Gorgias - Platon - E-Book

Gorgias E-Book

Platón

0,0
5,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einem seiner größten Dialoge lässt Platon Sokrates gegen den Sophisten Gorgias und zwei seiner Schüler antreten. Am schamlosesten von allen verficht Kallikles das Recht des Stärkeren und den Nutzen der Rhetorik im Dienste machtbesessener Demagogie. Sokrates dagegen hält an der zentralen Frage, "wie man leben soll"? fest und erklärt unbeirrt den Zustand der menschlichen Seele zur entscheidenden Instanz. Krönender - und unwidersprochen bleibender - Abschluss seiner Ausführungen ist der berühmte Unterweltsmythos.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 308

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PlatonGorgias

Übersetzt von Michael Erler

Kommentiert und mit einem Nachwort versehenvon Theo Kobusch

Reclam

2011, 2014 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960494-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-018996-2

www.reclam.de

Inhalt

Gorgias

Einleitungsgespräch (447a–449a)

Gespräch Sokrates – Gorgias (449a–461b)

Gespräch Sokrates – Polos (461b–481b)

Gespräch Sokrates – Kallikles (481b–522e)

Mythos (523a–527e)

Zu dieser Ausgabe

Kommentar

Literaturhinweise

Nachwort

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

GorgiasoderWie man leben soll

Kallikles. Sokrates. Chairephon. Gorgias. Polos.

[447a] Kallikles. An Krieg und Kampf, so sagt man, muss man, Sokrates, auf diese Weise teilnehmen.

Sokrates. Kommen wir etwa, wie man so sagt, erst nach dem Fest und sind zu spät?

Kallikles. Und zwar nach einem wirklich prächtigen Fest. Viel Schönes hat uns Gorgias nämlich gerade eben vorgeführt.

Sokrates. An unserer Verspätung, Kallikles, ist Chairephon hier schuld, weil er uns zwang, auf der Agora zu verweilen.

[b] Chairephon. Nicht schlimm, Sokrates. Denn ich werde es auch wieder in Ordnung bringen. Gorgias ist nämlich mein Freund. Deshalb wird er uns eine Vorführung bieten, wenn es gut scheint, jetzt gleich; wenn es dir aber lieber ist, ein anderes Mal.

Kallikles. Was denn, Chairephon? Sokrates möchte Gorgias hören?

Chairephon. Eben zu diesem Zweck sind wir hier.

Kallikles. Also jederzeit, sobald ihr zu mir nach Hause kommen wollt. Denn Gorgias ist bei mir abgestiegen und wird euch eine Vorführung geben.

Sokrates. Schön, Kallikles. Aber ob er denn auch wünscht, ein Gespräch mit uns zu führen? [c] Ich möchte ihn nämlich fragen, was die Wirkung der Kunst dieses Mannes ausmacht und was das ist, was er ankündigt und lehrt. Die Vorführung mag er, so wie du sagst, ein andermal geben.

Kallikles. Am besten ist es, ihn selbst zu fragen, Sokrates. Denn auch das war ein Punkt seiner Vorführung. Beständig forderte er eben dazu auf zu fragen, was einer von den da drinnen anwesenden Leuten wollte. Auf alles, sagte er, werde er antworten.

Sokrates. Das sagst du schön. Frage ihn, Chairephon.

Chairephon. Was soll ich fragen?

[d] Sokrates. Wer er ist.

Chairephon. Wie meinst du das?

Sokrates. Wie wenn er z. B. ein Handwerker wäre, der Schuhe herstellt. Dann würde er wohl antworten, er sei ein Schuster. Oder verstehst du nicht, was ich meine?

Chairephon. Ich verstehe und werde fragen. Sage mir, Gorgias: Hat Kallikles hier recht, wenn er behauptet, dass du ankündigst, alles zu beantworten, was auch immer einer dich fragt?

[448a] Gorgias. Es ist wahr, Chairephon. Denn eben jetzt habe ich genau dies angekündigt, und ich behaupte, dass mich seit vielen Jahren kein Mensch etwas Neues gefragt hat.

Chairephon. Also fällt es dir leicht zu antworten, Gorgias.

Gorgias. Es steht dir frei, Chairephon, eine Probe davon zu nehmen.

