Gnade zieht ein - Katharina Würden-Templin - E-Book

Gnade zieht ein E-Book

Katharina Würden-Templin

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Beschreibung

24 Weihnachtsgeschichten, die zu Herzen gehen. Sie wollen den Leser in der Weihnachtszeit begleiten und auf das Christfest einstimmen. Ideal zum Selberlesen und Verschenken. Besonderes Extra: Am Schluss des Buches sind zu jeder Geschichte Inhalt, Themen und die Lesezeit für die Verwendung in Gruppen angegeben.

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Seitenzahl: 238

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Katharina Würden-Templin (Hrsg.)

Gnade zieht ein

24 Weihnachtsgeschichtenmal besinnlich, mal heiter

www.bibellesebund.net

Impressum

© 2021 Bibellesebund Verlag, Marienheide

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

Alle Rechte vorbehalten

https://shop.bibellesebund.de/

Autor: Katharina Würden-Templin (Hrsg.)

Lektorat: Iris Voß

Coverbild: © Kristina Blokhin / stock.adobe.com

Covergestaltung: Luba Ertel

ISBN 978-3-95568-470-9

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des Textes kommen.

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https://ebooks.bibellesebund.de

Inhalt

Titel

Impressum

Das Vogelhäuschen

Hallo, ich bin Grace!

Johannas Engel

Primeln im Dezember

O du fröhliche

Weihnachtsüberraschung aus dem Karton

Ein Hund und ein Hut – ein Missgeschick wird gut

Der Bär und das Krippenspiel

Ich glaube nicht an Engel

Die Weihnachtslektion

Amazing Grace, unser besonderes Kind

Jesus im Fahrstuhl

Das Geschenk

Ein Licht für die Schwiegermutter

Weihnachten mal anders

Herrlichkeit

Ein Paukenschlag für Jörg

Heute ist Weihnachten früher als sonst – oder: Weihnachten per Notbremse

Das Licht

Pech im Glück

Weihnachten sind wir im Stall

Die vergessene Predigt

Statist mit Schafsinn

Der Teddy

Hinweise für Gruppenstunden

Das Vogelhäuschen

von Ursula Schröder

Von allen Geschenken, die Walter mir im Laufe unserer Ehe machte, habe ich mich über das Vogelhäuschen wohl am meisten gefreut. Dabei war es bestimmt nicht das kostspieligste, denn er hatte es auf dem Weihnachtsmarkt unserer Gemeinde gekauft. Aber er hatte offensichtlich gemerkt, dass es mir besonders gut gefallen hatte, und es deshalb zurücklegen lassen, ohne dass ich es mitkriegte. Umso mehr freute ich mich, als ich es Weihnachten unter dem Christbaum fand.

Jedes Jahr im Herbst hatte ich es seitdem auf der Terrasse aufgestellt und mich daran gefreut, wenn die Vögel sich dort regelmäßig ihre Körner abholten. »Ja, das passt zu dir«, sagte Walter dann lächelnd. »Du hältst hier tapfer die Stellung, während ich so ein Zugvogel bin.«

Ich hatte diesen Vergleich darauf bezogen, dass er Pilot war. Aber als nach seinem tödlichen Autounfall im Frühjahr die Wahrheit ans Licht kam, erfuhr ich, dass es viel schlimmer war. Jahrzehntelang hatte er ein Doppelleben geführt. Es gab in Hamburg eine andere Frau. Und eine mittlerweile erwachsene Tochter namens Viola, die mich gern kennenlernen möchte.

Seitdem liege ich mit Gott im Clinch. Ich will sie nicht treffen, schreie ich lautlos. Ich will gar nicht, dass es sie gibt! Ich will mein altes Leben zurück, mein ruhiges, unwissendes Leben mit dem Mann, dem ich vertraut habe! Ich will die Tochter nicht sehen, die er mit mir hätte haben sollen! Das kannst du mir doch nicht zumuten!

Aber Gott macht da nicht mit. Er nimmt mir diese Last nicht ab. In Form eines Gesprächs mit unserem Pastor redet er mir sogar zu: »Lass sie herkommen. Es ist besser, sie kennenzulernen. Du kannst doch nicht ignorieren, dass es sie gibt.« Und so stimme ich zu, weil mir die Argumente ausgehen.

Deshalb steht Viola eines tristen Novembertages im Hausflur. Ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt, größer vielleicht, mit Walters blonden Haaren, aber sie scheint eher nach ihrer Mutter zu kommen, die ich nicht kenne.

»Danke, dass ich Sie besuchen darf«, sagt sie, und ich merke, dass sie genauso nervös ist wie ich.

