Goodbye Ruby Tuesday - T. S. Freytag - E-Book

Goodbye Ruby Tuesday E-Book

T. S. Freytag

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Beschreibung

Ruby Tuesday, Alkoholikerin und fettleibig, steht kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag und vor der Frage, wie sie sich zu diesem Anlass das Leben nehmen soll. Da findet sie in ihrer Spülmaschine einen Daumen - von einer dunkelhäutigen Frau. Seit gestern ist Rubys ghanaische Nachbarin verschwunden … Hat Ruby einen Filmriss? Hat sie selbst ihre Nachbarin ermordet und zerstückelt? Oder will sie jemand aus dem Mietshaus auf diese Weise ganz bewusst in den Wahnsinn treiben? Oder aber ist der Daumen ein böser Fingerzeig in die Vergangenheit, als Ron so sein Okay-Zeichen machte, bevor er mit ihr schlief? Einmal geweckt, lassen sie die Gespenster der Vergangenheit nicht mehr los: Erinnerungen an die Zeit nach dem Abi, als Ron und sie nach Frankreich abhauten, steigen empor, an ihren Roadtrip, der sie direkt in die Hölle führte. Und dann taucht auch noch die Einladung zur 30-Jahre-Abi-Feier auf - und mit ihr erscheinen Kalli, der das Klassentreffen organisiert, und schließlich Ron auf der Bildfläche. Währenddessen findet Ruby immer mehr Körperteile, in ihrer Wohnung, in ihrer Einkaufstasche, am Fenster - wie hängt das alles zusammen? Eine ungewöhnliche Geschichte aus der Generation danach, nach 1968 und Woodstock, und darüber, was von ihr heute noch geblieben ist.

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Seitenzahl: 472

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T.S. Freytag

Goodbye Ruby Tuesday

Thriller

EDITION 211

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2015 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Christiane Geldmacher

Satz/Layout: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-037-2

Zu diesem Buch

Ruby findet in ihrer Spülmaschine einen weiblichen Daumen und ihre Nachbarin Abenaa ist seit gestern verschwunden. Es gibt wie immer mehrere Möglichkeiten. Entweder hat Ruby während eines nächtlichen Filmrisses die Nachbarin ermordet und zerstückelt oder jemand aus dem Mietshaus will sie in den Wahnsinn treiben. Jemand der einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besitzt. Oder der Daumen ist ein böser Fingerzeig, ein Erinnerungsflash an die Zeit nach dem Abi, an Ron, der so sein Okay-Zeichen machte, bevor er mit ihr schlief. An die Zeit, als Ruby noch Melanie Dinstag hieß. Ron, mit dem sie 1981 nach Frankreich abgehauen ist, dann nach Spanien, der weiter zu seinen Casablanca-Träumen wollte, Rock’n’Roll, Ron’n’Ruby, on the road auf dem Highway to Hell.

Jetzt aber kriechen Gestalten aus dem Nebel vor Rubys Schädelrückwand und mit ihr immer mehr einzelne Finger. Gespenster der Vergangenheit. Zuerst Kalli, der die 30-Jahre-Abi-Feier organisiert, wo sich die Bonnies und Clydes von früher als Herr und Frau Bieder treffen; Ruby wird den Teufel tun, daran teilzunehmen. Dann erscheint Ron wie eine vergessene Moorleiche auf der Bildfläche. Er will nichts als Rache für die Hölle.

Am Schluss sitzt Ruby in ihrer Wohnung, wiegt Abenaas und Kallis Kopf in ihrem Schoß und singtGoodbye Ruby Tuesday.

Eine Geschichte aus der Generation danach, nach 68 und Woodstock, die in den 80ern schon Übriggebliebene der rockigen 70er waren, und was sich davon bis heute rübergerettet hat: Traurige Philosophen, alkoholisierter Restmüll oder die Coolen von damals.

Für den unverfälschten Genuss vorbereiten:

Imagine: John Lennon

Hotel California: Eagles

All along the watch tower: Bob Dylan

Moon over Bourbon StreetSting

Es ist vorbei, bye bye Junimond:Rio Reiser

Sympathy for the devil:Rolling Stones

Highway to hell:AC/DC

Wish you were here:Pink Floyd

Mercedes Benz:Janis Joplin

Goodbye Ruby Tuesday:Melanie Safka

Disclaimer

Nennt mich Kalli. Wenn ihr dies lest, bin ich schon nicht mehr im Rennen. Ich habe mich bemüht, alles wahrheitsgetreu aufzuschreiben und nichts zu beschönigen. Sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden und ehemaligen Menschen oder Hunden sind purer Zufall. Falls sich dennoch jemand wiedererkennt, hat er sich geirrt. Also fragt nicht.

»Was kann euch Angst noch rühren?

Ihr sterbt mit allen Tieren

und es kommt nichts hinterher«

I

Warm-up

Sie kniet am Boden. Sie hält Kallis Kopf im linken Arm und Abenaas im rechten. Beide wiegt sie wie Babys in den Schlaf. Kallis Blut rinnt warm in ihren Schoß. Jemand singt mit leiser, hoher StimmeGoodbye Ruby Tuesday, who is gonna hang a name on you?

Melanie

Der Daumen steckt in der Spülmaschine zwischen drei goldenen Löffeln. Heißer Dampf flutet ihr Gesicht und beschlägt die Brille. Ihr Mund öffnet sich, aber kein Laut verlässt die Kehle. Sie weicht zurück, unsicher auf den Beinen. Dann sieht sie nichts mehr. Sie hat die Augäpfel nach oben gerollt, bis nur noch das Weiße das Deckenlicht reflektiert. Sie kann das, viel weiter als andere. Ihre Mutter sagte, irgendwann bleiben sie dort. Sie stolpert rückwärts, Flaschen klirren und sie fällt aufs Bett. Dann ist es still.

Die goldenen Löffel sind von Kryst, dem Billig-Juwelier, der sich in jedes Kaufhaus einnistet, auch in das, wo sie die geklaut hat. Etwa einen Monat her, sie hat kein Zeitgefühl. Der Kaufhausdetektiv hat sie dabei erwischt.

»Rück raus, Baby.«

Den Tonfall hatte er bei einem Fernsehcop geliehen, dem auch kein besserer einfiel. Sie waren in seinem Büro, unbeobachtet. Er fühlte sich stark, cool, sonstwas. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt.

»Ich weiß, wo du sie hast.«

Er stieß sein Kinn in Richtung ihres Rocks. Sie kniff die Beine zusammen und zog ein verzweifeltes Gesicht.

»Du stinkst«, sagte er. Das Kompliment konnte sie zurückgeben. Offenbar gehörte er zu der Sorte, die gern eine Nase von den eigenen Fürzen nimmt, sich aber vor denen aus fremden Ärschen ekelt. Er kam bis auf wenige Zentimeter heran und trat auf ihren Fuß.

»Sorry.«

»Macht nichts«, keuchte sie, »bin gern unter Leuten.«

»Gläschen Wodka gefrühstückt?«

»Ganze Flasche, und selbst?«

»Schnaps löst keine Probleme.«

»Milch auch nicht.«

Er grinste. Sein Blick senkte sich und folgte seiner Hand, bis die unter ihrem Rock verschwand. Sie ließ ihn. War nicht das erste Mal, dass sie von einem Schnüffler befummelt wurde. Als er ihre Schenkel erreichte, atmete sie hastig ein und stoßweise wieder aus, was Kerle zuverlässig als Zeichen von Erregung deuten. So auch der hier. Sie öffnete die Beine und die Löffel klirrten leise.

»Hab ich’s doch gewusst.«

Entschlossen griff er zu und patschte auf die drei im Slip eingenähten und in sorgfältiger Kleinarbeit nadelspitz gefeilten Heftzwecken. Gleichzeitig klickte der Auslöser ihres Fotohandys, das sie am ausgestreckten Arm über ihrem Kopf hielt.

»Bist du verrückt?«

Das Gesicht, mit dem er beim nächsten Klicken in die Kamera glotzte, ließ sich auch anders deuten. Zusammen mit der unterm Rock verschwundenen Hand ein schlagendes Argument. Er packte ihren Arm und wollte an das Handy. Sie schrie. Er ließ sofort los, fluchte und leckte das Blut von den Fingern. Dem Fernsehcop wäre das nicht passiert.

Er hatte sie gehen lassen müssen. Mit drei billigen vergoldeten Löffeln. Nichts Echtes, was war schon echt an ihrem Leben. Die stecken jetzt in der Spülmaschine, sie sieht sie auf der Innenseite ihrer Augenhöhlen. Und zwischen den Löffeln der Daumen. Der ist echt, ganz sicher, und dass sie sich sicher ist, ist das Schlimmste. Der linke Daumen einer schwarzen Frau, und er zeigt auf sie. Als Warnung, dass sie schon längst die Linie überschritten hat. Einen Erinnerungsflash lang sieht er aus wie Rons Okay-Zeichen, als er ihr Zimmer betrat, sein schiefes Grinsen grinste und sich auszog.

Als sie noch Melanie hieß.

