, gucken schon neidisch auf meinen Balkon. Und da behauptet mein Kumpel Timmi, in meiner Gegend sei doch nischt los. Da siehste nischt und hörste nischt. Mensch, Hanni, wenn de schon in Berlin wohnst, da musste mitmischen. Bei ihm auf dem Frieder-Kathe-Platz, da gibt es jede Menge Party und Demos. Hier, eine ruhige Gegend? da täuscht sich Timmi gewaltig. Es gibt zwar keine riesigen Häuser mit Glasfront, wo man zusehen kann wie die Leute im Fahrstuhl nach oben fahren, von Partys oder Demos ganz zu schweigen. Dafür kann ich von oben auf die Straße sehen und Leute beobachten, die wie für einen Filmdreh bestellt, zwischen den Altbauten immer hin und her laufen. Wenn man ganz leise ist, kann man sogar Gesprächsfetzen erhaschen. Nur im Moment ist wirklich nichts los. Ich hänge den Kopf weit über die Brüstung und sehe, dass der Hibiskus im Vorgarten ebenfalls ein bisschen Dünger vertragen könnte. Die Blätter sind nicht grün, sondern blassgrau.
Ich nehme meinen Eimer und schließe vorsichtig die Tür auf. Bloß keinen Krach machen, die Tür ganz langsam öffnen. Es geht doch. Meine Stiefel stehen noch. Einige trockene Erdkrümel liegen daneben. Frau Schäpperkötter lugt auch nicht durch den Türspalt. Keine schrille Stimme ist zu hören. Leise laufe ich die Treppe runter. Unter meiner Wohnung wohnt eine alte Dame. Ihr Haar silbergrau, so stark und spröde wie Büffelhaar, hinten mit einem Kamm festgesteckt. Sie ist klein, hat eine schlanke Taille und läuft kerzengerade. Das Gesicht ist verwelkt, die Haut glänzt wie feuchtes Pergament, die Augen sind hellblau und blicken sanft. Sie muss früher mal eine Schönheit gewesen sein. Dieses zierliche, alte Wesen macht mich neugierig. Besser als die Schäpperkötter ist sie allemal.
Sie steht immer hinter dem Fenster, hat die Jalousien halb heruntergezogen und zwischen den Stegen einen Spalt offen gelassen. Wie ein Ausguck. Ich sehe sie jedes Mal, wenn ich am Fenster vorbeilaufe. Sie weiß bestimmt nicht, dass man ihren Schatten sieht. Ganz anders ist es mit der Tür. Wenn sie durch die Linse des Glasloches sieht, kann ich das nicht sehen. Allerdings erkenne ich, ob die Klappe beiseite geschoben ist. Ganz schön recken muss sie sich da, wenn sie mich sehen will. Hätten die Türbauer aber auch daran denken können, dass Menschen im Alter schrumpfen.
Noch raffinierter stellt sie es an, wenn sie am Briefkasten steht. Trete ich ins Haus, dann steht sie da und murmelt vor sich hin: Komisch wieder keine Post. Wenn sie an ihrem Briefkasten ‚Bitte keine Werbung’ ranklebt, dann muss sie sich auch nicht wundern, dass der Kasten leer ist. Was soll denn so eine alte Frau noch für Post bekommen.
Jedenfalls packt sie die Sache beim Schopfe. Sie redet, schwatzt. Oft von einem Kurt. Es wird Zeit, dass wir uns bekannt machen. Vielleicht noch heute, aber nicht unbedingt sofort. Als hätte der Teufel seine Hand im Spiel. Ich schleiche gerade an ihrer Tür vorbei, da drängt sich die alte Dame durch den geöffneten Spalt.
Sie tut so, als hätte sie mich noch nie gesehen.
„Sie sind bestimmt der neue Mieter?“
„Ja, der bin ich. Und das hier sind Pferdeäpfel, prima Dünger für Blumen“, zeige ich auf meinen Eimer, aus dem es nun doch nach Pferdemist riecht.
Jetzt kommt die alte Dame aus ihrer Wohnung heraus und streckt mir ihre Hand entgegen:
„Ich bin Anna Kupke. 88 Jahre, verwitwet.“
„Ich bin Hans Selling. Seit einem Monat Single. Sie können mich Hanni nennen. In Berlin nennen mich alle Hanni“, erwidere ich ihren Gruß.
