Goethes Weltanschauung - Rudolf Steiner - E-Book

Goethes Weltanschauung E-Book

Rudolf Steiner

0,0

Beschreibung

Goethes Weltanschauung Rudolf Steiner - Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen über sie sagt. In kristallklaren Sätzen den Kern seines Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Er hatte eine gewisse Scheu davor, das Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen Gedanken festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehungen zur Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von intimen Elementen, um von ihm selbst in einfache Formeln gebracht zu werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 224

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rudolf Steiner
Goethes Weltanschauung

PUBLISHER NOTES:

✓ BESUCHEN SIE UNSERE WEBSITE:

LyFreedom.com

Vorrede.

Die Gedanken, die ich in diesem Buche mitteile, sollen die Grundstimmung festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und wieder das Bild dieser Weltanschauung betrachtet. Besonderen Reiz hatte es für mich, nach den Offenbarungen zu sehen, welche die Natur über ihr Wesen und ihre Gesetze den feinen Sinnes- und Geistesorganen Goethes gemacht hat. Ich lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen als so hohes Glück empfand, daß er sie zuweilen höher schätzte als seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die Empfindungen ein, die durch Goethes Seele zogen, wenn er sagt, daß „wir durch nichts so sehr veranlaßt werden über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene Naturscenen nach langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im Ganzen bemerken, daß das Object immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebürende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und Geist desto kräftiger entwickelte.“

Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner Dichtungen verstehen will. Die Geheimnisse, die er dem Wesen und Werden der Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen künstlerischen Erzeugnissen und werden nur demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen, die der Dichter über die Natur macht. Niemand kann in die Tiefen der Goetheschen Kunst hinuntertauchen, dem Goethes Naturbeobachtungen unbekannt sind.

Solche Empfindungen drängten mich zu der Beschäftigung mit Goethes Naturstudien. Sie ließen zunächst die Ideen reifen, die ich vor mehr als zehn Jahren in Kürschners „Deutscher Nationallitteratur“ mitteilte. Was ich damals in dem ersten anfing, habe ich ausgebaut in den drei folgenden Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, von denen der letzte in diesen Tagen vor die Oeffentlichkeit tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als ich vor mehreren Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die große Weimarische Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an Gedanken zu dieser Arbeit mitgebracht und was ich während derselben ersonnen habe, bildet den Inhalt des vorliegenden Buches. Ich darf diesen Inhalt als erlebt im vollsten Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspuncten aus habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden, das auch die Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst dunkel geblieben sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke wollte ich lesen, was mir ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte seines Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.

Unsere Zeit liebt es die Ideen da, wo von psychologischer Betrachtung einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem mystischen Halbdunkel zu lassen. Die gedankliche Klarheit in solchen Dingen wird gegenwärtig als nüchterne Verstandesweisheit verachtet. Man glaubt tiefer zu dringen, wenn man von mystischen Abgründen des Seelenlebens, von dämonischen Gewalten innerhalb der Persönlichkeit spricht. Ich muß gestehen, daß mir diese Schwärmerei für mystische Psychologie als Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei Menschen vorhanden, in denen der Inhalt der Ideenwelt keine Empfindungen erzeugt. Sie können in die Tiefen dieses Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen die Wärme nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese Wärme in der Unklarheit. Wer im stande ist, sich einzuleben in die hellen Sphären der reinen Gedankenwelt, der empfindet in ihnen das, was er sonst nirgends empfinden kann. Persönlichkeiten wie die Goethes kann man nur erkennen, wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind, in ihrer lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer die Mystik in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine Betrachtungsweise kalt finden. Ob es aber meine Schuld ist, daß ich das Dunkle und Unbestimmte nicht mit dem Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein und klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als wirksame Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie darzustellen. Vielleicht findet auch mancher die Linien, die ich gezogen habe, die Farben, die ich aufgetragen habe, zu einfach. Ich meine aber, daß man das Große am besten charakterisiert, wenn man es in seiner monumentalen Einfachheit darzustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und Anhängsel verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf nebensächliche Gedanken, zu denen er durch dieses oder jenes Erlebnis von untergeordneter Bedeutung veranlaßt worden ist, kommt es mir bei Goethe an, sondern auf die Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort Seitenwege einschlagen: eine Haupttendenz ist immer zu erkennen. Und sie habe ich verfolgt. Wer da meint, daß die Regionen, durch die ich gegangen bin, eisig sind, der hat sein Herz zu Hause gelassen.

Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein eigenes Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts erwidern, als daß ich eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen will, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß. Die Objectivität derjenigen Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie fremde Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie kann nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt jeder wahren Darstellung einer fremden Weltanschauung zu Grunde. Und der völlig Besiegte wird nicht der beste Darsteller sein. Die fremde Macht muß Achtung erzwingen; aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun. Ich habe deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner Ansicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es Erkenntnisgebiete gibt, die ihr verschlossen geblieben sind. Ich habe gezeigt, welche Richtung die Beobachtung der Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie in die Gebiete dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf denen er, wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist. So interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen zu folgen; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist das Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher, ein unkräftiger Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die Energie und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen will, wird selbst wenig sein. Was fruchtbar ist, allein ist wahr, hat Goethe gesagt. Soweit Goethe für unsere Zeit fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine Gedanken- und Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der folgenden Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Empfindungswelt verborgen liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an denen die moderne Wissenschaft hinter Goethe zurückgeblieben ist. Ich habe von der Armut der gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr den Reichtum und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In Goethes Denken sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur Reife bringen sollte. Für sie könnte dieses Denken vorbildlich sein. Sie hat einen größeren Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur mit spärlichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich hoffe, daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie wenig Eignung die moderne naturwissenschaftliche Denkweise dazu besitzt, Goethe zu kritisieren, und wie viel sie von ihm lernen könnte.

Rudolf Steiner.

Inhalt.

Seite

Vorrede

III

Einleitung

1

Goethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenentwickelung

5

Goethe und Schiller

7

Die platonische Weltanschauung

10

Die Folgen der platonischen Weltanschauung

15

Goethe und die platonische Weltansicht

27

Persönlichkeit und Weltanschauung

45

Die Metamorphose der Welterscheinungen

61

Die Anschauungen über Natur und Entwicklung der Lebewesen

85

Die Metamorphosenlehre

87

Die Betrachtung der Farbenwelt

147

Die Erscheinungen der Farbenwelt

149

Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde und Lufterscheinungen

183

Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde

185

Betrachtungen über atmosphärische Erscheinungen

193

Goethe und Hegel

197

Namen-Register

205

Einleitung.

Einleitung.

Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen über sie sagt. In kristallklaren Sätzen den Kern seines Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Er hatte eine gewisse Scheu davor, das Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen Gedanken festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehungen zur Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von intimen Elementen, um von ihm selbst in einfache Formeln gebracht zu werden. Er spricht sich aus, wenn ihn dieses oder jenes Erlebnis dazu drängt. Aber er sagt immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an allem, was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft, schärfere Ausdrücke zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur verlangt. Sie verführt ihn ebenso oft, sich unbestimmt zu äußern, wo ihn sein Wesen zu einer bestimmten Meinung nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er will sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er seinen Gedanken eine scharfe Richtung giebt. Er beruhigt sich bei dem Gedanken: „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.“ Ein Problem, das der Mensch gelöst zu haben glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tausend Dinge klar zu sehen, die in den Bereich dieses Problemes fallen. Er achtet auf sie nicht mehr, weil er über das Gebiet aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie fallen. Goethe möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben, die einander entgegengesetzt sind, als eine bestimmte. Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit einzuschließen, der man sich von verschiedenen Seiten nähern muß, um von ihrer ganzen Fülle etwas wahrzunehmen. „Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig thätige Leben, in Ruhe gedacht.“ Goethe will seine Gedanken lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln kann, wenn die Wirklichkeit ihn dazu veranlaßt. Er will nicht recht haben; er will stets nur aufs „Rechte losgehen“. In zwei verschiedenen Zeitpunkten spricht er sich über dieselbe Sache verschieden aus. Eine feste Theorie, die ein für allemal die Gesetzmäßigkeit einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen will, ist ihm widerlich.

Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen überschauen will, so muß man weniger auf seine Worte hören als auf seine Lebensführung sehen. Man muß sein Verhältnis zu den Dingen belauschen, wenn er ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er selbst nicht sagt. Man muß auf das Innerste seiner Persönlichkeit eingehen, das sich zum größten Teile hinter seinen Äußerungen verbirgt. Was er sagt, mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer einem widerspruchlosen Ganzen an. Hat er seine Weltanschauung auch nicht in einem geschlossenen System aufgezeichnet; er hat sie in einer geschlossenen Persönlichkeit dargelegt. Wenn wir auf sein Leben sehen, so lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Er hat über die Natur dies und jenes gesagt. In einem festgefügten Gedankengebäude hat er seine Naturanschauung niemals niedergelegt. Aber wenn wir seine einzelnen Gedanken auf diesem Gebiete überblicken, so schließen sie sich von selbst zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre, wenn er seine Ansichten im Zusammenhang vollständig dargestellt hätte. Ich habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu schildern, wie Goethes Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen geartet gewesen sein muß, um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich sagen werde, Goethesche Sätze entgegengehalten werden können, die ihm widersprechen, weiß ich. Es handelt sich mir aber in dieser Schrift nicht darum, eine Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben, sondern darum, die Grundlagen seiner Persönlichkeit darzustellen, die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen und Wirken der Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen, in denen er Konzessionen an andere Denkweisen macht, oder in denen er sich der Formeln bedient, welche der eine oder der andere Philosoph gebraucht hat, lassen sich diese Grundlagen erkennen. Aus den Äußerungen zu Eckermann könnte man sich einen Goethe konstruieren, der nie die Metamorphose der Pflanzen hätte schreiben können. An Zelter hat Goethe manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen großen Gedanken über die Bildung der Tiere widerspricht. Ich gebe zu, daß in Goethes Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich nicht berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten zurück hinter den eigentlich bestimmenden, die seiner Weltanschauung das Gepräge geben. Diese bestimmenden Kräfte so scharf zu charakterisieren, als mir möglich ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt.

Goethes Stellung innerhalb der abendländischen Gedankenentwickelung.

Goethe und Schiller.

Goethe und Schiller.

Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals zwischen ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer Sitzung der naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt hatten. Schiller zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in der Sitzung vorgebracht worden war. Eine zerstückelte Art, die Natur zu betrachten, war ihm entgegengetreten. Und er bemerkte, daß eine solche den Laien keineswegs anmuten könne. Goethe erwiderte, daß sie „den Eingeweihten selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß es noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und vereinzelt, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen“. Und nun entwickelte Goethe die großen Ideen, die ihm über die Pflanzennatur aufgegangen waren. Er zeichnete „mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze“ vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze sollte die Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze lebt, was für besondere Formen diese auch annimmt. Sie sollte das successive Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr Hervorgehen auseinander und ihre Verwandtschaft untereinander zeigen. Über diese symbolische Pflanzengestalt schrieb Goethe am 17. April 1787 in Palermo die Worte nieder: „Eine solche muß es doch geben; woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“ Die Vorstellung einer plastisch-ideellen Form, die dem Geiste sich offenbart, wenn er die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten überschaut und ihr Gemeinsames beachtet, hatte Goethe in sich ausgebildet. Schiller betrachtete dieses Gebilde, das nicht in einer einzelnen, sondern in allen Pflanzen leben sollte, und sagte kopfschüttelnd: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ Wie aus einer fremden Welt kommend, erschienen Goethe diese Worte. Er war sich bewußt, daß er zu seiner symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung eines Dinges, das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Wie die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer willkürlichen Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er sie zu verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: „Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.“ Und er war ganz unglücklich, als Schiller daran die Worte knüpfte: „Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.“

Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem Gespräche einander gegenüber. Goethe sieht in der Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittelbar gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer besonderen Weise ausleben muß. Es hat für Goethe keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspricht der Idee nicht. Denn das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee gemacht hat. Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereignisse an, die den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das Reich der Ideen gegenüber, als eine andersgeartete Wirklichkeit, dessen sich die Vernunft bemächtigt. Von zwei Welten fließen dem Menschen seine Erkenntnisse zu, von außen durch Beobachtung und von innen durch das Denken. Für Goethe giebt es nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in welcher die Ideenwelt eingeschlossen ist.

Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philosophie seiner Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, welche dieser Philosophie ihr Gepräge gegeben haben, und welche treibende Kräfte der ganzen abendländischen Geistesbildung geworden sind, muß man im griechischen Altertume suchen. In einem verhängnisvollen Augenblicke bemächtigte sich eines griechischen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen Sinnesorgane. Er fing an zu glauben, daß diese Organe dem Menschen nicht die Wahrheit überliefern sondern daß sie ihn täuschen. Er verlor das Vertrauen zu dem, was die naive, unbefangene Beobachtung darbietet. Er fand, daß das Denken über die wahre Wesenheit der Dinge andere Aussagen mache als die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen, in welchem Kopfe sich dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man begegnet ihm in der eleatischen Philosophenschule, deren erster Vertreter der um 570 v. Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes ist. Als die wichtigste Persönlichkeit dieser Schule erscheint Parmenides. Denn er hat mit einer Schärfe wie niemand vor ihm behauptet, es gäbe zwei Quellen der menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die Eindrücke unserer Sinne Trug und Täuschung seien, und daß der Mensch zu der Erkenntnis des Wahren nur durch das reine Denken, das auf die Erfahrung keine Rücksicht nimmt, gelangen könne. Damit hat er den auf ihn folgenden Philosophen eine Entwicklungskrankheit eingeimpft, an der die wissenschaftliche Bildung noch heute leidet.

Die platonische Weltanschauung.

Mit der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus. „Die Dinge dieser Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres Sein: sie werden immer, sind aber nie. Sie haben nur ein relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr Verhältnis zu einander; man kann daher ihr ganzes Dasein ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich auch nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem, was an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann es eine solche geben; sie hingegen sind nur das Objekt eines durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So lange wir nur auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir Menschen, die in einer finsteren Höhle so fest gebunden säßen, daß sie auch den Kopf nicht drehen könnten und nichts sähen, als beim Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüber die Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch sogar von einander, ja jeder von sich selbst, eben nur die Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die aus Erfahrung erlernte Reihenfolge jener Schatten vorherzusagen.“

In zwei Teile reißt die platonische Anschauung die Vorstellung des Weltganzen auseinander, in die Vorstellung einer Scheinwelt und in eine andere der Ideenwelt, der allein wahre, ewige Wirklichkeit entsprechen soll. „Was allein wahrhaft seiend genannt werden kann, weil es immer ist, aber nie wird, noch vergeht: das sind die realen Urbilder jener Schattenbilder: es sind die ewigen Ideen, die Urformen aller Dinge. Ihnen kommt keine Vielheit zu; denn jedes ist seinem Wesen nach nur eines, indem es das Urbild selbst ist, dessen Nachbilder oder Schatten alle ihm gleichnamige, einzelne, vergängliche Dinge derselben Art sind. Ihnen kommt auch kein Entstehen und Vergehen zu; denn sie sind wahrhaft seiend, nie aber werdend, noch untergehend wie ihre hinschwindenden Nachbilder. Von ihnen allein daher giebt es eine eigentliche Erkenntnis, da das Objekt einer solchen nur das sein kann, was immer und in jedem Betracht ist, nicht das, was ist, aber auch wieder nicht ist, je nachdem man es ansieht.“

