Golden Blood – A Deal with Darkness - D.C. Odesza - E-Book

Golden Blood – A Deal with Darkness E-Book

D. C. Odesza

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Beschreibung

Nur sie kann sein Leben retten Nur sie kann sein Leben retten Nach ihrer traumatischen Kindheit hat Meliya es endlich geschafft, ihr Leben in geregelte Bahnen zu lenken, und ihr Studium begonnen. Doch dann wird sie unterwegs überwältigt und wacht erst im Haus der Aydemirs wieder auf. Die vier Brüder, die sie entführt haben, gehören zu einer der mächtigsten Mafia-Familien der Türkei, und sie wollen etwas von ihr: eine Leberspende für ihren todkranken jüngsten Bruder. Denn Melyia gehört zu den wenigen Menschen weltweit mit der Blutgruppe Rh-Null, namens goldenes Blut, und kommt daher als Spenderin infrage. Aber egal, was sie ihr bieten, Meliya lässt sich nicht darauf ein …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Yvonne Lübben

Illustrationen: © Adobe Stock / Peluru; Page Overlay: ©mariemarion

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung und -motiv: © D.C. Odesza unter Verwendung von Shutterstock und Freepik

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Content Note

KAPITEL 1

Yaşar

KAPITEL 2

Meliya

KAPITEL 3

Malik

KAPITEL 4

Meliya

KAPITEL 5

Meliya

KAPITEL 6

Meliya

KAPITEL 7

Nurkan

KAPITEL 8

Meliya

KAPITEL 9

Meliya

KAPITEL 10

Yaşar

KAPITEL 11

Meliya

KAPITEL 12

Bahadir

KAPITEL 13

Meliya

KAPITEL 14

Meliya

KAPITEL 15

Meliya

PAGE OVERLAY

KAPITEL 16

Nurkan

KAPITEL 17

Meliya

KAPITEL 18

Malik

KAPITEL 19

Meliya

KAPITEL 20

Bahadir

KAPITEL 21

Meliya

KAPITEL 22

Meliya

KAPITEL 23

Meliya

KAPITEL 24

Bahadir

KAPITEL 25

Meliya

KAPITEL 26

Meliya

KAPITEL 27

Bahadir

KAPITEL 28

Malik

KAPITEL 29

Meliya

KAPITEL 30

Bahadir

KAPITEL 31

Nurkan

DANKSAGUNG

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Content Note

LIEBELESERINNENUNDLESER,

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Um euch das bestmögliche Leseerlebnis zu ermöglichen, findet ihr deshalb hier[1] eine Contentwarnung.

Euer everlove-Team

[1]Dieses Buch enthält Szenen und Beschreibungen, die bei manchen Menschen traumatische Erinnerungen auslösen können. Bitte entscheidet selbst, ob ihr emotional mit folgenden Themen umgehen möchtet:Frauenfeindliches Verhalten und Machtungleichheit, körperliche und psychische Gewalt, Folter, Mord, Diskussionen über Suizid, sexualisierte GewaltBitte lest dieses Buch nur, wenn ihr euch emotional dazu in der Lage fühlt. Falls es euch mit diesen (oder anderen) Themen nicht gut geht, findet ihr unter der Nummer der Telefonseelsorge rund um die Uhr kostenlose und anonyme Hilfe.TelefonSeelsorge Deutschland 0800/111 0 111 · 0800/111 0 222 · 116 123 | https://www.telefonseelsorge.de/TelefonSeelsorge Österreich Notruf 142 | https://www.telefonseelsorge.at/Schweizer Verband Die Dargebotene Hand Notruf 143 | https://www.143.ch/Euer everlove-Team

KAPITEL 1

Yaşar

Zwei Wochen zuvor

Blut bedeckt meine Hände. Es quillt unaufhörlich über meine Finger, bevor sich der stechende Schmerz in meiner Seite ausdehnt. Das goldene Funkeln Istanbuls verschwimmt vor meinem Sichtfeld, während ich meinen Bauch halte. Als wäre ich auf Droge, rauscht das Blut unfassbar laut in meinen Ohren, während ich gepresst Luft hole.

»Warum?«, frage ich. »Warum, Miran?«

Ist das sein fucking Ernst?

Mit einem vermutlich verstörten Blick hebe ich schwer keuchend den Kopf. Warum? Warum er?

An mir stürmen Männer meiner Brüder vorbei, die Miran umringen und ihre Pistolenläufe auf seinen Kopf richten.

Miran lacht so dunkel, wie ich ihn nie lachen gehört habe, dann wirft er seine Beretta zu Boden.

»Na los, erschießt mich! Beeilt euch, meine Mission ist erfüllt.«

Meine Sicht verschwimmt innerhalb weniger Sekunden immer stärker, bevor sie sich erneut schärft. Mein Kreislauf spielt völlig verrückt. Zwei Kugeln haben mich getroffen. Ich bin am Arsch. Und das so richtig.

»Wir informieren deine Brüder. Das wird schon wieder«, versucht mich einer von Maliks Hünen, die mich überall hin begleiten und ein Auge auf mich haben, zu beruhigen. Früher habe ich die Bodyguards meiner Familie gehasst, jetzt bin ich erleichtert, sie um mich zu haben.

»Nein …«, bringe ich hervor, ehe meine Knie unter mir nachgeben. Unaufhörlich strömt Blut über meine rechte Hand, mit der ich Druck auf die Wunde ausübe. Hitze und Kälte durchfluten in kurzen Abständen meinen Körper, während mein Puls rast. So schmerzhaft rast, dass mir das Atmen schwerfällt.

Ich bekomme gerade noch so mit, wie Miran vor mir zu Boden gerissen und auf den Bauch gedreht wird. Ein Bodyguard drückt ihn grob mit dem Knie auf den feuchten Asphalt.

»Geht es etwas sanfter, Bastard?«, beschwert sich Miran, woraufhin der Kerl über ihm in sein Haar greift und Mirans Gesicht hart auf den Boden rammt.

»Sanft genug, Verräter? Ich schwöre dir, im Gegensatz zu Malik fasse ich dich mit Samthandschuhen an.«

Hände greifen unter meine Arme und helfen mir auf. Hinter mir höre ich das laute Dröhnen eines herannahenden Flugzeuges, während der frische Nachtwind mein schweißbedecktes Gesicht kühlt. Gegen den Schmerz ankämpfend, stütze ich mich auf den Schultern der Männer ab, die mich zurück zum Privatjet begleiten.

»Halte noch etwas durch. Ömer und sein Ärzteteam wurden bereits informiert und werden deine Wunden versorgen. Wir bekommen das wieder hin«, erklärt Cihan, der engste Vertraute meines ältesten Bruders Malik, als er meinen rechten Arm eisern umfasst.