Polos. Beim Zeus, wenn du wirklich willst, Chairephon, stelle mich auf die Probe. Denn Gorgias scheint mir wirklich ermüdet zu sein. Viele Dinge nämlich hat er eben durchgesprochen.

Chairephon. Was denn, Polos? Meinst du, du könnest schöner als Gorgias antworten?

[b] Polos. Was macht das aus, wenn es dir nur genügt?

Chairephon. Nichts. Aber da du so willst, antworte.

Polos. Stell eine Frage!

Chairephon. Ich frage also: Wenn Gorgias ein Wissen hätte in der Kunst, in der sein Bruder Herodikos Wissen hat, wie würden wir ihn dann zu Recht nennen? Nicht so wie diesen?

Polos. Gewiss.

Chairephon. Wenn wir also sagten, er sei Arzt, würden wir es richtig sagen?

Polos. Ja.

Chairephon. Wenn er aber kundig wäre in einer Kunst, wie sie Aristophon, Sohn des Aglaophon, oder dessen Bruder beherrscht, wie würden wir ihn dann wohl richtig nennen?

[c] Polos. Natürlich Maler.

Chairephon. Nun aber, da er Sachverstand in welcher Kunst hat, wie nennen wir ihn wohl richtig?

Polos. Chairephon, viele Künste gibt es bei den Menschen, die aufgrund von Erfahrungen auf experimentelle Weise gefunden wurden. Denn Erfahrung bewirkt, dass unser Leben nach Maßgabe von Kunstfertigkeit geführt wird, Mangel an Erfahrung bewirkt, dass es von Zufall bestimmt ist. Von jeder dieser Kunstfertigkeiten greifen nun die einen diese, die anderen jene auf und dies auf jeweils andere Weise, die Besten aber bedienen sich der besten. Zu diesen gehört Gorgias hier. Er hat in der Tat Anteil an der schönsten der Künste.

[d] Sokrates. Wirklich, sehr gut, Gorgias, scheint Polos für das Reden vorbereitet zu sein. Freilich, was er Chairephon versprach, macht er nicht.

Gorgias. Inwiefern, Sokrates?

Sokrates. Die Frage scheint er mir nicht zu beantworten.

Gorgias. Aber dann frage doch du ihn, wenn du willst.

Sokrates. Nein, viel lieber frage ich dich, wenn du selbst antworten willst. Denn nach dem, was er gesagt hat, ist es offenbar, dass Polos die sogenannte Rhetorik mehr geübt hat als das Gespräch.

[e] Polos. Warum meinst du das, Sokrates?

Sokrates. Weil du, Polos, auf die Frage des Chairephon, in welcher Kunst Gorgias Wissen habe, mit einem Lobpreis seiner Kunst geantwortet hast, als ob sie jemand tadelte, nicht aber geantwortet hast, was für eine Kunst es denn sei.

Polos. Habe ich denn nicht geantwortet, dass sie die schönste sei?

Sokrates. Gewiss. Aber niemand hat danach gefragt, wie die Kunst des Gorgias zu bewerten sei, sondern um was für eine es sich handelt und als wen man Gorgias also bezeichnen muss. Wie du, als vorhin Chairephon dir eine Frage vorlegte, ihm schön und präzise geantwortet hast, [449a] so sage auch du jetzt, welche die Kunst des Gorgias ist und wie er deshalb zu nennen ist. Oder noch besser, Gorgias, sage du uns selbst, als wen man dich bezeichnen soll, als Kenner in welcher Kunst.

Gorgias. In der Redekunst.

Sokrates. Redner also muss man dich nennen?

Gorgias. Und zwar einen wirklich guten, Sokrates, wenn du mich als das bezeichnen willst‚ »was zu sein ich mich rühme«, wie Homer gesagt hat.

Sokrates. Das will ich.

Gorgias. Dann nenne mich so.

[b] Sokrates. Also können wir sagen, dass du auch andere dazu machen kannst?

Gorgias. Ich kündige eben dies an, nicht nur hier, sondern auch andernorts.

Sokrates. Wärest du bereit, Gorgias, so, wie wir uns jetzt unterhalten, weiterzumachen, teils fragend, teils antwortend, die langen Reden aber, wie sie Polos begann, auf später zu verschieben? Darum, was du versprichst, strafe nicht Lügen, sondern sei bereit, kurz auf die Frage zu antworten.

