Goldene Zukunft der Erde - Joachim Hausen - E-Book

Goldene Zukunft der Erde E-Book

Joachim Hausen

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Beschreibung

Warum und wohin entführen Außerirdische im 19. Jahrhundert weltweit zahlreiche junge Menschen? Der Klimawandel entwickelt sich ab 2050 rückläufig. Warum? Im Juni 2052 taucht über der Erde ein gigantisches Robotschiff des Volkes der Moonmotope auf. Deren Regierung, die Busilaia, unterbreitet Vertretern der UN ein traumhaftes Angebot. Der UN-Generalsekretär nennt es den Beginn einer goldenen Zukunft für die Menschheit, die Erde. Im Gegenzug sollen 85 Millionen junge Terraner nach Moonmot auswandern und sich mit den, vom Aussterben bedrohten, Moonmotopen vermischen. Sie ähneln verblüffend irdischen Menschen. Um den Verlust an Arbeitskräften etwas auszugleichen, schenkt die Busilaia der UN 48 Millionen intelligenter Lebewesen, kurz ILW genannt. Die UN verkauft sie an Privatpersonen, Unternehmen, Krankenhäuser und Pflegeheime. Sie erhalten nur freie Unterkunft und Verpflegung. Die 31-jährige Maria Anna Huber freut sich riesig, dass sie ein ILW kaufen kann. Sie tauft es Paul. Wie gestaltet sie ihr Leben mit ihm? Ende 2053 treten Anais Seller und Carlo Schneider die einjährige Reise nach Moonmot an. Wie verläuft ihr Leben im Paradies der Auswanderer, wie die Medien den Planeten bezeichnen? Welche Ereignisse bedrohen fünf Jahre später die irdische Zivilisation? Verwandelt sich die Goldene Zukunft der Erde in eine Apokalypse des Grauens?

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Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

Volkstümliches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Himmelfahrt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Höllische und himmlische Bescherungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Das Paradies der Auswanderer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Dramatik

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Operation Erdrettung Zwei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Goldene Aussichten

Kapitel 1

Vorwort

Dieser Roman setzt die Geschichte meines SF-Thrillers über die Zukunft des Klimawandels Ich. Und mein Schutzengel fort.

Der Deutsche Wolf Wolfmann spielt hier nur eine Nebenrolle.

Im Mittelpunkt stehen die Ereignisse auf der Erde ab 2052 und die Erlebnisse einer Frau, eines Mannes und eines Ehepaares, die auf den Planeten Moonmot auswandern.

Himmelfahrt

1

Deutschland. Bayern. Allersberg, rund 30 Kilometer südlich von Nürnberg.

Sonntag, 2. Juni 1811. 16:05 Uhr. Sonnig. 25 Grad.

Auf einem staubigen Weg schlenderten Maria und Josef Hand in Hand vom Dorfrand in den nahen Wald. Sonnenstrahlen flirrten durchs Blattwerk. Meisen jubilierten. Amseln schimpften. Insekten sirrten. Eine Hummel brummte vorbei. Ein Eichhörnchen huschte den Stamm einer Eiche hoch.

Wenige Schritte hinter den ersten Bäumen hielt das Paar inne. Es schaute sich in die Augen. Es küsste sich. »Ich liebe dich«, flüsterte die 18-jährige Maria.

Der 20-jährige Josef Huber, zweiter Sohn eines Großbauern, lächelte, strich ihr übers frisch gewaschene, glatte dunkelbraune Haar und zupfte an ihrem Zopf. »Du bist nicht nur die fleißigste Magd auf unserem Hof und im Dorf, sondern auch die schönste. Ich bin verrückt nach dir, Maria, obwohl wir uns erst fünfmal heimlich getroffen haben.«

Sie kicherte. Sie küsste ihn fest auf den Mund. Er packte sie an einer Hand. Sie eilten tiefer in den Wald. Nach etwa 200 Meter führte er sie links hinter türhohen Fichten auf eine teilweise sonnige Lichtung. Sie lächelte und drückte seine Hand. »Ein schönes Plätzchen hast du ausgesucht, Liebster, mit Gras und Moos.«

Sie umarmten sich. Liebevolle Küsse. Leidenschaftliche Küsse. Wilde Küsse. Er tastete nach ihrem Busen. Sie sanken zu Boden. Sie strich ihm durchs mittelbraune Haar. »Endlich haben wir heute viel Zeit für uns«, flüsterte Maria. Sie zog die hellblaue Bluse und den grauen Rock aus. BH trug sie keinen. Sie hob die straffen Brüste an. »Streichele und küsse sie«, wisperte sie.

Josef erfüllte ihren Wunsch. Sie legte den Kopf in den Nacken. Leises Keuchen. Er lutschte und knabberte an den steifen Warzen. Lautes Keuchen.

Er hielt inne. Er sah ihr in die Augen.

»Herrlich«, flüsterte sie. Sie küsste ihn heftig.

Er löste sich. Er strahlte. Er zog das sandfarbene Hemd, die braune Hose und die graue Unterhose aus. Er rollte die Kleidungsstücke zusammen und stopfte sie unter ihren Kopf. Er streichelte ihre Wangen. Zart küsste er sie auf Nasenspitze und Lippen. Er schaute ihr in die Augen. »Hattest du ... äh ... ich meine, bist du noch ... äh ... Jungfrau?«

Sie strich ihm übers Haar. Seufzen. »Nein.«

Er schluckte. »Mit wem ...?«

»Erkläre ich dir nachher.«

Nicken. Er legte sich zwischen ihre Beine.

Maria wimmerte. Marie hechelte. Maria stöhnte. Ihr Körper zitterte. Die Hände krallten ins Moos. Sie bäumte sich auf. Ein heiserer Schrei. Sie sank zusammen.

Josef glitt über sie. Er schaute ihr in die Augen.

»Himmlisch!«, wisperte sie. Sie griff ihm in den Schritt. »Jetzt komm zu mir, Liebster, tief, fest, wild. Ich sehne mich danach, habe jede Nacht davon geräumt.«

Er lächelte. »Ich auch, Liebste.«

Das Paar genoss das Liebesspiel. Maria zuckte und bebte. Leise Schreie.

Josef schnaufte, prustete, röhrte und explodierte. Maria schrie nochmals.

Er rollte neben sie. Umarmung. Zärtliche Küsse. »Das war göttlich, Liebster!«, flüsterte sie. »Ich bin ganz hoch, ganz weit geflogen. Wollte gar nicht mehr zurückkommen.«

Er lächelte. Er strich ihr über die Wangen. Er küsste sie auf die Spitze der leicht gekrümmten Nase. »Das machen wir jetzt jeden Sonntag, Liebste.«

Sie strahlte. »Da freu ich mich aber, vielleicht ... vielleicht können wir uns ja auch einmal in der Woche im Heuschober treffen.«

Er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Ich hoffe es auch.« Er schaute ihr in die Augen. »Du wolltest mir doch erzählen, wer dich ...«

Sie strich ihm durchs Haar. Sie seufzte. »Es geschah im Heuschober am Erntedankfest im letzten Herbst. Es ... es war ... es war – dein Vater. Er wollte mich vom Hof jagen, wenn ich nicht mitmache.«

Josef knirschte mit den Zähnen. »Dieses Dreckschwein!«, stieß er hervor. »Ich würde den Saukerl am liebsten umbringen. Wie oft hat er ...?«

Das Liebespaar zuckte zusammen. Wundervoller Gesang einer Frauenstimme erklang, untermalt von Geigen- und Flötenspiel. Mit aufgerissenen Augen lauschten Maria und Josef. Sie schüttelten sich. »Was ist das für eine Musik«, flüsterte sie, »und ... und wo kommt sie her?«

Er sprang auf. »Keine Ahnung.« Er deutete nach rechts. »Vielleicht lagert auf der nahen Lichtung eine Gruppe fahrender Musikanten. Komm, wir ziehen uns rasch an. Ich will nicht, dass uns jemand so hier sieht. «

Sie schien enttäuscht. Sie seufzte. Sie nickte.

