Goldfäden zwischen Himmel und Erde - Silke-Andrea Mallmann - E-Book

Goldfäden zwischen Himmel und Erde E-Book

Silke-Andrea Mallmann

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Beschreibung

Schwester Silke Mallmann ist Ordensfrau an der Seite der Hilflosen: Zu den Menschen, für die sie da ist, gehören Prostituierte, Flüchtlinge, HIV-Kranke. Eine Krebsdiagnose macht aus der Seelsorgerin für Menschen am Rand selbst jemanden, dessen Existenz am Abgrund steht. Gut gemeinte Ratschläge und billige Vertröstungen helfen da nicht, auch kein naives Gottvertrauen. Doch in der Erschütterung erfährt Schwester Silke, dass Gottes Gegenwart nicht nur an glücklichen Tagen zu spüren ist. Ihr Bericht ist ein berührendes Buch, das uns am ehrlichen, glaubwürdigen Ringen einer Ordensfrau mit ihrem Gott teilhaben lässt. "Ich habe mein Leben nicht in der Hand. Ich nicht – aber jemand, der mein Leben einspannt mit goldenen Fäden wie eine Raupe im Kokon. Ich bin nicht mehr dieselbe wie vor der Krankheit. Dafür lebe ich dankbarer, bewusster, intensiver. Ich versuche nicht zu sehr zu planen, sondern jeden Moment bis zum Brunnenpunkt zu durchleben, an dem alles aus Gott herausströmt. Und ich bemühe mich, den Goldfäden zu vertrauen, die immer wieder in mein Leben hineingewoben werden und die Fadenkreuze bilden, die mir ermöglichen, das letzte Ziel nicht aus den Augen zu verlieren."

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Silke-Andrea Mallmann

Goldfäden zwischen

Himmel und Erde

Glauben in dunklen Stunden

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: ©rawpixel.com/freepik.com

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-451-38811-8

ISBN E-Book 978-3-451-81968-1

Für meine Mutter

Inhalt

Vorwort: Auf der Suche nach einer neuen Sprache

Erschütterung

»Dafür werden Sie sich Zeit nehmen müssen«

Ruhe vor dem Sturm

»Ich werde dir einen Engel schicken«

Wer nicht in die Weite schwimmen kann, der lernt, in die Tiefe zu schwimmen

Fremdsprachenunterricht

»Also«

Seelengespräche

Warum nicht ich?

I will survive

Karawanken

»Es gibt ja auch noch Wunder«

Alles ist relativ

»De änne säht esuu, un de angere säht esuu«

Kölsches Jrundjesetz

Ihre Probleme möchten wir haben

Zu sich selbst kommen

»Gifterfahrungen«

Hochleistungssport

Das große Umstyling

Schneeglöckchen

Kartoffelchips mit Hilde Domin

Unter Wasser atmen

Sakrament

Karwoche

Lametta-Engel

Hoffnungsvogel

Auf null operiert

Grenzerlebnis

Geplatzt

Verwundet

Wofür?

Dafür!

Erdbeerzeit

Bodenlos

»Sie dürfen auch einmal weinen!«

Patientia – Von der Kunst, Patient zu sein

Wer im August Sandalen kauft

Grenze

Ahnung von der Fülle

Bruder Tod

Achterbahn

»Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben«

Partnerschaft

Evita

Dank

Über die Autorin

Vorwort: Auf der Suche nach einer neuen Sprache

»Schreiben Sie es auf, bitte, schreiben Sie es auf für uns«, bat mich die Psychologin, die ich – mehr oder weniger zwangsläufig – in der onkologischen Reha zugewiesen bekommen hatte. »Wir Psychologen brauchen so etwas.« Ich bin doch nicht hier, um die Psychologen zu schulen, dachte ich mir. Gleichzeitig merkte ich, dass es ihr ernst war. Es braucht scheinbar eine andere, erweiterte Sicht – auch für die Psychoonkologen.

»Schreib es auf«, sagte mir mein geistlicher Begleiter, »nur für dich und vielleicht ein paar andere Menschen, nichts Großes.« Ich weiß, dass es gut wäre, dachte ich, aber ich weiß nicht, ob ich die Kraft und den Mut habe. Aufschreiben heißt hinsehen – genau hinsehen.

»Schreib es auf«, lud mich meine Journalistenfreundin ein, die selbst betroffen ist. »Es hilft anderen.« Es gibt Hunderte Bücher von Krebsüberlebenden, dachte ich mir. Die Welt braucht nicht noch eines. Während meiner Krankheit konnte ich keines dieser Bücher lesen, die mir wohlmeinende Menschen zukommen ließen. Es war mir viel zu anstrengend, sie stießen mich ab. Es reicht doch wahrhaftig die eigene Erkrankung, der eigene Weg, dachte ich. Aber kleine Texte, kurze Artikel, das ging. Ehrlich gesagt verschlang ich sie auf der Suche nach einem aufmunternden, Mut machenden Wort. Aber ein ganzes Buch zu lesen war unmöglich.

»Führen Sie ein Tagebuch«, so hieß es in der Handreichung der onkologischen Abteilung, die ich vor der Chemotherapie überreicht bekam. »Und bewegen Sie sich, auch wenn Sie müde sind. Gehen Sie mit Ihrem Hund spazieren.« Ich kaufte mir ein neues Tagebuch, den Kauf eines Hundes wussten meine Mitschwestern zu verhindern. Das Tagebuch blieb bis auf zwei Einträge leer.

Die Hochs und Tiefs meiner Erkrankung kamen und gingen. Insgesamt dauerte es neun Monate, bis sich die Lage endlich zu stabilisieren schien. Außer zwei Gedichten, die während der Krankheit geradezu in mir aufbrachen, und vier Artikeln für die Kirchenzeitung, die ich noch zu schreiben hatte, als die Diagnose gestellt wurde, gab es nichts, was ich ins Wort gefasst habe. Neun Monate lang Schweigen – für mich, die eigentlich gerne und überall schreibt, undenkbar. Hatte es mir die Sprache verschlagen? Einige meiner Mitmenschen würden sich vielleicht freuen, sie hätten die Chance, jetzt auch mal zu Wort zu kommen. Oder gibt es keine Sprache, die meinen Erfahrungen einen Raum gibt?