Mehr als freudlos den Mund verziehen kann ich leider nicht, da ich weiß, dass wir das nicht mehr hinbekommen werden.

»Falls nicht, dann …«

»Die Option gibt es nicht, Yaşar«, fährt er mir schroff über den Mund. Cihan ist ein ausgebildeter Ex-Soldat, der seit über zehn Jahren als Bodyguard für meine Familie arbeitet. Für Cihan existieren Tod, Versagen und Schwäche nicht. Selbst mit abgerissenem Bein würde er über zehn Kilometer durch die Wüste kriechen, ohne sich zu beschweren.

Stufe um Stufe schleifen Cihan und Berk mich in den schwarzen Jet. Die Welt um mich herum beginnt zu schwanken, als stünde ich auf einem Schiff auf hoher See.

»Ist Malik informiert?«, frage ich abgehackt, kaum dass mich beide Männer auf die lange schwarze Ledercouch des Jets bugsiert haben. Cihan macht sich daran, mein Jackett zur Seite zu schieben und das darunterliegende schwarze Hemd zu öffnen.

»Er tobt vor Zorn.«

Typisch. »Gib mir … die … volle Verantwortung.«

»Weil dich Miran, der Wichser, aus dem Nichts abgeknallt hat? Nein, wenn einer bluten wird, dann Miran.«

Keuchend blinzle ich der Decke des Flugzeuges entgegen. Dort funkeln Sterne, die regelmäßig weiß bläulich aufglimmen und aussehen wie ein echter Nachthimmel. Malik liebt den Protz, die Dekadenz, den Luxus.

Wie aus weiter Ferne höre ich Mirans Proteste.

»Lasst mich gehen! Lieber sterbe ich, als noch einen verdammten Fuß aufs Anwesen der Aydemirs zu setzen!«

Wenn er wüsste. Er wird keinen Fuß mehr aufs Anwesen setzen, nie mehr. Dabei frage ich mich weiterhin, warum er uns verraten hat. Wie konnte er uns hintergehen, ohne dass ich den leisesten Verdacht geschöpft habe? Wie zur Hölle?!

Miran lebt seit über zehn Jahren auf unserem Anwesen, ging auf dieselbe Schule und besuchte dieselbe Universität wie ich. Ich kenne ihn mein halbes Leben. Er war immer wie ein Bruder für mich. Warum sollte er mich angreifen, mich verdammt noch mal tot sehen wollen?

Das ergibt keinen Sinn!

In einem Augenblick befanden wir uns noch auf einem Event, haben uns betrunken, Drogen genommen und uns amüsiert, im nächsten Moment richtet er seine Pistole auf mich.

Mein Körper beginnt zu krampfen.

»Verreckt er endlich?«, höre ich Miran rufen.

Ich weiß nicht, welcher Schmerz unerträglicher ist. Der, der mich jeden Moment in den Tod begleiten wird oder der des Verrats meines Freundes.

»Dafür …«, bringe ich mit wütender und rauer Stimme hervor, »wirst du bezahlen … Miran.« Sollte ich nicht krepieren, dann werde ich mich selbst an ihm rächen und ihn so lange foltern, bis ich meine Antworten habe.

Noch ehe ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, trüben schwarze Schlieren mein Sichtfeld. Der künstliche Sternenhimmel über mir wird von endloser Dunkelheit verschlungen, bis sich ein greller Pfeifton in meinen Ohren einnistet.

Ich weiß, dass es vorbei ist. Egal, wie laut Cihan meinen Namen brüllt und alles Erdenkliche unternimmt, um mich am Leben zu halten.

Das ist mein Ende. Dabei habe ich noch gar nicht richtig begonnen, mein Leben zu leben.

KAPITEL 2

Meliya

Mit nervösen Fingern halte ich mir mein Tablet vors Gesicht. Ich darf diese Prüfung unter keinen Umständen vermasseln. Über eine Woche lang habe ich jede Nacht durchgelernt, auf Schlaf verzichtet, sogar meine Hygiene vernachlässigt. Meine Fingernägel sind abgekaut, unter meinen Augen zeichnen sich dunkle Augenringe ab, und meine Haare haben die letzten Tage bloß Trockenshampoo gesehen. Hauptsächlich habe ich mich von Tiefkühlpizza, Crackern und Energydrinks ernährt. Selbst meine Mitbewohner haben sich Sorgen um mich, meine Ernährung und meinen Schlafrhythmus gemacht.

Doch niemand hat gesagt, dass das Psychologiestudium einfach sein wird. Ich wusste, was auf mich zukommt, und war von Anfang an bereit, alles zu geben, selbst wenn das heißt, meine Haare eine Woche lang nicht zu waschen.

Dieses Studium bedeutet mir alles, wirklich alles. Ich bin bereits im neunten Semester. Und die heutige Zwischenprüfung für Neuropsychologie kann ich nur einmal wiederholen, und das erst in einem halben Jahr.

Ganz ehrlich, eine weitere Prüfungsvorbereitung schaffe ich nicht. Meine Nerven liegen blank, mein Körper sehnt sich nach Schlaf, mein Magen nach gesundem Essen. Trotzdem gebe ich alles.

Im Gehen werfe ich mir ein Stück Traubenzucker in den Mund, das ich auf der Zunge zergehen lasse. Die Reste spüle ich mit Kaffee hinunter.

Die Verkehrsgeräusche um mich herum werden immer lauter, je näher ich dem Campus komme. Mein Wohnheim befindet sich bloß fünf Gehminuten vom Campus entfernt, direkt an einem wunderschönen Park mit Teich. Aber nun, da ich die grüne Anlage verlassen habe, empfängt mich das laute Verkehrschaos Istanbuls. Roller rasen knatternd über die zweispurige Hauptstraße, Fahrradkuriere umrunden mich und unzählige Autos fahren an mir vorbei.

Erneut versinke ich in meinen Mitschriften auf dem Tablet, wische mit dem Daumen zur nächsten Seite und nehme einen Schluck Kaffee, während ich plötzlich an der rechten Schulter zurückgerissen werde.

»Halt! Es ist rot!«, warnt mich eine Männerstimme.

Sofort hebe ich den Kopf. Keinen halben Meter von mir entfernt rast ein Transporter haarscharf an mir vorbei. Voller Entsetzen stelle ich fest, dass ich mich auf dem Bordstein befinde, der die Hauptverkehrsstraße vom Personenübergang trennt.

Hektisch schnappe ich nach Luft und reiße die Augen auf. Denn auf der anderen Seite sehe ich einen Studenten mit Kopfhörern auf einem Fahrrad, der ebenfalls ohne zu schauen die Straße überquert. Ein lautstarkes Hupen ertönt, bevor der Fahrradfahrer im nächsten Moment von einem roten Wagen erfasst wird. Der Student wird mit voller Wucht über die Frontscheibe des roten Autos geschleudert, rutscht am Dach ab und landet hart auf dem Boden, ehe er von einem weiteren Auto überrollt wird.

