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In "Goethes Weltanschauung" entwirft Rudolf Steiner eine tiefgehende Analyse der philosophischen und naturwissenschaftlichen Ansätze Johann Wolfgang von Goethes, die sich von der vorherrschenden Aufklärung abheben. Steiner, als Begründer der Anthroposophie bekannt, beleuchtet Goethes Erkennen der Welt, insbesondere dessen Konzepte der Metamorphose und der Ganzheit von Natur und Mensch. Der Buchstil ist geprägt von einer klaren, akademischen Sprache, illustriert durch prägnante Beispiele und Zitaten aus Goethes Werk, was den Leser sowohl intellektuell herausfordert als auch inspiriert. Rudolf Steiner, geboren 1861 in Österreich, war nicht nur Theosoph, sondern auch Pädagoge, Naturwissenschaftler und Kulturphilosoph. Sein Interesse an der Verbindung von Geist und Natur wurde früh durch sein Studium der Naturwissenschaften und die Auseinandersetzung mit der Theosophie geprägt. In "Goethes Weltanschauung" bringt er seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Goethes Denken zu einer tiefergehenden Erkenntnis der Welt führt, die auch für die moderne Menschheit von Bedeutung ist. Leser, die an einer umfassenden und interdisziplinären Betrachtung von Goethes Werk und Denken interessiert sind, finden in diesem Buch eine wertvolle Ressource. Steiners Argumentationen ermöglichen es, Goethes Menschenbild und Naturverständnis in einen zeitgenössischen Kontext zu setzen und regen zur eigenen philosophischen Reflexion an. "Goethes Weltanschauung" eröffnet neue Perspektiven und Verbindungen zwischen Kunst, Naturwissenschaft und Spiritualität. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Zwischen naturwissenschaftlicher Präzision und dichterischer Anschauung entfaltet Rudolf Steiner in Goethes Weltanschauung die Frage, wie Erkenntnis zugleich dem Phänomen treu und dem Denken fruchtbar bleiben kann, indem er Goethe als Wegweiser für ein ganzheitliches Weltverständnis liest, das die Trennung von Natur und Geist, Methode und Erfahrung, Gesetz und Gestalt nicht leugnet, sondern durch disziplinierte Beobachtung und formendes Denken vermittelt, sodass sich im Spannungsfeld von Wahrnehmung und Begriff eine Haltung ausbildet, die weder im Reduktionismus erstarrt noch in unverbindlichem Ästhetizismus zerfließt, sondern verantwortliches Sehen, prüfende Urteilskraft und schöpferische Strenge miteinander verbindet.
Als philosophisch-literaturwissenschaftliche Studie verortet das Buch sein Denken im geistigen Feld der Weimarer Klassik und der naturforschenden Praxis Goethes. Entstanden und veröffentlicht wurde es gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in einer Phase, in der Steiner seine Goethe-Interpretationen systematisch bündelte und vor seiner späteren, breiter rezipierten anthroposophischen Arbeit stand. Der Schauplatz ist weniger ein geografischer Ort als eine historische Konstellation: die Werkstätten, Gärten und Arbeitszimmer einer Epoche, in der Naturbeobachtung, Kunst und Reflexion ein produktives Bündnis eingingen. Das Genre verpflichtet den Autor auf argumentative Klarheit, während die Nähe zur Dichtung ihn zu behutsamem Stil und nuancierter Begriffswahl anhält.
Ausgangspunkt der Darstellung ist nicht die Biografie, sondern das in Goethes Schriften greifbare erkenntnistheoretische Profil: Wie entsteht Wissen aus genauer Betrachtung lebendiger Formen, und welche Haltung verlangt diese Übung vom Forschenden? Steiner entfaltet diese Fragen in einer Stimme, die gelehrt, ruhig und zugleich beharrlich prüfend wirkt. Der Stil ist dicht und argumentativ, meidet Effekte, setzt aber auf rhythmisches Voranschreiten und feine begriffliche Kontraste. Der Ton bleibt respektvoll gegenüber der historischen Gestalt Goethe, ohne in Verehrung zu erstarren. Das Leseerlebnis ähnelt einer konzentrierten Wegführung: Schritt für Schritt öffnen sich methodische Überzeugungen, ohne belehrend oder dogmatisch aufzutreten.
Zentrale Themen sind die Einheit von Anschauung und Begriff, die Selbstdisziplin des Erkennens und die Idee, Naturphänomene als sinnvolle Gestalten zu behandeln, statt sie auf isolierte Daten zu reduzieren. Steiner zeigt, wie Goethe ein Denken vorlebt, das im Umgang mit Phänomenen weder bloß sammelt noch vorschnell abstrahiert, sondern das Bildende, Metamorphische ernst nimmt. Damit rückt das Buch Fragen ins Zentrum, die heute angesichts komplexer Systeme und datengetriebener Forschung wieder dringlich erscheinen: Wie bleiben wir der Vielschichtigkeit der Erscheinungen treu, ohne auf Verständlichkeit zu verzichten? Welche Verantwortung trägt die Methode selbst für das, was sie sichtbar macht?