Und ist die Sprachlosigkeit nicht einer dieser Orte, an dem Göttliches und Menschliches sich zutiefst begegnen? Im Augenblick der Überwältigung durch Katastrophen, von Leid, von Tod verstummt der Mensch. Es gibt kein Wort, das das Grauen, den Schock, den Schmerz, die Angst adäquat wiedergeben kann. In ähnlicher Weise verschlägt es mir die Sprache, wenn ich überwältigt werde von der Schönheit der Natur, der Musik, der Kunst, in den Momenten, in denen ich einen Hinweis auf diese transzendente, mich selbst übersteigende Wirklichkeit finde, die als das Göttliche bezeichnet wird. Die Begegnung mit dem göttlichen Funken, der mich ergreift, mich durchströmt und in mir unausgesprochen bewundernd »Mein Herr und Gott!« ruft.

Überwältigt zu sein, im negativen wie im positiven Sinne, wirft mich in die Sprachlosigkeit, weil für das Erlebte erst eine neue Sprache gefunden, geboren werden muss.

Ich habe mich durchgerungen, meine Geschichte aufzuschreiben. Beim Schreiben tauchten schon bald Fragen auf: Warum schreibe ich? Was schreibe ich? Für wen schreibe ich? Aus welcher Situation oder Position heraus schreibe ich?

Am leichtesten ist die letzte Frage zu klären, die Auflösung folgt auf den kommenden Seiten. Die Kurzfassung lautet: Ich lebe mit der Diagnose eines hoch aggressiven Eierstockkrebses (für medizinisch geschulte: FIGO IV1), der bereits weit gestreut hatte und gegen alle Erwartungen mit allerlei Komplikationen gut behandelt werden konnte. Seit September 2019 bin ich gegen alle Vorhersagen krebsfrei.

Wie es weitergeht, weiß keiner. Ich lerne, mit der Bedrohung durch eine lebensgefährliche Krankheit zu leben. Das ist nicht immer einfach. Aber mittlerweile gibt es viele Tage, an denen ich die Krankheit vergesse, weil der normale Alltag wieder meine volle Aufmerksamkeit fordert. Der Wecker am Handy erinnert mich daran, dass ich meine tägliche Gabe an Erhaltungstherapie nicht vergesse.

Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester 2018 waren geprägt von einem unendlichen Gefühl der Dankbarkeit. Dankbarkeit für das Leben an sich, Dankbarkeit für all die wunderbaren Freunde, Kollegen und Mitschwestern, Dankbarkeit aber seltsamerweise auch für das ganze Jahr meiner Erkrankung. Irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass ich das Jahr nicht missen wollte. Ich fühlte, dass die Erfahrungen – in allem Elend – so prägend und wertvoll waren, dass das Jahr kostbar wurde. Wie die Narbe auf meinem Bauch mich für immer gezeichnet hat, so prägten mich die schweren, aber auch wunderschönen Erfahrungen des letzten Jahres. Mein geistlicher Begleiter schickte mir als Weihnachtsgruß einen Adventstext, den der Jesuit Alfred Delp 1944 im Gefängnis kurz vor seiner Hinrichtung geschrieben hat.

Advent ist einmal eine Zeit der Erschütterung, in der der Mensch wach werden soll zu sich selbst ... Die Erschütterung, das Aufwachen: damit fängt das Leben ja erst an, des Advents fähig zu werden. Gerade in der Herbheit des Aufwachens, in der ­Hilflosigkeit des Zusichselbstkommens, in der ­Erbärmlichkeit des Grenzerlebnisses erreichen den Menschen die goldenen Fäden, die in diesen Zeiten zwischen Himmel und Erde gehen und der Welt eine Ahnung von der Fülle geben, zu der sie gerufen und fähig ist.2

Dieser Text berührte mich tief. War es nicht genau diese Erfahrung der goldenen Fäden, die in mir diese für menschliches Verstehen vielleicht schwer fassbare Dankbarkeit auslösten? Sind es nicht diese Goldfäden, die es mir ermöglichten, die Krise der Krankheit mit der nötigen Kraft und Hoffnung zu bestehen? Sind es nicht diese goldenen Fäden, die in mir das Vertrauen bestärken, dass es am Ende immer gut ausgehen wird, wie auch immer der Krankheitsverlauf in Zukunft sein wird? Goldene Fäden, die in Zeiten der Erschütterung ein Leben durchkreuzen und im Zentrum des Fadenkreuzes, am tiefsten, innersten Punkt, die Begegnung von Himmel und Erde, von Gott und Mensch ermöglichen?

Ich lebe – wir alle leben im Advent, in der Ahnung einer unheimlichen Fülle, die auf uns wartet. Mit dieser Überlegung erledigt sich auch die Frage nach dem Warum meines Schreibens. Ich schreibe, damit die Goldfäden nicht verloren gehen – für mich und für alle, die diese Zeilen lesen werden.

Mir ist wichtig, dass sich meine Leser3 sehr bewusst sind, dass geschilderte Erfahrungen nicht verallgemeinert werden können. Ich habe durch Mitbetroffene gelernt, dass die Krankheit, das Krankheitsverstehen und auch der Verlauf einer Krankheit sehr individuell sind. Jeder und jede erlebt seine/ihre Krankheit selbst bei gleicher Diagnose, gleichem Behandlungsplan, gleichen Nebenwirkungen und gleichem Krankheitsverlauf auf eine absolut einmalige Art und Weise. Von daher bitte ich darum, diese Zeilen nicht als Ratgeber zu verstehen und zu gebrauchen – im positiven (»So musst du es machen!«) wie auch im negativen Sinn (»Pass da bloß auf!«). Falls selbst Betroffene diese Zeilen in die Hände bekommen sollten, bitte ich Sie, alles, was stärkt, was Mut macht, was Kraft gibt, aus diesen Zeilen mitzunehmen. Alles andere darf gerne entsorgt werden, im wahrsten Sinne des Wortes: Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.

1 FIGO IV meint Stadium IV anhand des von der Fédération Internationale de Gynécologie et d’Obstétrique vorgeschlagenen Systems zur Einteilung gynäkologischer Tumoren.

2 Alfred Delp, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Freiburg 2019, S. 149.

3 Hier gilt wie bei allen Bezeichnungen im Text, dass natürlich beide Geschlechter gemeint sind, wo aufgrund der besseren Lesbarkeit auf die Angabe des jeweils anderen Geschlechts verzichtet wurde.