Ich biete freundlich Tee und Kuchen an und versuche, das Gespräch auf einer Ebene zu führen, die ich aushalten kann. Wir reden über Hamburg und Violas Job als Grafikerin für eine Firma, die Geschenkartikel herstellt. Über die Fortbildung, für die sie gerade in der Gegend ist. Ich weiß nicht genau, mit welchen Erwartungen sie gekommen ist – vielleicht will sie einfach nur wissen, wer ich bin, vielleicht sagt sie aber später noch, ob sie ein spezielles Anliegen hat.

Irgendwann schweift ihr Blick nach draußen auf die Terrasse. »Ein Vogelhäuschen!«, ruft sie überrascht. »Wie schön! Ist das ein Rotkehlchen?«

»Das ist ein Dompfaff-Männchen«, erkläre ich ihr. »Nur er hat diese leuchtend rote Brust, das Weibchen ist viel dezenter.«

»Wie unfair!«, sagt sie lachend. »Und diese Gelben, die sogar kopfüber hängen können?«

»Das sind Kohlmeisen.«

»Wow«, murmelt sie. »Ich glaube, ich könnte hier stundenlang sitzen und einfach nur zusehen.«

Ich fühle, wie ich ein wenig entspannter werde. »Ich weiß, das hat so was Friedliches«, sage ich. »Aber eigentlich müsste ich das Häuschen mal generalüberholen, bevor es auseinanderfällt.«

»Ja, ich sehe es auch«, stimmt sie mir zu. »Vor allem am Dach müsste man etwas tun, und diese Sitzstange … Ich würde vor allem auch …« Sie bricht ab. »Entschuldigung, ich wollte mich nicht in irgendwas einmischen.«

»Das tun Sie nicht«, erwidere ich. »Ich überlege ja selbst, was ich damit machen soll.«

Sie zögert, bevor sie ihren Vorschlag macht. »Mein Kurs hört immer um halb fünf auf. Wenn Sie mögen, komme ich morgen wieder und helfe Ihnen.«

»Das wäre schön«, sage ich zu meiner eigenen Überraschung.

Viola scheint eine praktisch begabte junge Frau zu sein. Bevor sie geht, inspiziert sie Walters Werkstatt im Keller, und als sie am nächsten Tag wiederkommt, hat sie im Baumarkt all das besorgt, was ich nicht vorrätig habe. Ich bin etwas überrascht, als ich die unterschiedlichen Farbtöpfe sehe.

»Ich weiß, das war nicht abgesprochen«, entschuldigt sie sich. »Aber ich fände es so schade, das Ding einfach nur braun zu streichen. Viel zu langweilig.«

Zunächst reparieren wir aber mal die Schadstellen. Oder besser gesagt, sie repariert und ich leiste Handlangerdienste. Sie ist wirklich geschickt, wir haben das Vogelhäuschen rasch wieder wetterfest gemacht. Jetzt geht es ums Streichen.

Viola zieht einen Zettel aus der Tasche. »Ich hab mal ein paar Skizzen gemacht«, sagt sie verlegen und reicht ihn mir.

Ich reiße überrascht die Augen auf. Hier ist das Ende von langweilig. Da gibt es ein grünes Haus mit weißen Sprechblasen, in denen bunte Vögel Musiknoten trällern. Ein rosa Haus ist dekoriert mit Federn und dem Schild »Piep-Show«. Dunkles Grau bildet den Hintergrund für viele Spiegeleier in Gelb und Weiß …

»Ich glaube, das ist mein Favorit«, sage ich und zeige auf das weiße Häuschen mit dem blauen Dach und den vielen bunten Pünktchen.

»Dann legen wir mal los«, lacht sie und stellt sich die passenden Farben zurecht.

Während Viola die Grundierung aufträgt, gehe ich in die Küche und bereite unser Abendessen vor. Kochen ist mir in letzter Zeit schwergefallen; ich mag es lieber, wenn noch jemand mitisst. Und essen kann das Mädchen! Zum Schluss sind alle Schüsseln leer.

Jetzt dreht sie etwas nachdenklich an ihrem Glas. »Ich wollte Sie eigentlich was fragen.«

»Ich glaube, wenn man schon zusammen gearbeitet und gegessen hat, ist es Zeit, sich zu duzen«, sage ich. »Ich bin Sabine, wenn es dir recht ist.«

»Das ist mir sehr recht«, antwortet sie. »Weißt du, als ich gestern herfuhr, hatte ich richtig Angst, wie das werden würde. Ob du nicht total wütend bist auf mich.« Immer noch konzentriert sich ihr Blick auf ihr Glas.