Das Quietschen von Rädern dringt an meine Ohren, während ich nicht glauben kann, was gerade passiert ist.

Das … das … das habe ich mir bloß eingebildet, oder?

Plötzlich erklingen panische Schreie hinter mir. Eine Frau kreischt so ängstlich, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen.

Alle Autos kommen zum Stehen, bevor die Fahrer hastig aussteigen und nach dem Verletzten sehen.

Geschockt öffne ich den Mund, und der Kaffeebecher rutscht mir aus den Fingern.

Der Druck auf meiner Schulter verschwindet. »Ach du heilige Scheiße«, höre ich den Mann schräg hinter mir sagen, ehe er an meine Seite tritt und mich anschließend von oben bis unten mustert. Sein Blick verweilt einen Moment auf meiner hellen Bluse.

»Geht es dir gut?«

Ob es mir gut geht? Flüchtig schaue ich zu ihm, dann zu dem verletzten Fahrradfahrer und nicke. Zeitgleich rennen Passanten auf den Unfallort zu und bilden eine Traube um den Verletzten. Oder ist er bereits tot?

Unwillkürlich spielt sich in meinem Kopf ein bestimmtes Szenario erneut wie in Endlosschleife ab. Eins, das ich lange Zeit unter Verschluss gehalten habe. Meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, während ich auf der Rückbank saß. Sie kamen von der Landstraße ab, rasten in einen Baum und starben noch am Unfallort. Ich war, bis die Rettungskräfte eintrafen, bei vollem Bewusstsein, schrie ihre Namen, rüttelte an ihnen und kämpfte gegen die Benommenheit in meinem Kopf und die Schmerzen in meinen Beinen an.

»Anne, Baba, wacht auf.« Immer wieder rüttelte ich an ihren Schultern. Doch während Papas Kopf blutüberströmt am Seitenfenster lehnte, war Mamas nach vorn gebeugt. Die Airbags waren von roten Blutspritzern und -flecken übersät, während weiterhin Evlenmeliyiz von Hadise im Radio lief.

Weinend und komplett überfordert mit der Situation versuchte ich, mich vom Gurt zu befreien. Da Mamas Vordersitz vom Aufprall weit nach hinten geschoben worden war, konnte ich mich kaum bewegen und war eingeklemmt. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass beide Beine gebrochen waren. Mein Körper stand unter Schock, und ich war erst sieben Jahre alt.

Das viele Blut, die Schreie, die Sirenen, das Chaos, die Hilflosigkeit, alles erinnert mich daran, obwohl ich so viele Jahre damit zugebracht habe, dieses traumatische Erlebnis aufzuarbeiten.

Atme, Meliya, atme. Schließ die Augen und konzentriere dich auf deine Atemzüge.

Doch die schrillen Geräusche der Sirenen verhindern, dass ich mich auf meine Atmung fokussieren kann. Es funktioniert einfach nicht. Bisher habe ich diese Übungen immer in einem ruhigen Umfeld durchgeführt, nicht auf offener Straße, umgeben von Schaulustigen und herannahenden Rettungswagen.

Mein Herz rast unaufhörlich, während ich wie gelähmt bin. Erst als eine Person mich anrempelt, erwache ich aus meiner Starre.

»EMIR! EMIR!« Eine Frau rennt auf den Unfallort zu.

Ich kann den Fahrradfahrer, dessen Körper ungewohnt verdreht auf dem Boden liegt, noch sehen. Von seinem Kopf ist nicht mehr viel zu erkennen. Sein Fahrrad befindet sich wenige Meter entfernt verbogen auf dem Fußgängerübergang.

Der einzige Gedanke, der mir gerade durch den Kopf geht, ist: Das hätte vor wenigen Sekunden mir passieren können, wenn mich der Mann nicht rechtzeitig gewarnt hätte.

Mir wird heiß und kalt zugleich. Während um mich herum das wilde Chaos tobt, bleibe ich stehen.

»Was hast du?«, fragt mich der Mann erneut. »Hast du einen Schock? Dumme Frage, wer hat den nicht, der das mitangesehen hat.« Erst als der dunkelhaarige Mann in mein Sichtfeld tritt und mir einen lockeren Klaps auf die Wange gibt, betrachte ich ihn näher. Er ist bloß wenige Jahre älter als ich, trägt ein schwarzes Polohemd, eine dunkle Hose und ist von Tätowierungen, die sich vom Hals bis zum linken Arm erstrecken, überzogen.

»Ich … Es geht gleich wieder«, lasse ich ihn wissen, blinzle und schaue zum Kaffeebecher, der mir aus der Hand gerutscht ist. Ich bücke mich nach ihm, hebe ihn auf und gehe anschließend weiter. Lauf einfach weg, als würde mich das alles nichts angehen. Ist es Feigheit? Ist es Selbstschutz? Vermutlich beides.

Ich muss aus dieser Situation raus, schnellstmöglich.

Der Mann holt zu mir auf und greift nach meinem Ellenbogen. »Wo willst du hin?«

»Zur Uni. Ich schreibe gleich eine Prüfung.«

»Du kannst den Unfallort nicht verlassen.«

»Wieso nicht?« Verwirrt schaue ich zu ihm auf.

Er nickt zum Polizeiwagen, der gerade vorfährt. »Sie müssen unsere Aussagen aufnehmen.«

In diesem Moment zerbricht etwas in mir. Ich schaue von meinem Tablet, das wenige Blutstropfen abbekommen hat, weiter zum Polizeiwagen, aus dem drei Polizisten aussteigen, dann zu dem fremden Mann.

Die wochenlange Vorbereitung auf die Prüfung soll umsonst gewesen sein, weil ein Unfall passiert ist, an dem ich nicht einmal beteiligt war?

Ich habe zwei Möglichkeiten: Entweder ich renne los und verlasse den Ort; keiner kennt schließlich meinen Namen, und zudem gibt es zahlreiche weitere Zeugen, die den Unfall gesehen haben. Oder aber ich bleibe und verpasse meine Prüfung, die in einer knappen halben Stunde beginnt.

Doch diese Entscheidung nimmt mir der fremde Mann ab.

»Gib mir deine Daten. Ich reiche sie der Polizei weiter. Wenn sie sich bei dir melden, okay. Wenn nicht, dann musst du kein schlechtes Gewissen haben, weil du gegangen bist.«

Sofort fällt mir ein Stein vom Herzen. »Klingt nach einer guten Idee«, bringe ich überfordert hervor. Aktuell werden die Polizisten ohnehin alle Hände voll mit der Absicherung des Unfallorts zu tun haben.