„Ein Berliner sind sie nicht. Stimmst?“
„Nein, ich komme von der Küste, aus Travemün…“
„Meinen sie Travemünde?“
„Ja.“
„Hab ich´s doch gehört. Das ist ein norddeutscher Dialekt.“
„Ja, ich wohne aber schon viele Jahre in Berlin. Im Norden bin ich der Hansi.“
„Herr Hanni, was sagten sie, was sie in ihrem Eimer haben?“
„Glück oder Pferdedung für die Blumen. Alles öko.“
„Kann ich das Glück mal anfassen?“
„Aber sicher.“
Frau Kupke zögert, fasst dann in ihre Kittelschürze, holt einen Leinenhandschuh heraus, streift ihn über die Hand, greift in den Eimer und holt sich einen Pferdeapfel heraus. In der linken Hand, zwischen Zeigefinger und Daumen, dreht sie ihn hin und her, hebt ihn in einem breiten Streifen Sonnenlicht, der in den Flur scheint, sieht mich an und sagt:
„Na, dann auf gute Nachbarschaft. Ach, wenn das mein Kurt noch erlebt hätte,
endlich mal ein netter Mieter.“
Mit der rechten Hand öffnet sie die Tür zu ihrer Wohnung und trippelt auf ihren Pantoffeln wieder hinein.
Ich gehe an den Briefkästen vorbei auf die Straße. Zwei Pärchen laufen eng umschlungen. Ein alter Mann führt seinen Mops Gassi. Beide laufen auf mich zu und bleiben vor mir stehen. Der Mops hechelt und ihm hängt die Zunge raus. Beide haben ihre nussbraunen Augen auf mich gerichtet. Der Mann schnappt kurzatmig nach Luft und sagt:
„Ich, ich bin Otto Schön. Seit, äh, seit einem Jahr Pensionär. Und das hier ist Frieda, äh, meine Mopshündin, stammt, äh, aus einer Familienzucht. Wir gehen täglich drei, äh, vier Runden um den Block. Und, äh, was machen sie da?“, zeigt er auf meine Hände.
„Ich bin gerade dabei, einen Pferdeapfel zu zerkleinern. Ich dünge die Blumen, ökologisch.“
„Gute Idee, aber das nächste Mal, äh, das nächste Mal lassen sie den Eimer mit dem Mist draußen stehen. Ich wohne, äh, in ihrem Aufgang. Die Frau Schäpperkötter wollte schon die Hausverwaltung anrufen, äh, weil es im Flur so unangenehm roch.“
Ich bin platt und senke den Blick.
Mit einem Händedruck will ich die neue Nachbarschaft besiegeln.
„Ich bin Hans Selling.“
Herr Schön rümpft die Nase, lässt die Hand unten. Frieda guckt wie eine Schiedsrichterin abwechselnd nach oben zu ihrem Herrchen, dann zu mir. Sie kommt auf mich zu und beschnuppert meine Hände. Ich glaube, wir mögen uns.
„Komm Frieda, das ist nichts für dich“, zieht Otto Schön seine Mopshündin an der Leine fort.
Frieda tippelt hinterher, dreht den Kopf in meine Richtung und streckt mir die Zunge raus. Dann folgt die Mopsdame brav ihrem Herrchen. Was wäre die Welt ohne Hunde und vor allem ohne Möpse? Ich nehme den leeren Eimer und gehe wieder in meine Wohnung.
*
Es riecht immer noch nach frischer Farbe, obwohl ich hier seit einigen Wochen wohne und täglich lüfte. Das Inserat: Balkon - Wohnung im Grünen. Klein, preiswert, quadratisch geschnitten, fiel mir unter den Wohnungsangeboten in der Zeitung auf.
Alles nur für sie allein, betonte die Vermieterin bei der Besichtigung. Im Wohnzimmer Stuck an der Decke aus Styropor. Nicht unbedingt nach meinem Geschmack. Gleich rechts neben dem Wohnzimmer die Küche mit Geräten, die zwar nicht neu, jedoch blank poliert sind. Das Bad genauso blitzsauber wie die Küche. Die Fußböden beider Räume sind mit hellen Fliesen ausgelegt. In wenigen Schritten war ich damals auf dem Balkon und betrachtete die Aussicht vom ersten Stock. Gerade rüber sanierte Altbauten. Unter mir die Straße und Bürgersteige. Wohnen im Grünen? Ich runzelte die Stirn.