Rasch kleideten sie sich an. Sie eilten zum Weg. Noch immer sang die Frau. Noch immer spielten Geigen und Flöten. Er nahm Maria an einer Hand.

Knapp 100 Schritte weiter traten sie links in den Wald. Sie umrundeten Brombeersträucher, üppiges Buschwerk und schlängelten sich durch raumhohe Buchen. Sie näherten sich dem lieblichen Gesang. Nach rund 60 Meter erreichten sie den Rand der Lichtung. Jäh hielten sie inne. Stumm und mit aufgerissenen Augen starrten sie. Maria und Josef wankten. Sie schüttelten sich.

»Heilige Muttergottes! Was ist denn das?«, flüsterte sie. »Sieht aus wie ein riesiges goldenes Ei. Wie kam es hierher? Es hat keine Räder, außerdem ist der Weg viel zu schmal. Vielleicht ist es vom Himmel gefallen.«

Musik und Gesang verstummten. Josef erwachte aus seiner Starre. Er krächzte: »Wenn es vom Himmel gefallen wäre, wäre es kaputt. Ich weiß auch nicht, was das ist. Es ist mindestens doppelt so lang wie unser Haus und viel, viel höher. Es hockt auf sechs breiten Kufen. Es füllt die Lichtung fast aus.« Er trat ein paar Schritte vor.

Maria huschte neben ihn und packte ihn am rechten Arm. »Bleib hier, Josef! Ich habe Angst. Das Ding ist mir unheimlich.« Sie starrte ihn an. »Hörst du es auch?«, wisperte sie. »Es brummt leise.«

Lässig wirkend winkte er ab. »Keine Sorge, Liebste, wenn es uns was antun wollte, hätte es das schon getan. Ich geh jetzt mal hin, will wissen, woraus es gemacht ist. Wenn du Angst hast, bleib hier.«

»O nein! Ich gehe mit dir.« Hand in Hand pirschten sie näher. Er deutete zur mittleren Kufe. »Dahinter läuft ein ungefähr drei Meter hoher Wulst um das Ei. Ich will diese stumpf silberne Kufe anfassen, sieht aus wie Eisen. Sie ist mindesten eine Elle im Boden eingesunken.«

Knapp vier Schritte vor der Kufe blieben sie stehen. Josef sah hoch. » Bei allen Heiligen!«, stieß er hervor. »Sieh dir das mal an, Maria!«

Sie schaute hoch.

Er schien aufgeregt. »Ich glaube, da ist eine Tür mit abgerundeten Ecken, aber ohne Griff. Man sieht nur eine dunkle Linie. Das goldene Ei ist ... es ist ein Haus ohne Fenster.«

Maria starrte ihn an. »Aber Josef, wer ...?«

Leises Zischen ließ sie verstummen. Die zwei Meter hohe und 1,30 Meter breite Tür glitt ein Stück nach innen und verschwand links hinter der Außenwand. Kein Licht fiel aus der Öffnung. Summend schob sich unten ein fast türbreiter Steg heraus, bildete eine Treppe mit 15 Stufen und senkte sich auf den Boden. Das Summen verstummte.

Maria und Josef schauten sich mit aufgerissenen Augen an. Sie presste seine Hand. »Was geschieht da?«, wisperte sie. »Was sollen wir jetzt machen? «

»Keine Ahnung. Sieht wie eine Einladung aus.«

Schnauben. »Du ... du willst doch nicht da reingehen, oder?«

Josef öffnete den Mund und – schloss ihn wieder.

Ein Mensch, ein Mann, erschien in der Türöffnung. Er schritt die Treppe hinab und blieb knapp zwei Meter vor dem offensichtlich schockierten Paar stehen. Der Fremde überragte Josef um zehn Zentimeter. Kinnlanges blondes Lockenhaar umrahmte sein ebenmäßiges Gesicht. Er trug ein wadenlanges, gefälteltes weißes Gewand mit kurzen Ärmeln und dunkelrote Halbstiefel.

Maria und Josef schienen gelähmt. »Heilige Muttergottes!«, stieß sie hervor. »Ein Engel! Ein wahrhaftiger Engel!«

Auf dem Rücken des Mannes prangten zwei 90 Zentimeter lange und maximal 50 Zentimeter breite schneeweiße Flügel in einem 60-Grad-Winkel. Sie bewegten sich nicht.

Der Engel hob die rechte Hand. »Fürchtet euch nicht, Menschenkinder«, sagte er mit sonorer Stimme in der hiesigen Sprache. »Ich bin der Erzengel Gabriel. Ich wurde geschickt, um mit euch in diesem Gefährt in den Himmel aufzufahren.«

Maria und Josef wankten. Sie schienen einer Ohnmacht nahe.

Der Engel griff in die rechte Gewandtasche. Die Hand kehrte mit einer 20 Zentimeter langen, daumenstarken stumpf silbernen Röhre mit Griffstück zurück. Die Röhre endete in einem silbrig schimmernden runden Gitterkäfig. Der Engel richtete sie auf Josefs Kopf und krümmte den Zeigefinger. Helles Singen erklang. Im Gitter erschien hellgelbes Flirren. Nach drei Sekunden wanderte die Röhre Richtung Marias Kopf. Weitere drei Sekunden später erstarben Flirren und Singen.

Still und bewegungslos standen Maria und Josef. Der Engel steckte die Strahlenpistole in die Tasche zurück. Die gewählte Strahlendosis unterdrückte für 1:30 Stunden Angst, Panik, ihren freien Willen und verhinderte selbstständige Handlungen.

Er sagte: »Folgt mir!«, wandte sich um und stieg die Treppe hoch. Maria und Josef gehorchten. Sie betraten einen Gang mit hellbraunem elastischem Bodenbelag und sonnengelben Wänden. In der weißen Decke integrierte runde Leuchten flammten auf. Mit Sicherheit wunderten sich Maria und Josef über die elektrische Beleuchtung, die erst 73 Jahre später Einzug in Privathaushalte finden wird. Sie konnten aber ihr Staunen nicht ausdrücken.

Die Außentreppe hob sich waagrecht. Die Stufen verwandelten sich in eine ebene Fläche. Die Treppe verschwand unter dem Fußboden des Ganges. Die Tür glitt zu.

Das Trio stieg nach sechs Schritten elf Stufen hoch. Ungefähr 17 Meter weiter stoppten sie an einer Wendeltreppe. Die Willenlosen folgten dem Engel links in den schmalen Gang. Auf beiden Seiten erstreckten sich zehn Reihen mit jeweils fünf im Boden verankerten Kontursesseln. Maria und Josef mussten in den hinteren Sesseln der letzten Reihe rechts Platz nehmen. Sitzflächen und die hohen Rückenlehnen mit Kopfteil schmiegten sich den Körperkonturen an.

»Nehmt links den Gürtel an der eisernen Lasche und steckt sie rechts in das Gegenstück«, sagte der Erzengel. Maria und Josef folgten der Anweisung. Die zwölf Zentimeter breiten Gurte strafften sich.

Der Engel fuhr fort: »Ergreift die Flasche im Behälter vor der rechten Armlehne.«

Sie packten die 0,5-Liter-Flaschen mit dunkelrotem Inhalt.

Er erläuterte: »Es ist süßer Fruchtsaft. Drückt von unten gegen das vorspringende Teil des Verschlusses.«

Sie drückten. Der Deckel sprang nach hinten.

»Trinkt sie langsam aus und stellt sie dann zurück«, ordnete der Engel an.

Maria und Josef nippten am Getränk. Offensichtlich schmeckte es ihnen. Sie tranken.

Der Erzengel marschierte zur Wendeltreppe und betrat links durch eine rote Tür einen schwach beleuchteten Raum. Der Engel, vielmehr der Erdenmensch-Roboter mit der Kennung EMR-13 ergriff ein von der Decke hängendes Kabel und stöpselte den 2,5 Millimeter dünnen Anschluss ins rechte Ohr. Augenblicklich erstarrte er. Weitere 39 dieser 1,76 Meter messenden Roboter mit angeschlossenen Kabeln warteten auf Befehle des zuständigen Computers. Er checkte die Funktionen, führte bei Bedarf ein Update der Software durch und lud die zwei 13 Zentimeter durchmessenden Akkus im Brustkorb auf.