Als mir der junge Mann sein Smartphone reicht, tippe ich in der Notiz-App meinen Namen, meine Adresse, E-Mail-Adresse und Handynummer ein, dann gebe ich es ihm zurück. Er lächelt knapp. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihn irgendwo schon einmal gesehen habe. Vielleicht auf dem Campus?

»Perfekt. Viel Glück für deine Prüfung. Du hast nicht mehr viel Zeit, wenn sie in der zweiten Stunde beginnt.«

Er schaut von seinem Handy auf, ehe er es in seine Hosentasche schiebt. Zwei dunkle Strähnen fallen in seine Stirn, während der Blick aus seinen haselnussbraunen Augen auf meinem Gesicht ruht. Er ist über einen Kopf größer als ich, verdammt attraktiv und gebräunt. An seinem Zeige- und Ringfinger prangen zwei breite silberne Ringe, sein Hemd steht leicht offen, sodass ich mehrere goldene Ketten erkennen kann. Sogar eine mit dem Anhänger eines Tigerkopfes mit schwarzen Kristallaugen. Irgendwie unheimlich.

»Danke«, antworte ich knapp, weiterhin überrollt von der Situation, dann drehe ich mich um und eile auf das Hörsaalzentrum zu, das von hohen Bäumen umgeben ist.

Was zur Hölle ist gerade passiert? Mein Verstand kann das Geschehene immer noch nicht verarbeiten.

Im Hörsaalzentrum angekommen, jage ich in meiner weißen, beschmutzten Bluse, die am Bauch zusammengeknotet ist, und lockeren Jeans mit Löchern die Stufen in die erste Etage hoch. Vor dem Hörsaal tummeln sich bereits andere Studenten. Einige von ihnen stehen vor den Fenstern und schauen hinaus.

»Soweit ich weiß, ist jemand überfahren worden.«

»Lebt die Person noch?«, fragt eine Studentin, deren Namen ich nicht kenne.

»Glaube nicht. Aylin hat erzählt, dass ein Auto über seinen Kopf gefahren ist.«

»Wie furchtbar!«, stößt sie aus.

Vielen Dank, nun muss ich erneut an das, was ich gesehen habe, denken.

»Guten Morgen, Meliya.« Duygu tritt an meine Seite und lächelt mir freudig entgegen. »Ich dachte schon, du hast verschlafen. Hast du von dem schrecklichen Unfall vor der Uni gehört? Ein Mann soll überfahren worden sein. Ein Fußgänger.«

»Es war ein Fahrradfahrer. Ich war dabei.«

Ihre Augen weiten sich, ehe sie ihre Designertasche schultert, an ihrem Kopftuch zupft und mir in den Hörsaal folgt.

»Du warst dabei? Hast du es gesehen?«

Warum nur habe ich nicht meinen Mund gehalten? »Leider ja.«

»Deswegen ist deine Bluse dreckig. Sag nicht, das ist …« Ihr entgleisen die Gesichtszüge. »Blut.« Sie deutet auf die dunkelroten kleinen Sprenkel, ehe ich an mir herabblicke. Dann wischt sie über meine Wange.

»Ähm …«

»Warte, ich habe ein Taschentuch dabei. Oder am besten gehst du auf die Toilette.« Aus ihrer Tasche kramt sie eine Taschentuchpackung, die sie mir anschließend reicht.

Mein Blick fällt auf mein rechtes Handgelenk. Mir bleiben höchstens zehn Minuten, um mich frisch zu machen. Die Bluse ist ohnehin hinüber. Doch um ihren neugierigen Fragen aus dem Weg zu gehen, entscheide ich mich für einen kurzen Abstecher auf die Toilette.

Kaum angekommen, bleibe ich vor dem Waschtisch stehen und zerre einige Papiertücher aus dem Spender.

Erst jetzt sehe ich, dass mein Gesicht von getrockneten Blutsprenkeln übersät ist, als besäße ich Sommersprossen. Kurz schaudert es mich.

Das Blut eines fremden Menschen klebt überall an mir. Echtes Blut von einem Menschen, der höchstwahrscheinlich gestorben ist. Gerade noch saß er auf seinem Fahrrad und hörte einen Song, im nächsten Moment flog er über die Windschutzscheibe und wurde von einem weiteren Auto überrollt.

Das Schicksal schreibt grausame Geschichten, die wir in Filmen voller Spannung verfolgen, aber im echten Leben niemals erleben wollen.

Ich befeuchte ein Tuch mit Wasser und wische anschließend die Sprenkel fort.

Tot. Tot. Er ist tot.

Sie sind tot.

Sie haben die Musik aus dem Radio mitgesungen, bevor sie beim Aufprall gestorben sind, und mein Leben, das ich zuvor kannte, ist mit einem Schlag vorbei gewesen.

Ich schüttle den Kopf und wende meine Atemtechnik an.

Ich studiere nicht umsonst Psychologie und habe es so weit geschafft. Der Unfall war vor über fünfzehn Jahren, und ich habe ihn aufgearbeitet. Seitdem ist sehr viel passiert, und mir wurde geholfen. Ich möchte nicht mehr in den Gedankenstrudel zurück und in der Nacht leben, als sich mein Leben schlagartig änderte.

Denn … aus diesem Grund studiere ich Psychologie. Um Menschen zu helfen, so wie mir geholfen wurde. Um für Menschen da zu sein, ehe sie den letzten Weg wählen, sich mit ihrem einzigen Kind betrunken hinters Steuer setzen, die Musik laut aufdrehen, mitsingen und vorgeben, nach Hause zu fahren, während sie ihr eigenes Leben und das ihres Kindes beenden wollen.

Ich will es verstehen. Ich will verdammt noch mal verstehen, warum meine Eltern sich dazu entschieden haben, allem ein Ende zu bereiten, und mich ebenfalls in den Tod mitreißen wollten.

Und ich werde die Gründe herausfinden.

»Also reiß dich zusammen und schreibe die Prüfung«, sage ich zu meinem Spiegelbild. Denn danach bin ich für mein Praktikum qualifiziert, das ich unbedingt brauche, um in der Privatklinik an alle Informationen über die Behandlung meiner Mutter zu kommen. Mittlerweile weiß ich, dass sie sich in Therapie befand, nur kenne ich den Grund nicht. Ich komme erst an die Akten, wenn ich in der Klinik arbeite. Und dafür muss ich die Prüfung bestehen.

Ich werfe das benutzte Papiertuch in den Mülleimer, fahre mit den Fingern durch mein offenes glattes Haar, das mir über die Schulterblätter fällt, und hole tief Luft. Entschlossen umklammere ich den Träger meiner Tasche und verlasse die Toilette. Ich muss diese Prüfung bestehen, komme, was da wolle.