Abenaa

Sie erwachte von harten Schlägen gegen ihre Fersen. Kräftige Hände hielten sie unter den Achseln und schleiften sie eine Treppe hinunter. Ihre Augen waren verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Sie wollte schreien, hatte aber nicht die Kraft. Sie hörte das Keuchen direkt an ihrem Ohr und roch Zigarettenatem. Nach dem Klang der Schritte waren sie zu zweit.

Ich heiße Abenaa,dachte sie.Ich bin nicht in Ghana. Sie hatte Deutschland ertragen, die Winterkälte, die Absteige. Sie hatte gejobbt, als Kellnerin. Viele Restaurants stellen dunkle Frauen ein, weil weiße Männer aufBrown Sugarstehen. Sie hatte wenige Freundschaften geschlossen, eigentlich gar keine. In diesem Land war Freundschaft eine flüchtige Währung.

»Verdammt schwer, das Teil.«

Der Zigarettenatem hatte eine seltsame Stimme, zu hoch. Sein Keuchen wurde schneller, er hatte keine Kondition. Der andere half nicht, er lief voraus. Ihre Fersen schmerzten bei jedem Schlag. Abenaa presste die Zähne zusammen. Wer auch immer das war, sie würde ihnen keine Angst zeigen, keine Schwäche, sie würde sie in Sicherheit wiegen und dann zuschlagen. So hatte sie es von ihrem Bruder gelernt, in Ghana, als sie ihren Vater verschleppten.

Wenn sie dich holen, spiel ihr Spiel mit, dann werden sie unvorsichtig!

Die Treppe war zu Ende. Ein paar Meter ging es über Linoleum, wieder eine Treppe abwärts, kürzer als die erste, dann ließ der Kerl sie fallen. Ihr Kopf schlug hart auf Beton. Sie zwang sich bei Bewusstsein zu bleiben. Das Keuchen wurde von einem Husten unterbrochen, das ungesund klang. Schlüssel klirrten gegen Metall, eine Tür wurde geöffnet, Zigarettenatem zog sie in einen Raum. Das Echo der Schritte verriet, dass die Wände kahl waren. Wieder knallte ihr Kopf auf den Boden. Hier drin war es kälter als auf der Treppe, aber die eisige Welle, die ihren Körper durchlief, hatte nichts mit der Temperatur des Raums zu tun. Das Geräusch eines sich öffnenden Springmessers hatte sich ihr eingebrannt, seit dem Tag, als sie Papa geholt hatten. Jemand rollte sie auf die Seite und durchtrennte die Handfesseln. Wurden sie nachlässig? Abenaa war hellwach. Wenn ihr jetzt noch die Augenbinde abgenommen würde. Ein scharfer Schmerz schoss ihren linken Arm hinauf, dazu ein knirschendes Geräusch, als der linke Daumen abgeschnitten wurde. Abenaa stöhnte.

»Scheiße, die lebt noch!«

Eine sehr hohe Männerstimme oder eine Frauenstimme, schwer zu sagen. Konnte eine Frau die Kraft haben, sie bis hierher zu schleppen? Es war fast nur abwärts gegangen, aber sie war kein Leichtgewicht.

»Tu doch was!« Die zweite Stimme gehörte eindeutig einem Mann, einem ängstlichen Mann.

»Scheiße!« Der andere wieder. Oderdieandere.

»Scheiße!« Das war das letzte, was Abenaa hörte. Hätte sie noch weiter berichten können, dann hätte sie von einem großen Schwarz erzählt, vom endlosen Nichts. Nicht mal ein afrikanischer Totengott war erschienen. Aber wenn Nichts ist, kann niemand davon erzählen.

Ruby I

Ron grinste immer schief, wenn er ihr Zimmer betrat und mit dem linken Daumen das Okay-Zeichen machte. Sie lag nackt auf dem Bett und sah regungslos zu, wie er seinen Gürtel öffnete. Die Jeans mit den fransigen Rissen rutschte bis zu den Dielen und gab eine ausgebeulte Unterhose frei. Und dürre Storchenbeine in roten Socken. Sie hatte keine Angst vor Störchen.Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren und es kommt nichts hinterher.Über Brechts Gedicht hatte sie heute Morgen eine Deutschklausur geschrieben. Noch das mündliche Fach, dann hatte sie ihr Abi in der Tasche. Sie war völlig übermüdet gewesen, hatte kaum drei Stunden geschlafen und sich wie auf Wolken gefühlt.Some kind of lucky.

Gestern, am 12. April, war in Ami-Land das erste Spaceshuttle gestartet. Als es im strahlend blauen Himmel verschwand, hatte Ron den Fernseher ausgeschaltet und sie waren nach Kaunitz getrampt.Grobschnittin der Ostwestfalenhalle,Illegal-Tour 1981. Ein grandioses Konzert und eine grandiose Nacht. Getanzt, gegrölt, gekifft, getrunken, in der Halle kochte es und draußen goss es aus Eimern. Gegen Eins winkten sie den Rücklichtern des letzten Busses nach, der Richtung Paderborn fuhr, und machten sich zu Fuß auf den Weg. Dreiundzwanzig Kilometer. Irgendwo bei Hövelhof hielt ein blumenbemalter VW-Bulli.Ich geh kaputt, kommste mit?, stand auf der Schiebetür, die nicht mehr dicht schloss. Wenn der sie nicht ein Stück mitgenommen hätte, hätte sie die Deutschklausur vergessen können. Der Bullifahrer hatte rückenlange Haare und sagte, er sei Philosoph. Dann schoss er Sätze wieWir sind nicht alle nackt unter unserer Kleidungund mehr in der Preisklasse. Er war so breit, dass er sich nicht in die Stadt traute und setzte sie in Mastbruch raus. Zum Abschied knutschten sie ihn stereo.

Sie rannten barfuß an den Fischteichen vorbei, breiteten die Arme aus, legten den Kopf in den Nacken und tranken den Regen. »Der Mensch an sich ist wasserdicht«, schrie Ron. Ruby sprang in eine extrabreite Pfütze und verschaffte ihm eine Dusche. Wenn doch der Mensch wasserdicht ist. Der Regen ließ nach und im Osten brannte schon der Himmel, als sie das Riemeke erreichten. Ein Frühaufsteher schimpfte und wechselte die Straßenseite. Sie winkten ihm zu. Sie waren Riesen, sie konnten Petrus die Eier kraulen.

»Was soll man bloß mit so einem machen?«

»Bestenfalls nicht drauftreten«, sagte Ron.

Sie lachte, stolperte an der Bordsteinkante und verstauchte sich den Knöchel. Ron nahm sie Huckepack und trug sie die letzten Meter auf seinen Storchenbeinen. Ron war so lieb, so süß. Der Liebste, der Süßeste, der Beste.

Alle hundert Paderborner Kirchturmglocken schlugen, als sie völlig durchnässt an der WG-Tür klingelten. Schließlich machte Jess auf. Sie war sauer und wehrte Ron ab, der sie zum Trost für die Schlafstörung abknutschen wollte. Hatte dem Bullifahrer doch gefallen.

Ein paar Stunden später saß sie in einem ungelüfteten Klassenraum und las Brechts Gedicht. Über der Klausur stand ihr alter Name, Melanie Dinstag ohnee. Sie schrieb wie im Rausch über die Ereignisse der letzten Nacht, inklusive Bullifahrers Philosophie. Und darunter schrieb sie:Brecht hat recht. Wenn so das Leben ist, was für einen Tod soll ich noch fürchten, was für einen Gott?

Da stand also der Storch in der Tür mit erhobenem Daumen, Unterhose mit Eingriff und roten Socken, direkt unter dem Bob-Marley-Plakat, das sie mit Tapetenkleister unter die Decke gepappt hatten. Er stieg aus der Jeans und kam auf sie zu. Seine Pupillen glänzten, seine Augen waren tiefschwarz gerändert. Den Kater von gestern hatte er mit Batida weggetrunken, sie roch seinen Kokosatem. Er zog das Shirt über den Kopf und präsentierte eine frisch rasierte Brust. Melanie rollte die Augen, bis fast nur noch das Weiße zu sehen war. Ron fand das witzig. Er wackelte mit der Hüfte und begann zu singen. Er hatte eine sanfte Stimme, die jeden Knabenchor veredelt hätte.

»Goodbye Ruby Tuesday, who is gonna hang a name on you? When you change with every new day, still I’m gonna miss you.«

Der alte Stones-Titel. Ron behauptete, Melanie Safka hätte den in Woodstock gesungen, ’69, aber das stimmte nicht, sie kam erst viel später damit raus. Ron fand außerdem, Melanie Dinstag sehe Melanie Safka ähnlich. Besonders fand er das, wenn er breit war. Dann nannte er sie Ruby. Ruby Tuesday. Melanie mochte den Song nicht, vor allem wenn Ron ihn sang. Sie richtete sich auf und zog das Teil mit Eingriff runter. Wie Ron das fand, war unübersehbar. Alle Mädchen waren scharf auf Ronald Träsch. Als er sie fragte, ob sie zu ihm und Jess in die Riemeke-WG ziehen wolle, hatte sie nicht lange überlegt. Sie hatte Hals über Kopf alles stehen lassen, hatte mitten in der Saison den Schwimmverein gekündigt, den verhassten Klavierunterricht und ihren Eltern sowieso. Und das Geilste war, niemand hatte ihr das zugetraut.