Maria und Josef hatten in ihrem Schockzustand nicht erkannt, dass sich weder Gesichtsmuskeln, Augen noch Lippen des Engels bewegt hatten. Die realistisch wirkenden Flügel bestanden aus schlagfestem Kunststoff.

Wortlos und ohne sich anzusehen, leerten Maria und Josef die Flaschen. Sie stellten sie in die Getränkehalter.

Eine knappe Viertelstunde später gähnten sie. Die Augenlider flatterten. Das Schlafmittel zeigte Wirkung. Sie lehnten sich nach hinten. Augenblicklich bewegten sich die Rückenlehnen 35 Zentimeter zurück. Fußteile schoben sich hervor.

Die Wendeltreppe führte zu drei weiteren gleichartigen Abteilen mit 2,15 Meter Raumhöhe, sodass die Bordfähre 400 Passagieren Platz bot. Sie stand seit 3:15 Uhr hier.

2

Gegen 18:10 Uhr zogen von Westen helle Wolken auf. Zehn Minuten später saß die Restfamilie Huber in der Küche um den rechteckigen hölzernen Tisch. Sie aß selbst gebackenes Brot, Butter, Käse, Wurst, gekochte Eier, Radieschen und eingelegte Gewürzgurken. Alle Produkte stammten vom Hof.

Der 47-jährige Ludwig musterte seine zwei Jahre jüngere Frau. Sie seufzte, wischte Tränen ab und schnäuzte in ein Taschentuch. »Jetzt jammre nicht rum, Gerda«, knurrte er. »Unser feiner Sohn ist mit unserer besten Magd abgehauen.«

Die Mutter wehklagte. »Der arme Bub! Er hat nichts zu essen und zu trinken dabei, und wo wird er schlafen?«

Der Vater winkte ab. »Du weißt ja, dass er sich in den letzten beiden Wochen aufgeregt hat, weil er den Hof nicht einmal erben wird. Ich wette, er ist mit der Schlampe zu seinem Freund Fritz nach Roth marschiert. Morgen früh fahre ich mit Pferd und Wagen dorthin. Ich prügele ihn nach Hause und Maria schlage ich grün und blau. Vielleicht jage ich das Miststück auch vom Hof.«

Josefs 23-jähriger Bruder Hans, die 17- und 14-jährige Schwestern Anna und Hildegard schauten sich grinsend an.

Die Ehefrau prustete. »Aber Ludwig, das darfst du nicht! Sie war immer sehr fleißig. Wir brauchen sie doch.«

Er wiegte den Kopf hin und her. »Ich überlege es mir.«

22:16 Uhr. Das stete Brummen der Fähre steigerte sich. Lautes Summen und sägende Geräusche gesellten sich hinzu. Der unten mit einem schwarzen Gitter versehene sechs Meter breite Wulst stieß violettes Flimmern aus. Die Bordfähre stieg 300 Meter auf. Sie schwebte nach Allersberg. In der Unterseite im vorderen Drittel öffnete sich eine zwei Meter lange und 45 Zentimeter breite Klappe. Ein Teleskoparm schob das 1,40 Meter lange und 25 Zentimeter durchmessende Strahlgeschütz ins Freie. An der Spitze entfaltete sich ein halbkugelförmiges silbriges Gitter. Es durchmaß 44 Zentimeter. Helles Singen ertönte. Hellgelbes Flimmern füllte die Halbkugel. Die Reichweite der unsichtbaren BF-, der Beeinflussungsstrahlen, betrug in der Atmosphäre maximal 375 Meter.

Systematisch bestrich das schwenkbar BF-Geschütz jeweils sieben Sekunden die 145 Häuser und die fünf Gesindehäuser der Großbauern der Ortschaft. Die Beeinflussung hielt rund drei Stunden an.

Die Fähre landete auf einer Wiese neben der Hauptstraße am westlichen Dorfrand. 36 Roboter schwärmten aus, vier stellten sich an die offene Luke.

EMR-13 eilte zum Wohnhaus der Familie Huber. Aus der Gewandtasche nahm er ein handlanges, rundes graues Gerät. Er betätigte die gelbe Taste. Die integrierte Lampe leuchtete auf. Er drückte den Schlossknacker gegen das Schlüsselloch des primitiven Schlosses. Schnarren. Klacken. Er betrat die Diele. Er ließ die Lampe kreisen. Er stieg die Holztreppe hoch. Sie knarrte. Er trat in das erste Zimmer links. »Aufwachen!«, rief er. Hildegard und Anna fuhren hoch. Sie blinzelten. »Aufstehen!«, befahl EMR-13. Sie krochen aus den getrennten Betten.

»Zieht euch an und schlüpft in die Hausschuhe.«

Die Schwestern gehorchten.

Er wandte sich um. »Folgt mir.« Vorm Haus sagte er: »Geht nach links zum Dorfausgang bis zu dem goldenen Himmelsgefährt. Ihr werdet erwartet.« Die Mädchen trabten los.

Über die im Kopf integrierte Kom-Anlage meldete EMR-13 dem Zentralcomputer der Fähre Anzahl und Geschlecht seiner Beute. Er marschierte zum Gesindehaus. Er betrat den Raum mit den fünf schlafenden Knechten. Er weckte sie. Er fragte jeden: »Wie alt bist du? Wie heißt du?«

Dem 21-jährigen Sepp erteilte er den gleichen Befehl wie den Schwestern. Er registrierte die Anweisung des Computers. Mit Sepp marschierte er zur Fähre. Er führte ihn und drei wartende Mädchen zur vierten Ebene des Passagierabteils. 60 weitere Dorfbewohner saßen bereits in den Sesseln und tranken Fruchtsaft, allerdings mit weniger Schlafmittel, als Maria und Josef aufgenommen hatten.

EMR-13 kehrte vor die Fähre zurück. Neun junge Menschen und vier Roboter trafen ein. Mit EMR-20 brachte er sie ins vierte Abteil. Fünf EMR tauchten mit weiteren acht Entführten auf.

Mit 85 der 906 Einwohner stieg die Fähre 300 Meter hoch. Eine ihrer vier fußballgroßen Sonden hatte in den letzten fünf Tagen das Dorf beobachtet, die erwünschten Bewohner und deren Wohngebäude registriert.

Die Bordfähre schwebte über das elf Kilometer westlich gelegene Städtchen Roth. Das BF-Geschütz bestrich die 315 Häuser mit ihren 2.216 Bewohnern. Sie landete auf dem Marktplatz.

Rund zwei Stunden später startete sie mit 184 jungen Einwohnern. In drei Ortschaften südwestlich von Roth sammelten die EMR 130 Menschen ein.

Um 4:28 Uhr stieg die Fähre in den Nachthimmel. Mit 900 km/h durchstieß sie eine Wolkenbank. Die Wolken leuchteten violett auf. Die Bordfähre beschleunigte. Der Donnerschlag der durchstoßenen Schallmauer rollte über die Landschaft und erschreckte Tier und Menschen.

Rasant erhöhte sie die Geschwindigkeit. Die AA, die Andruckabsorber, stöhnten. Die EHS, die energetischen Hitzeschilde, sangen. In 70 Kilometer Höhe drehte sie nach Südwesten und jagte mit 21.000 km/h ihrem Ziel entgegen.

Fast gleichzeitig strebten in West- und Süddeutschland, Böhmen, Österreich, Norditalien und der Schweiz 15 gestartete Fähren Richtung Mutterschiff. Es schwebte in einem stationären Orbit 385 Kilometer über Augsburg.

Am 12. Mai hatten gegen sechs Uhr die übrigen 18 Bordfähren mit jungen Frauen und Männern aus dem westlichen Russland, Nord- und Westeuropa angedockt.

Die von einem der vier Computer gesteuerte Fähre Nr. 4 mit Maria und Josef näherte sich dem Raumschiff.

Es hatte Anfang Dezember 1810 die Erde erreicht und die 34 eiförmigen Fähren gestartet. Das Raumschiff hatte sich hinter dem Mond verborgen.