KAPITEL 3

Malik

Vor dem Fenster stehend starre ich auf den Pool hinab, auf dessen Wasseroberfläche sich die Sonne spiegelt. Direkt dahinter fahren Schiffe über das Meer, während mir Ömer erneut die Diagnose mitteilt.

Yaşar wird sterben. Und das nicht, weil er keine Spenderleber erhält, nein, weil jede Spenderleber, für die ich bereit wäre, zu morden und dieses zwanzig Millionen teure Anwesen zu verkaufen, nicht kompatibel ist.

Das alles ist ein schlechter Witz.

»Du willst mir also erklären, dass egal, welche Leber ich auftreibe, keine passen würde?« Ich nehme einen Schluck von meinem Scotch. Es ist zehn Uhr morgens, für mich eine absolut unübliche Zeit für den ersten Drink. Aber seit einer Woche kreist unaufhörlich die krankhafte Sorge um meinen jüngsten Bruder in meinem Kopf herum.

»Das ist bedauerlicherweise korrekt, Malik. Ich habe mein Menschenmöglichstes getan. Hätte Yaşar eine andere Blutgruppe, läge er noch heute auf dem OP-Tisch und könnte eine neue, gesunde Leber erhalten.«

Die Operation an seinem Darm hat er bisher gut überstanden. Wäre seine Leber nicht getroffen worden, sondern eine Niere, sähen seine Chancen anders aus. Mit nur einer Niere könnte Yaşar problemlos weiterleben. Aber einer seiner Leberlappen wurde vom Schuss zerrissen. Zudem ist die Pfortader verletzt. Die Leberruptur weist den Schweregrad vier auf. In der Folge wird kein chirurgischer Eingriff helfen, um ihn am Leben zu halten. Ich hätte mich sofort als Spender angeboten, wenn Yaşar nicht die Blutgruppe Rhesus null besäße.

Die Blutgruppe, die geschätzt bloß fünfzig Menschen weltweit besitzen – auch goldenes Blut genannt.

Seit Yaşars Kindheit weiß die Familie von seiner seltenen Blutgruppe. Yaşar hat über die Jahre hinweg Blut für sich selbst gespendet, damit er im Ernstfall eine Bluttransfusion mit seinem eigenen Blut erhalten kann.

Doch keiner konnte ahnen, dass er irgendwann so schwer verletzt wird, dass er auf eine Organspende angewiesen ist. Oder falsch, ich habe solche Vorfälle einkalkuliert und ließ Yaşar aus diesem Grund ständig von Bodyguards begleiten, sobald er das Anwesen verließ. Trotzdem scheinen meine Sicherheitsmaßnahmen nichts gebracht zu haben. Aber wie zur Hölle hätte ich darauf kommen sollen, dass ausgerechnet Yaşars bester Kumpel auf ihn schießt?! Wie?!

Was zur Hölle soll ich jetzt tun?

Ich nehme einen weiteren Schluck von meinem Scotch, der herb und rauchig meine Kehle hinabrinnt.

»Wie lange hat Yaşar deiner Einschätzung nach noch?«, will ich wissen. Heute fand eine erneute Sonografie- und Ultraschalluntersuchung statt.

Ömer seufzt hinter mir. »So genau lässt sich das nicht sagen, Malik.«

»Sag schon«, bestehe ich auf eine Antwort.

Einen Moment lang herrscht quälende Stille.

»Ömer!«

»Ich schätze, höchstens anderthalb Wochen, bis das Leberversagen eintritt.«

In mir verkrampft sich alles. Finster starre ich aus dem Fenster zum funkelnden Meer des Bosporus. Höchstens anderthalb Wochen?

Noch nie in meinem Leben habe ich mich in einer solch ausweglosen Situation befunden, habe mich nie so machtlos gefühlt wie in diesem Augenblick. Meine Familie regiert Istanbul seit zwei Generationen aus der Unterwelt. Es gibt nichts, rein gar nichts, was sie mit Geld nicht kaufen könnte. Meine Familie zwingt andere Kartelle, Organisationen und Gangs in die Knie.

Die Aydemir-Familie ist milliardenschwer und hat selbst einflussreiche Kontakte im Ausland. Unsere Familie ist ein Imperium, das sich über die Jahre hinweg für unbesiegbar und unsterblich hielt.

Doch gerade fühlt es sich an, als hätte ein einziger Verräter uns mit einem gezielten Schuss zum ersten Mal unserer Unantastbarkeit beraubt. Miran, die Ratte, den ich über die Jahre hinweg durchgefüttert, die Elite-Universität in Istanbul habe besuchen lassen, dem ich ein Auto zur Verfügung gestellt, unzählige Urlaube mit Yaşar bezahlt und teure Klamotten und Uhren geschenkt habe, hat uns verraten.

Er hat all die Jahre vorgegeben, Yaşars Freund zu sein, nur um ihn hinterrücks anzuschießen! Er wusste zu gut, dass Yaşar eine seltene Blutgruppe besitzt. Ich ließ meinen jüngsten Bruder nie ohne Bodyguards und bewaffnete Männer reisen oder Veranstaltungen besuchen. Jeder Jet und jedes gottverdammte Auto ist kugelsicher. Ich habe alles Menschenmögliche getan, um Yaşar zu beschützen, ohne dabei zu bemerken, dass sich der Feind direkt vor meiner Nase aufhält. Dafür wird er büßen.

Doch bevor ich mich an dem miesen Wurm rächen werde, brauche ich einen Plan. Mir muss etwas einfallen, um Yaşars Leben zu retten.

»Du hast gesagt, dass schätzungsweise fünfzig Menschen weltweit goldenes Blut besitzen.«

Augenblicklich wende ich mich vom Fenster meines Arbeitszimmers ab und betrachte meinen Bruder, der in seiner anmutigen Eleganz und seinem dunkelblauen Anzug mit weißem, offen stehendem Hemd den Raum betritt. Nurkans scharf gezeichnete Gesichtszüge lassen kaum erkennen, was in ihm vorgeht. Mein zweitältester Bruder hat die einflussreichsten Kartelle der Türkei unter sich. Keiner kennt sicherere Routen, um Drogen ins Land zu schmuggeln, als er. Das dunkle Haar zurückgestrichen, grinst er schief.

»Das ist richtig.« Ömer wendet sich ihm zu. Er trägt ein schwarzes Polohemd und weiße Leinenhosen. Mit seinen über fünfzig Jahren weist er in vielen medizinischen Bereichen ein enormes Fachwissen auf. Er hat meinen Vater bis zum Tod medizinisch begleitet, als Ärzte ihm nur noch fünf Jahre versprachen. Ömer konnte ihm drei weitere Jahre verschaffen. Ich kenne keinen Arzt, der seine Arbeit dermaßen loyal und gewissenhaft durchführt. Wenn er sagt, dass Yaşar höchstens anderthalb Wochen zu leben hat, zweifle ich nicht an seiner Einschätzung.