„Sie brauchen keine Angst zu haben. Hier ist es ruhig. Sie befinden sich in einer ruhigen Berliner Gegend“, sagte die Vermieterin. Und ich dachte, egal, es ist nicht alles so wie ich es gewohnt war. Aber die Wohnung nehme ich. In Gedanken klopfte ich mir auf die Schulter. Endlich hast du es geschafft. Du bist fort von Christine. Ich sehe noch die Abschiedszeremonie deutlich vor mir. Sie war blass geworden, als ich mit einem Koffer voller Sachen vor ihr stand und adieu sagte. Sie überspielte die Szene und überreichte mir ein Buch: Selbst ist der Mann. Misstrauisch beäugte ich das Buch, nahm es und dachte: Traut sie mir denn gar nichts zu? Sie weiß doch was ich kann. Unser Leben war spannend. Vorausgesetzt, sie saß nicht gerade über ihren Werbetexten. Die Eifersuchtsszenen, die sie aufführte, nervten. Ich habe ihr gesagt, was ist dabei, wenn ich die langen Beine einer anderen Frau bewundere. Nur dieser Satz reichte, dann brannten bei ihr die Sicherungen durch. Sie fauchte, trat, biss und warf mit Gegenständen um sich. Doch Christine konnte auch anders. Unter Tränen kehrte sie dann ihre zahme Seite heraus. Als ich ihr Haus verließ sah ich, dass die Blässe aus ihrem Gesicht verschwunden war, ich sah so etwas wie ein Lächeln in ihren Augen. Ich gab ihr die Hand, nahm meine Tasche und ging. Der nächste Schritt war in die Möbelbörse. Ich habe mir einen nussbaumfarbenen Kleiderschrank, dazu passend eine alte Kommode gekauft. Und eine Lampe. Die steht auf einem silbernen Gestell. Man kann sie dimmen, hat die Verkäuferin gesagt. Sie tippte mit ihren Fingern auf das Gestell, im nu leuchtete es erst matt, beim nochmaligen drücken wurde es immer heller. Ich machte es ihr nach und es funktionierte auf Anhieb. Mal was Modernes habe ich mir gedacht. Fernseher, Musikanlage und Couch habe ich von Timmi bekommen. Wirklich ein zuverlässiger Kumpel. Eines Tages stand er vor meiner Tür und meinte: „Mensch Hanni, mit fast 50 Jahren ohne Frau und endlich die erste eigene Wohnung. Aber noch ziemlich leer, findest de nicht och.“ Ich sollte ihm auf die Straße folgen. Er machte die Türen von seinem Transporter auf und zeigte in das Innere. Hier, kannste haben. Stand bei uns im Keller, geerbt von meiner Großmutter. Aber alles noch in Ordnung. Wir trugen den Fernseher und die Musikanlage gleich nach oben. Vor der Couch blieb ich erst mal stehen.
„Ganz schön groß für meine kleine Bude, Timmi. Und dann noch roter Samtbezug. Passt doch gar nicht zu mir.“
„Was mäkelst du. Geschenkt ist geschenkt.“
Wir mussten das Teil lange hin und her rangieren, bis wir oben in der Wohnung waren. Als wir uns entschieden hatten, die rote Samtcouch an die Wand gegenüber dem Balkonfenster zu stellen, lies ich mich reinfallen und sprang gleich wieder hoch. „Die ist noch nicht durchgesessen, Timmi. Das ist noch echte Ware!“ An das Rot und den Samtbezug habe ich mich gewöhnt. Genauso an meine Wohnung. Endlich habe ich ein Nest nur für mich. Es wird mich künftig ein Drittel meines Gehaltes kosten. Macht nichts, jetzt bin ich frei von Zwängen irgendeiner Art. Dafür muss ich jetzt allein kochen, selbstständig bügeln und ohne fremde Hilfe putzen. Ich muss lernen, wie man eine Waschmaschine ordnungsgemäß befüllt und wie lange man Wäsche ohne zu wechseln tragen kann. Würde meine Mutter noch leben, hätte sie gesagt, mit dem Auszug aus dem Elternhaus beginnt für Nestflüchter der Ernst des Lebens. Nur reichlich spät bei Dir, mein Sohn. Sie hätte mir eine Liste in die Hand gedrückt und fein säuberlich aufgeschrieben, was in einer Wohnung wichtig ist, welche Möbel ich mir kaufen sollte, wie ich mir mein Geld einteilen müsste. Wenn sie erlebt hätte, dass ich mich immer bei Frauen einquartiert habe, hätte sie die Hände über den Kopf zusammengeschlagen und gejammert, dass dieser Junge sie noch um den Verstand bringe. Sie hätte nie verstanden, dass