»Ich hatte auch Angst«, gestehe ich. »Aber ich kann doch nicht wütend auf dich sein. Du kannst ja gar nichts für das, was passiert ist. War das deine Frage?«

»Gewissermaßen, ja«, murmelt sie. »Ich versuche mir vorzustellen, wie ich an deiner Stelle reagiert hätte. Ich glaube, ich würde alles kaputt schlagen wollen.«

»Ja, das Gefühl kenne ich«, gebe ich zu. »Und mein Pastor kennt es auch von mir. Er musste sich schon viel anhören in dieser Hinsicht.«

»Dein Pastor?«, wiederholt sie. »Du gehst also zur Kirche? Glaubst du an Gott?«

Ich nicke. »Ja, das tue ich. Auch wenn wir es in letzter Zeit nicht immer leicht miteinander hatten, Gott und ich.«

Sie runzelt verständnislos die Stirn. »Gott und du? Das klingt ja fast wie eine menschliche Beziehung.«

»Es ist eine persönliche Beziehung, ja.« Ich setze innerlich ein Stoßgebet ab, das lautet: Hilf mir, das verständlich rüberzubringen. »Ich bin überzeugt davon, dass Gott mich hört und auf meine Gebete reagiert.«

»Das glaubst du? Obwohl dir dein Gott so übel mitgespielt hat? Erst verunglückt dein Mann, und dann erfährst du, dass er dich jahrelang betrogen hat? Dass es mich gibt, während du mit ihm keine Kinder hattest?«

»Das hat ja nicht Gott getan«, entgegne ich.

»Aber er hat es auch nicht verhindert!«, ruft sie aus. »Was ist das für ein Gott? Wie kannst du an den glauben? Ich finde das immer so verlogen, gerade jetzt, wo es bald wieder Weihnachten wird. Dafür zeichne ich süße Karten mit Engeln und Sternen und Babys in Krippen. Und dann denke ich an meine Weihnachtstage. Mein Papa war nie da. Angeblich musste er immer gerade nach Kanada oder Australien fliegen. Aber in Wahrheit war er bei dir, oder?«

»Meistens, ja.« Ich erinnere mich an viele Jahre gemeinsam verbrachter Festtage. Natürlich hatten wir einen Weihnachtsbaum und reichlich adventliche Dekoration. Was fehlte, war das Kinderlachen, die bunten Packungen mit Lego oder einem Puppenhaus, die mit schiefer Stimme gesungenen Weihnachtslieder. Aber das will sie jetzt bestimmt nicht von mir hören.

»Und ich war so neidisch auf dieses Jesuskind«, fährt sie fort. »Das hatte gleich zwei Väter, einen im Himmel und einen vor Ort. Und dazu noch eine Riesenparty mit Engeln und Hirten und Königen, die Geschenke bringen. Dieses emotionale Superfest einschließlich Weihnachtsplätzchen und Weihnachtsschmuck und Weihnachtsliedern. Irgendwann fand ich das alles nur noch unglaubwürdig, und jetzt verdiene ich mein Geld damit, obwohl es mir nichts mehr bedeutet.« Sie hält inne und sieht mich bestürzt an. »Tut mir leid, Sabine, ich wollte dich damit nicht … ich meine, du siehst das alles bestimmt anders.«

»Schon gut«, sage ich beruhigend. »Das ist auch für mich nicht das, worum es an Weihnachten geht. Aber schau, wenn man dieses ganze Beiwerk abzieht, dann bleibt immer noch dieses Kind, Gottes Sohn, der als Mensch zur Welt kommt. Dem nichts Menschliches fremd ist, keine Enttäuschung, kein Betrug, kein Schmerz – und der trotzdem auch Gott ist, der Wunder tut, dem nichts unmöglich ist. Dem kann ich mich anvertrauen, gerade wenn es mir schlecht geht.«

Violas Augen sind groß und dunkel. »Na, das ist doch mal eine andere Aussage als auf unseren Postkarten. Auch wenn ich dazu ja noch einige Fragen hätte.«

»Ich weiß nicht, ob ich die alle beantworten kann, aber du kannst sie mir gern stellen.«

Mit dem Vogelhäuschen kommen wir heute nicht mehr weiter. Ich koche noch eine Kanne Tee und öffne eine Packung Kekse, die wir nach und nach essen, während wir am Küchentisch sitzen und bis nach Mitternacht reden. Dann leihe ich ihr ein Nachthemd und lasse sie in meinem Gästezimmer übernachten, damit sie nicht so spät noch in ihr Hotel fahren muss.