Die Untersuchung bindet Goethes naturkundliche Versuche, literarische Praxis und ästhetische Reflexion aneinander, um eine Haltung des Forschens zu zeichnen, die Form, Wandel und Zusammenhang bevorzugt. Steiner arbeitet mit präzisen begrifflichen Unterscheidungen, ordnet Goethes Denkbewegungen in die Debatten seiner Zeit ein und hebt zugleich deren Eigenart hervor. Statt systematischer Dogmen bietet er einen kontrollierten Gang durch Beispiele und Argumente, der den Leser in die sorgfältige Kunst der Beschreibung einübt. So entsteht ein intellektuelles Porträt, das weniger auf Thesenruhm zielt als auf geduldige Evidenzbildung und auf das Üben jener Aufmerksamkeit, die Beobachtung und Verstehen wechselseitig verfeinert.
Für heutige Leserinnen und Leser gewinnt das Buch dort an Gewicht, wo es eine Kultur der Genauigkeit jenseits bloßer Messfixierung pflegt. Die Verbindung von anschaulicher Nähe und begrifflicher Strenge bietet ein Korrektiv zu fragmentiertem Expertenwissen und zu schnellen Deutungen, die Komplexität verkürzen. Wer sich für interdisziplinäre Forschung, für Bildung oder für reflektierte Praxis in Kunst und Wissenschaft interessiert, findet hier eine Schule der Aufmerksamkeit. Sie schärft den Blick für Übergänge, Relationen und Maßstäbe, die nicht aus dem Gegenstand herausfallen dürfen. So erweist sich die historische Studie als Beitrag zu einer verantwortlichen Erkenntniskultur.
Wer das Buch zur Hand nimmt, sollte eine konzentrierte, aber lohnende Lektüre erwarten, die weniger durch Anekdoten als durch gedankliche Präzision trägt. Steiner führt behutsam, doch bestimmt; er verlangt Mitdenken, belohnt jedoch mit durchsichtig gemachter Methode und geschärften Begriffen. Das Werk empfiehlt sich für Leser, die die Schnittstelle von Literatur, Naturforschung und Philosophie erkunden möchten, ohne dabei in Spezialismen zu versinken. Es ist keine Einführung in Goethe als Dichter, sondern eine Annäherung an die Weise, wie aus geduldiger Wahrnehmung tragfähige Einsichten entstehen. Darin liegt seine bleibende Anziehungskraft und sein orientierender Wert.
Rudolf Steiner entfaltet in Goethes Weltanschauung eine systematische Darstellung dessen, wie Goethe Natur, Kunst und menschliche Praxis als zusammenhängendes Erkenntnisfeld verstand. Ausgangspunkt ist die These, dass Goethe nicht bloß Dichter, sondern ein eigenständiger Denker der Erfahrung ist. Steiner stützt sich auf naturwissenschaftliche Schriften, poetische Arbeiten und biografische Zeugnisse, um eine innere Einheit der Grundmotive sichtbar zu machen. Die Darstellung folgt dem Gang von Goethes Erkenntnisinteresse: von der unmittelbaren Beobachtung über methodische Begriffe hin zu einer weltanschaulichen Haltung. Dabei wird Goethes Position in den geistigen Strömungen seiner Zeit umrissen, ohne sie auf fremde Systeme zu reduzieren.
Zu Beginn arbeitet Steiner die erkenntnistheoretische Leitidee heraus: Die Gesetze der Natur sind nicht hinter den Erscheinungen verborgen, sondern in ihnen anschaubar, wenn die Urteilskraft sich methodisch schult. Goethe strebt eine Teilnahme des Erkennenden am Phänomen an, die das Zufällige aussondert und den Typus erfasst. Begriffe wie Urphänomen und Typus markieren dabei Grenz- und Orientierungsbegriffe, die Beobachtung und Begriff miteinander vermitteln. Gegen abstrakte Konstruktionen stellt Steiner Goethes Anspruch, nur so weit zu generalisieren, wie es der Erfahrung entspricht. Aus dieser Haltung leitet er eine sachgemäße, auf Genauigkeit und innere Beweglichkeit gerichtete Form des naturkundlichen Denkens ab.
Im naturwissenschaftlichen Teil zeichnet Steiner Goethes Morphologie nach, deren Schlüsselidee die Metamorphose ist: Gestalten wandeln sich gesetzmäßig, ohne ihre innere Identität zu verlieren. An Pflanzenstudien exemplifiziert er die Bildung aus dem Blatt und die Suche nach dem Typischen, die nicht additiv, sondern gestaltintuitiv verfährt. Ergänzend erläutert Steiner die Motive von Polarität und Steigerung, durch die Gegensätze in produktive Bewegung kommen. Die Farbenlehre dient als Prüfstein einer phänomenbezogenen Forschung, die optische Tatsachen im Zusammenhang menschlicher Wahrnehmung betrachtet und rein rechnerische Modelle zurückstellt. So entsteht das Bild einer Wissenschaft, die Ganzheit, Prozessualität und qualitative Bestimmtheit ernst nimmt.