es für mich so einfacher ist. Hätte ich argumentiert, dass die Wohnungen perfekt ausgestattet sind, hätte sie mir erklärt, dass es sich für einen Mann nicht gehört, sich ins gemachte Nest zu setzen. Mit einem anderen Argument treibt mich meine Zwillingsschwester Regina in die Enge. Kein Gespräch wird ohne die Frage beendet, wann ich denn nun endlich heirate. Ich habe ihr Christine vorgestellt. Die beiden mochten sich gleich. Eine gute Partie, mein lieber Bruder. Die setzt sich durch im Leben. Und hübsch ist sie außerdem. Ich fand Christine zwar nicht hübsch, aber interessant. Wenn ich morgens durch ihren schwarzen Bubikopf wuselte, in ihre lustigen grünen Augen blickte, dann überkam mich sofort das Gefühl eines Vagabundes. Gleich als wir uns kennen lernten habe ich ihr das Lied: Lustig ist´s im grünen Wald wo des Zigeuners Aufenthalt. Faria, faria, faria, faria. Faria, faria, ho vorgesungen. Sie reagierte, ich hätte grässlich gesungen und vom Zigeunerleben wolle sie nichts hören. Verführerisch war der rote Kussmund. Immer wenn wir ausgingen musste ich entscheiden, welche Rotnuance sie auftragen soll. Auf dem weißen Sessel in ihrem Wohnzimmer hatte sie handtellergroß einen roten Kussmund gemalt. Überhaupt wirkte das Wohnzimmer wie ein kleiner exotischer Tempel. Oben auf dem antiken Holzschrank wachte eine Buddhafigur über den Raum. Der bauchige Hocker aus Asien, der runde Couchtisch aus Holland und der weiße Sessel gehörten nur ihr. In dieser Oase, so nannte Christine dieses Wohnensemble, wollte sie zur Ruhe kommen und entspannen. Wenn ich mich mit meinen Reitsachen in den Sessel setzte, ist sie ausgerastet. Logisch, das ich das irgendwann nicht mehr gewagt habe. Schließlich hatte ich mein eigenes Zimmer in ihrem Haus. Als ich eines Tages von der Arbeit kam, stand ein Flachbildschirm neben meinem Bett. Ich fragte sie verwundert, warum ich jetzt so ein Teil bekommen habe. Kurz und knapp kam die Antwort: Damit du mich künftig nicht störst, wenn ich arbeite. Texte schreiben sei nun mal ein schwerer Job. Noch kurz bevor ich aus ihrem Haus auszog, hatte sie wieder einen ihrer tollen Einfälle.
Es war schon nachts um eins. Aber nicht zu spät, um eine Nummer zu schieben. Ich saß auf dem Bettrand und grübelte, wie ich Christine ins Bett locken könnte. Plötzlich höre ich sie rufen:
„Ey, ich habe so einen krassen Flash für ein Bild, weißt du, ich habe da auf einmal so ein ultrakrasses Bild im Kopf, das muss ich gleich aufschreiben.
Sechs Stunden hab ich dran gearbeitet, sechs, boah, das ist der Hammer. Das musst du dir vorstellen.“ Gab mir einen Kuss, rannte runter in ihr Arbeitszimmer und hat den Computer angeschaltet. Das war´s.
Mir platzt gleich der Kopf, rief sie nach oben. Und ich: Scheiße, wieder eine Nacht ohne tollen Sex, weil sie schreiben muss.
Während sie sich Sorgen macht, dass ihr Kopf platzt, platzt bei mir was ganz anderes. Frauen, sag ich nur. Meine anderen waren nicht besser. Irgendein Alltagsscheiß wurde immer zelebriert. Ich hatte beschlossen, mich von Christine zu trennen. Nicht wegen der Nacht ohne Sex. Ich wollte weg von ihr. Ich fühlte mich in ihrem Haus eingesperrt und von ihr und dem Buddha ständig überwacht.
*
Es klingelt. In nur drei Schritten bin ich auf meinem Balkon und gucke auf die Straße. Ah, das Postauto. Glück für den Postmann, dass ich da bin. Fast außer Puste ist er, als er vor meiner Tür steht. Einen dicken DIN A4 Brief drückt er mir in die Hand. „Hier, für sie ein Einschreiben. Ich brauche eine Unterschrift“. Im ersten Moment schlottern mir die Knie. Ich befürchte das Schlimmste. Vielleicht ein Brief von der Bußgeldstelle, weil ich das Strafgeld fürs zu schnelle Fahren immer noch nicht beglichen habe? Irgendwann drohen die nämlich mit Haft. Aber woher hatten die denn die neue Adresse? Ich unterschreibe und nehme den Brief, drehe ihn um.