Gorgias. Es gibt zwar einige Antworten, Sokrates, die man notwendig in langer Rede geben muss. Indes will ich versuchen, es auf kürzestmöglichem Weg zu tun. [c] Denn auch das ist eines von dem, was ich für mich in Anspruch nehme, dass keiner kürzer als ich über das gleiche Thema sprechen kann.

Sokrates. Genau darauf kommt es an, Gorgias. Und so gib denn eine Probe von eben dem, von der kurzen Rede, von der langen Rede aber ein andermal.

Gorgias. Genau das werde ich tun, und du wirst zugeben, dass du keinen kürzer hast sprechen hören.

Sokrates. Also dann: Denn du behauptest, der Redekunst kundig zu sein und wohl auch einen anderen zum Redner machen zu können. [d] Mit welchen Dingen nun befasst sich die Redekunst? Wie z. B. die Webkunst mit dem Herstellen von Gewändern, nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Oder auch wie die Tonkunst mit der Herstellung von Melodien?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Bei der Hera, Gorgias, ich schätze deine Antworten wirklich, weil du so kurz wie möglich antwortest.

Gorgias. Ich glaube dies, Sokrates, in der Tat angemessen zu tun.

Sokrates. Richtig. Dann antworte auf diese Weise auch in Bezug auf die Redekunst, von welchen Dingen sie ein Wissen ist.

[e] Gorgias. Von Reden.

Sokrates. Welche Reden, Gorgias? Solche, die erklären, mit welcher Lebensweise die Kranken gesund werden?

Gorgias. Nein.

Sokrates. Also betrifft die Redekunst gar nicht alle Reden?

Gorgias. Gewiss nicht.

Sokrates. Aber sie macht fähig zu reden?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also auch, worüber sie zu reden befähigt, richtig zu urteilen?

Gorgias. Wie denn nicht?

Sokrates. Macht also die Medizin, [450a] von der wir eben sprachen, fähig, über Kranke zu urteilen und zu reden?

Gorgias. Notwendig.

Sokrates. Auch die Arztkunst also, scheint es, hat mit Reden zu tun?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Mit den Reden über Krankheiten?

Gorgias. Genau.

Sokrates. Auch die Gymnastik betrifft also Reden, nämlich Reden über den guten und schlechten Zustand des Körpers?

Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Und gewiss verhält es sich auch mit den anderen Künsten, Gorgias, auf diese Weise. [b] Jede von ihnen hat es mit den Reden zu tun, die gerade jene Sache betreffen, zu der jede einzelne Kunst gehört.

Gorgias. Es scheint so.

Sokrates. Warum nennst du dann die anderen Kunstfertigkeiten nicht Redekunst, obgleich sie es mit Reden zu tun haben, wenn du wirklich jene Redekunst nennst, die sich mit Reden beschäftigt?

Gorgias. Weil, Sokrates, das gesamte Wissen der anderen Kunstfertigkeiten sozusagen mit dem Werk der Hände und derartigen praktischen Ausführungen zu tun hat, es bei der Redekunst aber kein derartiges Produkt einer Handarbeit gibt, sondern ihre praktische Tätigkeit und Fertigstellung mittels Worten geschieht. [c] Deshalb halte ich die Redekunst für eine Kunstfertigkeit, die es mit Worten zu tun hat, und habe recht mit dem, was ich behaupte.

Sokrates. Verstehe ich also, wie du sie bezeichnen willst? Vielleicht werde ich es klarer verstehen. Darum antworte: Es gibt Kunstfertigkeiten, nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Bei allen Kunstfertigkeiten, meine ich, ist nun die Tätigkeit mit den Händen das Wichtigste und bedarf es kaum der Worte, bei einigen überhaupt nicht, sondern sie vollbringen wohl ihr Werk mit Schweigen, wie die Kunst der Malerei, die Bildhauerkunst und viele andere. Solche scheinst du mir zu meinen, wenn du von ihnen sagst, sie hätten nichts mit der Redekunst zu tun. [d] Oder nicht?

Gorgias. Gewiss vermutest du dies richtig, Sokrates.