In der vergleichenden Betrachtung von Tier und Mensch betont Steiner Goethes Typusdenken ebenfalls: Anatomische Befunde werden nicht isoliert registriert, sondern auf ihre Stellung im Gesamtsinn der Gestalt bezogen. Dadurch rückt die lebendige Organisation gegenüber mechanistischen Erklärungen in den Vordergrund. Gesetzmäßigkeit zeigt sich als Formzusammenhang, nicht als Summe einzelner Ursachen. Steiner hebt hervor, wie diese Perspektive historisches und individuelles Werden gleichermaßen berücksichtigt: Ein Phänomen wird aus seiner Genese heraus verstanden. Die naturkundliche Methode gewinnt so Kontur als Schulung des Sehens, die das Einzelne im Licht des Ganzen erfasst, ohne dessen Eigenständigkeit zu verflachen oder zu nivellieren.
Von der Natur führt Steiner zur Kunst und zeigt, dass Goethe dieselbe Erkenntnishaltung auf das künstlerische Schaffen anwendet. Dichtung und Bilden sind demnach keine subjektiven Stimmungen, sondern bewusste Gestaltungsakte, in denen die Idee zur sinnlichen Gestalt wird. Steiner diskutiert in diesem Zusammenhang auch Goethes Austausch mit Zeitgenossen und die Frage, wie künstlerische Formung das Allgemeine im Individuellen sichtbar macht. Die poetische Symbolbildung erscheint als Schwester der naturkundlichen Typenauffassung: Sie hebt Wesentliches heraus, ohne das Konkrete zu opfern. Damit wird Kunst als Erkenntnisweg verständlich, der Erfahrung vertieft statt sie zu übersteigen.
Im Menschlich-Sittlichen interpretiert Steiner Goethe als Denker der Selbstbildung: Natur und Geist begegnen einander im tätigen Individuum. Erkenntnis wird zur Praxis, wenn die erfasste Idee im Handeln Gestalt annimmt. Steiner betont hierbei die Bedeutung einer verantwortlichen Freiheit, die nicht Willkür meint, sondern Einsicht in die Notwendigkeiten des konkreten Falles. Das Motiv der Metamorphose kehrt als Lebensführung wieder: Entwicklung bedeutet bewahrende Wandlung. So verbindet sich naturkundliche Genauigkeit mit moralischer Urteilskraft und ästhetischem Takt. Die Weltanschauung erscheint weniger als System denn als Haltung, die auf Durchdringung von Erscheinung und Bedeutung in wechselnden Lebenslagen zielt.
Abschließend verortet Steiner Goethe im Strom der Philosophie, insbesondere im Verhältnis zu Kant, Spinoza und Schiller, und arbeitet die Eigenart eines erfahrungsnahen Monismus heraus. Erkenntnis, Kunst und Ethik erscheinen als unterschiedliche Modi derselben Wirklichkeitserfassung, die den Bruch zwischen Subjekt und Objekt mildert. Als wesentliches Ergebnis bleibt das Programm einer strengen, zugleich lebensvollen Methode: Phänomene werden so angeschaut, dass ihre Idee mitschwingt. Die Studie schließt mit dem Ausblick auf die Tragweite dieser Haltung für moderne Wissenschafts- und Kulturfragen. Ihre nachhaltige Wirkung liegt in der Ermutigung, die Welt in ihrer Gesetzlichkeit zu achten und doch schöpferisch zu beantworten.
Rudolf Steiners Schrift Goethes Weltanschauung entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, maßgeblich geprägt von Wien und Weimar. Steiner hatte in Wien studiert (Technische Hochschule) und stand in Verbindung mit dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar, das 1885 gegründet wurde und die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken betreute. Diese Institutionen, zusammen mit der philologischen Editionskultur der Zeit, bestimmten die Arbeitsbedingungen der Goethe-Forschung. In diesem Umfeld entwickelte Steiner sein Verständnis von Goethes naturwissenschaftlichem Denken, das er 1897 in Buchform zusammenfasste. Der institutionelle Rahmen sicherte Quellenzugang, Editionsstandards und methodische Disziplin damals.
Steiner war in Wien Schüler des Germanisten Karl Julius Schröer, der ihn früh zur Beschäftigung mit Goethe anregte. Seit 1883 edierte Steiner Goethes naturwissenschaftliche Schriften mit umfangreichen Einleitungen, die zwischen 1883 und 1897 erschienen. 1890 wurde er nach Weimar berufen, um am Goethe- und Schiller-Archiv zu arbeiten; Direktor war Bernhard Suphan. Dort hatte Steiner unmittelbaren Zugang zu Handschriften und zur Weimarer Ausgabe. Diese kontinuierliche Editions- und Archivarbeit bildet den unmittelbaren historischen Hintergrund des 1897 veröffentlichten Bandes Goethes Weltanschauung und erklärt dessen dichte Verankerung in Textbefunden, Begriffsgeschichte und wissenschaftshistorischen Quellen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
Die Entstehungszeit war von Debatten um Materialismus, Positivismus und Idealismus geprägt. Nach Darwins Origin of Species (1859) entfalteten sich in Deutschland weitreichende Diskussionen zur Evolution; Ernst Haeckel popularisierte einen monistischen Naturalismus (Generelle Morphologie, 1866). Parallel stärkten neukantianische Schulen in Marburg und Südwestdeutschland methodische Reflexionen über Wissenschaft. In diesem Spannungsfeld stand auch die Bewertung von Goethes Wissenschaft, insbesondere seiner Farbenlehre im Kontrast zu Newtons Optik. Steiners Buch positioniert Goethes Vorgehen als eigenständige Alternative innerhalb dieser Diskurse und knüpft an zeitgenössische Fragen nach der Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungen und der Rolle des erkennenden Subjekts an.