Erschütterung

»Dafür werden Sie sich Zeit nehmen müssen«

Alles begann im November oder Dezember 2017 bei der Einfahrt auf den Parkplatz, auf dem ich täglich mein Auto vor dem Büro parke. Bei der Überfahrt des Bordsteins ruckelte das Auto, und für einen kurzen Moment spürte ich jedes Mal ein leicht schmerzhaftes Ziehen in meinem Unterleib. Spätestens beim Aussteigen hatte ich es schon wieder vergessen. Gleichzeitig bemerkte ich einen kurzen Schmerz beim Wasserlassen, anders zwar als bei vorherigen Blasenentzündungen, trotzdem vermutete ich, dass ich mich verkühlt hatte. Also trank ich literweise Blasentee. Die Symptome blieben, aber störten im Alltag wenig, zudem stand vor und nach Weihnachten viel auf dem Programm. Anfang Januar ging ich auf dem Weg zur Arbeit kurz beim Hausarzt vorbei, damit er schnell die Entzündungswerte im Blut kontrollieren konnte. Ich war mir sicher: Blasenentzündung. Leider waren meine Entzündungswerte so normal wie nur irgendetwas. Mit einem Überweisungsschein für einen Ultraschall des Bauchs verließ ich die Praxis. Ein komisches Gefühl hatte ich schon. Bei einer Mitschwester, nicht viel älter als ich, war genau ein Jahr zuvor Darmkrebs diagnostiziert worden. Ein Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein, versuchte ich mich zu beruhigen.

Zehn Tage später war der Termin. Die Ärztin schallte und schallte und meinte, es sei alles in Ordnung. Die Gebärmutter sei leicht vergrößert, ich solle das mal gynäkologisch kontrollieren lassen. Erleichtert verließ ich die Praxis und überlegte, ob ich wirklich noch einen Termin machen sollte. Schließlich war ich doch erst im April dort gewesen. Irgendwie war ich trotzdem beunruhigt, rief meine Ärztin an und bekam einen Termin.

Am 18. Januar sauste ich nach einer Lehrerfortbildung relativ spät am Abend schnell zu meiner Frauenärztin. Der Ultraschall schmerzte unheimlich. Wann sie mich zuletzt gesehen habe, wollte die überaus nette junge Ärztin wissen. Vor neun Monaten, erwiderte ich. Ob sie damals nichts gesehen habe, fragte sie. Sie schien geschockt. Ich müsse dringend ins Krankenhaus zur Abklärung, stellte sie fest. Sie werde morgen direkt im Krankenhaus anrufen, dass ich in der Früh dort sei. Das gehe unmöglich, beharrte ich, ich hätte morgen Tag der offenen Tür in der Schule, da müsse ich hin. Ich hätte im Moment wirklich keine Zeit. »Für das, was ich sehe und vermute, werden Sie sich noch viel Zeit nehmen müssen.«

In dem Moment wusste ich Bescheid. Ich wusste alles, was gesagt werden musste. Rational war es noch nicht ganz bei mir angekommen, aber unbewusst war alles präsent. Die junge Ärztin war unheimlich betroffen. Während wir die weitere Vorgehensweise besprachen, versuchte ich sie zu beruhigen. Bevor man die Pferde scheu machte, sollten wir vielleicht die Untersuchung im Krankenhaus abwarten, meinte ich. Sie schaute mich unendlich betroffen an: »Eigentlich sollte ich Sie trösten und jetzt trösten Sie mich!« Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen. Ich spürte ihren Schock und ihre Betroffenheit. Meine spürte ich nicht.

Draußen war es stockdunkel, als ich nach Hause fuhr. Was ist jetzt zu machen, fragte ich mich. Und wie und wem sage ich Bescheid? 100 Meter vor der Einfahrt zum Kloster hielt ich am Straßenrand an und rief meinen Bereichsleiter bei der Caritas sowie die Direktorin in der Schule an. Wir beschlossen, die Ergebnisse der folgenden Untersuchungen abzuwarten.

Zu Hause im Kloster fand ich in unserer Wohneinheit zwei meiner Mitschwestern vor dem Fernseher. Eine hatte ein paar Monate zuvor ihre Schwester aufgrund einer Krebserkrankung verloren. Ich setzte mich wie jeden Abend zu ihnen und schaute den Rest der Nachrichten. Die Wetterprognose war ebenso schlecht wie meine Diagnose. »Ich muss morgen ins Krankenhaus zur Abklärung«, sagte ich beiläufig, während der Moderator der österreichischen Millionenshow die Bühne betrat. »Verdacht auf Eierstockkrebs. Aber es ist noch nicht hundertprozentig sicher«, fügte ich schnell an, während mich beide ungläubig, schockiert, verzweifelt anschauten. »Noch kein Grund zur Panik!« Am nächsten Morgen in der Früh um kurz vor halb acht Uhr erreichte mich auf dem Weg zur Schule eine SMS meiner Gynäkologin: »Herr Dr. O. ist heute bis 12.30 Uhr da, sonst wieder Montag. Er weiß Bescheid.«

Ich betrat das Schulgebäude im Vorbereitungstrubel auf den Tag der offenen Tür. Die Direktorin wartete schon. Es sei alles geregelt, ich könne um spätestens 9.30 Uhr weg. Eine Kollegin sei informiert. Sie würde ein Auge auf die Präsentation meiner Klasse haben. Die Schülerinnen warteten bereits aufgeregt. Es sei etwas passiert, wir müssten das Programm ändern, da ich früher weg müsse, informierte ich die Schülerinnen. Ob sie sich vorstellen könnten, die Präsentation auch alleine zu schaffen?

Sofort gingen die Hände von drei freiwilligen Schülerinnen in die Höhe, die bereit waren, vor einer Gruppe von Eltern und möglichen neuen Schülerinnen frei zu sprechen und den Inhalt des Faches Sozialmanagement zu erklären. »Ich mach’ die PowerPoint dazu«, meldeten sich zwei andere. In dem Moment wusste ich, dass ich die beste Klasse der Welt unterrichtete. Und ich lernte in einer Sekunde, dass ich die Zügel aus der Hand geben musste und konnte. Ich konnte diesen 14- und 15-jährigen Pubertierenden vertrauen. Dieses Vertrauen in andere Menschen wurde in den nächsten Monaten noch oft von mir eingefordert. Aber meine Schülerinnen hatten mir bewiesen, dass ich vertrauen durfte.