Sokrates. Andere Kunstfertigkeiten aber gibt es, die alles mittels Worten vollbringen und dazu sozusagen überhaupt kein Werk brauchen oder nur in geringem Maße, wie z. B. die Zahlenlehre, die Rechenkunst, die Geometrie oder die Brettspielkunst und viele andere Kunstfertigkeiten, von denen einige beinahe gleich viel an Worten wie an Tätigkeiten haben, die meisten aber mehr an Worten, und überhaupt geschieht ihre Tätigkeit und Durchführung durch Worte. [e] Zu solchen gehört, so meinst du wohl, die Redekunst?

Gorgias. Du hast recht.

Sokrates. Aber keine von diesen, so glaube ich, willst du Redekunst nennen, obgleich du wörtlich gesagt hast, dass die Kunst, die ihr Ergebnis durch das Wort erreicht, Redekunst sei; wollte man Schwierigkeiten in der Diskussion machen, könnte man einwenden: »Die Rechenkunst also hältst du, Gorgias, für eine Redekunst?« Aber ich meine, dass du weder die Rechenkunst noch die Geometrie für eine Redekunst hältst.

[451a] Gorgias. Zu Recht meinst du dies, Sokrates, und richtig nimmst du dies an.

Sokrates. Dann bringe die Antwort auf meine Frage zu Ende. Denn da die Redekunst eine der Kunstfertigkeiten ist, die sich hauptsächlich des Wortes bedienen, es aber auch andere Künste von der Art gibt, versuche zu erklären, mit Blick worauf denn die (eigentliche) Redekunst in Worten ihr Ergebnis erzielt. Etwa so, wie wenn einer mich nach einer der Kunstfertigkeiten fragte, von denen wir eben sprachen: »Sokrates, was ist die Zahlenlehre?«, [b] ich ihm, wie du eben, antworten würde, dass sie zu diesen Künsten gehört, die durch Rede ihre Wirkung erzielen. Und wenn er mich fragte: »Worum geht es bei diesen Reden?«, würde ich antworten, dass es um das Gerade und Ungerade geht und um die Größe, die sie jeweils haben. Wenn aber wiederum einer fragte: »Was ist denn die Rechenkunst für eine Kunstfertigkeit?«, würde ich antworten, dass auch diese eine der Künste ist, die alles mit dem Wort bewirken. Und wenn er fragt: »Auf welche Objekte ausgerichtet?«, würde ich antworten wie die, die in der Volksversammlung einen Antrag stellen, [c] dass die Rechenkunst in allem anderen wie die Zahlenlehre ist – sie handelt vom selben Objekt, dem Geraden und Ungeraden – dass sie sich aber insofern unterscheidet, als die Rechenkunst das Gerade und Ungerade in ihrem quantitativen Verhältnis zu sich selbst und zueinander untersucht. Und wenn einer nach der Astronomie fragte und ich sagte, dass sie alles mit dem Wort bewirkt, würde ich auf die Frage: »Wovon handeln aber die Worte der Astronomie, Sokrates?«, wohl sagen, dass sie von der Bewegung der Sterne und der Sonne und des Mondes, wie sie sich der Geschwindigkeit nach zueinander verhalten, handeln.

Gorgias. Damit hättest du wirklich recht, Sokrates.

[d] Sokrates. Sage nun du, Gorgias: Die Redekunst gehört zu den Kunstfertigkeiten, die alles mit Worten ausführen und bewirken, nicht wahr?

Gorgias. So ist es.

Sokrates. Sage aber, auf welche Objekte beziehen sich die Künste? Welche von den existierenden Dingen sind es, auf die sich die Worte beziehen, deren sich die Redekunst bedient?

Gorgias. Die wichtigsten der menschlichen Dinge, Sokrates, und die besten.

Sokrates. Aber, Gorgias, zweifelhaft ist, was du sagst, und keineswegs klar. [e] Ich denke, du hast bei Symposien Menschen jenes Skolion singen gehört, bei dem sie beim Singen aufzählen: »Gesund sein ist das Beste, das zweite ist schön zu sein, das dritte aber«, wie es der Dichter des Liedes sagt, »ist reich zu sein ohne Trug«.

Gorgias. Ich habe es gehört. Aber warum erwähnst du das?