Viola scheint früh aufgewacht zu sein, denn als ich am nächsten Morgen etwas verschlafen in die Küche schlurfe, hat sie sich bereits einen Kaffee gemacht. Sie muss pünktlich los, um zu ihrem Kurs nicht zu spät zu kommen, aber vorher nimmt sie mich noch mit in den Keller.

Jetzt stelle ich fest, dass sie noch früher aufgestanden sein muss, als ich dachte. Denn das Vogelhäuschen ist fertig. Mit viel Liebe zum Detail hat sie kleine Fenster mit blauen Rahmen auf die Seitenwände gemalt und ein Tulpenbeet an die Unterkante. Das Dach hat viele einzelne blaue Schindeln, und statt der pastellfarbenen Tupfen von ihrer Vorlage hat sie winzig kleine Herzen auf die Flächen gesetzt.

»Lass es noch einen Tag trocknen, bevor du es nach draußen stellst«, rät sie mir.

Ich könnte heulen, so schön ist es geworden. »Eigentlich ist es viel zu schade für den täglichen Einsatz«, sage ich. »Die Vögel wissen das bestimmt nicht zu schätzen.«

»Hauptsache, dir gefällt es«, erwidert sie.

»Es wird mich immer an unser Gespräch erinnern. Es war schön, dass du da warst.«

»Fand ich auch.« Viola scharrt ein wenig verlegen mit dem Fuß. »Danke für alles, was du mir gesagt hast. Und … vielleicht redest du auch mal mit Gott über mich?«

»Ganz bestimmt tue ich das«, verspreche ich, und dann fallen wir uns spontan um den Hals. Ich wünschte, sie könnte noch bleiben. Aber das kann man ja auch anders lösen. »Sag mal … hast du Weihnachten schon was vor?«

»Nicht so wirklich«, sagt sie. »Meine Mutter ist ja inzwischen Buddhistin, die feiert das nicht.«

»Hättest du Lust, wieder herzukommen und mit mir zu feiern?«

Jetzt geht ein Strahlen über ihr Gesicht. »Das würde ich gern tun, Sabine.«

»Dann haben wir eine Verabredung!« Ich begleite sie bis zur Tür und winke ihr nach.

Den ganzen Tag fühle ich eine solche Leichtigkeit wie schon lange nicht mehr. Auch am nächsten Tag hält sie an, vor allem, als ich das Vogelhäuschen wieder auf die Terrasse bringe. Die Vögel brauchen eine Weile, um es anzunehmen – vielleicht riecht es noch zu sehr nach Farbe. Aber das ist egal. Ich sitze trotzdem in meinem Sessel und schaue es mit Dankbarkeit an.

Jetzt freue ich mich auf Weihnachten. Auch wenn Gott mir mein Geschenk schon vorher gemacht hat. Oder vielleicht gerade deshalb.

Hallo, ich bin Grace!

von Oliver Helmers

Manche Menschen treten in unser Leben und begleiten uns nur eine kleine Weile. Trotzdem hinterlassen sie tiefe Spuren. So habe ich das erlebt, vor nun schon bald zwanzig Jahren. Ich war gerade im vierten Semester meines Geschichtsstudiums, als Grace in unser Wohnheim einzog. Bis heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie sie das erste Mal vor mir stand: »Hello Stefanie, ick bin Grace und komme wan deyn USA. Ick habe Pieza gemakt. Solln wir zusammen essen?«

Ich kannte noch andere internationale Studentinnen, aber keine sprach in den ersten Wochen so schlecht wie sie. Ihr gebrochenes Deutsch, gepaart mit ihrer offenen Art ohne jegliche Menschenscheu, machte sie umso sympathischer.

Grace war 24 Jahre alt und als Austauschstudentin nach Deutschland gekommen. Neben evangelischer Theologie studierte sie auch Geschichte. So kam es, dass wir immer wieder in Vorlesungen nebeneinandersaßen.