»Müssen Sie nicht schon längst weg?«, erinnerte mich eine Schülerin eine gute Stunde später. »Keine Angst, wir schaffen das.«

»Ja«, dachte ich im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus, »gemeinsam schaffen wir das.«

Ruhe vor dem Sturm

Gegen kurz vor 10 Uhr erreichte ich das Krankenhaus. In der gynäkologischen Ambulanz musste ich kurz warten. Eine Patientin kam langsam in den Warteraum, begleitet von einer Krankenschwester. Leggings, T-Shirt, Strickjacke, dicke Wollsocken, eine dünne Haube auf dem Kopf, kein Haaransatz. Sie wurde von einer anwesenden Mitarbeiterin begrüßt: »Frau Doktor, wie geht es Ihnen denn?« Die Frau murmelte etwas für mich Unverständliches, aber an der Mimik war zu erkennen, dass es ihr nicht gut ging. Die zwei schienen sich anders zu kennen als nur in einer Krankenschwester-­Patienten-Beziehung, mir schien es, als sei die Frau Dr. eine Kollegin aus dem Krankenhaus. Mir gab es einen Stich. »Es trifft die eigenen Leute, es trifft die Mediziner genauso. Es kann jeden treffen«, dachte ich, »aber vielleicht trifft es mich ja nicht.«

Kurze Zeit später saß ich dem diensthabenden Arzt, der von meiner Gynäkologin informiert worden war, gegenüber. Er trug unter dem weißen Ärztekittel eine Krawatte mit der Flagge Amerikas. Durch meinen Kopf ratterten sofort alle Vorurteile, die ich gegen gewisse Menschen in den USA hegte. Scheinbar sind Vorurteile stärker als Krebsängste, denn für die Zeit der Untersuchung war ich gedanklich mehr mit einer Krawatte beschäftigt und daher von den Unannehmlichkeiten des Ultraschalls abgelenkt.

Er sei sich nicht ganz sicher, meinte der Krawattenarzt, was die Kollegin da gesehen habe. Es sei seiner Meinung nach nicht eindeutig. Es könne eine Raumforderung sein, es müsse aber nicht sein. Ich solle mir nicht allzu große Sorgen machen, er würde mich direkt Montagfrüh zur Computertomografie anmelden. Zudem würde er die Tumormarker bestimmen lassen, und nach CT und Tumor­markerbestimmung wisse man dann Genaueres. Ich war erleichtert. Bei der Blutabnahme scherzte ich mit der diensthabenden Ambulanzleiterin und ihrer sehr einfühlsamen und sanften Kollegin.

Im Rückblick überlege ich, ob mich die drei nicht leicht belogen haben, ob der Arzt sich wirklich nicht sicher war und die Diagnose meiner Gynäkologin anzweifelte. Vielleicht gab es keinen Zweifel, aber alle wussten, dass über das Wochenende eh nichts geschehen konnte und werde. Vielleicht wollten sie mir nur ein ruhiges Wochenende gönnen. Wenn es so gewesen wäre, dann war es ein voller Erfolg und ich bin dankbar dafür. Ich brauchte die Ruhe vor dem Sturm.

Am folgenden Samstag packte ich gegen Mittag alle Sachen, die ich für einen Einkehrnachmittag zum Thema »Wenn Glaube nicht mehr lustig ist« brauchte. Große Lust hatte ich keine, aber einfach ohne endgültiges Resultat absagen wollte ich auch nicht. Ich genoss die Autofahrt auf der St. Veiter Schnellstraße – die Landschaft, der Schnee auf den Bergen, das Licht schienen besonders intensiv. Ich sog es in mich auf.

Wie oft war ich voll Erwartung und Vorfreude auf eine weitere Lehreinheit im Kurs Exerzitienleitung auf dieser Straße Richtung Wien gefahren? Wie oft für Besuche mit den Kollegen der Menschenrechtskommission in die Steiermark? Und an einen Besuch in einer Einrichtung in Neumarkt erinnerte ich mich besonders. Vor allen Dingen an Iris, eine hervorragende Medizinerin, eine Expertin in Sachen Menschenrechte, eine kreative, hochintelligente und sehr kunstaffine Frau, die im Vorjahr nach nur sechsmonatiger Erkrankung an den Folgen der Bestrahlung eines Karzinoms gestorben war. Neumarkt war unmittelbar mit der Erinnerung an Iris verbunden. »Werde ich noch einmal einen Winter erleben?«, fragte ich mich. »Oder werde ich bald mit Iris wieder über Kunst reden können?«

Neumarkt in der Steiermark ist sicher keine Weltstadt. Trotzdem kam es mir so vor, als ich zum sechsten oder siebten Mal die Runde durch die paar Straßen des Örtchens drehte. Wie man ein Pfarrzentrum so verstecken und dann noch so schlecht durch Wegweiser beschriften kann, bleibt mir schleierhaft. Nach einigen Telefonaten mit der Leiterin der Veranstaltung, die bereits mehr als sehnsüchtig mit gut vierzig anderen Frauen auf mich wartete, fand ich endlich das Geheimversteck der Neumarkter Pfarre. Ich war verärgert, abgehetzt. Ich kippte einen schnellen Kaffee in mich hinein und begann wirklich lustlos meinen Vortrag.

Inhaltlicher Schwerpunkt des Vortrags, den ich gefühlt schon Hunderte Male gehalten habe, sind Glaubenskrisen im Leben von Menschen, die durch innere oder äußere Faktoren ausgelöst werden können. Von den Zuhörern wird immer schnell die Theodizeefrage, die Frage nach dem Warum in den Raum gestellt. Während diese Frage eigentlich immer unbeantwortet bleibt und eigentlich den Menschen nicht weiterbringt, stellt sich doch vielmehr die Frage, wie wir Menschen mit Leiderfahrung auch glaubend umgehen.

Mein ganzes Ordensleben habe ich – bis auf die Zeit im Noviziat – immer mit Menschen gearbeitet, die Grenzerfahrung, unermessliches Leid und traumatische Ereignisse in ihrem Leben durchlitten haben. In vielen Fällen waren es Opfer politischer Gewalt und Ausbeutung, in den Jahren in Afrika vor allen Dingen Menschen mit unheilbaren HIV-induzierten Erkrankungen. In den letzten drei Jahren nach dem Tod meines Vaters und nach einer eigenen Herzoperation habe ich mich, soweit die Zeit es zuließ, mit der Erfahrung von Leid, Tod und Sterben in der Spiritualität, Philosophie und den Religionen beschäftigt.