Die Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine Berechtigung, wenn von der Art gesprochen wird, wie die menschliche Erkenntnis zustande kommt. Der Mensch muß die Dinge auf zweifache Art zu sich sprechen lassen. Einen Teil ihrer Wesenheit sagen sie ihm freiwillig. Er braucht nur hinzuhorchen. Dies ist der ideenfreie Teil der Wirklichkeit. Den andern aber muß er ihnen entlocken. Er muß sein Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich sein Inneres mit den Ideen der Dinge. Im Innern der Persönlichkeit ist der Schauplatz, auf dem auch die Dinge ihr ideelles Innere enthüllen. Da sprechen sie aus, was der äußeren Anschauung ewig verborgen bleibt. Das Wesen der Natur kommt hier zu Worte. Aber es liegt nur an der menschlichen Organisation, daß durch den Zusammenklang von zwei Tönen die Dinge erkannt werden müssen. In der Natur ist ein Erreger da, der beide Töne hervorbringt. Der unbefangene Mensch horcht auf den Zusammenklang. Er erkennt in der ideellen Sprache seines Innern die Aussagen, die ihm die Dinge zukommen lassen. Nur wer die Unbefangenheit verloren hat, der deutet die Sache anders. Er glaubt, die Sprache seines Inneren komme aus einem andern Reich als die Sprache der äußeren Anschauung. Plato ist es zum Bewußtsein gekommen, daß er auf zwei Wegen von den Dingen Kunde erhält; aber er hat nicht erkannt, daß es dieselben Dinge sind, die auf den beiden Wegen ihre Mitteilungen senden. Er hat damit dem abendländischen Denken eine Aufgabe gestellt, die vollkommen überflüssig war. Durch Jahrhunderte hindurch wurde unendlicher Scharfsinn auf die Frage verwendet: wie verhalten sich die im Innern des Menschen offenbar werdenden Ideen zu den Dingen der äußeren Wahrnehmung? Ein großer Teil des Inhalts aller auf die platonische folgenden Philosophieen besteht aus Lösungsversuchen dieser gar nicht vorhandenen Frage. Was das gesunde menschliche Empfinden in jedem Augenblicke lehrt: wie die Sprache der Anschauung und die des Denkens sich verbinden, um die volle Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde von den grübelnden Denkern nicht beachtet. Statt hinzusehen, wie die Natur zu dem Menschen spricht, bildeten sie künstliche Begriffe über das Verhältnis von Ideenwelt und Erfahrung aus. Um die Sehkraft für dieses Verhältnis ganz zu lähmen, verband sich mit dem Platonismus das Christentum. Dieses religiöse Bekenntnis mit seinem Jenseitsglauben und seiner Verachtung der Sinnenwelt ist nur eine volkstümliche Form des Platonismus. Es macht eine nach menschlichem Bilde gedachte persönliche Wesenheit zum Urheber der Welt. Die christlichen Kirchenväter versetzen einfach die platonische Ideenwelt in den Geist dieses persönlichen Gottes. In diesem Geiste sind die Urbilder, die Muster aller Dinge enthalten, und Gott hat die Welt nach diesen Urbildern geschaffen und regiert sie ihnen gemäß. Die Welt ist nur der unvollkommene Abglanz der in Gott ruhenden vollkommenen Ideenwelt. Der wahrhaft Fromme soll sich nicht viel mit diesem Abglanz beschäftigen; er soll seine Empfindung, sein Gefühl zu Gott erheben. „Ohne jedes Schwanken wollen wir glauben, daß die denkende Seele nicht wesensgleich sei mit Gott, denn dieser gestattet keine Gemeinschaft, daß aber die Seele erleuchtet werden könne durch Teilnahme an der Gottesnatur,“ sagt der Kirchenvater Augustinus. Ebensowenig gesteht er der Gesamtnatur irgendwelche göttliche Wesenheit zu. Aber die Wahrheit sucht er nur bei Gott. Frechheit ist es, nach seiner Ansicht, zu glauben, daß die Natur oder die menschliche Seele göttlich sei. Nicht durch Beobachtung der irdischen Dinge, sondern durch Versenken in die überirdische göttliche Wesenheit wird die vernünftige Seele vollkommen. In dieser Lehre der Kirchenväter wird der Sprache des menschlichen Innern ein allem natürlichen Empfinden fremder Ursprung angedichtet. Nicht aus den Dingen soll diese Sprache kommen, sondern aus dem Geiste des jenseitigen Gottes. Die platonische Vorstellungsart hielt sich mehr im abstrakten Elemente des Denkens auf. Das Ungesunde derselben wäre leichter überwunden worden, wenn nicht die platonischen Begriffe durch das Christentum das Empfindungs- und Gemütsleben ergriffen hätten. Dieses Gemütsleben der abendländischen Menschheit ist auf diese Weise geradezu nach der falschen Richtung hin umorganisiert worden. Was Plato nur gedacht hat, das haben die Kirchenväter dem Gemüte eingepflanzt. Was aber in dem Gemüte wurzelt, das ist viel schwerer auszurotten, als was bloß im Verstande ruht. Deshalb ist es bis heute noch nicht gelungen, die christlich-platonische unnatürliche Ansicht über die Wirklichkeit innerhalb der abendländischen Bildung zu überwinden.