Ron fragte mit keinem Wort nach der Klausur. Er war wie immer schnell und direkt. Er stieß ihr ein paar Mal in den Mund, bis Ruby ihn wegdrückte, bevor der Würgereflex einsetzte. Ron war enttäuscht, aber weiter ging nicht.Jess kann das, behauptete er. Ruby war fassungslos, nicht weil Jess das konnte, sondern weil er das sagte.

Dann machte Ron weiter wie immer. Erst Hund, dann Pferd. Wenn sie auf dem Rücken lag, die Füße über seinen Schultern, hätte sie Froschschenkel, meinte er. Das fand er lustig, Ruby nicht. Sie war nur froh, wenn es endlich soweit war, dann hatte sie auch was davon, jedenfalls, wenn sie nachhalf. Beim ersten Mal hatte sie Sorge, Ron könne das falsch verstehen, als Hinweis, dass seine Bemühungen nicht reichen. Aber Ron reagierte ganz entspannt.Mach doch was du willst, sagte er,ich hab meinen Spaß. Das genügte vielleicht nicht Alice Schwarzers Ansprüchen an herrschaftsfreien Sex, aber egal. Ruby hatte über Weihnachten das Buch vom kleinen Unterschied und seinen großen Folgen gelesen. Verschlungen.Jeder Sex zwischen Männern und Frauen, schrieb Frau Schwarzer,ist eine Unterdrückung der Frau.Ruby hatte die Luft angehalten. Ja, Alice, manchmal ist das so. Aber wenn Ron im Umkreis von zehn Kilometern auftaucht, dann ist das nicht so. Dann konnte sie nicht mehr denken. Ron nannte es bloß das Schwanzabschneidebuch. Er hatte keinen Blick hineingeworfen, aber genug davon gehört, behauptete er. Und wenn Ruby ganz ehrlich war, dann war das mit Ron um Lichtjahre besser als mit den Jungs, die immer dreimal nachfragten, ganz besonders, seit es dieses Buch gab.

Darf ich dich streicheln, darf ich dich küssen, unterdrück ich dich jetzt?

Ruby kannte so einen, der ihr wie ein Hund nachlief. Der fragte sogar, ob er sie was fragen dürfe.Kalli. Schrecklich in Ruby verknallt. Hatte in seinem stillen Kämmerlein sicher schon tausend Mal mit ihr geschlafen und das in tausend Gedichten besungen. Im wirklichen Leben war gerade mal eine Einladung in ein hellerleuchtetes Café dabei rausgekommen. Da hatte Kalli ihr einen Tee spendiert, mit braunem Zucker, den er so klasse fand. Den Zucker brauchte er auch nicht zu fragen, der war von selbst süß zu ihm. Bei der Gelegenheit schenkte Kalli ihr einen Zettel mit einem selbstverfassten Gedicht.

Ich lebe in einer Kugel.

Jemand hat ein Loch hineingestochen,

es gibt also ein Außerhalb.

Manchmal hat meine Seele Risse,

durch die es eindringt.

Ruby verlor es schon in der nächsten Mülltonne. Alice hin oder her, da war ihr Ron lieber. Seine Schenkel klatschten gegen ihren Po, er schwitzte und keuchte, und Ruby wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie unterdrückte das Gefühl, pinkeln zu müssen, was sie immer kurz vor Schluss bekam. Einmal hatte sie abgebrochen und war tatsächlich aufs Klo gerannt. Für nichts. Ron war stinksauer gewesen.

Sie gab sich Mühe, aber heute war jede Nachhilfe vergebens. Kein Kribbeln in den Füßen, wo sonst die Welle begann, bevor sie durch den Körper rollte und an der Schädelrückwand zurückgeworfen wurde, die ins Nirwana gedrehten Augäpfel umspülte und in einem Gewitter endete. Ron war ganz verrückt nach dem Zucken ihrer Scheidenmuskeln. Im Idealfall, hatte er gesagt, könne er seinen Orgasmus so lange aufhalten, bis bei ihr der Blitz einschlug, und dann loslassen. Und dann warten bis die Flut abebbte, bis die Wasser sich glätteten, und sie gemeinsam im silbernen Mondlicht hinausschwammen, Ron und Ruby. Und dann, wenn sie am Ufer nebeneinander lagen, eine Farnfeder nehmen und über ihre Schenkel streichen, über den Bauch und die kitzligen Brüste. Und über ihr Gesicht, die geschlossenen Augen, die die Lichtreflexe des Paradieses auffingen.

Aber meistens war nicht der Idealfall und Ron war längst vor der Welle fertig.Open wide, baby, sagte er, das fand er cool. Er schmeckte sogar ein klein wenig nach Batida, fand sie, und Ron behauptete, das sei schließlich der Grund, warum er das Zeug literweise trinke. Doch heute nicht mal das. Keine Welle, kein Kokos, sondern ein klirrender Schlüsselbund. Kurz darauf das Knarren der Wohnungstür, laute hochhackige Schritte und Jessikas Stimme.

»Einer da?«

»Ich komme«, rief Ron.

Er zog sich aus ihr raus und schnappte seine Klamotten. Ruby hielt still und sah zu, wie er mit ausgebreiteten Armen aus dem Zimmer tanzte. Wie Alexis Sorbas als Storch. Minuten später dann das Quietschen von Jessikas Bettfedern. Ruby blickte in Bob Marleys Augen. Das linke lag in einem Knick und lächelte. Am Rhythmus des Quietschens konnte sie den Stand der Dinge verfolgen. Hund, Pferd. Ruby hatte kaum bemerkt, dass sie die Flasche Sliwowitz geöffnet hatte, die ihrKalli-frag-mich-nichtaus Jugoslawien mitgebracht hatte und die er gemeinsam mit ihr leeren wollte, irgendwann. Ruby trank im Rhythmus der Metallfedern. Im Flur schellte das Telefon. Ruby blieb einfach liegen. Nebenan wurde die Zimmertür geöffnet und sie hörte Rons Stimme. Es war ein kurzes Gespräch, eine kurze Atempause, dann schloss sich die Tür wieder und Frosch war dran. Bis Jessi nach einer Ewigkeit furchtbar schrie. Morgen wird sie mit ihrem vaginalen Orgasmus angeben, sobald ihr Ruby über den Weg lief. Als wenn es so was gäbe.

Ruby lächelte zurück. Spitzgefeilte Heftzwecken tanzten vor ihren Augen und krochen böse grinsend unter Jessis Laken. Da konnte Jessi noch so sehr säuseln, wie antispießig Ruby doch sei.Vielleicht können wir ja mal so von Frau zu Frau, undToll, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich mit Ron. Ruby ekelte sich vor dem Sliwowitz, aber egal. Natürlich wusste Jess, was es ihr ausmachte. Besonders diese Schreierei. Und dass Jess Sachen konnte, die Ruby nicht konnte. Jeder einzelne Quietscher durchbohrte ihr Gehirn wie eine angefeilte Heftzwecke.

Als die Flasche leer war, rannte Ruby aufs Klo zum Kotzen. Es stank widerlich. Nie wieder Sliwowitz. Nicht mal riechen.

Später, als es endlich still war, streckte Ruby sich auf dem staubigen Flokati vor ihrem Bett aus. Der Fuß, den sie sich verstaucht hatte, gestern Nacht, als sie Riesen waren, schmerzte wieder. Sie drehte eine dünne Zigarette aus Rons Van Nelle, der ihm aus der Hosentasche gerutscht war. Der war ihr zu stark, aber sie konnte den Buccaneer nicht finden. Bob Marley sah ihr dabei zu.No woman, no cry. Scheiße auch.

Ruby rauchte und hustete und lauschte den Zweigen der Fichte, die gegen die Fensterläden schlugen. Vielleicht hatte Alice ja doch recht. Vielleicht waren die Männer Schweine. Vielleicht gab es einen vaginalen Orgasmus. Oder es gab ihn nur für bestimmte Frauen.Quietschefrauen.

Sie liegt auf dem Bett und starrt die Decke an. Kein Bob Marley mehr. Die Montagmorgensonne quält sich durch löchrige Vorhänge. Ruby ist immer noch betrunken und das Quietschen übertönt selbst die Krähenschreie vor dem Fenster. Jeden Gedanken sowieso. Ihre Zunge klebt am Gaumen und schmeckt bitter, die Lippen sind aufgesprungen. Ruby rollt zur Seite. Fett ist sie. Und warum hört das verdammte Quietschen nicht auf? Sie stemmt sich aus dem Bett und tastet nach der Brille. Eulenaugengroße Gläser, knallroter Rahmen. Irgendwann war die Kurzsichtigkeit stärker gewesen als die Eitelkeit, und eine modischere kann sie sich nicht leisten. Sie steigt über den Müll und findet einen Weg in die Küche. Die Leuchtanzeige der Spülmaschine steht auf1. Eine Minute noch. Sie kann sich nicht erinnern, die angestellt zu haben. Das muss vor 133 Minuten gewesen sein, denn das Teil läuft laut Anzeige 134 Minuten pro Waschgang.