Die Frage nach der Gegenwart Gottes in den Grenzerfahrungen des Lebens beschäftigte mich also mehr oder weniger mein ganzes Ordensleben. Zwei der von mir gefundenen Antworten, eine das Glaubensbekenntnis von Dietrich Bonhoeffer, die andere der Text Brunnenpunkte von Alfred Delp SJ, beides Texte, die mich in den letzten Jahren intensiv begleitet haben, hatten auch ihren Weg in den Vortrag gefunden.

Bonhoeffers Glaubensbekenntnis von 1934

Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.1

Ich mochte die Idee, dass Gott aus jeder Situation etwas Gutes entstehen lassen kann und dass er die nötige Widerstandskraft gibt – nicht im Voraus. So wie das Manna in der Wüste nicht zur Vorratshaltung bestimmt war, sondern um uns mit seiner Gegenwart, seinem Wirken zu überraschen und in uns das Vertrauen wachsen zu lassen, dass wir uns ihm ganz überlassen können. In der Theorie gefiel mir dieser Satz sehr. Wie Bonhoeffer in seiner Gefängniszelle später diesen Satz lebte, imponierte mir ebenso wie das Zitat von Alfred Delp SJ. Er schrieb im November 1944 in seiner Zelle mit gefesselten Händen:

Brunnenpunkte

Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt ... für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort. Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden dauerndes Bewußtsein und dauernde Haltung zu machen, bzw. werden zu lassen. Dann wird das Leben frei in der Freiheit, die wir oft gesucht haben.2

Auch an diesem Nachmittag in Neumarkt zitierte ich beide Texte. Und während ich sie laut vorlas, hörte ich meine innere Stimme zu mir sagen: Hörst du dir eigentlich selbst zu? Glaubst du, was du da liest?

Die Fragen beschäftigten mich auf der Rückkehr von Neumarkt. Wenn ich wirklich glaube, was ich anderen predige, was hieße das jetzt für mich? Was hieße das für den Fall, dass die ursprüngliche Diagnose sich bewahrheitet? Ich parkte auf dem Parkplatz eines Gewerbegebietes. Nicht sehr idyllisch, aber das Leben ist auch nicht voller Idylle.

Mir fiel das Kreuz im Priesterseminar in Graz vom österreichischen Künstler Arnulf Rainer ein, das mir in den letzten vier Jahren unter anderem auch durch den leider viel zu früh an Krebs verstorbenen Regens Franz Josef Rauch erschlossen wurde. Franz Josef hatte mich zu einem Einkehrtag für die Seminaristen eingeladen. Als ich in die Kapelle kam, war ich fasziniert von ihrer Schlichtheit, der Größe des Holzaltares, der den Mittelpunkt des Altarraumes darstellte, und von dem großen Rainer-Kreuz. Die Seminaristen waren verwirrt ob meiner Begeisterung für das Kreuz. Das seien doch nur Schmierereien, und schön sei das Kreuz nun wirklich nicht. »Seit wann ist ein Folterwerkzeug schön?«, fragte ich zurück. Als ich mit Franz Josef allein in der Kapelle war, sagte er, er habe sich auch erst an das Kreuz gewöhnen müssen. Man müsse sich diesem Kreuz aussetzen. Ihm gebe es mittlerweile sehr viel.

Mir gab es auf Anhieb viel, sobald ich es zum ersten Mal sah. Hinter all dem Geschmier, der Dunkelheit, da ist etwas dahinter, dachte ich mir. Mir fiel eine Weihnachtsmeditation ein, die ich als junge Schwester einmal geschrieben hatte. Im Zyklus Farben der Weihnacht hieß es beim Text zur Farbe Violett:

Violett

Nachtschwarze Nacht

durchzogen von verirrten Strahlen

des Mondes

bildend

violette Streifen

am Nachthimmel.

Violette Streifen am Hirtenhimmel

Violett

in aller Dunkelheit –

in aller Einsamkeit –

in der Kälte, die vom Boden aufsteigt,

in allem Wachen –

in allem Alltag.

Violette Streifen am Hirtenhimmel:

Das Wissen um die Dinge, die dahinterliegen

Die Sehnsucht nach den Dingen, die dahinterliegen.

Hirten,

die jede Nacht

in den schwarzen Nachthimmel starren,

wissen

um die violetten Streifen des Lichts,

wissen,

da liegt wirklich etwas dahinter

und harren

und warten,

denn es kommt:

das Licht an jedem Morgen.

Ansonsten kann ich es nicht leben,

das tägliche Dunkel,

die Nacht,

die Einsamkeit,

die Alltäglichkeit,

ich muss wissen,

da ist etwas dahinter

und es kommt.

Bereits damals, vielleicht 1996, war es mir ein Bedürfnis, dahinterzuschauen, das Geheimnisvolle, Versteckte, das Gegenwärtige – sprich: Gott – auch in den Nächten des Lebens zu entdecken. Schon damals, ohne den Text von Alfred Delp zu kennen, auf der Suche nach den Brunnenpunkten?

Und jetzt? Hält dieser Glaube, diese Sehnsucht, diese Suche auch in der jetzigen Situation stand? Ich war mir nicht sicher. Aber eines wusste ich: Wenn ich nicht an die verborgene Gegenwart Gottes auch im Leid glaubte, wenn nicht daran, dass es die Brunnenpunkte gab, wenn nicht daran, dass Gott in jeder Situation mein Bestes will und mir die Kraft geben wird, nicht daran, dass er im Leid ganz gegenwärtig ist – woran glaubte ich dann?

Das eine hatte ich in all den Jahren meines Ordenslebens erfahren: Wenn nichts mehr hält – er hält. Darauf musste ich mich jetzt verlassen. Ich musste und durfte ihm vertrauen. Ich war froh und dankbar, dass ich mich doch aufgerappelt hatte und nach Neumarkt gefahren war. Die Leute waren begeistert gewesen und ich merkte, dass es vor allen Dingen für mich wichtig gewesen war. Ich stieg aus dem Auto und ging in einen Schreibwaren- und Nippes-Großmarkt. Eigentlich brauchte ich nur einen Stift. Heraus kam ich mit einer Packung günstiger Acrylfarben. Ich hatte das Gefühl, ich müsse mir etwas Gutes tun.