Grace bedeutet Gnade. Und »unsere« Grace machte ihrem Namen alle Ehre. Als wir zu Semesterbeginn einen neuen Professor bekamen, riss mir einmal der Geduldsfaden. Sein Vorlesungsstil war furchtbar langweilig. Eine Vorlesung im wahrsten Sinne des Wortes. Er verzog nicht eine Miene und schaute permanent in sein Manuskript. Ich regte mich fürchterlich über ihn auf: »Wofür wird der eigentlich bezahlt? Und der soll Lehrer ausbilden? Wie ist der überhaupt Professor geworden?«

Wie so oft fand Grace ein mildes Wort: »Schau, Stefanie, du weißt nicht, welches Päckchen er zu tragen hat. Vielleicht hat er Eltern, die gepflegt werden müssen, und kann sich nicht so gut vorbereiten. Vielleicht ist er depressiv oder macht sich um etwas Sorgen. Vielleicht liegt seine Stärke in der Forschung und nicht hinter dem Rednerpult. Meine Güte, vielleicht hat er auch einfach nur einen schlechten Tag. Komm schon, Steffi, gib ihm eine Chance!«

Ab da ahnte ich: Von dieser Frau kann ich was lernen. Und ich tat es auch.

Das Semester schritt voran. Grace und ich verstanden uns immer besser. Einmal hatte ich wochenlang für meine Lateinprüfung gelernt und mein absolut Bestes gegeben. An den Vokabeln lag es nicht, die hatte ich drauf. Eher an meiner Grammatik und meiner notorischen Neigung zu Ungenauigkeit in den Übersetzungen. Um mich kurzzufassen: Ich hatte die Prüfung vergeigt und hasste mich dafür. Hätte ich nicht einmal alles richtig machen können?

Grace besuchte mich in meinem Zimmer und nahm sich meines Kummers an. Sie setzte sich zu mir, versorgte mich mit Tee und Lebkuchen und hörte zu, während mir eine Träne nach der anderen über die Wangen lief. Ich weiß nicht wie, aber sie schaffte es, mich zu trösten, wo ich doch untröstlich war.

»Steffi, wenn schon Gott gnädig mit dir ist, sei du doch ein bisschen gnädiger mit dir selbst«, sagte Grace in ihrem breiten amerikanischen Akzent und mit ihrem sanften Lächeln.

Ja, sie hieß nicht umsonst Grace. In unzähligen Gesprächen in unserer WG-Küche lernte ich von ihr, was mir so unendlich schwerfiel. »Streng dich an, gib dein Bestes, sei hart zu dir selbst«, das waren Sätze meiner Kindheit. Grace hingegen zeigte mir, was es heißt, gnädig mit sich selbst zu sein. Aber noch viel wichtiger: Sie brachte mir bei, diese Gnade nicht nur in meinem Inneren zu suchen ...

Am Samstag vor dem 2. Advent fuhren wir zu einer Krippenausstellung in der Altstadt. Der Kunstverein der Universitätsstadt hatte eine Ausstellung in neun verschiedenen Schaufenstern organisiert. Die zehnte Krippe war in der Stadtkirche aufgebaut.

Wir machten uns auf den Weg von der Bushaltestelle in die hügelige Altstadt, als ein Obdachloser auf uns zukam. Mit einer Flasche Bier in der Hand sprach er uns an: »Habt ihr vielleicht ’nen Euro?«

»Tut mir leid«, war die Antwort, die ich mir bei solchen unliebsamen Begegnungen angewöhnt hatte. Ich wollte schnell weiter. Grace hingegen blieb stehen, schaute ihn an und fragte: »Nur einen Euro? Natürlich. Warten Sie, ich gebe Ihnen zehn Euro«. Ich traute meinen Augen kaum. Sie zückte ihr Portemonnaie und drückte ihm den Schein in die Hand.

»Meinst du nicht, dass er es für Alkohol ausgeben wird?«, fragte ich, während wir weiterliefen.

»Keine Ahnung«, entgegnete Grace, »aber weißt du, auch ich gebe mein Geld nicht immer für sinnvolle Dinge aus und trotzdem schicken mir meine Eltern jeden Monat einen Betrag aus Amerika.«

Oh Grace … Grace, Grace, Grace … Amazing Grace – erstaunliche Gnade. Hätte man sich einen besseren Namen für dich ausdenken können?

Oben in der Altstadt angekommen, bewunderten wir die Weihnachtsbeleuchtung, die die alten Fachwerkhäuser noch idyllischer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon waren. Die Stadt hatte zahlreiche Lichterketten aufhängen lassen, große Sterne zierten die Straßenlaternen. Auch der Kunstverein hatte ganze Arbeit geleistet. Wir staunten nicht schlecht, während wir von einer Krippe zur anderen spazierten: Manche Krippen kamen aus Bayern oder dem Erzgebirge, andere aus Italien, eine sogar aus Australien. Unterschiedlicher hätten die Kunstwerke nicht sein können. Viele wirkten volkstümlich, einige modern. Manche waren kitschig und farbenfroh, andere eher zurückhaltend. Eines aber hatten alle Darstellungen gemeinsam: Echtes Stroh durfte in keiner fehlen.