Die institutionelle Kultur der Goethe-Pflege erlebte in den 1880er und 1890er Jahren einen Ausbau. 1885 wurde in Weimar die Goethe-Gesellschaft gegründet, die das bereits seit 1880 erscheinende Goethe-Jahrbuch als Organ nutzte. Das Goethe- und Schiller-Archiv, ebenfalls 1885 ins Leben gerufen, trug die Weimarer Ausgabe (Sophien-Ausgabe) von Goethes Werken. Diese philologische Infrastruktur etablierte Maßstäbe der Quellenkritik und kontextualisierenden Kommentierung. Steiners Arbeit bewegte sich bewusst in diesem Rahmen: Er verband Archivbefunde, Editionspraxis und wissenschaftshistorische Einordnung, um Goethes Naturstudien und Begriffe nachvollziehbar zu machen. Damit reflektiert sein Buch die Professionalisierung der Klassik-Forschung im wilhelminischen Deutschland.
Steiner setzt historisch an Goethes naturwissenschaftlichen Untersuchungen an: den botanischen Studien zur Metamorphose der Pflanzen (1790), der Suche nach typischen Formprinzipien (oft mit dem Schlagwort Urpflanze verbunden), anatomischen Beobachtungen wie dem Nachweis des Zwischenkieferknochens beim Menschen (1784) sowie der Farbenlehre (1810). Goethe knüpfte dabei an Kants Ausdruck der anschauenden Urteilskraft an, den er produktiv für seine Morphologie deutete. Diese Felder waren im 19. Jahrhundert Gegenstand intensiver Debatten und Relektüren. Steiners Buch ordnet sie quellennah in die Entwicklungslinien der klassischen Naturforschung ein und zeigt, wie Goethe Beobachtung, Vergleich und Typenbildung verband.
Zeitgenössische und frühere Beurteilungen von Goethes Wissenschaft bildeten einen wichtigen Horizont. Hermann von Helmholtz hatte bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts kritisch über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten geschrieben und Newtons Optik verteidigt. Emil du Bois-Reymond profilierte eine mechanistische Programmatik der Physiologie, während Streitgespräche zwischen Ernst Haeckel und Rudolf Virchow in den 1870er Jahren die Grenzen wissenschaftlicher Weltanschauung erörterten. Steiners Darstellung verortet Goethe nicht als Gegner der Wissenschaft seiner Zeit, sondern als Vertreter eines anderen empirischen Stils, der Gestaltgesetze betont. Damit spiegelt das Buch die Vielfalt legitimer Wissenschaftsverständnisse im deutschen Diskurs des 19. Jahrhunderts.
Goethes Weltanschauung steht innerhalb von Steiners eigener Werkentwicklung. Bereits 1886 veröffentlichte er die Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, die methodische Voraussetzungen klärte. 1894 folgte Die Philosophie der Freiheit, die erkenntnistheoretische Fragen eigenständig profilierte. Der Band von 1897 bündelte dann Steiners langjährige editorische Erfahrung an Goethe-Handschriften und seine historisch-systematische Lektüre der naturwissenschaftlichen Texte. Er stützt sich auf dokumentierte Quellen, Zitate und Archivmaterial und richtet sich an das gelehrte Publikum der sich professionalisierenden Goethe-Forschung. Damit ist das Buch eng mit der Editionspraxis und dem Wissenschaftsdiskurs der 1890er Jahre verbunden. Es erschien noch vor Steiners späterem theosophischem Engagement.
Im Gesamtzusammenhang der Epoche fungiert Steiners Buch als Kommentar zur Spannung zwischen naturwissenschaftlicher Spezialisierung und klassischer Bildungstradition. Es zeigt, wie Weimarer Klassik und moderne Wissenschaftsgeschichte zusammengebracht werden konnten, ohne Goethes Forschungen auf Dichtung oder auf Lehrmeinungen des 19. Jahrhunderts zu reduzieren. Vor dem Hintergrund des wilhelminischen Wissenschaftssystems, der Goethe-Gesellschaft und der archivgestützten Forschung liefert die Schrift eine quellenbewusste Rekonstruktion einer klassischen Naturauffassung. So markiert Goethes Weltanschauung einen Versuch, historische Wissenschaftsmodelle präzise darzustellen und zugleich ihre Bedeutung für methodische Grundfragen der Moderne sichtbar zu machen. Damit kommentiert sie indirekt Debatten um Methodeneinheit und Fachspezialisierung im Kaiserreich.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Gedanken, die ich in diesem Buche mitteile, sollen die Grundstimmung festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und wieder das Bild dieser Weltanschauung betrachtet. Besonderen Reiz hatte es für mich, nach den Offenbarungen zu sehen, welche die Natur über ihr Wesen und ihre Gesetze den feinen Sinnes- und Geistesorganen Goethes gemacht hat. Ich lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen als so hohes Glück empfand, daß er sie zuweilen höher schätzte als seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die Empfindungen ein, die durch Goethes Seele zogen, wenn er sagt, daß „wir durch nichts so sehr veranlaßt werden über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene Naturscenen nach langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im Ganzen bemerken, daß das Object immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebürende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und Geist desto kräftiger entwickelte.“
Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur empfangen hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner Dichtungen verstehen will. Die Geheimnisse, die er dem Wesen und Werden der Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen künstlerischen Erzeugnissen und werden nur demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen, die der Dichter über die Natur macht. Niemand kann in die Tiefen der Goetheschen Kunst hinuntertauchen, dem Goethes Naturbeobachtungen unbekannt sind.