»Tja, dann gibt es wohl nur eine Lösung für das Problem.« Nurkan schlendert auf die Chesterfieldcouch zu, um auf ihr Platz zu nehmen. Die Beine locker auseinandergestellt, zieht er eine Zigarette aus der Jackentasche.

»Die da wäre?«, will ich wissen.

»Ganz einfach. Wir schnappen uns einen dieser Menschen und nehmen seine Leber.« Nurkan zündet seine Zigarette an, legt den Kopf auf die Lehne der Couch und nimmt einen tiefen Zug.

Ich schnaube, während Ömer aussieht, als hätte er schon mit dem Gedanken gespielt.

»Ist das eine Option?«, frage ich Ömer.

»Es ist eine Möglichkeit, um Yaşars Leben zu retten. Wenn eine Person mit derselben Blutgruppe einen Teil ihrer Leber an ihn spendet, könnte er genesen. Allerdings, und diesen Punkt berücksichtigt Nurkan nicht, gibt es kein einsehbares Register, in dem alle Menschen mit ihren Blutgruppen aufgeführt sind.«

»Jemand wird sich wohl die Mühe gemacht haben, die angeblich fünfzig Menschen zu zählen, sonst wüsste keiner davon, oder nicht?«, wirft Nurkan ein. »Wir müssen einen Weg finden, um an die Daten zu gelangen. Dann wissen wir, wie diese fünfzig Personen heißen, wo sie wohnen und wie alt sie sind, ganz einfach.« Ich wische mir mit der freien Hand übers Gesicht. Wenn es so einfach wäre, hätte Ömer diese Möglichkeit sicher in Erwägung gezogen.

»Aufgrund der Seltenheit dieser Blutgruppe werden diese sensiblen Daten streng geschützt. Menschen, die keine Rhesusgruppe aufweisen, sind die perfekten Universalspender. Was denkst du, geschieht, sobald öffentlich einsehbar ist, wer die Blutgruppe besitzt?«

Nurkan nimmt einen erneuten Zug und bläst den Rauch in Ömers Richtung. »Sie sind wandelnde Blutbanken, schon verstanden. Streng geschützte Daten sind aber kein Hindernis. Ich werde jemanden beauftragen, der sämtliche Datenbanken dieser Welt durchsuchen lässt. Verlasst euch auf mich. Ich finde einen geeigneten Spender und werde Yaşar sicher nicht beim Sterben zuschauen.«

»Dann solltest du dich beeilen, dir bleiben keine zehn Tage«, erkläre ich meinem Bruder, der mich nun mit zusammengekniffenen Augen anstarrt. Offenbar hat er den Teil des Gesprächs nicht mitbekommen.

»Wartet, zehn Tage?«, fragt er ernst.

Ömer nickt. »Höchstens anderthalb Wochen.«

Ein Hauch von Entsetzen huscht über Nurkans Gesicht, als ihm endlich der Ernst der Lage bewusst zu werden scheint. Er nimmt einen letzten Zug, ehe er die Zigarette im Aschenbecher auf dem Couchtisch vor sich ausdrückt und sich anschließend erhebt.

»Dann sollten wir keine Zeit vergeuden. Ich mache mich direkt an die Arbeit.«

Um nicht länger untätig herumzustehen, werde ich ebenfalls Leute beauftragen, die meinen Bruder bei der Suche unterstützen.

Als ich zum Schreibtisch gehen will, tritt Ömer an mich heran und legt die Hand auf meine Schulter.

»Falls der Versuch nicht gelingt, wäre es das Beste, wenn du so viel Zeit wie möglich mit Yaşar verbringst. Er braucht dich, Malik.«

KAPITEL 4

Meliya

 

»Ich glaube, der Typ dort vorn schaut die ganze Zeit zu dir«, flüstert mir Duygu kichernd ins Ohr, als wir die Tanzfläche verlassen und zur Bar gehen. Schon lange habe ich mich nicht mehr so befreit und gut gefühlt. Ich habe die letzten zwei Tage genügend Schlaf aufgeholt, war beim Friseur, habe meine Nägel lackiert und sogar das Gym besucht.

Trotzdem muss ich ständig an den Tag der Prüfung zurückdenken. Gestern war ich bei der Polizei, um meine Aussage zu machen. Wie ich schon vermutet habe, ist der Student am Unfallort verstorben. Der Autofahrer, der ihn angefahren hat, stand unter Schock und wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Ihn trifft jedoch keine Schuld, da der Fahrradfahrer gegen die Straßenverkehrsregeln verstoßen hat. Doch was nützt einem das Wissen, dass jemand anderes einen Fehler begangen hat, wenn man derjenige ist, der ihn getötet hat?

Ich will mir nicht ausmalen, wie es dem Autofahrer geht, und hoffe, dass er das Erlebte verarbeiten kann.

»Welcher Typ?«, frage ich Duygu, als ich am Tresen angekommen bin und mich in meinem schwarzen, kurzen Kleid und High Heels über den Tresen lehne.

»Ich hätte gern einen Bacardi Razz. Möchtest du auch was trinken, Duygu?«, frage ich sie über die laute Musik und das Jubeln und Grölen der tanzenden Menge hinweg.

»Eine Cola.« Als ich zu ihr schaue, blickt sie nach links, wo sich mehrere Personen aufhalten, tanzen und feiern.

»Und eine Cola, bitte«, bestelle ich, dann ziehe ich mich vom Tresen zurück und öffne meine kleine schwarze Handtasche, um tausend Lira hervorzukramen. Kaum habe ich meine Bestellung bezahlt, tippt mich Duygu an.

»Er glotzt immer noch«, flüstert sie aufgeregt in mein Ohr.

»Wer?« Ich kenne Duygu, seit ich die Uni besuche. Sie ist wie ein kleiner Wachhund, dem nichts entgeht. Sie besitzt das Talent, andere Menschen zu durchschauen, und liebt zugleich jeden Gossip und jedes Drama, das sich auf dem Campus abspielt.

Als ich mich zu ihr drehe und ihrem Blick folge, nickt sie zu einem schwarzhaarigen, hochgewachsenen Mann in einem weißen Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgerollt sind. Sein Haar ist locker aus der Stirn gestrichen, seine Tattoos sind selbst im violettblau flackernden Clublicht zu erkennen.

Je länger ich ihn betrachte, desto mehr erinnere ich mich an sein Gesicht. Es ist der fremde Mann, dem ich mein Leben zu verdanken habe. Hätte er mich nicht an der Schulter zurückgerissen, wäre ich vermutlich wie der Fahrradfahrer ebenfalls von einem Auto erfasst worden.