Nachdem wir etliche Krippen gesehen hatten, machten wir uns auf den Weg zur letzten Station und philosophierten dabei, warum Jesus im Stall zur Welt gekommen war. »Überleg mal, wenn er in einem Stall zur Welt kommt, kann er auch in den Saustall unseres Lebens kommen«, meinte Grace. Keine Ahnung, ob sie das irgendwo aufgeschnappt hatte oder es ihr eigener Gedanke war. Eines weiß ich: Wenn Grace über Jesus sprach, war sie begeistert. Wobei das noch zu nüchtern formuliert ist. Sie sprühte förmlich vor Begeisterung!

Anders als ich war Grace in einer christlichen Familie aufgewachsen. Ich sah in Jesus einen charismatischen Wanderprediger, einen, der manch kluge Worte hinterlassen hat, einen Pazifisten, durchaus eine geschichtsträchtige Figur. Doch wie anders war es, wenn Grace über ihn sprach!

Sobald sie das Wort »Jesus« in den Mund nahm, bekam sie leuchtende Augen. Ihr Sprechtempo änderte sich und sie redete noch schneller als ohnehin schon. Das machte es manchmal gar nicht so leicht, sie zu verstehen. In ihrem Redefluss wirkte sie keineswegs fanatisch. Denn genauso offen wie sie über ihren Glauben sprach, hielt sie auch mit ihren Zweifeln nicht hinterm Berg. Aber dass sie Jesus lieb hatte, das war offenkundig. Und sie ließ es jeden wissen, der davon hören wollte.

Grace schaffte es, auch mir Jesus vor Augen zu malen. So klar, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sie erzählte mir, was sie an ihm beeindruckte, etwa, dass er Menschen bedingungslos akzeptiert hat, Gottlose, Betrüger, Sünder, und dass er selbst am Kreuz noch sagen konnte: »Vater, vergib ihnen.« Es waren nicht nur ihre Worte, die mich faszinierten, sondern vor allem, dass sie das, wovon sie sprach, mit ihrem ganzen Leben verkörperte, ob das bei der Begegnung mit dem alkoholisierten Obdachlosen war oder in der besagten Geschichtsvorlesung. »Weißt du«, sagte sie oft, »Jesus hat nie gesagt: ›Ihr elenden Sünder‹, sondern er hat sie als Menschen gesehen.«

Recht hatte sie.

Nachdem wir eine Stunde im gemächlichen Tempo durch die Altstadt geschlendert waren, standen wir vor der altehrwürdigen Stadtkirche. Ich bin mir sicher, wäre das nicht ohnehin die letzte Station auf unserem Rundgang gewesen, wären wir trotzdem hineingegangen. Grace hätte darauf bestanden, denn sie liebte historische Kirchen. Nicht selten waren diese älter als jedes andere Gebäude in ihrem Heimatland. Neben ihrem historischen Interesse schien sie sich in diesen alten Mauern zu Hause zu fühlen. Das spürte man ihr ab.

Der Duft von Kerzenwachs strömte uns entgegen, als wir durch die knarzende Tür des Haupteingangs eintraten. Vor allem tagsüber waren es Dutzende von Touristen, die hier haltmachten. Nun aber, es war gegen 21 Uhr, war es vollkommen ruhig. Während das Licht im Kirchenschiff gedimmt war, wurde der Altarbereich hell erleuchtet. Dort, auf einem Podest, direkt vor dem Altar, stand – hinter einer Sicherheitsscheibe – die älteste Krippe der Ausstellung. Die Krippe, so hatte ich es im Prospekt gelesen, hatte ein Künstler im 16. Jahrhundert erschaffen. Während wir uns auf den Altar mit der Krippe zubewegten, wurde die Stille von Musik abgelöst. Ein Chor auf der Empore über dem Haupteingang probte das Lied Macht hoch die Tür. Vermutlich waren es letzte Vorbereitungen für den bevorstehenden Adventsgottesdienst. So tönte es durch die heiligen Hallen:

Komm, o mein Heiland Jesu Christ,

meins Herzens Tür dir offen ist.

Ach zieh mit deiner Gnade ein;

dein Freundlichkeit auch uns erschein.

»Willst du das?«, fragte mich Grace.

»Will ich was?«, entgegnete ich.

»Willst du, dass Jesus mit seiner Gnade in dein Leben kommt?«

Ich stockte für einen Moment, während wir vorm Altar standen. Ich war mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstand. Aber wenn ihre Frage war, ob ich auch so einen tiefen Glauben haben wollte wie sie – so authentisch, lebendig und begeistert von Jesus –, dann war die Antwort wohl Ja. Und so sagte ich: »Ja, ich will!«, ehe wir, der Situation geschuldet, in schallendes Gelächter ausbrachen.