Mitte Januar und Anfang Februar 1811 hatte es 350 Kilometer über der Karibik insgesamt 13.600 Entführte aus Nord-, Mittel- und Südamerika an Bord genommen.

In den frühen Morgenstunden des 9. und 30. März hatte es über dem östlichen Mittelmeer jeweils 6.964 junge Bewohner des Osmanischen Reiches, Irans und aus Indien aufgenommen.

Im Februar 1805 hatte ein Forschungsschiff des außerirdischen Volkes, ebenfalls ohne lebende Besatzung, 124 Sonden über der Erde abgesetzt und eine Position hinter dem Mond eingenommen. Die 96 Zentimeter durchmessenden Drohnen hatten fünf Monate Daten gesammelt. Kurz vorm Rückflug hatten Roboter in Mitteleuropa 21 Frauen und 20 Männer zwischen 17 und 20 Jahren entführt.

Die Fähren dockten an. Die aufgewachten Entführten saßen still in den Sesseln. Ein zweites Mittel im Fruchtsaft wirkte ähnlich wie die BF-Strahlen.

EMR-13 führte zehn Willenlose, darunter Maria und Josef, in einen der 115 Passagierräume. In jedem standen 400 sargähnliche Schlafkammern, 2,16 Meter lang, 75 Zentimeter breit und 62 hoch. In den matt silberfarbenen Unterteilen mit abgerundeten Ecken lagen Konturmatratzen auf verstellbaren Liegen mit erhöhtem Kopfteil.

Der Roboter befahl: »Zieht die Schuhe aus, legt euch hinein, streckt die Arme neben dem Körper aus und schließt die Augen.«

Die Entführten gehorchten. Die Roboter kommunizierten mit dem zuständigen Computer. An den vier Ecken befestigte Teleskopstangen senkten die gewölbten Oberteile aus drei Schichten durchsichtigen Materials herab. Die zehn Zentimeter durchmessenden Stangen pressten die Dichtungen in die abgedichteten Aussparungen der Unterteile.

Hauchfeiner Nebel füllte die Schlafkammern.

Die Roboter verließen die Räume. Der Computer schloss die Türen und schaltete die Beleuchtung aus.

An Bord traten 44.800 Erdbewohner – 26.472 weibliche zwischen 15 und 19 und 18.328 männliche zwischen 17 und 22 Jahren – die Reise zum Heimatplaneten der Schiffserbauer an.

Aufgrund der Trägheit seiner enormen Masse nahm das Schiff nur behäbig Fahrt auf. Zwölf Minuten später schaltete ein Computer ein 1.800 Kubikmeter umfassendes Aggregat ein. Es verringerte die Massenträgheit um 75 Prozent. Das Raumschiff steigerte rasant die Geschwindigkeit. Violette Energielanzen stachen sieben Kilometer in die Schwärze des Alls.

Das Raumschiff erreichte 240.000 km/h. Die Energielohen der 22 Normaltriebwerke erloschen. Das Schiff jagte dem Sprungpunkt in den unergründlichen Überraum entgegen.

Eine Stunde und 53 Minuten später verschwand das Sternenschiff schlagartig.

3

Kurz nach sieben Uhr saßen der fluchende Ludwig Huber, die heulende Gerda und ein trauriger Hans am Küchentisch. Spärliches Frühstück. Die Mutter wehklagte. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Unsere Mädchen und der Knecht Sepp sind auch verschwunden.« Sie schaute ihren Mann an. »Glaubst du, sie sind auch nach Roth gelaufen?«

»Bist du verrückt!? Doch nicht mitten in der Nacht! Außerdem, warum sollten sie abhauen?« Er fixierte den Sohn. »Haben deine Schwestern einmal etwas Ähnliches erwähnt? Hast du in der Nacht etwas gehört?«

Kopfschütteln. »Ich habe fest geschlafen. Keine Ahnung, warum sie fortgelaufen sind.«

Die Mutter jammerte: »Warum hat Gott uns so schrecklich bestraft? Wir sind doch jeden Sonntag in die Kirche gegangen und haben keine Todsünden begangen.«

Der Vater sprang auf. »Ich fahr jetzt nach Roth.«

Auf der Hauptstraße und dem Dorfplatz traf Ludwig diskutierende, aufgeregte und fluchende Bewohner. Er erfuhr, dass weitere 25 Familien Kinder, fünf junge Mägde und vier Knechte vermissten.

In Roth stürmte er ins Haus des Großbauern Waldhofer.

Ratlos, niedergeschlagen und schockiert fuhr er 40 Minuten später nach Hause. Der 20-jährige Sohn Karl, die 17-jährige Tochter Adelheid und eine junge Magd waren ebenfalls spurlos verschwunden.

Mitte November der Jahre 1849, 1888 und 1918 tauchte das Raumschiff erneut über der Erde auf. Die EMR erbeuteten in den gleichen Ländern wie 1811 insgesamt 135.878 junge Menschen, davon 60,2 Prozent weibliche. Die Altersgruppen entsprachen denen des erwähnten Jahres.

Höllische und himmlische Bescherungen

1

Im Jahr 2017 besaß Alaska rund 100.000 Gletscher. 650 tragen einen Namen. Bis zum Herbst 2051 ließ die, seit 2013 immer rascher fortgeschrittene, Erderwärmung über 540 der kleineren Gletscher fast vollständig schrumpfen. Etwa 80 Prozent der übrigen Eispanzer verloren zwischen 20 und 60 Prozent ihrer Massen.

Im gleichen Zeitraum sank in den nördlichen Polarregionen die Anzahl der Eisbären um fast zwei Drittel. Weltweit züchteten zoologische Gärten das vom Aussterben bedrohte größte Landraubtier der Erde. Naturschützer hofften, in 20, 30 Jahren zahlreiche Exemplare aussetzen zu können.

Untersuchungen der Klimaforscher zeigten nämlich, dass die Erderwärmung nicht mehr fortschritt und sich in den nördlichen Polarregionen minimal reduziert hatte.

Schweiz. Südabdachung Berner Alpen. Im Jahr 2007 erstreckte sich der Große Aletschgletscher, der größte und längste Gletscher der Alpen, über eine Länge von 22,75 Kilometer. Die Breite betrug rund 1.500 Meter und die Dicke zwischen 900 Meter am Konkordiaplatz und 150 Meter im Süden. Die Eismassen bedeckten, einschließlich Quellgebiet, 81,7 Quadratkilometer.

Von 1978 bis 2018 büßte der Gletscher 1,3 Kilometer Länge ein, das heißt, durchschnittlich rund 32 Meter jährlich, wobei der Rückgang von 2014 bis 2018 50 Meter pro Jahr betrug.

Ab 2021 verstärkte sich das Abschmelzen dramatisch. Bis 2045 verlor er weitere 4,31 Kilometer.

Schweizer Klimatologen prophezeiten, dass der Gigant innerhalb der nächsten 25 Jahren zu kümmerlichen Resten im Norden schmelzen werde – falls sich die Erderwärmung nicht deutlich rückläufig entwickele.

Ab Mai 2016 sperrten die Behörden am südlichen Osthang des Gletschers großflächig die Wanderwege und wenig später die 2015 in Betrieb genommen Gondelbahn der Bergregion Moosfluh. Grund: zahlreiche Gesteinsrutschungen talabwärts Richtung Gletscher. Im Herbst 2016 zeichneten die Messgeräte bis zu 80 Zentimeter pro Tag auf. Sie verlangsamten sich in den Jahren darauf auf 13 Zentimeter.

Der Klimawandel führte auch zum Auftauen des Permafrostes. Von etwa 2000 Höhenmetern aufwärts ist der Felsuntergrund des Gebirges bis zu einigen hundert Metern Dicke gefroren. Wie eine Plombe hält dieses Untergrundeis die Felsmassen zusammen. Und es verhindert - der wichtigste Effekt - das Eindringen von Wasser. Es sei nämlich, sagte ein Professor namens Haeberli, die zerstörerischste Kraft im Gebirge.