»Ich werde dir einen Engel schicken«

Der nächste Tag war ein gewöhnlicher Sonntag, erstaunlich gewöhnlich. Aus irgendeinem Grund war keine von den Mitschwestern, die sich mit mir eine Wohnung teilen, tagsüber zu Hause. Ich nistete mich bereits vor der Heiligen Messe am großen Küchentisch ein und begann, mit den neuen Farben zu experimentieren.

Ich war erstaunlich ruhig und gelassen. Die beruhigenden Worte des Oberarztes vom Freitag taten ihre Wirkung. Es wird schon nichts sein. Während der Messe verkroch ich mich auf der ersten Orgelempore. Ich saß direkt an der Brüstung und verfolgte das Geschehen von oben. Plötzlich riss es mich. Die Sonne war hervorgekommen und strahlte durch das Ostfenster der Kirche direkt auf das Dreifaltigkeitsfresko über dem Altar, jedoch nicht auf die Dreifaltigkeit, sondern auf einen Engel, der Teil einer Engelgruppe ist, die eine Art Mandorla hält, in der die Dreifaltigkeit zu sehen ist.

Der ganze Engel war im Licht – nur er. Dass die Sonne durch das Ostfenster bestimmte Elemente des Freskos erleuchtet, das war nichts Außergewöhnliches. Aber einen ganzen Engel? Ich griff zum Handy und machte ein Foto. Auf dem Foto erkannte man die Dreifaltigkeit und die anderen Engel. Doch da, wo der durch die Sonne beleuchtete Engel war, sah ich nur gleißendes Licht. Den Engel erkannte man nicht. Ich spielte mit der Belichtung am Handy. Auf dem nächsten Foto waren die Fresken im Dunkel, nur ganz schemenhaft erkannte man ein paar Linien und Umrisse. Aber der Engel erstrahlte im Licht, klar und genau zu erkennen.

Ich zeigte einer Mitschwester den erleuchteten Engel am Fresko. »Siehst du den Engel?«, flüsterte ich. »Ja, das ist die Sonne«, erwiderte sie unbeeindruckt. Meine Augen blieben wie gebannt an dem Engel hängen. Ich merkte, es ist »mein« Engel.

Natürlich weiß ich, dass es ein ganz natürliches Geschehen ist. Bei dem und dem Sonnenstand, bei der und der Sonnenintensität und bei dem und dem Einfallswinkel durch das Fenster fällt das Licht nun einmal genau auf diesen Engel. Nichts weiter. Alles physikalisch erklärbar. Und wenn man es dann stümperhaft mit dem Handy fotografiert und sich bei Belichtung und so weiter nicht auskennt, dann ist es doch klar, dass es einmal zu hell reflektiert und einmal den Hintergrund im Dunkel lässt. Auch alles erklärbar. Zufall halt, dass es an diesem Tag gerade zur Zeit der Sonntagsmesse passierte.

Für mich war es kein Zufall. Für mich war es »mein« Engel, der zu sagen schien: Ich bin da! Wenn es hell ist, als gleißendes Licht. Unerkennbar, verborgen, als Lichtgestalt. Und wenn es dunkel wird, werde ich mich dir zeigen! Du wirst mich erkennen. Keine Angst. Ein erster goldener Faden spannte sich für mich zwischen Himmel und Erde.

Wer nicht in die Weite schwimmen kann, der lernt, in die Tiefe zu schwimmen

Reinhard Mey besingt in einem seiner Lieder einen Ficus Benjamini vor dem MRT. In der Radiologie meines Krankenhauses gibt es keinen Ficus, dort gibt es Fische. Sie sollen vielleicht beruhigend wirken. Verschiedene schillernde Arten schwammen in einem Aquarium zwischen ein paar Wasserpflanzen hin und her. Sie taten mir leid.

Wie vielen Menschen, die hier unten warteten und dabei ihr Kontrastmittel in sich hineinschütteten, ging es wie diesen Fischen? Herausgerissen durch die Diagnose aus ihrem normalen Leben und plötzlich reduziert auf einen eingeschränkten, nicht selbst gewollten Lebenskontext. Plötzlich nicht mehr in die Weite schwimmen können, fixiert auf einen von einer Erkrankung vorgegebenen Lebensraum. Die Fische stiegen auf und nieder. Wer nicht mehr in die Weite schwimmen kann, der muss auf und nieder schwimmen.

Das CT verlief denkbar ereignislos. Nach einer guten Stunde war ich wieder an der frischen Luft und auf dem Weg ins Büro. Vor dem morgigen Tag sei kein Ergebnis zu erwarten, der mich am vorherigen Freitag behandelnde Oberarzt der Gynäkologie werde mich morgen kontaktieren.

Am nächsten Tag fuhr ich nervös in die Schule. Was wäre, wenn das Handy während des Unterrichts klingelt? Die Direktorin fragte nach dem Ausgang der gestrigen Untersuchung, vielleicht sei ja alles in Ordnung. Ich hoffte.

Nach der 5. Stunde fuhr ich von der Schule ins Büro zu den Deutschkursen. Kein Anruf, jedenfalls nicht der, auf den ich wartete. Im Büro herrschte das normale Chaos. Freiwillige, die Unterlagen zusammensuchten, Geflüchtete, die schon auf mich warteten, dazwischen der Zivildiener, der zu Mittag aß. »Tschuldigung, hast du Zeit für mich?« – »Tschuldigung, ich brauche Bestätigung.« – »Tschuldigung, mein Kollege jetzt auch Klagenfurt, brauchen Kurs Deutsch.« – »Tschuldigung, ich gestern haben Termin bei Arzt. Hier ist Bestätigung.« – »Tschuldigung, heute kein Lehrer da für Deutschkurs Gruppe 7? Oder kein Gruppe 7 heute?«

»Es haben da drei Leute angerufen«, unterbrach meine Kollegin den Chor der »Tschuldigungs«, »du sollst zurückrufen!« Ich ließ mich auf den Schreibtischstuhl fallen und suchte meine Unterlagen für den in wenigen Minuten beginnenden Unterricht mit den Schülern auf dem Niveau B1-B2. »In welchem Raum sind wir heute?«, fragte Mascha, meine kasachisch-polnisch-syrische Starschülerin. Sie war eine kräftige, sehr resolute Frau, die allein mit drei Kindern aus Syrien geflohen war. Ihre Sprachkenntnisse waren schon so gut, dass sie selbst als freiwillige Mitarbeiterin Anfangsklassen von Migranten unterrichtete.