Solche Empfindungen drängten mich zu der Beschäftigung mit Goethes Naturstudien. Sie ließen zunächst die Ideen reifen, die ich vor mehr als zehn Jahren in Kürschners „Deutscher Nationallitteratur“ mitteilte. Was ich damals in dem ersten anfing, habe ich ausgebaut in den drei folgenden Bänden der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, von denen der letzte in diesen Tagen vor die Oeffentlichkeit tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als ich vor mehreren Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen Teil der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die große Weimarische Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an Gedanken zu dieser Arbeit mitgebracht und was ich während derselben ersonnen habe, bildet den Inhalt des vorliegenden Buches. Ich darf diesen Inhalt als erlebt im vollsten Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspuncten aus habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen Widerspruch, der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene, selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden, das auch die Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst dunkel geblieben sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke wollte ich lesen, was mir ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte seines Geistes, die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst bewußt wurde, suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen Charakterzüge seiner Seele wollte ich durchschauen.
Unsere Zeit liebt es die Ideen da, wo von psychologischer Betrachtung einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem mystischen Halbdunkel zu lassen. Die gedankliche Klarheit in solchen Dingen wird gegenwärtig als nüchterne Verstandesweisheit verachtet. Man glaubt tiefer zu dringen, wenn man von mystischen Abgründen des Seelenlebens, von dämonischen Gewalten innerhalb der Persönlichkeit spricht. Ich muß gestehen, daß mir diese Schwärmerei für mystische Psychologie als Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei Menschen vorhanden, in denen der Inhalt der Ideenwelt keine Empfindungen erzeugt. Sie können in die Tiefen dieses Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen die Wärme nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese Wärme in der Unklarheit. Wer im stande ist, sich einzuleben in die hellen Sphären der reinen Gedankenwelt, der empfindet in ihnen das, was er sonst nirgends empfinden kann. Persönlichkeiten wie die Goethes kann man nur erkennen, wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind, in ihrer lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer die Mystik in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine Betrachtungsweise kalt finden. Ob es aber meine Schuld ist, daß ich das Dunkle und Unbestimmte nicht mit dem Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein und klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als wirksame Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie darzustellen. Vielleicht findet auch mancher die Linien, die ich gezogen habe, die Farben, die ich aufgetragen habe, zu einfach. Ich meine aber, daß man das Große am besten charakterisiert, wenn man es in seiner monumentalen Einfachheit darzustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und Anhängsel verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf nebensächliche Gedanken, zu denen er durch dieses oder jenes Erlebnis von untergeordneter Bedeutung veranlaßt worden ist, kommt es mir bei Goethe an, sondern auf die Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort Seitenwege einschlagen: eine Haupttendenz ist immer zu erkennen. Und sie habe ich verfolgt. Wer da meint, daß die Regionen, durch die ich gegangen bin, eisig sind, der hat sein Herz zu Hause gelassen.
Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen Seiten der Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein eigenes Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts erwidern, als daß ich eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen will, wie sie mir nach meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß. Die Objectivität derjenigen Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie fremde Ideen schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie kann nur matte und farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt jeder wahren Darstellung einer fremden Weltanschauung zu Grunde. Und der völlig Besiegte wird nicht der beste Darsteller sein. Die fremde Macht muß Achtung erzwingen; aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun. Ich habe deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner Ansicht die Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es Erkenntnisgebiete gibt, die ihr verschlossen geblieben sind. Ich habe gezeigt, welche Richtung die Beobachtung der Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie in die Gebiete dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf denen er, wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist. So interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen zu folgen; ich möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst fördert. Denn nicht die Betrachtung, die Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene Tätigkeit ist das Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher, ein unkräftiger Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die Energie und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen will, wird selbst wenig sein. Was fruchtbar ist, allein ist wahr, hat Goethe gesagt[1q]. Soweit Goethe für unsere Zeit fruchtbar ist, soweit soll man sich in seine Gedanken- und Empfindungswelt einleben. Und ich glaube, aus der folgenden Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Empfindungswelt verborgen liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an denen die moderne Wissenschaft hinter Goethe zurückgeblieben ist. Ich habe von der Armut der gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr den Reichtum und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In Goethes Denken sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur Reife bringen sollte. Für sie könnte dieses Denken vorbildlich sein. Sie hat einen größeren Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur mit spärlichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich hoffe, daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie wenig Eignung die moderne naturwissenschaftliche Denkweise dazu besitzt, Goethe zu kritisieren, und wie viel sie von ihm lernen könnte.
Rudolf Steiner.
Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen über sie sagt. In kristallklaren Sätzen den Kern seines Wesens auszusprechen, lag nicht in seiner Natur. Er hatte eine gewisse Scheu davor, das Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen Gedanken festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehungen zur Außenwelt, seine Beobachtungen über die Dinge und Ereignisse waren zu reich, zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von intimen Elementen, um von ihm selbst in einfache Formeln gebracht zu werden. Er spricht sich aus, wenn ihn dieses oder jenes Erlebnis dazu drängt. Aber er sagt immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an allem, was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft, schärfere Ausdrücke zu gebrauchen, als es seine Gesamtnatur verlangt. Sie verführt ihn ebenso oft, sich unbestimmt zu äußern, wo ihn sein Wesen zu einer bestimmten Meinung nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er will sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er seinen Gedanken eine scharfe Richtung giebt. Er beruhigt sich bei dem Gedanken: „Der Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des Begreiflichen zu halten.“ Ein Problem, das der Mensch gelöst zu haben glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tausend Dinge klar zu sehen, die in den Bereich dieses Problemes fallen. Er achtet auf sie nicht mehr, weil er über das Gebiet aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie fallen. Goethe möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben, die einander entgegengesetzt sind, als eine bestimmte. Denn jedes Ding scheint ihm eine Unendlichkeit einzuschließen, der man sich von verschiedenen Seiten nähern muß, um von ihrer ganzen Fülle etwas wahrzunehmen. „Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig thätige Leben, in Ruhe gedacht.“ Goethe will seine Gedanken lebendig erhalten, damit er in jedem Augenblicke sie umwandeln kann, wenn die Wirklichkeit ihn dazu veranlaßt. Er will nicht recht haben; er will stets nur aufs „Rechte losgehen“. In zwei verschiedenen Zeitpunkten spricht er sich über dieselbe Sache verschieden aus. Eine feste Theorie, die ein für allemal die Gesetzmäßigkeit einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck bringen will, ist ihm widerlich.
Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen überschauen will, so muß man weniger auf seine Worte hören als auf seine Lebensführung sehen. Man muß sein Verhältnis zu den Dingen belauschen, wenn er ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er selbst nicht sagt. Man muß auf das Innerste seiner Persönlichkeit eingehen, das sich zum größten Teile hinter seinen Äußerungen verbirgt. Was er sagt, mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer einem widerspruchlosen Ganzen an. Hat er seine Weltanschauung auch nicht in einem geschlossenen System aufgezeichnet; er hat sie in einer geschlossenen Persönlichkeit dargelegt. Wenn wir auf sein Leben sehen, so lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Er hat über die Natur dies und jenes gesagt. In einem festgefügten Gedankengebäude hat er seine Naturanschauung niemals niedergelegt. Aber wenn wir seine einzelnen Gedanken auf diesem Gebiete überblicken, so schließen sie sich von selbst zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine Vorstellung davon machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre, wenn er seine Ansichten im Zusammenhang vollständig dargestellt hätte. Ich habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu schildern, wie Goethes Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen geartet gewesen sein muß, um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern zu können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich sagen werde, Goethesche Sätze entgegengehalten werden können, die ihm widersprechen, weiß ich. Es handelt sich mir aber in dieser Schrift nicht darum, eine Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben, sondern darum, die Grundlagen seiner Persönlichkeit darzustellen, die ihn zu seinen tiefen Einsichten in das Schaffen und Wirken der Natur führten. Nicht aus den zahlreichen Sätzen, in denen er Konzessionen an andere Denkweisen macht, oder in denen er sich der Formeln bedient, welche der eine oder der andere Philosoph gebraucht hat, lassen sich diese Grundlagen erkennen. Aus den Äußerungen zu Eckermann[1] könnte man sich einen Goethe konstruieren, der nie die Metamorphose der Pflanzen hätte schreiben können. An Zelter hat Goethe manches Wort gerichtet, das verführen könnte, auf eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen großen Gedanken über die Bildung der Tiere widerspricht. Ich gebe zu, daß in Goethes Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich nicht berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten zurück hinter den eigentlich bestimmenden, die seiner Weltanschauung das Gepräge geben. Diese bestimmenden Kräfte so scharf zu charakterisieren, als mir möglich ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt.
Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals zwischen ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer Sitzung der naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt hatten. Schiller zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in der Sitzung vorgebracht worden war. Eine zerstückelte Art, die Natur zu betrachten, war ihm entgegengetreten. Und er bemerkte, daß eine solche den Laien keineswegs anmuten könne. Goethe erwiderte, daß sie „den Eingeweihten selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß es noch eine andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und vereinzelt, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen“. Und nun entwickelte Goethe die großen Ideen, die ihm über die Pflanzennatur aufgegangen waren. Er zeichnete „mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze“ vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze sollte die Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze lebt, was für besondere Formen diese auch annimmt. Sie sollte das successive Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr Hervorgehen auseinander und ihre Verwandtschaft untereinander zeigen. Über diese symbolische Pflanzengestalt schrieb Goethe am 17. April 1787 in Palermo die Worte nieder: „Eine solche muß es doch geben; woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“ Die Vorstellung einer plastisch-ideellen Form, die dem Geiste sich offenbart, wenn er die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten überschaut und ihr Gemeinsames beachtet, hatte Goethe in sich ausgebildet. Schiller betrachtete dieses Gebilde, das nicht in einer einzelnen, sondern in allen Pflanzen leben sollte, und sagte kopfschüttelnd: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ Wie aus einer fremden Welt kommend, erschienen Goethe diese Worte. Er war sich bewußt, daß er zu seiner symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver Wahrnehmung gelangt war wie zu der Vorstellung eines Dinges, das man mit Augen sehen und mit Händen greifen kann. Wie die einzelne Pflanze, so war für ihn die symbolische oder Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer willkürlichen Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er sie zu verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: „Das kann mir sehr lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.“ Und er war ganz unglücklich, als Schiller daran die Worte knüpfte: „Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne.“
Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem Gespräche einander gegenüber. Goethe sieht in der Idee eines Dinges ein Element, das in demselben unmittelbar gegenwärtig ist, in ihm wirkt und schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle in einer besonderen Weise ausleben muß. Es hat für Goethe keinen Sinn zu sagen, ein Ding entspricht der Idee nicht. Denn das Ding kann nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee gemacht hat. Anders denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und Erfahrungswelt zwei getrennte Reiche. Der Erfahrung gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereignisse an, die den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das Reich der Ideen gegenüber, als eine andersgeartete Wirklichkeit, dessen sich die Vernunft bemächtigt. Von zwei Welten fließen dem Menschen seine Erkenntnisse zu, von außen durch Beobachtung und von innen durch das Denken. Für Goethe giebt es nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in welcher die Ideenwelt eingeschlossen ist.
Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philosophie seiner Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, welche dieser Philosophie ihr Gepräge gegeben haben, und welche treibende Kräfte der ganzen abendländischen Geistesbildung geworden sind, muß man im griechischen Altertume suchen. In einem verhängnisvollen Augenblicke bemächtigte sich eines griechischen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen Sinnesorgane. Er fing an zu glauben, daß diese Organe dem Menschen nicht die Wahrheit überliefern sondern daß sie ihn täuschen. Er verlor das Vertrauen zu dem, was die naive, unbefangene Beobachtung darbietet. Er fand, daß das Denken über die wahre Wesenheit der Dinge andere Aussagen mache als die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen, in welchem Kopfe sich dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man begegnet ihm in der eleatischen Philosophenschule, deren erster Vertreter der um 570 v. Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes ist. Als die wichtigste Persönlichkeit dieser Schule erscheint Parmenides. Denn er hat mit einer Schärfe wie niemand vor ihm behauptet, es gäbe zwei Quellen der menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die Eindrücke unserer Sinne Trug und Täuschung seien, und daß der Mensch zu der Erkenntnis des Wahren nur durch das reine Denken, das auf die Erfahrung keine Rücksicht nimmt, gelangen könne. Damit hat er den auf ihn folgenden Philosophen eine Entwicklungskrankheit eingeimpft, an der die wissenschaftliche Bildung noch heute leidet.
Mit der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato dieses Mißtrauen in die Erfahrung aus. „Die Dinge dieser Welt, welche unsere Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres Sein: sie werden immer, sind aber nie. Sie haben nur ein relatives Sein, sind insgesamt nur in und durch ihr Verhältnis zu einander; man kann daher ihr ganzes Dasein ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich auch nicht Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem, was an und für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann es eine solche geben; sie hingegen sind nur das Objekt eines durch Empfindung veranlaßten Dafürhaltens. So lange wir nur auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind, gleichen wir Menschen, die in einer finsteren Höhle so fest gebunden säßen, daß sie auch den Kopf nicht drehen könnten und nichts sähen, als beim Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen gegenüber die Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch sogar von einander, ja jeder von sich selbst, eben nur die Schatten an jener Wand. Ihre Weisheit aber wäre, die aus Erfahrung erlernte Reihenfolge jener Schatten vorherzusagen.“