Tauen die Frostkerne der Berge auf, wirkt das Wasser gegenteilig. Ist das Eis in den Rissen, Spalten und kapillaren Fugen verflüssigt, fließt Wasser nach und gefriert im Winter auch wieder, das bedeutet, es dehnt sich aus und sprengt mit immenser Gewalt den benötigten Raum.

Die Klimaforscher ermittelten eine kontinuierliche Erhöhung der Temperatur im Permafrost der Alpen. Steigt sie über minus 1,5 Grad, schwindet die Stabilisierung des Gesteins.

Die instabile Bergflanke Moosfluh rutscht kontinuierlich ab, eine, nicht nur im Schweizer Gebirge, allgegenwärtige Gefahr. Die Rutschung erstreckt sich über eine Fläche von ungefähr zwei Quadratkilometer.

31. Juli 2046, ein Dienstag. Der nur noch 17 Kilometer lange und maximal 1.000 Meter breite Große Aletschgletscher bot einen bedauernswerten Anblick. Bis zu diesem Tag hatte er durchschnittlich 35 Prozent seiner Stärke eingebüßt. Im Süden betrug die Dicke bescheidene 70 Meter. Furchen, ausgedehnte Klüfte und tiefe Spalten zerrissen die Oberfläche.

Die Regenfälle der drei vergangenen Tage verstärkten das Schmelzwasser im und auf dem Gletscher.

13:19 Uhr. Sonnig. 15 Grad.

Ohrenbetäubendes Grollen, Donnern und Poltern breiteten sich von der Bergflanke Moosfluh aus. Alpendohlen und andere Vögel strichen ab. Ein paar Murmeltiere huschten in ihre Baue. Gigantische Staubwolken verfinsterten die Sonne.

Nach dem Rückzug des Gletschers fehlte das Gewicht, das auf den Hang eingewirkt hatte. Oberhalb der Gletscherzunge entstanden bis zu 450 Meter lange und 25 Meter breite Spalten im kristallinen Fels aus Gneisen und Graniten.

Jetzt rutschte der Untergrund bis zu einer Tiefe von 100 bis 150 Meter talwärts.

Rund 85 Millionen Kubikmeter Felsgestein türmte sich zu einem über 2.000 Meter langen und durchschnittlich 440 Meter breiten Hügel zwischen 80 und 100 Meter hoch auf.

Tags darauf gaben die Behörden bekannt, dass ein Hotel in Riederalp zwei deutsche Touristen aus München vermisse. Die Polizei erfuhr von einem Hotelgast, dass der 31- und 34-jährige Mann, trotz Verbot, zur Bergstation der Gondelbahn aufsteigen wollten.

Weitere Opfer forderte der Bergrutsch keine.

Immer mehr Wintersportorte in den Alpen kämpften vergebens ums Überleben. Tausende Menschen verloren ihre Arbeit.

Auch der Sommertourismus entwickelte sich rückläufig. Die Behörden sperrten zahlreiche Wanderwege.

Jährlich stieg die Anzahl der abgehenden Muren. Im Jahr 2045 starben 98 Menschen durch Hangrutschungen und Bergstürze.

2

Samstag, 11. August 2046. Deutschland. Gipfel der Zugspitze. 14:35 Uhr. Wolkenlos. 7,8 Grad.

Die 40-jährige Emma Moser verließ mit dem gleichaltrigen Ehemann Carolus und ihrem gemeinsamen 13-jährigen Sohn Marko eine der beiden Kabinen der Eibsee-Seilbahn. Die vor neun Jahren generalüberholte Bergstation aus Stahl und Glas auf 2.950 Meter Höhe kragt bis 25 Meter über die Nordflanke des Berges.

Die etwas füllige Frau stülpte einen Strohhut aufs kurze dunkelrote Haar. Der Mann trug eine dunkelblaue und der Knabe eine knallrote Baseballkappe. Sie schlüpften in knielange Jacken. »Saukalt hier!«, rief der Junge.

»Ja«, stimmte die Mutter zu. »Gegenüber den 24 Grad an der Talstation ein gewaltiger Temperatursturz und das innerhalb von nur 2.000 Meter.« Sie sah sich um. »Höllenbetrieb«, stellte sie fest. »Zunächst trinken wir schön Kaffee und essen Kuchen und dann ...«

»Ich will keinen blöden Kuchen«, protestierte Marko.

»Ja, ja, reg dich ab! Du bekommst ja deinen geliebten Hamburger.«

»Und eine Cola!«

Die Mutter verdrehte die Augen. Der Vater grinste.

Sie schlenderten zum rundum verglasten Gipfelrestaurant Panorama 2962 mit seinen 450 Innen- und 850 Außenplätzen. Emma sah den 1,82 Meter messenden Ehemann an. »Zum Glück hast du vorgestern die Plätze reserviert.«

Er lächelte und küsste die 14 Zentimeter kleinere Ehefrau auf die Spitze der etwas zu großen Nase.

»Hört doch auf, vor allen Leuten zu knutschen«, kritisierte der Sohn. »Das ist ja megapeinlich.«

Die Eltern lachten und – küssten sich liebevoll auf den Mund. Marko kicherte.

»Nachher machen wir einen Rundgang und genießen die Aussicht«, sagte die Mutter.

»Schade, dass kein Eis mehr hier ist«, beschwerte sich der Sohn.

Der Vater nickte. »Daran ist der Scheißklimawandel schuld. Vor 13 Jahren verschwand der Südliche Schneeferner komplett. Die kümmerlichen Reste des Höllental- und Schneeferners schmolzen vor sieben Jahren. Bisher schrumpften die Gletscher in den Alpen rund 60 Prozent. Falls das so weitergeht, ist bald mit der Schifffahrt auf Flüssen und der Wasserversorgung einiger Regionen Feierabend.«

Im Restaurant führte eine attraktive Kellnerin die Familie Moser zu einem schmalen Tisch mit drei Barhockern direkt vor einer der Fensterfronten. »Wow!«, stieß Marko hervor. »Ein echt geiler Ausblick!«

Die Bedienung verteilte Speisekarten. Marko äußerte sofort seine Wünsche. Mutter und Vater bestellten jeweils ein Kännchen Kaffee, ein Stück Käsekuchen mit Aprikosen und ein Stück Kirschstreusel mit Schlagsahne.

Emma sah sich um. »Fast voll«, kommentierte sie, »und draußen hocken auch zahlreiche Leute.«

»In den anderen Lokalitäten sieht es garantiert genauso aus«, meinte Carolus.

»Trotz der Horrorpreise«, warf die Ehefrau ein.

Die Kellnerin brachte Speisen und Getränke.

Emma schenkte sich Kaffee ein. Milch und/oder Zucker nahm sie nie – im Gegensatz zum Ehemann. Mit der Kuchengabel trennte sie ein Stückchen Käsekuchen ab und schob es in den Mund. Sie kaute. Sie schluckte. Sie lächelte. »Köstlich«, lobte sie. »Meine Backkünste sind eher berüchtigt als berühmt.«

»Genau, Liebes«, unterstrich der Ehemann.

Emma griff zur Tasse. Sie runzelte die Stirn. Die Oberfläche des Kaffees zitterte, als fahre ein Lkw am Tisch vorbei. Sie sah hoch. Überhaupt – das Lokal zitterte ebenfalls.

»Ein Erdbeben!«, rief der Sohn. »Endlich mal was los!«

»Red doch keinen Quatsch, Marko«, rügte die Mutter. »Ich hab noch nie von einem Erdbeben auf der Zugspitze gehört.« Sie fixierte den Ehemann. »Was meinst du?«

Abwinken. »Es handelt sich vermutlich um einen der Vorfälle, die sich vor vier Tagen und vorgestern hier oben abgespielt haben. Es hat ja vorher fast vier Tage ausgiebig geregnet. Damals polterten am West- und Osthang ungefähr 160 Meter unterhalb des Gipfels etwa 250 Tonnen Gestein nach unten. Nichts Bedrohliches erklärten die Fachleute, komme ab und zu vor.«

Die Ehefrau seufzte. »Hoffentlich beruhigt sich der Berg bald, sonst will ich sofort runter.«

Das Zittern verwandelte sich in Beben. Geschirr und Gläser klirrten. Die 424 Gäste starrten sich an.