Ich schickte Mascha und die anderen Lernenden in einen leer stehenden Seminarraum und las die Nummern auf dem Anrufbeantworter. Kein Krankenhaus, auch auf dem Handy kein Anruf. Meine Nervosität stieg. Irgendwie brachte ich die anderthalb Stunden Unterricht hinter mich. Im Büro räumten zwei freiwillige Lehrer, die parallel zu mir unterrichtet hatten, ihre Sachen weg. Der Zivi packte seine Tasche und machte sich auf den Nachhauseweg. Endlich war ich allein im Büro. Nur in der Nachbarklasse unterrichtete ein unermüdlicher freiwilliger Lehrer weiter. Ich konnte seine Stimme durch die Tür hören. Es war 16 Uhr. Ob der Oberarzt wohl noch im Haus war? Er hatte doch versprochen, anzurufen. Ich fasste all meinen Mut zusammen und wählte die Nummer, die man mir am Freitag mitgegeben hatte.

Der Arzt war tatsächlich noch im Haus, er sei noch nicht dazugekommen, aber er schaue sich den Befund jetzt an. Ich wartete. Er räusperte sich. »Also, es gibt wirklich einen Tumor im Bereich der Eierstöcke und auch Raumforderungen im Douglas-Bereich, das ist der Raum zwischen Rektum und Gebärmutter, und das Bauchfell und Bauchnetz ist wohl auch befallen und auf der Leber gibt es auch Ablagerungen. Auszugehen scheint es aber von den Eierstöcken. Und die Tumormarker sind um das Tausendfache erhöht.« »Okay, ich muss Ihnen das jetzt wiederholen, um zu sehen, ob ich das richtig verstanden habe, Eierstöcke, Douglas, Bauchfell, Leber. Wie hoch sind die Tumormarker?« Ich schrieb auf einem Schmierzettel mit. »Über 3000.« »Was ist normal?« »Drei.«

»Wenn das so ist, und entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise, aber anders kann ich es im Moment nicht sagen: Wenn es schon in der Leber ist, dann ist die Kacke ja wohl schon richtig am Dampfen?« Der Arzt schwieg. Die Kacke dampfte also wirklich. »Kann man da noch etwas machen? Wie geht’s jetzt weiter? Chemo? OP?« Komischerweise war ich innerlich ganz ruhig. Der Arzt erklärte mir, dass der Chefarzt leider in Urlaub sei, er müsse ihn aber sowieso auch wegen einer anderen Patientin am Abend anrufen und er würde meinen Fall mit ihm besprechen. Er würde mich morgen anrufen und mir dann genau die nächsten Schritte erklären.

Ich wischte mit dem Finger über die Austaste am Display des Handys. Der Inhalt des Telefonats ließ sich nicht mehr verwischen, nie mehr. »Was mache ich mit meiner Mutter? Die überlebt das nicht!«, war der erste Gedanke, der mir in den Kopf schoss. Beim Abschied gut zwei Wochen vorher am Bahnhof in Deutschland hatte sie mich fest an sich gedrückt. »Pass bloß auf dich auf, dass dir nichts passiert!« Damals, das fiel mir jetzt ein, fand ich das befremdlich. In solcher Intensität hatte sie das noch nie getan. Beim Gedanken daran stiegen mir die Tränen hoch.

»Herr, mein Gott!«, atmete ich ein und aus. Dann begann ich innerlich mit mir selbst zu reden: »Das ist es jetzt. Da musst du durch. Jetzt ganz langsam. Was muss als Nächstes geschehen? Wem sagst du es? Wie sagst du es?« In den inneren Dialog, den ich mit mir selbst führte, drängte sich ein Gedanke, den ich zu verdrängen suchte, der sich aber nicht verdrängen ließ: Wie lange noch? Und was tun in der Zeit, die noch bleibt? Lang gehegte Träume und Wünsche wie ein nochmaliger Afrikaeinsatz waren mit einem Mal zerschlagen. Und meine Nichte? Die Kleine war gerade zwei Jahre alt. Ich würde sie nicht aufwachsen sehen. Und Musik? Ich würde die Lieder, die ich ab und zu hörte, nicht mehr hören können. Dabei bedeuteten mir diese Lieder eigentlich wirklich nichts. Wieso jetzt dieser Gedanke? Und der Winter – war das mein letzter? Dabei mag ich den Winter nicht. War es das letzte Weihnachten gewesen? Das letzte Mal im Sommerurlaub in Ungarn? Meine Mitschwestern? Und meine Freunde? Die Geflüchteten? Meine Schüler?

Das Leben war von einem Moment auf den anderen unheimlich begrenzt. Eine Grenze wie die Glaswand des Aquariums vor dem CT. Man sah sie nicht, aber sie war spürbar, schmerzhaft da.

Der Laptop stand vor mir auf dem Schreibtisch. »Nein, du googelst nicht!«, befahl ich mir, nur um im gleichen Augenblick meinen eigenen Befehl nicht zu befolgen. Ich suchte nach einer seriösen medizinischen Seite, am besten einen Fachartikel. Schon nach den ersten Zeilen wurde mir schummrig. Blöder konnte es ja wohl nicht kommen. Ich schloss die Seite, es tat mir nicht gut. Trotzdem hatte ich schon zu viel gelesen.

Horrorbilder stiegen in mir auf. Bilder von einem langen, qualvollen Dahinsiechen. Morphium, Opiate. Was, wenn die Schmerzmittel nicht mehr wirken? Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich wirkliches Verständnis für Menschen, die sich auf den Weg in die Schweiz machen, um durch Tötung auf Verlangen ihrem Leben ein Ende zu setzen. Würde ich das wollen? Würde ich das tun? Obwohl es ganz und gar nicht meiner Lebensethik entsprach?

Ich hatte das Gefühl, als sähe ich mir selbst beim Denken zu. Ein Gedanke kam, und ich kommentierte ihn. Dann kommentierte ich den Kommentar. In dem ganzen Gedankenwirrwarr merkte ich, dass ich keine Angst vor dem Tod hatte, aber Angst vor dem Sterben, Angst vor der Krankheit an sich, Angst vor den Schmerzen.