Sie nimmt eine Flasche und trinkt. Wasser. Was anderes ist nicht mehr da. Kurzer Schwindelanfall wie fast jeden Morgen, seit sie Neunundvierzig ist. Auf die Spüle stützen, das dreckige Geschirr anstarren, und warten, bis es vorbeigeht, der Schwindel und das Quietschen der Maschine. Sie hört, wie das Dreckwasser abgepumpt wird, dann ist endlich Stille. Sie sehnt sich nach dieser Stille, aber sobald sie eintritt, hat sie Angst vor ihr. Ruby drückt sich in die Senkrechte und schiebt die Brille hoch. Sie öffnet die Klappe der Spülmaschine. Heißer Dampf flutet ihr Gesicht und beschlägt die Eulengläser. In dem Sekundenbruchteil davor hat sie ihn gesehen. Ihr Mund öffnet sich lautlos. Sie rollt die Augäpfel nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen ist, aber niemand sieht es. Sie stolpert rückwärts über klirrende Flaschen und fällt aufs Bett. Dann ist es so still, als hielte alles den Atem an.

Sie wird den Anblick nicht los. Die vergoldeten Löffel und dazwischen der Daumen einer dunkelhäutigen Frau.

Sie braucht jetzt einen Schluck. Sie öffnet die Augen und kontrolliert die Flaschen vor dem Bett. WodkaJelzin, leer seit gestern Abend. Was ist danach passiert? Soll sie die Polizei rufen?In meiner Spülmaschine steckt ein frischgewaschener Daumen und ich hab keine Ahnung, wie der dahin kommt.Die Bullen würden sich totlachen und sie in eine Ausnüchterungszelle sperren. Oder gleich in die Klapse. Und sie würden Fragen haben, zum Beispiel wie der Daumen in Rubys Spülmaschine kommt. Und vermutlich kämen sie auf recht unangenehme Antworten.

Ruby sieht sich hastig um. Die schnelle Bewegung verursacht wieder Schwindel, und ihr Magen rebelliert, aber sie kämpft sich durch den Nebel bis zum Kühlschrank. Die Kälte, die ihr daraus entgegenschlägt, erinnert sie daran, dass sie nackt ist. Also hat sie sich irgendwann ausgezogen. Ist sie allein gewesen? Hat sie jemanden reingelassen, irgendwann in der Nacht? Da käme schon jemand infrage, aber eigentlich ist ihre Wohnung diesemJemandzu dreckig, weshalb er Ruby immer zu sichnach obenbefiehlt. Ruby schaut zum Bett, kann aber kein Kondom entdecken. Was nichts heißt, die Dinger können überallhin gerutscht sein.

Ihr Blick fällt auf den CD-Spieler, darauf liegt eine CD-Box mit Technoscheiß. Hat sie aus dem Aldi mitgehen lassen. Plötzlich springt das Ding an, aber die CD läuft rückwärts, die Töne klingen, als würden sie verschluckt. Sie tanzt dazu nackt mit einer Wodkaflasche durchs Zimmer und zieht sich an. Dann stellt sie den Player aus, stolpert rückwärts aus der Wohnung ins Treppenhaus und zieht eine Schachtel Pralinen aus dem Briefschlitz der Nachbarwohnung.

Ruby presst die Augenlider aufeinander, bis es weh tut und stoppt den falschen Film. Sie hat also der Nachbarin eine Schachtel Pralinen in den Briefschlitz geschoben. Warum? Weil Abenaa gern Pralinen isst. Weil Ruby was wiedergutzumachen hatte, wegen dem Streit letztes Wochenende.

Okay, also erinnern.

Samstag. Sie ist schon morgens breit wie der Äquator. Sie hat sich in den roten Lackrock gezwängt und ist auf High Heels zum Aldi gestelzt. Scheißegal, oder? Da hat so ein Typ auf der morschen Bank am Eingang gesessen, geraucht und sie angeglotzt. Keine Ahnung, wer, sie hat ja keine Brille auf, weil sie das Scheißteil nicht gefunden hat oder weil sie es uncool fand, das weiß sie doch jetzt nicht mehr. Und auf der Bank sitzen öfter mal Bürger in sozialen Schwierigkeiten, die ein bisschen spannen wollen. Mit diesem »Hey-Baby-ich-weiß-was-du-willst-und-das-hab-ich-in-der-Hose«-Blick. Sie hat ihm den Stinkefinger gezeigt, und er hat den linken Daumen gehoben und gegrinst, jedenfalls soweit sie das erkennen konnte. Die Geste hat sie natürlich an Ron erinnert.Hallo Hallu!, hat sie da gedacht, ein Wiedergänger.

Dann ist sie weiter und die ganze Zeit stechen ihr die Blicke von dem Kerl in den Rücken. Kurz vorm Aldi dreht sie sich wütend um, aber da ist die Bank leer. Als sie sich wieder zurückdreht, wird ihr schwindelig, und wenn Lucky sie nicht aufgefangen hätte, wär sie von den Stilettos gekippt.

Lucky ist sechzehn und behauptet seit zwei Jahren, er sei achtzehn. Er ist blass, klapperdürr, blauhaarig und blondäugig. Sagt Ruby immer. Seine Bernsteinaugen haben kleine dunkle Sprenkel wie Katzenaugen. Ruby ist davon überzeugt, dass seine Pupillen sich zu senkrechten Strichen zusammenziehen können. Damit mustert er sie von den Heels bis zu den unterm Rock hervorquellenden Schenkeln.

»Schon hacke?«

»Halt’s Maul.«

»Haste mal auf’n Tacho geguckt, wie früh es ist?«

»Fick dich.«

»O, Madam hat schlecht geschlafen.«

Lucky ist dieses kleine Stück Scheiße, das nach jedem Spülen wieder hochkommt. Sagt er selbst. Er pustet eine blaue Strähne aus dem Blickfeld und betrachtet sie mitleidig.

»Weißt du warum Männer keine Cellulitis kriegen?«

Ruby ist für einen winzigen Moment überrascht und ärgert sich maßlos darüber. Sie weiß doch, wie es weitergeht.

»Weil das einfach scheiße aussieht!«

Lucky weicht ihrem Schlag aus und rennt kreischend davon.

Auf dem Rückweg vom Aldi hat sie zwei Flaschen Hartz-IV-Limonade in der Plastiktüte. Sie muss sich auf der morschen Bank vor dem Haus ausruhen, auf der der Typ gesessen hat, und sich einen kräftigen Schluck genehmigen. Zur Stärkung. Danach geht sie zum Haus und stürzt fast in die zerdepperte Türscheibe. Sie schimpft so laut über den scheißfaulen Hausmeister, dass es bis ins oberste Stockwerk zu hören ist. Soll es doch. Auch die Kellertür hat er offen gelassen, wie üblich. Sie schaut durch den Spalt nach unten und sieht ein Gesicht im Schatten, das sofort wieder verschwindet. Sein Gesicht! Das passiert ihr in letzter Zeit häufiger, deshalb geht sie davon aus, dass da keins war.Hallo Hallu.

In dem Moment wird die Tür der Hausmeisterwohnung aufgerissen und Ännes hochroter lockengewickelter Kopf geht im Rahmen auf wie der Mond.

»Knut! Essen!«

»He, Änne«, nuschelt Ruby mit schwerer Zunge, »Knuti is im Keller und schwer beschäftigt.«

»Nenn meinen Mann nicht Knuti!«

Ruby lacht. »Aber nich stören!«

»Hau ab, du …«

Ruby flieht vor Ännes Gekeife die Treppe hoch bis zu ihrem Schließfach im vierten Stock. Und dann steht da die Nachbarin. Ruby sieht es ihr schon auf zehn Meter an. Migräne. Oder ihre Tage. Oder einer ihrerfinanziell vorteilhaften Männerbesuche, für die sie sichLulunennt, hat sie beschissen. Oder weiß der Geier. Und sie regt sich auf, krakeelt, schreit das halbe Haus zusammen. Oben und unten gehen die Türen auf und das Pack lauscht. Jajaja, Ruby ist mit Treppenhaus dran. Wischen und so. Und ja, das ist seit einer Woche überfällig.

»Immer abwechselnd!«

Dabei spricht sie merkwürdig undeutlich. Wahrscheinlich hat sich ihr neues Zungenpiercing entzündet.

»Scheiße!«, schreit Ruby zurück. »Immer wenn ich dran bin, hat der Köter vom alten Strang vor deine Tür geschissen.«

»Wahrscheinlich vor Schreck, weil du voll warst und die ganze Nacht rumgegrölt.«

»Hab ich nicht.«

»Vorgestern.«

»Die Kacke hat die Farbe von deinem fetten Arsch.«

»Rassist.«

»Neger.«

»Du warst besoffen und du warst oben. Hab dich gesehn. Hast es wieder statt Miete gemacht.«

»Du doch auch.«

»Das ist was anderes.«

»Und was?«

»Er liebt mich.«

Ruby schreit vor Lachen. Endlich hat die Negertusse zugegeben, dass sie regelmäßignach obengeht, um Otto von einer Mietminderung zu überzeugen.