Er befindet sich über zehn Meter entfernt und steht bei weiteren Personen, zwei hübschen Frauen, von denen eine wie Duygu ein Kopftuch trägt, und drei Männern, die ebenfalls sehr gut gekleidet sind. So wie ich es meistens aus meinen Romance-Romanen kenne. Dass es diese Männer im realen Leben tatsächlich gibt, hätte ich nicht erwartet. Kaum da er meinen Blick auffängt, lächle ich. Es ist albern, zu glauben, ihm würde meine Rettung genauso viel bedeuten wie mir.

»Hier, Ihre Getränke«, höre ich hinter mir den Barkeeper über die laute Elektromusik zu uns sagen.

Abrupt drehe ich mich zum Tresen um und schnappe mir die Cola und den Cocktail.

»Du kennst ihn«, stellt Duygu fest, während sie an ihrem schwarzen, leicht taillierten, langärmeligen Kleid herumzupft.

»Er hat mir das Leben gerettet«, antworte ich und nehme den Strohhalm zwischen die Lippen.

»Wann?«, hakt sie aufgeregt nach. »Wo? Sag schon.«

»Ich habe dir davon erzählt. Als der Fahrradfahrer gestorben ist. Er ist der Mann, der mich an der Schulter festgehalten hat, damit ich nicht einfach bei Rot auf die Straße laufe.«

»Aman Allahım!«, stößt sie hervor. »Du hast nicht erwähnt, wie gut er aussieht. Warum rettet mich kein Mann, der so aussieht?«

Ich muss lachen. »Weil du bereits verlobt bist, Duygu. Soll ich Selim erzählen, was du gerade gesagt hast?« Provokant lächelnd zwinkere ich ihr zu. Allerdings erlischt mein Lachen, als ich bemerke, dass sich der fremde Mann am Rande der Tanzfläche des Studentenclubs in unsere Richtung bewegt. O nein, nein, nein.

Mein Lächeln sollte für ihn keine Aufforderung sein, auf mich zuzukommen. Ich will nicht behaupten, dass ich nicht mit Männern klarkomme und mir die Begegnungen unangenehm sind, allerdings gibt es eine Sache, die ich hasse: peinlichen Small Talk. Ich neige dazu, mich selbst zu blamieren oder während der Gesprächspausen, in denen keiner weiß, was er sagen soll, im Boden zu versinken.

Bisher hatte ich keine Dates, keine Beziehung und war nicht einmal verliebt. Männer sind für mich teilweise wie Freunde, nichts zum Anhimmeln oder Hinterherhecheln. Und Gott, ich habe so viele peinliche Momente miterlebt, in denen sich Frauen an einen gut aussehenden Mann herangeschmissen haben. Momente, in denen ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.

Plötzlich weicht Duygu zurück. »Ich will euch nicht stören.«

»Aber …«, setze ich an, als sie tatsächlich verschwindet. Verzweifelt greife ich nach ihrer Hand, doch fasse ins Leere. Nicht ihr Ernst.

Keine zwei Sekunden später steht der fremde Mann, dessen Namen ich nicht kenne, vor mir und lächelt mir smart entgegen.

»Hey, wie geht es dir?«

»Hi, gut.« Kahretsin! Verdammt! Das Gespräch ist jetzt schon unangenehm, ehe es begonnen hat. Wo ist gleich noch mal die nächste Toilette?

»Ich hab das letzte Mal ganz vergessen, mich vorzustellen, mein Name ist Ayaz.« Er reicht mir seine Hand, an der ich wieder die zwei breiten Ringe entdecke.

»Meliya, schön, dich zu treffen, Ayaz. Dieses Mal unter anderen Umständen«, bringe ich hervor und könnte mich gerade innerlich ohrfeigen.

Wie taktlos willst du sein, Meliya? Ja!

Er grinst knapp. »Jeder Umstand ist besser, um sich kennenzulernen, als Zeuge eines tödlichen Verkehrsunfalls zu sein.«

Schon erhalte ich meine verbale Ohrfeige. Hilfe! Ich hasse Small Talk, hasse ihn so sehr.

»Stimmt«, erwidere ich. »Ich …« Suchend schaue ich mich um. Wo zur Hölle steckt Duygu? »Ich muss zu meiner Freundin«, erkläre ich ihm. »Es war toll, dich kennenzulernen, Ayaz. Wir sehen uns sicher wieder.«

Was sollte der letzte Satz? Den hätte ich mir sparen können.

»Das hoffe ich doch.« Hinter ihm sehe ich die Gruppe, bei der er sich aufgehalten hat. Die Männer und Frauen tuscheln miteinander und scheinen in unsere Richtung zu blicken. Beobachten sie uns?

Gerade als ich mich mit meinem Drink von ihm abwenden will, umfasst er meinen Oberarm. »Woran liegt es, dass du unbedingt verschwinden willst?«

»Ähm, an nichts? Wie kommst du darauf?«, lüge ich.

»Komm schon. Du willst keine zehn Minuten mit mir reden, als wäre ich der Autofahrer gewesen, der den Studenten …«

»Nein«, unterbreche ich ihn und wende mich ihm wieder zu.

»Woran liegt es dann?« Der laute Bass vibriert unter meinen Absätzen, während sich der leichte Rausch in meinem Kopf ausdehnt. »Ich bin nicht gut in Small Talk. Es liegt nicht an dir, Ayaz«, erkläre ich ihm und löse seine Finger von meinem Arm. Wenn ich eines nicht leiden kann, dann, wenn man mich ungefragt anfasst. Und sein Griff ist ziemlich selbstsicher.

»Dann lass uns kurz vor die Tür gehen und uns in einer ruhigeren Umgebung unterhalten«, bietet er mir an.

Er hat ernsthaft Interesse? Während sein Blick über meine gewellten, offenen Haare, meine großen goldenen Kreolen und mein Gesicht wandert, kann ich kaum seinem Duft widerstehen. Verdammt, er riecht nach einem modernen, nicht zu aufdringlichen und zugleich maskulinen Parfüm.

Ich schlucke hart. Hin und wieder werde ich von betrunkenen oder notgeilen Kerlen auf der Straße angemacht, oder mir starren Kerle, die doppelt so alt sind wie ich, hinterher. Fremde Menschen halten mich für hübsch, zurückhaltend und ruhig. Manche sogar für arrogant, was ich nicht bin. Ich stehe einfach nicht gern im Mittelpunkt.

Ich habe Freunde, aber ich erzähle nicht jedem Fremden meine Lebensgeschichte und kann mich nicht auf lockere Unterhaltungen einlassen. Ich bin gern für mich, nachdenklich, ruhig und alles andere als eingebildet. Ich möchte einfach nur nicht unter vielen Menschen sein.