Schabende, knirschende, kratzende Geräusche ließen ein paar Besucher aufspringen. Das Glas der Panoramafenster schwang.

Weitere Leute sprangen auf.

Der Raum bewegte sich. Verstärktes Beben. Das Lokal glitt zeitlupenhaft Richtung Süden.

Rufe, Fragen und Flüche flogen hin und her. Einige Fenster rissen aus den Verankerungen. Wie durch Zauberhand zackten Risse in Decke und Wänden.

Vier Bergsteiger aus Kempten marschierten auf dem Jubiläumsgrat von Osten Richtung Gipfelkreuz. Etwa 120 Meter davor stoppten sie abrupt. Rund vier Meter vor ihnen klaffte eine mindestens fünf Meter breite Spalte im Felsboden. »Scheiße!«, rief der 42-jährige Karsten Pauler. »Wo kommt die denn her? Wie sollen wir jetzt da rüberkommen?«

Sie näherten sich auf unter zwei Meter der Spalte. Unirdisches Rumoren drang aus der Tiefe. Zahlreiche Felsbrocken rauschten in den Abgrund. Die Wanderer musterten den Rand gegenüber. Sie rissen die Augen auf. Sie stöhnten. Karsten deutete mit der linken Hand nach vorne. Sie zitterte. »Seht ihr das?«, krächzte er.

Sie sahen es.

Im Restaurant Panorama 2962 fluchten Männer. Frauen schrien. Kinder weinten.

Dramatisch ansteigende Geräuschkulisse. Poltern. Krachen. Rumpeln. Carolus packte Frau und Kind an einer Hand. »Raus hier!«, rief er. Alle stürzten zu den Ausgängen. Mehrere Kinder und ältere Personen fielen zu Boden.

Die Flüchtenden stauten sich an den Türen. »Die Scheißtür geht nicht auf!«, brüllte ein stämmiger Mann ein paar Meter vor der Familie Moser. »Sie hat sich verklemmt!«

Die noch vorhandenen Fenster platzten. Infernalisches Dröhnen, Donnern, Krachen erstickten das Kreischen der Menschen. Einige Gäste kletterten aus den fensterlosen Wandöffnungen.

Eine, auf dem Boden liegende, ältere Frau rief: »Hilfe! Helft mir doch! Mein Bein … mein Bein ist gebrochen!« Erbarmungswürdiges Wehklagen.

Ein korpulenter Mann fiel mit dem Oberkörper auf ihr Gesicht. Das Wehklagen verwandelte sich in ersticktes Gurgeln.

Übergangslos wippte der Raum und – und neigte sich in südliche Richtung. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte Carolus auf einen Tisch. Er, die übrigen Tische und Stühle rutschten zur Südwand. Die Barhocker fielen um. Verzweifelt ruderten die Gäste mit den Armen. Umsonst. Schreiende und zappelnde Menschen stauten sich mit dem beweglichen Mobiliar an der Wand.

Die Nordwand schnellte hoch und brach mit der Ostwand auseinander.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Emma ihren Ehemann grauenhaft schreien. Zum letzten Mal in ihrem Leben hörte Emma ihren Sohn kläglich »Mama« rufen. Sie schrie und schrie und schrie.

Die Spalte vor den vier Bergsteigern klaffte auf der Nordseite des Gipfels 70 Meter unterhalb der Gebäude. Sie lief nach Westen bis unter den Bahnhof der Tiroler Zugspitzbahn, schwenkte nach Südosten, lief schräg bis 130 Meter unterhalb der Wetterstation und danach leicht nordöstlich unter der Bergstation der Gletscherbahn vorbei.

Der Riss durchzog komplett die Gipfelregion. Diese glitt wie ein Schrägaufzug nach Süden. Die auseinanderbrechenden Felsmassen, teilweise vom Umfang eines Hauses, donnerten in die Tiefe, mit ihnen das Panorama 2962 und sämtliche Gebäude.

Mit peitschendem Knallen rissen Trag- und Zugseile der Eibsee-Seilbahn. Die beiden Kabinen zerschellten unterhalb und oberhalb der 127 Meter hohen Stütze am Boden. Keiner der 221 Insassen überlebte.

Die entsetzliche Katastrophe forderte in- und außerhalb der Gipfelgebäude 1.487 Opfer.

Nachdem die Bergsteiger registriert hatten, dass sich die Felsmassen jenseits der Spalte nach Süden bewegten, eilten sie fluchtartig zurück.

Das Wasser, der, von Carolus erwähnten, außergewöhnlich ergiebigen Regenfälle war in die Spalten, Risse und kapillaren Fugen eingedrungen und hatte Geröll und Sand ausgewaschen.

In den vergangenen 16 Jahren hatte sich das kittende Eis des Permafrostes immer tiefer in den Kern der Gipfelregion zurückgezogen. Nur noch vereinzelt klebte es die Felsmassen zusammen. Wasser ersetzte es, gefror in den Wintern und sprengte sich unerbittlich den benötigten Raum. In den Sommermonaten taute das Eis und ließ erweiterte Hohlräume zurück.

Im Frühherbst des Jahres 2027 hatte sich in den Hohen Tauern in Österreich eine ähnliche Katastrophe ereignet, allerdings mit weitaus weniger Opfern.

Ich schildere sie im Vorgänger-Roman Ich. Und mein Schutzengel.

3

Sonntag, 2. September 2046. USA. Bundesstaat Louisiana. New Orleans. 8:25 Uhr. Stürmisch mit heftigen Böen. Regen. 26 Grad.

Leonard Cohen, der 45-jährige stellvertretende Leiter des New Orleans Fire Department, des NOFD, frühstückte mit der drei Jahre jüngeren Ehefrau und dem 14-jährigen Sohn Leonardo.

Der Ehemann sah der etwas übergewichtigen Camilla ins Hellbraun der Augen. »Der Hurrikan Leander steht zurzeit etwa 560 Kilometer südöstlich von uns. Sein Durchmesser beträgt fast 580 Kilometer. Er besitzt die Stufe 5 und zieht leicht nordostwärts. Morgen wird er gegen Mittag westlich von Panama City auf die Küste Floridas treffen. Vor vier Tagen brachen von hier fünf Rettungsfahrzeuge und etliche Busse in die gefährdete Region auf. Die Behörden dort lassen die Einwohner evakuieren.«

»Wow!«, stieß Leonardo hervor. »Wird der Scheißsturm auch uns treffen?«

»Nein. Hier besteht keine Gefahr – behaupten jedenfalls die Wetterfrösche. Nur die Ausläufer werden uns streifen. Es wird heftig stürmen und kräftig regnen.«

»Gott sei‘s gedankt!«, kommentierte Camilla. »Da kommen wir nochmal mit einem blauen Auge davon. Jedes Jahr müssen wir in der Hurrikansaison vor Angst bibbern.« Sie fixiert den Ehemann. »Wir sollten unbedingt das Haus verkaufen und in eine ruhige Gegend ziehen.«

Leonard seufzte. »Ich stimme dir zu. Im nächsten März kümmern wir uns darum.

In der Mittagszeit tobten nördlich der Hauptstadt Baton Rouge heftige Gewitter. Stundenlang prasselte Starkregen.

Kurz nach 15:30 Uhr saß Leonard im Family-Room mit einer Flasche Miller Lager vorm Riesenfernseher. Das Footballspiel der New Orleans Saints gegen die New York Jets flimmerte über den Bildschirm. Camilla telefonierte im Nebenraum mit einer Freundin. Der Sohn hockte in seinem Zimmer vorm Laptop.

Der Sportfan riss die Augen auf. Das Fernsehbild verzog sich auf zwölf Zoll in die rechte obere Ecke. Der dunkelhäutige Moderator erschien. Er sah von einem Blatt Papier hoch und sagte: »Wir unterbrechen die Übertragung ...«

Leonard lauschte. Leonard fluchte. Leonard eilte in den Nachbarraum. Die Ehefrau telefonierte noch.

Er wedelte mit den Armen und schnitt Grimassen.