»Steht er auf Zungenpiercing?«

Abenaa spuckt vor ihr aus und knallt die Tür zu.

Und dann ist eine Woche Funkstille, bis Ruby es nicht mehr aushält und eine Schachtel Pralinen kauft, weil Abenaa gern Pralinen isst.

Ruby steht noch immer frierend vor dem offenen Kühlschrank. Der Inhalt ist übersichtlich. Ein Rest abgelaufene Milch, ein unverpacktes, inzwischen steinhartes Stück Gouda, eine angebissene Mettwurst, deren Anblick sie noch mehr ekelt als die schimmelige Scheibe Brot dahinter. Ein paar angebrochene Konserven und etwas in Papier eingewickeltes, das dort seit Langem liegt und das sie nicht anfassen mag. Doch zu ihrer Erleichterung kein weiterer Finger.

Sie schließt den Kühlschrank, geht zur Wohnungstür und rüttelt daran. Abgeschlossen. Auch die Fenster sind dicht, weshalb es auch so stinkt. Sie öffnet die Tür zu dem Minibalkon, der an den der Nachbarin grenzt, und holt tief Luft. Unter ihr zieht sich eine schlecht gemähte Wiese mit zwei abbruch-reifen Fußballtoren, gesäumt von Krüppelbüschen über die ganze Breite des Wohnblocks. Ruby wird vom Runtergucken schlecht. Sie geht ins Bad und trinkt gierig Wasser aus dem Hahn. Dann setzt sie sich auf die eingerissene Klobrille und sucht nach einem klaren Gedanken.

Ein neues Bild taucht auf. Irgendwann in der Nacht hat sie den Technoscheiß ausgemacht und die Glotze an. So eine amerikanische Sitcom mit eingespielten Lachern. Grauhaarige Damen auf einem Sofa reden über ihre Midlifecrisis, als ob die erst mit siebzig beginnt. Da klopft es. Im Fernsehen. Ein Mann kommt rein, setzt sich lächelnd in den Sessel und schaut sie an. Nicht Ruby, sondern die Cougars. Ruby trinkt Wodka und wünscht sich, sie säße statt der Schachteln auf diesem Sofa.

Erschrocken holt Ruby Luft, als hätte sie für Minuten das Atmen vergessen. Sie liegt auf keinem Sofa, sie sitzt auf der gerissenen Klobrille, die ihr in den Hintern kneift. Ist sie eingeschlafen, als der Mann aufstand und sich dem Sofa näherte? Hat sie das tatsächlich geträumt, oder sah der Typ vielleicht aus wie …Jemand?

Ruby zieht ab und nimmt den Zahnputzbecher. Sie geht zurück zum Bett und kniet sich auf den Boden zwischen die Flaschen von gestern oder letzter Woche. Langsam schraubt sie eine nach der anderen auf und lässt ein paar Reste in den Zahnputzbecher tropfen. Die meisten Flaschen sind komplett trocken, sie hat das Spiel schon einmal gemacht. Oder zweimal. Sie riecht den Schnaps. Alk kann doch nicht schlecht werden. Dann lässt sie die kleine Pfütze in ihre Kehle rinnen. Es brennt hinunter bis in den Magen.

Soll sie zur Nachbarin gehen und das mit dem Daumen erzählen? Und vielleicht ein Gläschen mit ihr trinken? Eigentlich haben sie sich immer gut verstanden. Halbwegs gut. Aber zuerst muss sie das Treppenhaus wischen und Opa Strangs Köterschiss beseitigen, sonst ist keine Chance auf Versöhnung.

Ruby drückt sich hoch und tritt beinahe in den präparierten Slip mit den drei angefeilten Heftzwecken. Vorsichtig zieht sie ihn an. Schutzmaßnahme. Sie findet noch andere Klamotten und einen knielangen schwarzen Rock. Und die speckige Lederjacke, die sie in Ceuta gekauft hat,duty free. Sie nimmt den Daumen aus der Spülmaschine und steckt ihn in die Jackentasche.

Plötzlich hört sie das Schaben von Stuhlbeinen auf Laminat. Ruby starrt die Wand an. Sie ist also da. Vorsichtig öffnet Ruby die Wohnungstür, was gar nicht so einfach ist, denn die Scharniere betteln um einen Tropfen Öl. Ruby lauscht ins Treppenhaus. Keine Stimmen, keine Schritte. Sie schleicht zur Nachbarwohnung. Der Köterschiss ist inzwischen getrocknet und stinkt nicht mehr. Ruby legt ihr Ohr an die verkratzte Metalltür. So wie sie es an Jess’ Tür gemacht hat. Dreißig Jahre her. Nichts zu hören. Kein Klopfen, kein Schaben, kein Quietschen im Rhythmus der Freiheit. Es sind andere Zeiten, jetzt quietschen die Spülmaschinen und die Freiheit ist hin. Nur noch Stille und mietmindernden Beischlaf mit Otto, dessen Sperma nach Sliwowitz schmeckt.

Ruby presst die Stirn an Abenaas kalte Tür. Rons Gesicht ist wieder aufgetaucht, unten im Kellerschatten. Warum? Bloß weil sie den scheiß Daumen gefunden hat, dessen Herkunft sie sich nicht erklären kann, und der so ein Zeichen macht wie Ron, als er ihr Zimmer betrat.Lass mich in Ruhe!Sie verbannt den Schatten nach hinten bis an die Schädelrückwand. Dort klebt er wie ein Gespenst. Ihre Augen folgen ihm und rollen um 180 Grad zurück.Pass auf, sonst bleiben sie dort!, ruft ihre Mutter. Ein grauer Klumpen Hirnmasse liegt vor ihren Pupillen und wird allmählich flüssig, heller, durchscheinend. Dann startet der Film.

Ron und Ruby allein in einem südfranzösischen Pinienwald. So weit waren sie gekommen. Warme Sonnenstrahlen zeichneten Muster aus feinen Nadeln auf ihre Haut, Insektensummen und Rons keuchender Atem, sonst Stille. ZuerstHund.Never change a winning team, hatte Ron gesagt. Ruby kniete und sah einem dünnbeinigen Käfer zu, der sich mit merkwürdig roten Füßen durch ein Gewirr von trockenen Nadeln quälte.

Ron hatte am nächsten Mittag wieder in der Tür gestanden, in denselben roten Socken.

»Hast du meinen Tabak gesehen?«

Ruby hatte noch mit verklebten Augen im Bett gelegen und auf seine Storchenbeine geblinzelt.

»Kommt nicht wieder vor«, hatte er gesagt, »war ein Abschiedsgeschenk an Jess. Musst du verstehn, sie hat die älteren Rechte.«

Er hatte dabei gegrinst. Klar war er ein Arschloch. Aber da war die Sache mit dem defekten Hirnmodul, das mit den Hormonen Flipper spielt und jene spezielle Form von Schwachsinn erzeugt, die einen glauben macht, dieses Mal sei es etwas anderes, etwas Besonderes. Sie ließ Ron unter ihre Decke. Neben dem Bett lagen ein paar kurze Seile, wie kamen die dahin?

Er müsse abhauen, flüsterte er. Sofort. Er war letzte Nacht noch mit derSplittergruppeunterwegs gewesen. Sie hatten angerufen, zwischen Pferd und Frosch. Noch ein Grinsen. Schaufensterscheiben hatten sie eingeworfen. Gegen das Schweinesystem, das nun hinter derSplittergruppeher war.Cool, hatte Jess gesagt, und er war direkt nach Frosch los. Und dann waren plötzlich die Bullen da. Hatten sie nicht erwischt, aber fotografiert. Ruby zitterte und presste ihren Körper an seinen. Eine schwache Erinnerung hatte sie an ein Telefonklingeln, und dass sie zum Klo gerannt war. Danach war alles gelöscht.

Rons Hand auf ihren Brüsten. »Wir beide.«

»Noch drei Tage, dann hab ich das Abi.«

»Ich dachte, das ist dir egal.«

»Eigentlich ja«, flüsterte Ruby.

»Okay, in drei Tagen.«

Sie zogen sich an und schlichen durch die Hintertür aus dem Haus. Ron buddelte zwei Plastiktüten aus dem weichen Boden unter der Fichte und Ruby führte ihn zu dem Schrebergartenhaus der Dinstags, das schon lange nicht mehr benutzt wurde. Die drei Tage konnte er dort verbringen.

»Hat Jess uns verpfiffen?«, fragte er, als Ruby gehen wollte.

»Wieso …«

»Die Bullen konnten nicht wissen, wo wir auftauchen würden.«

»Jess?«, fragte Ruby.

»Jess.«

Ruby zuckte mit den Schultern. Dann drehte sie sich um und rannte.

Am nächsten Morgen prangte ein unscharfes Bild im Westfälischen Volksblatt, auf dem Ron nur mit viel Fantasie zu erkennen war.Wer hat diese Männer gesehen?Es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie die einschlägigen WG’s durchsuchten.