Der Absender: Regina Scholz.
Meine Schwester. Die hat doch erst vor kurzem mit mir telefoniert und von einer Geburtstagsfeier gesprochen. Da war meiner Meinung nach alles geregelt. Oder ist was an der Küste passiert? Der Postbote wippt von einem Bein auf das andere und guckt auf meine Hände, die nun doch zitternd den Umschlag öffnen.
Regina schreibt mit sauberer Handschrift:
Einladung zu unserer Zwillingsgeburtstagsfeier!
„Zwillingsgeburtstagsfeier“ buchstabiere ich und zeige dem Postboten noch ein blaues Stück Pappe mit der Aufschrift: Gutschein
„Dann ist ja alles in Butter“, meint der Zusteller und geht zur nächsten Tür.
So was Penetrantes. Kommt hier hochgerannt, als wenn der Teufel hinter ihm her ist. Guckt und guckt und wartet bis ich den Brief aufmache. Könnte ja etwas Interessantes drin stehen. Gleich im Flur falte ich den Brief auseinander:
Liebe Freunde, lieber Hansi!
was einer von zweien allein kaum schafft,
weil von der Zeit hinweg gerafft
was ein jeder gerne würde,
gäbe es da nicht so manche Hürde,
Doch, was man nicht alleine schafft,
gelingt oft mit vereinter Kraft.
Vernehmet nun die frohe Kunde,
wir laden zur Geburtstagsrunde
ins Vereinshaus des Tennisclubs nach Warensfeld
E u c h - und alle übrigen ein.
Nur - damit Ihr Euch nicht wundert -
dies Jahr sind wir zusammen 100!
Persönlich an Dich, Hansi:
Wie doch die Zeit vergeht. Mit 18 habe ich gedacht, mit 30 ist alles vorbei, dann sind wir alt. Bald werden wir 50. Jetzt fühle ich mich wie 30. So kann es noch lange weitergehen. Lieber Hansi, in zehn Tagen feiern wir unser Jubiläum.
2 mal 50. Bringe bitte eine nette Tischdame mit, am besten Christine! Du weißt doch, die Leute reden sonst wieder über uns. Falls Christine nicht kann oder Du sie, aus welchem Grund auch immer, nicht mitbringen willst, dann versuche eine zu finden, und wenn es nur für den einen Abend ist.
Besuche einen Flirtkurs oder geh zu einer Tanzschule. Ich lege dir einen Gutschein bei. Entscheide selbst.
Deine Schwester!
Mir wünscht sie also einen Countdown nach dem Motto: Die Jagd beginnt. Jetzt zieht sie alle Register und überlegt, wie ich zu einer Frau kommen könnte. Gutschein für irgendwelche Anmachversuche. Die spinnt wohl. Ich habe unzählige Motivations- und Sexbücher gelesen und sämtliche Aufreiß-Gurus weltweit studiert. Ich kenne alle Flirtsprüche und ich weiß, welche Stimme die Frauen verrückt macht. Ich weiß, welche Worte ich sagen muss, um erotische Energien freizusetzen. Aber warum soll ich jetzt ausgerechnet einen Flirtkurs besuchen? Tanzschule? Tanzen kann ich sowieso wie ein junger Gott.
Der Brief kommt auf den Stapel zur unerledigten Post. Ich suche Trost auf meiner Couch, starre an die Decke. Mich verfolgen die Worte meiner Zwillingsschwester.
Hansi, dem Vater haben die Krankenschwestern vor fast fünfzig Jahren gesagt, wir beide waren eine schwere Geburt. Doch Mutter und Kinder sind wohlauf. Er kam wie immer zu spät. Drei Tage hat er sich Zeit gelassen, uns und Mutter zu besuchen. Übrigens, du warst zwar der Zweite, aber der Schwerere.
Jedes Mal wenn meine Schwester von unserer Geburt erzählt, werde ich immer hundert Gramm schwerer. Nun feiern wir ein Jubiläum, das man fest in Stein meißeln muss. Natürlich nur, wenn es nach meiner Schwester geht.
So sind Frauen. Sie drängeln, nerven, organisieren. Vor allem Dinge, die einem nicht so wirklich was bedeuten.
Ich, Hans Selling bin
neunundvierzig Jahre elf Monate und zwanzig Tage alt