Sie runzelte die Stirn. Sie beendete das Gespräch. Sie sah ihm in die dunkelblauen Augen. »Was ist los, Liebling? Gibt es Horrornachrichten?«

»Genau, Baby.«

Camilla riss die Augen auf. »Vom Hurrikan?«

»Genau, Baby.«

Sie schluckte. Sie schlug eine Hand vor den Mund. »Hat er seine Richtung geändert?«, flüsterte sie.

»Leider ja. Er zielt ... er zielt jetzt aufs Mississippi-Delta!«

Sie schüttelte das schulterlange dunkelbraune Lockenhaar. »Allmächtiger!«, stieß sie hervor. »Wann wird uns der Rand treffen?«

»In ungefähr fünf Stunden, und zwar mit Windgeschwindigkeiten von etwa 200 km/h. Später sollen sie deutlich mehr erreichen. Du schnappst dir jetzt unseren Notfallplan und beginnst mit Leonardo zu packen. Wir üben das ja jedes Jahr vor der Hurrikansaison. Du fährst zu meinem Bruder nach Texas City. Ich rufe ihn gleich an. Vor drei Jahren flüchtete er vor einem Hurrikan zu uns und blieb fünf Tage.«

Sie riss die Augen auf. »Und du? Kommst du nicht mit?«

Seufzen. »Muss leider arbeiten, Baby. Gleich wird mein Chef anrufen und ...« Sein Smartphone in der rechten Brusttasche des roten Hemdes zwitscherte. Er verdrehte die Augen. »Das ist er schon.« Er zückte das Gerät. Er meldete sich. Er strich durchs schwarze Kurzhaar. Er kratzte im Drei-Tage-Bart am markanten Kinn.

Camilla eilte ins Zimmer des Sohnes. Sie klärte ihn auf. Er verdrehte die Augen. »Verdammte Scheiße! Ich hasse die Packerei«, knurrte er. Die Mutter drohte mit einem Zeigefinger. »Sorry! Ist mir so rausgerutscht.« Sie strich ihm durchs Stoppelhaar. Sie verließ den Raum.

Im Schlafzimmer traf sie den Ehemann. Er verstaute Kleidung in einer Reisetasche. Er schaute sie an. »Um 17 Uhr muss ich in der Zentrale antanzen. Aufgrund der kurzen Zeitspanne kann man nur ein paar Tausend Einwohner evakuieren. Wir werden ungefähr 50.000 Bewohner im Superdome und 30.000 im Convention Center und in anderen sicheren Gebäuden unterbringen. Der Rest muss mit Privatfahrzeugen die Stadt verlassen.«

Sie seufzte. »O weh, da wird das absolute Chaos ausbrechen.«

»Ja, Baby, fahr du auf dem Highway 90 bis New Iberia und von dort auf der 14 bis zur I 10 in Lake Charles. Auf dieser Strecke dürfte sich der Verkehr in Grenzen halten. Die meisten Leute werden ins Inland flüchten.«

Nicken. »Nimmst du etwas zum Essen und Trinken mit?«

»Ich mache für mich zwei und für euch vier Sandwiches und nehme drei Bananen und zwei Äpfel mit. Wasser und Lebensmittel gibt es ausreichend bei uns. Nimm du den Rest Obst und vier Liter Mineralwasser mit. In sicherer Entfernung von hier, also mindestens 300 Kilometer, könnt ihr ja in einem Restaurant essen.«

Nicken. »Machen wir.« Sie begann, drei Koffer, zwei Reisetaschen und einen Rucksack zu packen.

Tränenreicher Abschied gegen 16:40 Uhr. Leonard bestieg den Ford Kombi BZ der Ehefrau, sie mit dem Sohn den Jeep Grand Cherokee BZ, wobei BZ Brennstoffzelle bedeutet.

Erst um 17:20 Uhr traf Leonard Cohen in der Zentrale der Feuerwehr ein. In der dritten Etage standen zwei dieselbetriebene Stromaggregate und lagerte Treibstoff für 20 Tage.

Der Krisenstab der Stadtverwaltung hatte die stadtauswärts führenden Schnellstraßen zu Einbahnstraßen erklärt.

Bei Stadtgründung bebauten die französischen Siedler ein kleines, etwas höher gelegenes Stück Land, das heutige French Quarter. Das Gebiet in und um New Orleans entstand vor 2500 Jahren aus vom Fluss angeschwemmten Sedimenten. Seitdem die Franzosen und anschließend das United States Army Corps of Engineers den Mississippi eingedeicht hatten, sank und sinkt das Gebiet von New Orleans um etwa 8 mm pro Jahr. 70 Prozent der Stadtfläche liegen bis zu 1,60 Meter und das Umland zu 20 Prozent unterhalb des Meeresspiegels. Bedingt durch den Klimawandel stieg dieser seit 2026 um 35 Zentimeter an.

Im Norden schützen sechs bis sieben Meter hohe und im Süden zehn Meter hohe Deiche die Stadt, jeweils einen Meter höher als vor 23 Jahren. 27 Pumpstationen und ein Dränagesystem von mehreren hundert Kilometern Länge sorgen bei starken Regenfällen für die Entwässerung.

Hurrikan Leander traf kurz vor 21 Uhr auf die Küste, rund 100 Kilometer südöstlich der Stadt. Die erheblichen Gegensätze seiner Höhenströmung bewirkten durch den rapiden Druckabfall eine massive Verstärkung. Der Kerndruck betrug 878 Hektopascal, das heißt, der bisher niedrigste gemessene Luftdruck eines atlantischen Wirbelsturms. Die Sturmböen fegten mit 270 bis 330 km/h übers flache Land. Sie drückten die Wellenberge des Meeres in die Flussarme des Deltas, türmten die Wasser des Mississippi rund neun Meter hoch auf und schoben sie Richtung Stadt. Wolkenbrüche stürzten vom Himmel.

Verfolgt von starken Böen und heftigem Regen füllte Camilla Cohen gegen 22:20 Uhr an einer Tankstelle an der I 10 nahe des Städtchens Orange, etwa 65 Kilometer westlich der Stadt Lake Charles, Wasserstoff auf. Anschließend eilten Mutter und Sohn in die angeschlossene Raststätte.

Ab Mitternacht tobte Leander über New Orleans. Dort trafen die flussaufwärts drängenden Wassermassen auf den – durch die Gewitterregen nördlich der Hauptstadt – deutlich angeschwollenen Mississippi. Sieben Deichbrüche, ein paar einstürzende Wände dreier Kanäle, durch Stromausfall versagende Pumpen – in Verbindung mit überschwemmten Stromaggregaten – und das in die Stadt strömende Wasser des nördlich gelegenen Lake Pontchartrain läuteten die größte Katastrophe ein, die New Orleans jemals heimgesucht hatte.

Um 23:45 Uhr leiteten Ingenieure des Kernkraftwerks Waterford innerhalb des Chemiekomplexes Dow Chemical St. Charles Operations in Killona – 35 Kilometer westlich – die Notabschaltung ein.

Zwischen 5:13 und 6:41 Uhr stürzten alle Brücken über den Lake Pontchartrain ein, auch die Zwillingsbrücke der Interstate 10 nach Slidell im Nordosten.

Im sturmgepeitschten See versanken 63 Pkw, 49 Lkw und 22 Busse. Keiner der 912 Insassen überlebte.

Die beiden Flussbrücken des Highway 90 in der Stadt erlitten schwere Schäden.

In der Mittagszeit lag der Großteil des Stadtgebietes fast elf Meter unter Wasser. Zum Vergleich: Der Hurrikan Katrina Ende August 2005 setzte die Stadt 7,60 Meter und der Hurrikan Laura Anfang September 2033 8,90 Meter tief unter Wasser.

Die 2034 neu erbaute Feuerwehrzentrale lag wohlweislich am südwestlichen Rand des French Quarter, das heißt rund zwei Meter über dem Meeresniveau. Das dreistöckige Gebäude ruhte auf einem 4,30 Meter hohen Betonsockel. Im 3,20 Meter hohen Erdgeschoss lagen nur die Büros der Verwaltung.