Pferd. Der dünnbeinige Käfer mit den roten Füßen kletterte einen Pinienstamm hoch.

Sofort in der Nacht der Abi-Feier waren sie abgehauen. Ruby hatte die alte Melanie endgültig hinter sich gelassen, Melanie Dinstag ohnee, die viel zu schüchtern war für so ein Abenteuer. Sie hatten niemanden in ihre Pläne eingeweiht. Während die anderen von Zukunft und Karrieren träumten, waren sie losgetrampt und hattenBobby McGeegesungen.Freedom’s just another word for nothing left to lose.Der Rhythmus der Freiheit. Janis Joplin. Seit elf Jahren tot. Aber sie lebten. Jetzt. Sie waren großartig.

The Big Trip to Freedom! The Big Trip to Heaven!

Sie vermissten nichts und es war ihnen egal, ob sie vermisst wurden. Sie waren frei, endlich.

Rock’n’Roll.

Ron’n’Ruby!

Frosch, endlich. Der Käfer war verschwunden. Und kein Quietschen aus dem Nachbarzimmer mehr, nur die Sonne, das Meer und Sex im Pinienwald. Inklusive Welle und Rausschwimmen im nächtlichen See, und nachher unterm Sternenhimmel liegen und die Farnfeder auf den Brüsten spüren. Leider gab es zu selten Batida de Coco und zu viel billigen Wein. Dafür war da der Geruch von Piniennadeln und das Schreien der Krähe, ganz nah und so laut, dass es in Rubys Kopf nachhallte.

Bis heute.

Ruby II

Stiefelschritte kommen von unten herauf, ein schwerer wechselt sich mit einem kürzeren leichteren ab. Hausmeister Knut zieht das linke Bein nach, seit einem Unfall, erzählt er jedem. Was für ein Unfall das war, erzählt er nicht, und Ruby hat sowieso keine Lust, ihm irgendwas zu glauben. Sie nimmt die Stirn von Abenaas Tür. Die Augen brauchen einige Sekunden, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen, das durch die verdreckten Oberlichter fällt. Sie zwängt sich hinter den Schrank, den Abenaa sofort nach ihrem Einzug aus der Wohnung geschoben hat. Das ist verboten, aber wen kümmert das? Knut jedenfalls nicht. Sein Kommen kündigt sich mit feinen Wolken an, die von seiner schwitzenden Glatze aufsteigen, begleitet vom Schnaufen einer altersschwachen Dampflok. Schließlich erscheint der ganze Mann. Die Schiebermütze hat er wegen der Erhitzung abgenommen und wischt damit über die Stirn. Er wirft einen Blick auf Abenaas Tür, aber nicht hinter den Schrank. Er ist auf dem Weg zu einer Wohnung im siebten. Das zumindest vermutet Ruby, und dass dort Lucky wartet. Als er weg ist, drückt sich Ruby wieder aus der Lücke zwischen Schrank und Mauerwerk. Verdammt, ist sie fett.

»Das Zimmer ist frei«, piepst eine noch vom Stimmbruch verschonte Jungenstimme.

Mist, warum hat sie nicht etwas länger gewartet.

Knut knurrt eine unfreundliche Antwort. Dann kommt die verrotzte Nase des Bengels die Treppe runter. Sobald er Ruby sieht, wird sein Gang breitbeiniger. Er gehört zu der alleinerziehenden Schlampe im siebten, die ihr Gewächs tagelang sich selbst überlässt, weil sie noch was erleben will, keiner weiß wo und zwischen wessen Beinen. Und keinen interessiert’s. Kollateralschaden ist dieser Furz, der glaubt, all die Ausdrücke, die er von seiner Erziehungsverpflichteten gelernt hat, an dem Rest der Menschheit ausprobieren zu dürfen. Und der während ihrer Abwesenheit das Schlafzimmer untervermietet, zum Beispiel an Lucky und Knut. Zur Aufbesserung von Hartz IV. Vielleicht hat seine Mutter noch kein Angebot von Otto bekommen. Eigentlich unwahrscheinlich. Vielleicht hat sie es abgelehnt. Wäre cool.

Inzwischen hat sich der Rotzbengel vor Ruby aufgebaut und glotzt mit ausdrucksloser Visage auf ihre Brüste. Dann hebt er langsam den Blick bis zu ihrer Eulenbrille. Er hat schon einiges drauf.

»Du bist so was von Achtziger, Bitch.«

Scheiß MTV-Generation. Verpiss dich, du kleiner Scheißer. Kaum zwölf und schon ein Arsch. Ist es verboten, so einem eine zu klatschen? Allein schon zur Wahrung von einem letzten Rest Respekt. Was für ein letzter Rest? Ruby beißt auf ihre Unterlippe und versucht, sich an ihm vorbeizuschieben. Er macht keinen Millimeter Platz. Er stinkt nach einem Männerparfüm. Gibt’s noch Zweifel an seiner Karriere? Ruby holt aus, aber er duckt sich weg und rutscht das Geländer runter. Sein Lachen und ein paar weitere Nettigkeiten kieksen durchs Haus, dann ist er unten und raus auf die Straße.

Ruby stapft die Treppe runter.Siebziger, denkt sie. Wir waren die Reste, die in den Achtzigern noch nicht mitbekommen hatten, dass die Siebziger vorbei waren. Dann bemerkt sie fast auf jeder Stufe die schwarzen Striche, so als habe jemand seine Gummisohlen drüber gerieben. Irgendsoein Blödmann. Und Knut ist natürlich viel zu beschäftigt, um das wegzumachen.

Unten hängen etwa zwanzig Metallbriefkästen. Rubys ist mit Werbung verstopft. Sie wird sich darum kümmern, aber nicht jetzt. Neben dem Haupteingang gibt es die Tür zum Keller, meistens abgeschlossen, wenn Knut es nicht vergisst. Davor liegt zwischen Zigarettenkippen und einer gelben Pfütze ein Lederarmband. Ruby hebt es auf. Es ist geflochten und ein einzelner roter Faden ist hinein gewebt. Irgendwie afrikanisch. Ruby meint, es bei Abenaa gesehen zu haben. Sie steckt ihre Hand hindurch und findet, dass es ihr gut steht. Sie wird es der Negertusse zurückgeben. Vielleicht, wenn die sich wieder beruhigt hat. Also wenn Ruby Opa Strangs Köterschiss beseitigt hat.

Der Aldi ist nicht weit. Trotzdem schafft die Dicke mit den zwei Plastiktüten den Weg nicht in einem Stück. Sie lässt sich schwer atmend auf eine bröckelnde niedrige Mauer fallen und sucht in ihrer Jacke nach Zigaretten. Sie heißt Russlana, oder so, und ist einfach scheiße drauf. Sie wohnt im Stockwerk über Ruby und es ist schwer vorstellbar, wie sie die Treppe bis dorthin bewältigt. Mit ihren prallen Tüten und den vollgestopften Plastiktaschen. Ruby ist an ihr vorbei, bevor Russlana sie um Hilfe anbetteln kann.

Vorm Aldi lehnt Lucky, heute in engen schwarzen Leggins, Sneakers und Jeansjacke mit geschätzten dreihundert Aufnähern. Sein rechtes Ohr ist getunnelt und entzündet. Lucky raucht. NichtLucky Strike,die kann er nicht bezahlen, also findet er sie auch scheiße. Er dreht mit Billigkraut.Rancho. Schmeckt wie russische Baumrinde. Manchmal schnorrt Ruby eine von ihm.

»Willst ’n du hier?«

»Stör ich?«

»Mache ich so einen gestörten Eindruck?«

»Ehrlich gesagt …«

»Halt’s Maul.«

Das übliche. Lucky bläst ihr den Rauch ins Gesicht.

»Dachte, du wärst …« Sie nickt zum Wohnblock.

»Siehste, was beim denken rauskommt.«

»Knut war aufm Weg nach oben.«

Lucky zuckte nur mit den Achseln. Ruby hat keine Lust, ihn auf das Ohr anzusprechen. Vermutlich sitzt da in ein paar Tagen etwas in der Größe eines Colaverschlusses drin oder so. Und später kriegt er ein hässliches Schlabberohr. Aber Lucky wird ja nicht alt. Er hält Ruby die Zigarette hin.

»Kannst den Rest haben.«

»Danke. Hab ’n komisches Erlebnis gehabt.«

Lucky grinst müde.

»Haste doch immer.«

Er gibt ihr einen schnellen Kuss aufs Ohr, was schmerzhaft knallt, und dreht ab.

»Muss weg.«

»Arsch.«

Lucky verlässt das Bild. Hätte sie ihm von dem Daumen erzählt, hätte er ihr sowieso nicht geglaubt, selbst wenn sie ihm das Teil sonstwo reingeschoben hätte. Ruby fasst in ihre Jackentasche. Er ist noch da. Sie hört dem Langhaarigen zu, der auf dem Mülleimer hockt, Gitarre spielt und den blauen Himmel ansingt.

This could be heaven or this could be hell.

Otto kommt plötzlich aus der automatischen Schwingtür. Er sieht Ruby nicht und steuert direkt auf den Sänger zu.