Die Folgen der platonischen Weltanschauung.

Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische Spaltung der Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein einheitliches Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die durch die Sinne wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen. Nur im menschlichen Geiste können die Ideen ein selbständiges Dasein haben. Aber in dieser Selbständigkeit kommt ihnen keine Wirklichkeit zu. Bloß die Seele kann sie abtrennen von den wahrnehmbaren Dingen, mit denen zusammen sie die Wirklichkeit ausmachen. Hätte die abendländische Philosophie an die richtig verstandene Anschauung des Aristoteles angeknüpft, so wäre sie bewahrt geblieben vor den Irr- und Schleichwegen, die sie gewandelt ist.

Aber dieser richtig verstandene Aristoteles war der christlichen Denkweise unbequem. Mit einer Naturauffassung, welche das höchste wirksame Prinzip in die Erfahrungswelt verlegt, weiß das Christentum nichts anzufangen. Die christlichen Philosophen und Theologen deuteten deshalb den Aristoteles um. Sie legten seinen Ansichten einen Sinn unter, der geeignet war, dem christlichen Dogma zur logischen Stütze zu dienen. Nicht suchen sollte der Geist in den Dingen die schaffenden Ideen. Die Wahrheit ist ja den Menschen von Gott in Form der Offenbarung mitgeteilt. Nur bestätigen sollte die Vernunft, was Gott geoffenbart hat. Die aristotelischen Sätze wurden von den christlichen Denkern des Mittelalters so gedeutet, daß die religiöse Heilswahrheit durch sie ihre philosophische Bekräftigung erhielt. Nach der Auffassung Thomas’ von Aquino, des bedeutendsten christlichen Denkers, enthält die Offenbarung die höchsten Wahrheiten, die Heilslehre der heiligen Schrift; aber es ist der Vernunft möglich, in aristotelischer Weise in die Dinge sich zu vertiefen und deren Ideengehalt aus ihnen herauszuholen. Die Offenbarung steigt so tief herab und die Vernunft kann sich so weit erheben, daß die Heilslehre und die menschliche Erkenntnis an einer Grenze in einander übergehen. Die Art des Aristoteles, in die Dinge einzudringen, dient also für Thomas dazu, bis zu dem Gebiete der Offenbarung zu kommen.

Als mit Bacon von Verulam und Descartes eine Zeit anhob, in welcher der Wille sich geltend machte, die Wahrheit durch die eigene Kraft der menschlichen Persönlichkeit zu suchen, waren die Denkgewohnheiten so verdorben, daß alles Streben zu nichts anderem führte als zur Aufstellung von Ansichten, die trotz ihrer scheinbaren Unabhängigkeit von der platonischen und christlichen Vorstellungswelt, doch nichts waren als neue Formen derselben. Auch Bacon und Descartes haben den bösen Blick für das Verhältnis von Erfahrung und