Auch wenn Ayaz vermutlich keinen Hintergedanken hegt, habe ich kein Interesse. Ayaz sieht gut aus, keine Frage, aber dennoch möchte ich den Abend mit Duygu verbringen.

»Tut mir leid, ich bin mit meiner Freundin hier und will sie nicht allein lassen.«

Ayaz zieht die Brauen zusammen. Er sieht wirklich aus, als hätte er bisher selten bis nie eine Abfuhr erhalten.

»Okay«, sagt er und zuckt die Schultern. »Kein Problem. Du bist eh nicht mein Typ.« Was hat er gesagt?

Als ich seine verletzenden Worte höre, verknotet sich mein Magen. Eine nette Ablehnung ist kein Grund, mich zu kränken. »Dachte ich mir, deswegen wolltest du dir die Mühe machen, mit mir nach draußen zu gehen. Arsch!«

Ohne zu überlegen, und ja, das ist auch ein Teil meines Charakters, schütte ich ihm meinen Drink ins Gesicht.

Selbst überrascht von meiner Reaktion öffne ich den Mund. Sich jetzt zu entschuldigen, wäre sicher keine gute Idee, oder? Warum zur Hölle mache ich immer Dinge, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben?

»Sag mal, bist du bescheuert!«, beschwert er sich und wischt sich meinen Drink aus dem Gesicht.

Rasch wende ich mich von ihm ab, stelle das leere Glas eilig auf dem Tresen ab und mische mich unter die anderen Studenten. Mist! Mist! Mist!

»Hey!«, ruft er mir hinterher. »Komm zurück und bezahl den Schaden!«

Der in deinem Kopf ist nicht mit Geld zu reparieren, denke ich und gehe weiter.

Da ich meine Freundin nicht finde, egal, wie lange ich die tanzende Menge, die Stehtische oder Lounges absuche, beschließe ich, die Toiletten aufzusuchen. Im Gehen schreibe ich Duygu.

Wo bist du?

 

Sie war vor einer halben Stunde online. Verdammt. Hoffentlich sieht sie die Nachricht. Gerade will ich bloß noch gehen. Mir kommt es vor, als würden mich alle Menschen im Club anstarren, weil sie mitbekommen haben, wie ich Ayaz meinen Cocktail ins Gesicht geschüttet habe.

Eine Gruppe Mädchen unterhält sich vor den Toiletten und mustert mich. Ebenso drei Männer in Anzügen, die sich für was Besseres halten. Sie checken mich von Kopf bis Fuß ab, als ich mein Rückgrat durchdrücke und an ihnen vorübergehe.

Ich wünschte, mir wären die aufdringlichen Blicke egal.

Plötzlich fasst jemand um meine Mitte.

»Ich sagte«, keucht Ayaz, »du kommst für den Schaden auf. Hau nicht ab.«

Er wagt es, mich anzufassen? Ich drehe mich zu ihm um und würde ihm am liebsten eine Ohrfeige verpassen. Doch meine Hand wird von ihm aus der Luft gefegt, ehe ich sein Gesicht treffe.

»Ich komme für keinen Schaden auf. Du bist ein Arsch.«

»Du ebenfalls, und das ist komplett unnötig.«

»Wann habe ich dich gekränkt?« Vermutlich wirken wir für die anderen Gäste in unserem Umfeld wie ein sich streitendes Paar. Aber ganz ehrlich, bisher hat mich kein Mann so aufgebracht.

»Indem du das Gespräch vor der Tür ausgeschlagen hast, weil du dachtest, ich würde mich an dich heranschmeißen wollen.«

Ist ja auch so. »Das wolltest du doch.«

»Ich wollte dich kennenlernen.«

»Wieso?«, will ich wissen.

Nun gibt er meine Taille frei. »Du brauchst ernsthaft einen Grund? Weil ich dich interessant finde.«

»Ah, bis gerade eben war ich nicht dein Typ.«

Er schnaubt und schaut zur Seite, dann fährt er sich durch sein feuchtes Haar, aus dem mein Drink tropft. Das weiße Hemd klebt an seinem Oberkörper, und darunter zeichnen sich Tätowierungen ab, die mir zuvor verborgen geblieben sind. »Das war gelogen. So wie du gelogen hast.«

»Aha, wann hab ich gelogen, Draufgänger?« Ich recke mein Kinn empor. Im Gegensatz zu unserer letzten Begegnung überragt er mich nicht mehr um einen ganzen Kopf, sondern ist bloß einen halben Kopf größer als ich, dank meiner High Heels.

»Als du gesagt hast, dass du nicht gut im Small Talk bist. Ich finde«, er beugt sich zu mir herab, »du beherrschst ihn besser als viele andere.«

Meint er das ernst oder verarscht er mich gerade?

»Das hier.« Ich deute mit dem Zeigefinger zwischen uns hin und her. »Ist kein Small Talk, sondern eine Auseinandersetzung.«

»Bist du immer so kleinlich?«, fragt er und hebt beide Brauen, um mich weiter zu provozieren.

Nun hole ich tief Luft und lache leise. »Weißt du was, ich bezahle den Schaden, wenn du mich dann endlich in Ruhe lässt. Was kostet die Reinigung?« In meiner Handtasche öffne ich mein Portemonnaie und ziehe einige Scheine hervor. Mein letztes Geld, das ich eigentlich für nächste Woche brauche.

»Aua«, beschwert er sich. »Warum teilst du so aus? Wer hat dich denn in der Vergangenheit verletzt?«

Einen Moment bin ich wie vor den Kopf gestoßen, halte in der Bewegung inne und schaue stumm zu ihm auf. In diesem Moment fehlen mir einfach die Worte.

Er erwidert meinen Blick, ohne über mich zu lachen oder weiter auszuteilen.

Rasch weiche ich seinem unergründlichen Blick aus, ziehe die Geldnoten hervor und drücke ihm die Scheine gegen die feuchte Brust.

»Hier. Es tut mir leid.« Ohne seine Antwort abzuwarten, drehe ich mich von ihm weg und eile davon. Bisher hat mir keiner diese Frage gestellt und mich damit mitten in mein stilles Herz getroffen. Wer hat dich denn in der Vergangenheit verletzt? So viele im Leben.

Auf dem Weg zum Ausgang kann ich die aufkommenden Tränen kaum zurückhalten. Ich blinzle angestrengt gegen sie an, während ich mein Smartphone hervorhole und eine Nachricht an Duygu eintippe. Sie hat meine Nachricht von vor wenigen Minuten noch nicht gelesen. Wo steckt sie?

Sei nicht böse, ich geh nach Hause.

Fühle mich nicht gut.

Schreib mir, wenn du zu Hause angekommen bist.