[452a] Sokrates. Weil, wenn jetzt die Hersteller der Dinge, die der Dichter des Liedes lobte, hier zu uns heranträten, ein Arzt, ein Sportlehrer und ein Geschäftsmann, und wenn dann zuerst der Arzt sagte: »Sokrates, es täuscht dich Gorgias. Nicht dessen Kunstfertigkeit bewirkt das größte Gut für die Menschen, sondern die meine« – wenn ich ihn dann fragte: »Wer bist du, der das behauptet?«, sagt er vielleicht, dass er ein Arzt ist. »Was sagst du also? Ist etwa das Werk deiner Kunst das größte Gut?« »Natürlich, Sokrates«, wird er da vielleicht sagen. »Welches größere Gut aber gibt es für Menschen als Gesundheit?« [b] Wenn aber dann nach ihm der Sportlehrer sagte: »Auch ich würde mich wundern, Sokrates, wenn Gorgias dir ein größeres Gut seiner Kunst zeigen könnte als ich von der meinen«, würde ich ebenfalls zu ihm sagen: »Und wer bist du denn, Mensch, und was ist dein Werk?« »Ein Sportlehrer«, wird er dann wohl sagen, »mein Werk aber besteht darin, die Menschen körperlich schön und stark zu machen.« Nach dem Sportlehrer sagt dann wohl der Geschäftsmann – wie ich glaube, voll Verachtung für alle: [c] »Sieh doch zu, Sokrates, ob sich dir ein größeres Gut zeigt als Reichtum, sei es bei Gorgias oder einem anderen«. Wir könnten nun zu ihm sagen: »Was heißt das? Stellst du ihn etwa her?« Das wird er wohl behaupten. »Wer bist du?« »Ein Geschäftsmann«. »Was nun? Hältst du Reichtum für das größte Gut für Menschen?«, werden wir sagen. »Natürlich«, wird er antworten. »Doch Gorgias hier behauptet, dass seine Kunst Ursache eines größeren Gutes sei als deine«, könnten wir sagen. Es ist klar, dass er danach fragen könnte: »Und was ist dieses Gut? Gorgias soll antworten«. [d] Wohlan, Gorgias, stell dir vor, du würdest von jenen und von mir gefragt, und antworte, was es ist, von dem du behauptest, es sei das größte Gut für die Menschen und dass du dessen Hersteller bist.

Gorgias. Was, Sokrates, wirklich das größte Gut ist und zugleich Ursache von Freiheit für die Menschen und jedem einzelnen Gelegenheit gibt, in seiner Stadt über andere zu herrschen.

Sokrates. Wie meinst du das?

[e] Gorgias. Ich meine damit die Fähigkeit, mit Reden vor Gericht die Richter zu überzeugen, im Rat die Ratsherren und in der Volksversammlung die Mitglieder der Volksversammlung und in jeder Versammlung, um was für ein politisches Treffen es sich auch handelt. Und in der Tat wirst du mit Hilfe dieser Fähigkeit den Arzt zum Sklaven haben, zum Sklaven auch den Sportlehrer. Und es wird sich zeigen, dass der Geschäftsmann seine Geschäfte für einen anderen betreibt und nicht für sich selbst, sondern für dich, der du in der Lage bist, zur Menge zu sprechen und sie zu überreden.

Sokrates. Jetzt scheinst du mir ganz aus der Nähe verdeutlicht zu haben, Gorgias, was die Rednerkunst für eine Kunst ist; und wenn ich richtig verstehe, [453a] meinst du, dass die Redekunst Überzeugung hervorbringt und dass ihr ganzes Wirken und ihr Wesen darauf zielt. Oder kannst du etwa sagen, die Redekunst könne mehr als bei den Hörern Überzeugung in der Seele zu bewirken?

Gorgias. Keineswegs, Sokrates, sondern du scheinst sie mir hinreichend zu bestimmen. Denn das ist ihr Hauptmerkmal.

Sokrates. Höre, Gorgias. Sei gewiss, dass ich überzeugt bin, [b] wenn jemand im Gespräch mit einem anderen eben das wissen will, wovon das Gespräch handelt, dass auch ich einer von diesen bin. Ich denke, du auch.

Gorgias. Was meinst du denn, Sokrates?