In zwei Teile reißt die platonische Anschauung die Vorstellung des Weltganzen auseinander, in die Vorstellung einer Scheinwelt und in eine andere der Ideenwelt, der allein wahre, ewige Wirklichkeit entsprechen soll. „Was allein wahrhaft seiend genannt werden kann, weil es immer ist, aber nie wird, noch vergeht: das sind die realen Urbilder jener Schattenbilder: es sind die ewigen Ideen, die Urformen aller Dinge. Ihnen kommt keine Vielheit zu; denn jedes ist seinem Wesen nach nur eines, indem es das Urbild selbst ist, dessen Nachbilder oder Schatten alle ihm gleichnamige, einzelne, vergängliche Dinge derselben Art sind. Ihnen kommt auch kein Entstehen und Vergehen zu; denn sie sind wahrhaft seiend, nie aber werdend, noch untergehend wie ihre hinschwindenden Nachbilder. Von ihnen allein daher giebt es eine eigentliche Erkenntnis, da das Objekt einer solchen nur das sein kann, was immer und in jedem Betracht ist, nicht das, was ist, aber auch wieder nicht ist, je nachdem man es ansieht.“
Die Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine Berechtigung, wenn von der Art gesprochen wird, wie die menschliche Erkenntnis zustande kommt. Der Mensch muß die Dinge auf zweifache Art zu sich sprechen lassen. Einen Teil ihrer Wesenheit sagen sie ihm freiwillig. Er braucht nur hinzuhorchen. Dies ist der ideenfreie Teil der Wirklichkeit. Den andern aber muß er ihnen entlocken. Er muß sein Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich sein Inneres mit den Ideen der Dinge. Im Innern der Persönlichkeit ist der Schauplatz, auf dem auch die Dinge ihr ideelles Innere enthüllen. Da sprechen sie aus, was der äußeren Anschauung ewig verborgen bleibt. Das Wesen der Natur kommt hier zu Worte. Aber es liegt nur an der menschlichen Organisation, daß durch den Zusammenklang von zwei Tönen die Dinge erkannt werden müssen. In der Natur ist ein Erreger da, der beide Töne hervorbringt. Der unbefangene Mensch horcht auf den Zusammenklang. Er erkennt in der ideellen Sprache seines Innern die Aussagen, die ihm die Dinge zukommen lassen. Nur wer die Unbefangenheit verloren hat, der deutet die Sache anders. Er glaubt, die Sprache seines Inneren komme aus einem andern Reich als die Sprache der äußeren Anschauung. Plato ist es zum Bewußtsein gekommen, daß er auf zwei Wegen von den Dingen Kunde erhält; aber er hat nicht erkannt, daß es dieselben Dinge sind, die auf den beiden Wegen ihre Mitteilungen senden. Er hat damit dem abendländischen Denken eine Aufgabe gestellt, die vollkommen überflüssig war. Durch Jahrhunderte hindurch wurde unendlicher Scharfsinn auf die Frage verwendet: wie verhalten sich die im Innern des Menschen offenbar werdenden Ideen zu den Dingen der äußeren Wahrnehmung? Ein großer Teil des Inhalts aller auf die platonische folgenden Philosophieen besteht aus Lösungsversuchen dieser gar nicht vorhandenen Frage. Was das gesunde menschliche Empfinden in jedem Augenblicke lehrt: wie die Sprache der Anschauung und die des Denkens sich verbinden, um die volle Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde von den grübelnden Denkern nicht beachtet. Statt hinzusehen, wie die Natur zu dem Menschen spricht, bildeten sie künstliche Begriffe über das Verhältnis von Ideenwelt und Erfahrung aus. Um die Sehkraft für dieses Verhältnis ganz zu lähmen, verband sich mit dem Platonismus das Christentum. Dieses religiöse Bekenntnis mit seinem Jenseitsglauben und seiner Verachtung der Sinnenwelt ist nur eine volkstümliche Form des Platonismus. Es macht eine nach menschlichem Bilde gedachte persönliche Wesenheit zum Urheber der Welt. Die christlichen Kirchenväter versetzen einfach die platonische Ideenwelt in den Geist dieses persönlichen Gottes. In diesem Geiste sind die Urbilder, die Muster aller Dinge enthalten, und Gott hat die Welt nach diesen Urbildern geschaffen und regiert sie ihnen gemäß. Die Welt ist nur der unvollkommene Abglanz der in Gott ruhenden vollkommenen Ideenwelt. Der wahrhaft Fromme soll sich nicht viel mit diesem Abglanz beschäftigen; er soll seine Empfindung, sein Gefühl zu Gott erheben. „Ohne jedes Schwanken wollen wir glauben, daß die denkende Seele nicht wesensgleich sei mit Gott, denn dieser gestattet keine Gemeinschaft, daß aber die Seele erleuchtet werden könne durch Teilnahme an der Gottesnatur,“ sagt der Kirchenvater Augustinus. Ebensowenig gesteht er der Gesamtnatur irgendwelche göttliche Wesenheit zu. Aber die Wahrheit sucht er nur bei Gott. Frechheit ist es, nach seiner Ansicht, zu glauben, daß die Natur oder die menschliche Seele göttlich sei. Nicht durch Beobachtung der irdischen Dinge, sondern durch Versenken in die überirdische göttliche Wesenheit wird die vernünftige Seele vollkommen. In dieser Lehre der Kirchenväter wird der Sprache des menschlichen Innern ein allem natürlichen Empfinden fremder Ursprung angedichtet. Nicht aus den Dingen soll diese Sprache kommen, sondern aus dem Geiste des jenseitigen Gottes. Die platonische Vorstellungsart hielt sich mehr im abstrakten Elemente des Denkens auf. Das Ungesunde derselben wäre leichter überwunden worden, wenn nicht die platonischen Begriffe durch das Christentum das Empfindungs- und Gemütsleben ergriffen hätten. Dieses Gemütsleben der abendländischen Menschheit ist auf diese Weise geradezu nach der falschen Richtung hin umorganisiert worden. Was Plato nur gedacht hat, das haben die Kirchenväter dem Gemüte eingepflanzt. Was aber in dem Gemüte wurzelt, das ist viel schwerer auszurotten, als was bloß im Verstande ruht. Deshalb ist es bis heute noch nicht gelungen, die christlich-platonische unnatürliche Ansicht über die Wirklichkeit innerhalb der abendländischen Bildung zu überwinden.