Eine Ahnung vom Tod hatte ich. Ich hatte bereits viele Menschen im Sterben begleitet. Es waren immer kostbare Momente, und bei den meisten hatte ich erlebt, wie im Zeitpunkt des Todes der letzte Atemzug geradezu einem befreiten Aufatmen glich. Bei meiner Herz-OP vor drei Jahren, die insgesamt über zehn Stunden dauerte, hatte ich beim Aufwachen nach 17-stündiger Vollnarkose kein Gefühl der Erleichterung, sondern ein Gefühl des Bedauerns. Es dauerte nur einen Augenblick, aber in meinem Durcheinander nach der Narkose war es mir voll bewusst. Seit dieser Erfahrung, die ich niemandem außer meinem geistlichen Begleiter und einem guten Freund mitteilte, war ich mir absolut sicher, dass es ein Jenseits, eine Auferstehung gibt.

Mir fiel ein Gebet ein, das ursprünglich vom heiligen Klaus von der Flüe stammt und das in den letzten Jahren mein ständiger Begleiter war. Dort heißt es: »Gib alles mir, was mich fördert zu dir. Nimm alles mir, was mich hindert zu dir. Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.« Wäre aus Sicht dieses Gebets dann nicht auch eine Krebserkrankung, so beschissen sie auch ist, eine Möglichkeit, näher zu Gott zu kommen? Nicht, dass ich falsch verstanden werde. Ich glaube nicht, dass Gott einem Menschen eine Krankheit schickt. Das braucht er nicht und wieso sollte er auch? Aber wenn sie kommt, kann ich es nehmen als eine Situation, in der er mir begegnen will, sich mir zeigen will, auf ganz neue Weise? Ist es eine Möglichkeit des Brunnenpunktes, den Alfred Delp beschreibt? Eine Möglichkeit, es mir in aller Grausamkeit der Dia­gnose zum Besten dienen zu lassen?

Ich hatte unheimliches Glück. Schon nach dem ersten Telefonat, am Schreibtisch in einem vollgeräumten Büro, mitten im Alltag konnte ich glauben, dass Gott einen Plan hatte – auch mit der Diagnose. Der Sinn erschloss und erschließt sich mir heute noch nicht. Aber ich konnte glauben, dass es so ist. Und in allem Schock meldete sich ein seltsames Gefühl von »Sicherheit« – ein unheimliches Vertrauen, dass ich gehalten bin, begleitet bin, mich Gott überlassen kann.

Meine Psychologenkollegen würden sagen: Klassischer Fall von Sublimierung. Etwas wird bedeutungsmäßig überhöht, um den Schmerz, die Hilflosigkeit erträglicher zu machen. Klar wird der Schmerz so erträglicher. Aber es sind keine billigen Tröstungen. Ich glaube mittlerweile fest, dass es Geschehnisse zwischen Himmel und Erde gibt, die das menschliche Verstehen, das medizinische Wissen und die psychologischen Begründungen weit übersteigen – etwas, dessen Größe, Bedeutung und Mitmenschlichkeit (im wahrsten Sinne des Wortes) wir nur erahnen können. Und für alle, die nicht glauben können und selbst betroffen sind und denen eingeredet wird, dass sie anderweitig sublimieren: Lasst euch nichts einreden! Wenn Sublimieren beim Überleben hilft, dann sublimiert. Und wie die Fische im Aquarium werden vielleicht auch wir, wenn wir die Grenzen des Lebens zu spüren bekommen, lernen müssen, statt in die Weite in die Tiefe und die Höhe zu schwimmen.

Fremdsprachenunterricht

Mein Büro ist vollgestopft mit Worten. Worten in Hunderten Deutschbüchern, Übungsheften und Ordnern. Alles Übungen, die dazu führen sollen, dass Menschen in einer Fremdsprache die richtigen Worte erlernen, schreiben, angleichen und schließlich in jeder Situation das angemessene Wort finden können.

Wenn ich von Bekannten, Freunden, Mitschwestern erfuhr, dass sie mit einer Krebsdiagnose konfrontiert waren, wusste ich nie genau, was ich sagen sollte. Ich fühlte mich unsicher. Welche Worte helfen, welche Worte sind einfach nur dumm? Eigentlich gibt es nur in den seltensten Fällen das richtige, treffende Wort. Die Hilflosigkeit, meine Betroffenheit oder meine Unterstützung gegenüber anderen in Worte zu fassen, war nichts gegen die Wortlosigkeit, die ich verspürte, als ich am Schreibtisch meines wortüberhäuften Büros saß und überlegte, wem und vor allen Dingen wie ich meine Krebserkrankung mitteilen sollte. Wie sagt man das scheinbar Unsagbare?

In Gedanken ging ich die Personen durch, die es unmittelbar wissen mussten: meine Mitschwestern, meine Mitarbeiter und Kollegen, die Schülerinnen bei den Deutschkursen und in der Schule, mein Bruder und meine Schwägerin, Freunde, mein geistlicher Begleiter und vor allen Dingen meine Mutter. Meine Mutter, das war der größte Brocken. Alles andere war weit weniger schlimm. Seit dem Tod meines Vaters an Krebs vor nicht einmal vier Jahren lebte meine Mutter allein. Sie vermisste meinen Vater noch immer sehr, aber ihren Alltag bewältigte sie mit einer unheimlichen Kraft und Kreativität. Mein Bruder und seine Familie leben 80 Kilometer weit entfernt, und sie sieht sie nur sehr selten. Ich selbst war 1000 Kilometer entfernt. Wir telefonierten häufig, und sooft es mir möglich war, versuchte ich sie zu besuchen. Vor allen Dingen die Feiertage und Jahrgedächtnisse verbrachten wir gemeinsam. Und in den Ferien gab es einen gemeinsamen Urlaub bei Freunden in Ungarn mit dem alten Wohnmobil meiner Eltern. Mein unausgesprochener Plan war eigentlich, dass ich – so gut es das Kloster erlaubte – für sie da sein würde, wenn sie einmal alleine nicht mehr zurechtkommen würde. Wie genau das gehen könnte, war mir nicht klar. Und jetzt war plötzlich gar nichts mehr klar.