Die Architekten hatten versichert, dass die Wände, Decken, das nach Osten und Westen leicht geneigte Dach aus wasserdichtem Sperrbeton, die beiden Stahltüren und die 1,20 Meter hohen, nur 60 Zentimeter breiten, zweifach verglasten Fenster des Gebäudes Orkanböen bis 320 km/h standhalten werden. Die Fachleute behielten recht.

Leonard Cohen saß mit seinem Chef, drei Kollegen und einer Kollegin in einem Büro der ersten Etage. In drei anderen Räumen hockten weitere zwölf Männer und eine Frau.

Der 58-jährige Bürgermeister residierte mit dem elfköpfigen Krisenstab im Sitzungszimmer. In einem Lagerraum stapelten sich Nahrungsmittel und Wasser für mindestens eine Woche. Fünf aufgepumpte Schlauchboote mit Außenbormotoren warteten in einem Raum an der westlichen Außenwand auf Einsätze. Durch eine zwei Meter breite und gleichhohe stählerne Schiebetür konnten sie abgeseilt werden. Zwei kleine Tanks sicherten die Versorgung mit Treibstoff.

Dank eines der Stromaggregate in der letzten Etage funktionierten Beleuchtung, Computer, Funk- und Telefonanlage tadellos. Das zweite Aggregat diente nur als Ersatz. Hilferufe trafen allerdings keine ein. Ohne Strom in Stadt und Umland versagten auch die Masten der Mobilfunknetze.

Im Erdgeschoß schwappte 1,90 Meter hoch nach Öl und Fäkalien stinkendes Wasser. Gegen 10:15 Uhr hatte Leander ein 2,50 Meter langes, 35 Zentimeter breites und sechs Zentimeter starkes Hartholzbrett durch eines der Fenster gejagt.

Um 14:38 Uhr sank die Westseite des Feuerwehrgebäudes zeitlupenhaft in den aufgeweichten Boden ein. Ursache? Rund fünf Meter eines – unter dem Bürgersteig zwischen Gebäude und naher Straße – geplatzten Dränagerohres. Unerbittlich schwemmte das Wasser Erdreich fort. Mindestens 25 Meter Gehweg sackten in das sich immer weiter ausdehnende Riesenloch.

Die Schwerkraft ließ das Gebäude immer schräger und tiefer absacken. In den Büros brachen Chaos und Panik aus. Alle Möbel, außer den an den Wänden befestigen Schränken, rutschten zögerlich gegen die Westwände.

»Wir müssen hier raus!«, brüllte Walter Vinton, Leonards korpulenter 50-jähriger Chef. »Macht die Schlauchboote klar!« Fluchend schlüpften Frauen und Männer in die wasserdichten roten Einsatzjacken, setzten die Helme auf und zogen die Stulpenhandschuhe an. Mit den Armen wedelnd schlitterten sie in besagten Raum.

Ein Ruck lief durchs Gebäude. Die Neigung verstärkte sich. Die Schlauchboote stauten sich vor der Westwand. Je zwei Taue sicherten sie an Eisenringen rechts der Stahltür. Leonard zerrte mit seinem Chef und einem Kollegen das Boot vor der Tür weg.

Erneut sackte das Gebäude tiefer und schräger. Vier Männer schoben das Boot links der Tür von der Wand und hielten es fest. Vinton schlug auf die Öffnungstaste der Tür. Schnurrend begann der Elektromotor, die Schiebetür zu öffnen.

Knallen, Schaben und Poltern aus der letzten Etage ließen alle zusammenzucken. Sie starrten sich an. Der Chef öffnete den Mund. Die Beleuchtung erlosch. Die Tür stoppte auf halber Strecke. Leander fegte mit Regen in den Raum.

»Gottverdammte Scheiße!«, brüllte Leonard. »Das Stromaggregat ist aus der Verankerung gerissen. Die Kabel sind abgerissen. Wir müssen die Boote hochkant hinausschieben.« Alle fluchten gotteslästerlich.

Das Gebäude knisterte. Das Gebäude bewegte sich. Das Gebäude knackte. Ein Fenster der Südwand platzte. Leonard, sein Chef und der Kollege stemmten das Boot an einer Seite hoch. Es wankte. Die 32-jährige Miriam Powers sprang hinzu. Sie streckte einen Arm nach der umlaufenden Leine aus. Auf dem nassen Fußboden rutschte sie weg. Das Gebäude ruckte schräger. Mit einem gellenden Schrei stürzte Miriam durch die Türöffnung ins Leere. Stumm starrten alle hinterher.

Sekunden später schrien sie auf. Das zweite Fenster platzte. Begleitet von ohrenbetäubendem Lärm kippte das Gebäude behäbig um. Es fiel nicht tief. Es klatschte in das inzwischen auf 9,40 Meter angestiegene Wasser über der Straße. Die Feuerwehrzentrale neigte sich zwei Meter nach Südwesten. Vehement schoss die stinkende Brühe durch Tür und Fenster in den Raum. Taue, Schlauchboote und brüllende Menschen wirbelten durcheinander.

Das Glück wählte Leonard Cohen. Mit einem drei Meter langen Seil in der linken Hand schwemmte ihn das Wasser zur 50 Zentimeter aufklaffenden Eingangstür. Vom Flur floss nur wenig Wasser in den Raum. Leonard schwang sich hinaus. Er warf sich auf die Knie. Er versuchte, die Tür weiter aufzudrücken. Vergebens. Gnadenlos drückte das steigende Wasser die Tür zu. Fluchend erhob er sich. Er schaute nach links und hoch. »Gott sei Dank!«, murmelte er.

Die zum Flur hin zu öffnende Tür des Lebensmittellagers hing herab. Auf der Wand gegenüber, jetzt der Fußboden, lagen ein paar Pappkartons. Im Flur stieg das Wasser. Der 1,92 Meter messende Leonard schlang das Seil um den Bauch, sprang an der Längsseite der Türöffnung hoch, klammerte sich fest und zog sich in den Lagerraum. Durch Risse im Beton tropfte Wasser. Er klopfte die Jackentaschen ab. »Eine Banane und einen Apfel habe ich noch.« Er riss Pappkartons auf. Er stopfte fünf Flaschen Wasser, die gleiche Anzahl Bananen und Äpfel in die Taschen. Unter dem einzigen Fenster schlug er den Jackenkragen hoch, schloss den Reißverschluss und krabbelte auf umgestürzte Metallregale. Der Fensterrahmen hing nach außen. Regen prasselte durch die Öffnung. Der Hurrikan Leander heulte.

Leonard kroch ins Freie. Leander prügelte mit Orkanböen und Regen auf ihn ein. Leander versuchte, ihn ins aufgewühlte Wasser zu wehen. Auf dem Bauch liegend sah sich der Überlebende um. »Erneut schlug sich die Glücksgöttin auf meine Seite«, murmelte er. Ungefähr vier Meter rechts von ihm ragte ein mindestens drei Meter langes und knapp zwei Meter hohes Stück der Betonwand schräg auf. Auf Händen und Knien kroch er hin, stets von Leander durchgeschüttelt. Aufatmend dreht er sich um, stemmte die Füße in einen der Risse der Wand und presste den Rücken gegen das Betonteil.

»Geschafft!«, knurrte er. »Bietet mir zwar nur spärlichen Windschutz, aber besser als gar nichts.« Er seufzte. »Meine armen Kameraden«, flüsterte er. »Alle jämmerlich ersoffen.« Er weinte. Leander wehte die Tränen weg.

Er drehte den Kopf ganz nach rechts. Er nickte. Er löste das Seil. Er knotete es über der Hüfte fest. Er beugte sich nach rechts. Er schlang das andere Seilende zweimal um aus dem Beton ragende Armierungseisen. Er verknotete es.

Aus einer Jackentasche nahm er eine Flasche Wasser. Er trank drei Schlucke. Er verschloss sie und steckte sie zurück. »Muss sparsam damit umgehen, auch mit dem Obst. Wer weiß, wie lange ich hier hocken muss. Vielleicht kann ich bei Bedarf Nachschub holen. Zum Glück sind Camilla und Leonardo in Sicherheit.« Er schluchzte.