Mit Grace konnte ich lachen und weinen, singen und beten. Ich kannte niemanden, der andere so annehmen konnte wie Grace. Sie konnte nicht nur gut zuhören, sondern mich auch so annehmen, wie ich war, mit meinen Macken und Fehlern. Es war nicht so, als würde sie darüber hinwegsehen, aber sie hatte eine feine Art, damit umzugehen.

Auch wenn Grace nur ein Jahr in Deutschland blieb, hat sie prägende Spuren in meinem Leben hinterlassen. Wir waren nicht nur beste Freundinnen geworden, ich hatte unglaublich viel von ihr gelernt. Im Sommer, als das zweite Semester von ihrem Austauschjahr zu Ende gegangen war, mussten wir Abschied nehmen. An der Sicherheitsschleuse – ich hatte sie noch zum Flughafen begleitet – lagen wir uns weinend in den Armen. Es war das letzte Mal, dass ich Grace gesehen habe. Aber ihre Freundlichkeit und ihre Liebe zu Jesus werden mir immer im Gedächtnis bleiben.

Bis heute muss ich lachen, wenn ich das Lied Macht hoch die Tür höre: »Ach zieh mit deiner Gnade ein ...« Eigentlich sollte ich dabei an Jesus denken. Aber ich denke an Grace. Denn mit Grace ist Gnade in mein Leben eingezogen.

Johannas Engel

von Anneli Klipphahn

Rasch springt die siebenjährige Johanna aus dem Bett und zieht sich an. Dabei singt sie vergnügt vor sich hin. »Ab morgen ist Adve-hent. Heute wird geschmü-hückt.«

Da öffnet sich die Tür und Papa kommt herein. »Oh, du bist ja schon auf. Und so fröhlich am frühen Morgen?«

»Na klar.« Johanna klatscht in die Hände. »Heute ist doch unser Schmücke-Tag.«

Papa lacht. »Schmücke-Tag klingt gut.«

»Na ja, eigentlich müsste es Advents-schmücke-Tag heißen. Aber das ist ein zu langes Wort.« Nachdem Johanna ihre Hausschuhe angezogen hat, geht sie auf Papa zu und schaut ihn an wie eine strenge Lehrerin. »Hast du denn schon die Kisten mit dem Adventsschmuck vom Dachboden geholt? Das ist deine Aufgabe!«

»Nicht so hastig, junge Dame.« Papa zwinkert ihr zu. »Zuerst gibt es Frühstück.«

Johanna klatscht erneut in die Hände. »Und dann holst du die Kisten und ich helfe Mama beim Schmücken. So, wie jedes Jahr.«

»Ja, ihr beide macht das immer richtig gut. Und ich lasse mich dann überraschen, wenn alles fertig ist.«

Endlich ist es so weit. Voller Freude öffnet Johanna den Deckel eines kleinen Kartons. »Oh, da ist ja das Räucherhaus!«, jubelt sie. »Können wir gleich mal ein Räucherkerzchen anzünden? Ich liebe es, wenn der duftende Rauch aus dem Schornstein steigt.«

Mama schüttelt den Kopf. »Das machen wir morgen.«

»Schade«, seufzt Johanna und stellt das Häuschen auf den Tisch.

Währenddessen holt Mama die nächste Schachtel hervor. Sie ist ungefähr so groß wie ein Schuhkarton, sieht aber viel schöner aus, weil sie mit Goldpapier beklebt ist. Mama betrachtet sie von allen Seiten und murmelt: »Was mag nur hier drin sein? Hier steht ja gar nichts drauf.«

Neugierig springt Johanna an ihre Seite. »Warum muss auf jeder Schachtel etwas draufstehen? Ich finde es viel spannender, etwas auszupacken, was nicht beschriftet ist.«

»Du hast recht. Wenn nichts draufsteht, ist das Auspacken eine noch größere Überraschung.« Mama schaut auf. »Trotzdem beschrifte ich die Verpackungen immer. Dann weiß ich, welcher Gegenstand da genau hineingehört. Und wenn Weihnachten vorbei ist, kann ich dann alles wieder gut und schnell verstauen.« Mit gerunzelter Stirn deutet sie auf die kleine Kiste mit dem Goldpapier. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich das hier nicht getan habe.«

Johanna tritt von einem Bein auf das andere. »Nun mach sie doch einfach auf! Ich bin schon total gespannt, was da drin ist!«

Endlich öffnet die Mutter den Deckel.