»Gut, dass du hier sitzt.«

Der Musiker unterbricht überrascht sein Spiel.

»Wieso?«

»Dann sitzt du wenigstens nicht woanders im Weg.«

Otto grinst nicht mal, sondern stapft zum Parkplatz.

»Kuck nich so mixolydisch.«

Das ging an Ruby. Sie kennen sich. Manchmal darf sie sich bei ihm ein Lied wünschen, für lau, manchmal für einen Kuss oder einen Schluck Wodka. Das letztere besonders, wenn es kalt ist. Heute hat sie keinen Wunsch. Sie raucht ein paar Züge und zertritt die Kippe.

»Da ist der Abfall!«, keift eine Oma mit Dutt, die, auf ihren Rollator gestützt, ein etwa vierjähriges Mädchen bewacht. Sie deutet hektisch zum Mülleimer, auf dem Musiker sitzt.

»Soll ich dich dahin begleiten?«, fragt Ruby freundlich.

Die Oma schnappt nach Luft, wird aber von der Kleinen abgelenkt, die an ihrem Rocksaum zupft. Sie will ihr einen Kreis zeigen, den sie mit einem Stöckchen in den Staub gemalt hat, mit einem Strich von der rechten Seite bis zu ihrer Miniaturfußspitze.

»Fein!«, säuselt die Oma. »Du kannst schon eine Neun schreiben.«

»Nee«, widerspricht die Kleine und piekst zwei Löcher in den Kreis, »das bist du.«

Brüllend vor Lachen flüchtet der Musiker Richtung Parkplatz. Die Oma blickt in Rubys Gesicht. Ruby verzieht keine Miene. Sie bückt sich und ergänzt einen Nasen- und einen Mundstrich und kann grade noch in den Aldi entkommen, bevor die Handtasche der Oma auf ihren Rücken knallt.

Sie haben schon wieder umgeräumt. Das wäre, so hat ihr mal ein pickeliges Jüngelchen über ein Regal hinweg erklärt, das er gerade umräumte, das wäre, weil die Kunden mal was Neues entdecken sollen. Ruby will nichts Neues entdecken. Hauptsache die Limonade-Abteilung ist noch da, wo sie vorgestern war. Ist sie. Ruby klemmt drei HalbliterflaschenJelzinzu 4,95 unter den Arm und nimmt den kürzesten Weg zur Kasse. Die Blicke aus Abscheu und Mitleid, die sie begleiten, stören sie nicht. Nicht mehr. Bei manchen ist es der blanke Neid, weil sie sich keine drei Flaschen Himmel leisten können, weil Monatsende ist und sie keinen Otto haben, oder leider Männer sind, auf die Otto nicht steht. WobeiHimmelsicher das falsche Wort ist für etwas, dessen Geschmack Lucky mal zwischen Putzmittel und Katzenpisse eingeordnet hat. Lucky hat manchmal sogar Fantasie. Und Ruby will sich das Zeug ja auch nicht auf der Zunge zergehen lassen.

Sie verstaut zwei Flaschen im Rucksack, schraubt die dritte auf und testet ihre Fähigkeit zur Brechreizunterdrückung gleich vor dem Eingang. Das Zeug kann Löcher in Beton ätzen. Und die Kommentare der Passanten auch. Sogar die Dutt-Oma ist wieder zur Stelle.

»Hab ich’s doch gewusst.«

»Auch ’n Schluck?« Ruby kann manchmal richtig freundlich.

Dutty kippt fast hintenrüber und wird von einem rotnasigen Fünfziger aufgefangen.

»Verzieh dich, du Schlampe«, sabbert Dutty.

»Kacktusse!«

Dutty hebt den Zeigefinger. Sie war mal Lehrerin, zu anderen Zeiten.

»Das heißt Kakteen.«

Ruby verdreht die Augen. Der Fünziger schüttelt die Faust. Es gibt einfach keine Solidarität unter Alkis. Ruby sieht ihm auf zehn Kilometer an, wie gern er einen Schluck hätte. Jede Wette, dass er genau das nachholen wird, sobald er in den eigenen vier Wänden unsichtbar ist. So einer, der den Schwanz bei Kälte einzieht, und ihn erst wieder hervorholt, wenn es warm und feucht ist. Lächelnd prostet sie ihm zu, setztJelzinein zweites Mal an und schlendert arschwackelnd unter seiner Nase durch. Schön, dass noch nicht alle so weit runter sind, dass sie es in der Öffentlichkeit tun. Aber die Sorte Schimpfwörter, die jetzt um Ruby herum auf die Betonplatten klatschen, sie auf Schultern, Hals und Kopf treffen –scheiße, habt ihr denn keinen Anstand?Ruby wehrt sich mit noch ausladenderen Bewegungen ihres Hinterns, bis sie außer Hörweite ist und die Schreier aufgeben.

Nur die Stimme des Musikers weht vom entgegengesetzten Ufer des Parkplatzes zwischen den Betonwänden durch. Ruby kann ihn nicht sehen.Hinterngrunzmusikhat er seine Tätigkeit mal genannt. Sehr passend. Jetzt singt er so eine Schmalznummer.Fly me to Paresis. Nicht Rubys Ding.

Beim scherbenumkränzten Altglascontainer ärgert sie sich, dass sie ihren eigenen Glasmüll vergessen hat. Bis zum nächsten Mal wird sich schon zu viel für einen Gang angesammelt haben. Sie setzt sich auf den Mauerrest, wo auch Russlana pausiert hat, vor ihrer Besteigung des sauerstoffarmen fünften Stockwerks. Jetzt spürt sie die Schmerzen der Treffer. Ein weiterer Kuss vonJelzinbringt wieder eine Art Klarheit in ihre Gedanken.

Eine junge Frau schiebt einen Kinderwagen Richtung Aldi. Das Kind plappert etwas, sie schaut nur regungslos geradeaus. Etwas berührt Rubys Bein und Ruby schreit leise. Es ist nur ein Hund, kaum größer als eine Katze, mit schwarzweiß geschecktem verknotetem Fell. Er trägt kein Halsband, das ist normal in dieser Gegend. Ruby lässt ihn an ihrer Hand lecken.

»Na, Boris.«

Sie nennt ihn einfach passend zum Wodka, der den Namen eines russischen Präsidenten mit bekanntem Hang zu dem Gesöff trägt. Boris springt an ihrem Bein hoch und will es … sagt man bei Hunden auch ficken? Männer! Ruby tritt ihn weg, aber Boris ist hartnäckig. Beim nächsten Sprung entdeckt Ruby, dass Boris eine Frau ist. Also hat sie ihre Bemühungen falsch gedeutet? Aber sie hat keine Lust, den Namen zu ändern. Jetzt schnüffelt Boris an ihrer Jackentasche. Ach, klar, sie riecht den Daumen. Weiber! Ruby hat das Teil nicht Lucky gezeigt, jetzt zeigt sie es eben Boris. Es ist kein Traum, es ist wirklich ein weiblicher, dunkelhäutiger Daumen. Warum ist sie sich sicher, dass es ein weiblicher ist? Kann man einen weiblichen von einem männlichen Daumen unterscheiden? Lack ist nicht zu erkennen. Aber der Nagel ist sorgfältig geschnitten, die Haut ist gepflegt, und er ist schmaler als die Männerdaumen, die Ruby kennt.

Boris ist hungrig und schnell. Sie rennt mit der Beute weg, so rasch es ihre kurzen Beine schaffen. Für einen Moment hält Ruby den Atem an, dann schreit sie, laut und grell, solange die Luft reicht. Ein paar Kinder starren sie entsetzt an, und Ruby starrt an ihnen vorbei in eine leere Leere. Wie kam dieser Daumen zu ihr? Was hat sie getan, an was kann sie sich verdammt noch mal nicht erinnern? Die Nebel von der Schädelrückwand kriechen nach vorn und hüllen alles ein. Sie geben Ruby erst wieder frei, als sie vor ihrer Wohnungstür steht. Das einzige, was ihr auffällt, ist, dass jemand Opa Strangs Köterschiss weggemacht hat. Mit zitternden Fingern schiebt sie den Schlüssel ins Schloss und drückt das Türblatt nach innen, auf das sie mit EddingR. T. gemalt hat.

Drinnen stinkt es. Ruby sieht ihn sofort. Auf dem Küchentisch liegt er und zeigt auf sie. Ruby braucht keinen zweiten Blick, um zu wissen, dass es ein linker Zeigefinger ist. Von einer schwarzen Frau. Sie starrt den Zeigefinger an und hofft, dass er sich auflöst wie eine Fata Morgana in der endlosen afrikanischen Wüste. Vielleicht ist es möglich, Gespenster kaputtzustarren, vielleicht verschwindet er, wie er gekommen ist, die Grenzen ihres Lebens sind doch schon ausgefranst und durchlässig. Sie bekommt keine Luft, sie reißt die Balkontür auf und versucht die rotierenden Augäpfel unter Kontrolle zu bekommen. Dann kippt sie den Rest der Wodkaflasche runter. Sie fällt.