»Oh! Das ist ja meine Holzfigur!«, ruft Johanna. »Der Engel, der wie ein großer, starker Mann aussieht. Den habe ich letztes Jahr von Frau Blume bekommen.«

Mama nickt. »Stimmt. Und ich habe vergessen, die Schachtel zu beschriften.«

Vorsichtig nimmt Johanna den geschnitzten Engel in die Hand. »Er ist so schön. Schade, dass Frau Blume nicht mehr hier im Haus wohnt.«

»Ja, das ist schade«, antwortet die Mutter. »Frau Blume ist schon alt und kommt deswegen leider nicht mehr gut allein zurecht. Aber …«, nachdenklich schaut sie zur Uhr, »… wir könnten sie am Nachmittag im Seniorenheim besuchen.«

»Oh ja, das machen wir!« Sachte streicht Johanna über ihren Engel. »Dann kann ich Frau Blume noch einmal sagen, wie sehr ich mich darüber freue!« Sie stellt den Engel ab und blickt Mama fragend an. »Am liebsten würde ich Frau Blume auch etwas schenken. Aber was?«

»Vielleicht magst du ihr ein Bild malen?«, schlägt Mama vor. »Darüber freut sie sich bestimmt.«

»Klar«, lacht Johanna. »Ich werde einen Engel malen.«

Während die Mutter nach dem Mittagessen die Küche aufräumt, fängt Johanna an zu malen. Später packt Mama noch einige Weihnachtsplätzchen ein und dann machen sie sich auf den Weg.

Als sie das Seniorenheim betreten, hat Johanna ein komisches Gefühl im Bauch. Der lange Gang mit den vielen Türen erinnert sie an ein Krankenhaus. Eine Frau im Rollstuhl wird über den Flur geschoben. Durch eine offene Zimmertür erhascht Johanna einen Blick auf einen alten Mann, der im Bett liegt.

Eine Pflegerin zeigt ihnen das Zimmer von Frau Blume. Mit klopfendem Herzen geht Johanna hinter Mama durch die Tür. Frau Blume sitzt in einem Sessel und lächelt. Sie freut sich über den Besuch und lobt Johannas Bild: »So ein schöner Engel! Das Bild werde ich mir an die Wand hängen.«

Während Mama sich mit Frau Blume unterhält, schaut Johanna sich im Zimmer um. Nach einer Weile fragt sie: »Sind Sie gar nicht traurig, dass Sie Ihre schöne Wohnung verlassen mussten?«

»Nun, es fiel mir nicht leicht, aus meinem Zuhause auszuziehen. Immerhin habe ich sehr lange dort gewohnt«, antwortet die alte Frau. »Aber es ging nicht anders.«

»Sehr viel passt aber nicht in dieses Zimmer! Ihre Wohnung war doch viel größer!«

Mama wirft Johanna einen mahnenden Blick zu.

»Lassen Sie nur.« Frau Blume lächelt. »Es ist gut, wenn Kinder Fragen stellen. Sie sprechen oft aus, was auch die Erwachsenen denken.« Dann wendet sie sich an Johanna. »Es ist wahr, meine Wohnung war viel größer. Ich hatte viele Möbel, und die Schränke waren vollgestopft mit allerlei Kram. Was sich eben so ansammelt über die Jahre. Ich habe mein Zuhause geliebt, hatte ich doch viele schöne Jahre mit meinem Mann dort verbracht. Nach dem Tod meines Mannes konnte ich mich nicht von dieser Wohnung trennen. Doch als mir klar wurde, dass ich mit der großen Wohnung bald nicht mehr allein zurechtkommen würde, habe ich mich für dieses Seniorenheim entschieden. Ich habe genau überlegt und mir dann eine Liste von den Dingen angelegt, die mir am wichtigsten sind, die ich unbedingt mitnehmen wollte. Vieles, was ich besaß, brauchte ich nicht mehr. Also habe ich angefangen, auszusortieren. Etliches musste ich wegwerfen, aber es gab auch viele Sachen, mit denen ich anderen Menschen eine Freude bereiten konnte.«

»Mir haben Sie auch etwas geschenkt.« Johanna strahlt die alte Frau an. »Den schönen Engel.«

Frau Blume nickt mehrmals. »Ja, den Engel hat mir mal ein guter Freund geschnitzt. Heutzutage stellen sich viele Leute so kleine, niedliche Engel hin. Aber dieser Engel ist nicht so ein liebliches Figürchen. Er ist etwas Besonderes.«