Als sie wieder zu sich kommt, setzt schon die Dämmerung ein. Sie liegt neben dem Küchentisch. Der Zeigefinger ragt einen Zentimeter über die Tischkante und beobachtet sie.Cool bleiben. Ruby zwingt sich, langsam und tief zu atmen. Nicht wieder wegsacken. Und nichts trinken außer Wasser. Sie schaut sich um, versucht jede Kleinigkeit zu erfassen, jede Veränderung. Irgendwas muss doch irgendwas verraten. Die Balkontür steht offen, das hat sie selbst gemacht, die war zu, als sie in die Wohnung kam. Ebenso die Fenster. Ebenso die Eingangstür, sie hatte aufschließen müssen.

Denken.

Jemand ist hier gewesen. Letzte Nacht und nochmal, als sie im Supermarkt war. Oder hat der Zeigefinger schon heute Morgen dort gelegen und sie hat ihn übersehen? So wie sie oft Dinge nicht sieht wie diesen Brief. Er lag auf dem Laminat, mit dem Otto vor drei Jahren sämtliche Wohnungen im Haus hat auslegen lassen. Die alten Teppiche waren artenreiche Biotope gewesen und das Rausreißen eigentlich ein Fall fürPETA. An dem Brief war sie tagelang vorbeigelatscht.30 JAHRE ABIstand fett darauf, neben ihrer Adresse. Vielleicht hat sie ebenso den Zeigefinger übersehen. Oder sie hat ihn selbst dorthin gelegt, beim letzten Filmriss. Was hat sie in der Filmrisszeit gemacht? Wenn sie das beantworten könnte, wäre es kein Filmriss.

Nur mal angenommen, es wäre so, jemand dringt in ihre Wohnung ein. Warum? Was will der? Oder die. Einen abgeschnittenen Finger hinlegen? Einen, der noch dazu aussieht, als gehöre er ihrer Nachbarin, der blöden Kuh. Vielleicht sollte sie nachsehen, ob Abenaa noch alle Finger hat. Alle Tassen im Schrank ja schon lange nicht mehr.

Oder einfach abhauen, noch heute. Wäre nicht das erste Mal. Aber die Wohnung ist günstig und heizbar, und der Vermieter lässt sich in Naturalien auszahlen, wenn sie pleite ist. Oder wenn ihm danach ist. Und wenn der Winter kommt, ist es verdammt kalt unter den Brücken.

Andere tun das auch.

Lass das Saufen, no Alk, no Filmriss!

Wehr dich, du bist noch keine Fünfzig.

Aber bald.

Ruby zieht sich an der Sesselkante hoch. Sie macht einen weiten Bogen um den Küchentisch und positioniert sich so, dass der Finger nicht mehr auf sie zeigt. Sie nimmt den Hörer des antiken Schnurtelefons. 110 ist die Polizei. Oder 112? Sie wählt 110.

»Polizei Paderborn, Guten Tag. Mein Name ist Ludwig, was kann ich für Sie tun?«

Eine Frauenstimme, warm und rauchig wie von einer Sexhotline.

»Ich … ich wollte …«

»Wie ist denn Ihr Name?«

»Pizza Hawaii«, stammelt Ruby. »Mit doppelt Käse, bitte.«

»Ich glaube, Sie sind falsch verbunden.«

»D...das glaube ich auch.«

Ruby legt auf. Sie rennt zum Klo und beugt sich über die Schüssel. Sie würgt, aber es kommt nur dünnes Grünes. Sie hat heute ja noch nichts gegessen, nur getrunken. Die zwei vollen Flaschen Wodka im Rucksack fallen ihr ein. Ruby setzt sich auf die kaputte Klobrille. Das Pinkelgeräusch hört sich an, als würde das Wasser ihr ungeduldig ins Ohr flüstern. Was soll sie denn den Bullen erzählen, verdammt! Jetzt heult sie auch noch. Die Tränen schmecken scheiße.

Genau wie die Tränen damals nach der Sliwowitznacht. Ron hat ihr später erzählt, sie sei laut schreiend in Jess’ Zimmer gerannt, nachdem sie für alle gut hörbar gekotzt hat. An den Teil hat sie keine Erinnerung mehr. Sie habe versucht, Jess zu verprügeln, und als sie das nicht geschafft hat, weil Ron sich vor Jess gestellt hat, habe sie den Käfig geöffnet und Jess’ Wüstenrennmaus gepackt. Und dann habe sie der Maus in den Hals gebissen. Ron habe sie dann in ihr Zimmer zurück gebracht und ans Bett gefesselt. Zumindest stimmte, dass sie am nächsten Morgen in ihrem eigenen Bett aufwachte, zwar nicht gefesselt, aber ein paar Seile lagen auf den Dielen. Schlimm verkatert, die Kehle brannte wie Feuer und ließ sich kaum kühlen, nicht mit einem Liter Wasser. Aber das Schlimmste ist, dass ihre Erinnerung nur bis zur Sliwowitzflasche reicht, bis ihr schlecht wurde, danach ist alles gelöscht. Ihr erster Riss. Sie hat Rons Berichten glauben müssen, jedes Detail. Auch dass Jess noch in der Nacht ausgezogen war. Tatsache ist, dass Ruby sie nie wiedergesehen hat.

»Was ist denn aus der Maus geworden?«, hat sie Ron gefragt.

»Tot«, hat Ron geantwortet. Und dann hatte er gegrinst, wie er immer grinste, und mit dem Daumen das Okay-Zeichen gemacht. Und so weiter.

Ruby beugt sich über das Waschbecken und hält das Gesicht unter den Strahl. Sie will sich nicht unterkriegen lassen, sie ist noch nicht am Ende. Kein Alk mehr ab jetzt. Nachdenken: Wie kann sie dem Schwein auf die Spur kommen? Sie schaut in den Spiegel. Die Falten graben sich von Jahr zu Jahr tiefer ein, das fette Doppelkinn ist nicht so fett wie bei Russlana. Am furchtbarsten sind ihre Augen in den schwarzverschatteten Höhlen. Und dahinter das Hirn, in dem die Hauptstraßen gesperrt sind und sie Umwege nehmen muss durch schlecht beleuchtete Gassen. Dabei sieht sie die Filme auf der Schädelrückwand und kann später nicht sagen, wo sie die letzten Stunden verbracht hat.

Bin ich Jekyll, bist du Hyde?

Der Spiegel weigert sich zu antworten.

Scheiße, Blödsinn!

Wann fing das an, dass sie so aufgegangen ist? Hat nicht Abenaa sie neulichFettarschgenannt? Oder sie Abenaa, kann auch sein. Wo verdammt steckt die Tusse? Sonst hört man täglich Urwaldmusik, Trommeln undAijaijaiund so. Seit gestern nicht mehr. Oder seit wann? Vielleicht ist sie zurück nach Afrika. Ghana? Kann sein. Irgendwo Nähe Äquator, wo es wärmer ist als hier und wo es keinen Schnee gibt. Und mehr Trommeln und weniger Bleichgesichter.

Ruby holt eine Gabel aus der Küche. Sie nähert sich dem Zeigefinger und holt aus. Sie sticht zu. Sie muss das mehrmals wiederholen, bis sich die Zinken tief genug in das Fleisch bohren. Dann geht sie raus auf den Balkon. Sie gräbt mit der linken Hand ein Loch in die trockene Blumentopferde. Darin beerdigt sie den Finger. In einer Fliesenritze wächst Gras. Ruby zieht es samt Wurzeln heraus und pflanzt es auf das Grab. Auf ihrer Schädelleinwand vermehren sich die Halme und dehnen sich zu einer weiten Graslandschaft im Sommerwind. Südfrankreich.

John Lennon sangImagine. Und dass dort kein Himmel ist, dass es leicht ist, sich das vorzustellen, man muss es nur versuchen. Über uns nursky. Stell dir vor, alle leben nur für heute. Und genau das taten sie. Nur für heute leben. Im weichen Gras liegen, das der Wind wiegte, mit Sonne auf warmer Haut. Diana Spencer bedauern, die bloß den segelohrigen Frosch Charles bekommen hatte und keinen verwunschenen Prinzen. Selber sich viel geiler als alle Dianas der Welt fühlen und trinken und vögeln, als ob es kein Morgen gebe. Nachher den Himmel bestaunen,only skyund keine Hölle unter uns, noch das Gefühl von Ron in der Vagina und seinen Geschmack auf der Zunge. Auf die Nacht warten, Rotwein trinken, Kerouac und Ginsberg lesen und in die Sterne schauen, die so nah waren. Eine neue Zeit war angebrochen.The Big Trip. Grenzenlos. Love&Peace. Rock’n’Roll. Ron’n’Ruby.

Sie schliefen auf dem Heuboden einer Scheune, zu dem man über eine wackelige Holzleiter gelangte. Die Scheune war Teil eines so malerischen wie verwahrlosten Bauernhofs. Meistens waren sie nicht allein, aber Ron störten die nächtlichen Geräusche der anderen nicht, die störten sich ja auch nicht an ihren.

»Wenn es nach dem Tod so schön ist wie jetzt, dann habe ich keine Angst davor.«

»Brecht sagt, es kommt nichts hinterher.«

»Was wusste schon Brecht.«