Sokrates. Ich will es dir gleich sagen. Wisse wohl, dass ich nicht genau weiß, was es mit der Überzeugung, welche die Redekunst, von der du sprichst, bewirkt, auf sich hat, und wovon sie Überzeugung ist; indes habe ich eine Vermutung, von welcher du meiner Meinung nach sprichst und was sie betrifft. Nichtsdestoweniger will ich dich fragen, was du mit der Überzeugung meinst, die sich aus der Redekunst ergibt, und welche Gegenstände sie betrifft. [c] Weshalb will ich dich fragen, obgleich ich selbst eine Vermutung habe, es aber nicht selbst sagen? Ich tue dies nicht um deinetwillen, sondern wegen des Gespräches, damit dieses so verläuft, dass es uns möglichst klarmacht, wovon die Rede ist. Sieh nämlich zu, ob ich dich richtig weiter zu fragen scheine: Zum Beispiel wenn ich dich fragte, wer der Maler Zeuxis ist, und du mir sagtest, dass es derjenige ist, der Lebewesen malt, würde ich dich da nicht zu Recht fragen, welche Lebewesen er malt und wo?

Gorgias. Gewiss.

[d] Sokrates. Doch deshalb, weil es auch andere Maler gibt, die viele andere Lebewesen malen?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wenn hingegen kein anderer als Zeuxis malte, dann hättest du passend geantwortet?

Gorgias. Wie denn nicht?

Sokrates. Also weiter, sage nun auch über die Redekunst: Scheint dir allein die Redekunst Überzeugung zu bewirken oder auch andere Künste? Was ich meine, ist folgendes: Wer etwas lehrt, überzeugt er in dem, was er lehrt, oder nicht?

Gorgias. Wie denn nicht, Sokrates: Von allen bewirkt er darin in besonderem Maße Überzeugung.

[e] Sokrates. Lass uns nun auf dieselben Künste zurückkommen, von denen wir eben sprachen. Lehren uns Rechenkunst und Rechenkünstler nicht, wie groß die Zahl ist?

Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Also überzeugt sie uns auch?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also schafft auch die Rechenkunst Überzeugung?

Gorgias. Es scheint so.

Sokrates. Wenn uns also einer fragt, um was für eine Überzeugung es sich handelt und worauf sie sich bezieht, werden wir ihm antworten, dass sie zur belehrenden Überzeugung gehört, die das Gerade und Ungerade betrifft, wie groß es ist. [454a] Auch von allen anderen Künsten, von denen wir eben sprachen, werden wir zeigen können, dass sie Überzeugungen hervorbringen und welche und wovon. Oder nicht?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also ruft die Redekunst keineswegs als einzige Überzeugung hervor.

Gorgias. Du hast recht.

Sokrates. Da sie freilich nicht alleine diese Leistung hervorbringt, sondern auch andere, können wir wohl mit Recht wie beim Maler den, der das behauptet, fragen, welche Art von Überzeugung und was der Gegenstand der Überzeugung ist, welche zur Redekunst gehört. Oder scheint es dir nicht richtig, diese weitere Frage zu stellen?

[b] Gorgias. Doch.

Sokrates. Antworte also, Gorgias, da auch du dieser Meinung bist.

Gorgias. Die Art der Überzeugung, meine ich, Sokrates, entsteht durch die Redekunst, die vor Gericht und bei anderen Menschenversammlungen zu finden ist, wie ich eben sagte, und zwar Überzeugung in der Frage, was gerecht und was ungerecht ist.

Sokrates. Gerade das ahnte ich, dass du diese Überzeugung in diesen Dingen meinst, Gorgias. Aber dass du dich nicht wunderst, wenn ich dich wenig später wieder nach etwas frage, was klar zu sein scheint; [c] ich aber frage dennoch – denn was ich sage, frage ich, damit das Gespräch weitergeht, nicht deinetwegen, sondern damit wir uns nicht aufgrund von Vermutungen angewöhnen, uns das Gesagte gegenseitig wegzunehmen, sondern damit du sagen kannst, was du zu dem entsprechenden Thema auszuführen hast.

Gorgias. Ganz richtig scheinst du mir vorzugehen, Sokrates.

Sokrates. Lass uns also folgendes betrachten: Du sagst doch, »man habe etwas gelernt«?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und weiter »man habe eine Überzeugung erlangt«?

[d] Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Scheint dir ›gelernt zu haben‹ und ›überzeugt zu sein‹, und ›Lernen‹ und ›Überzeugung‹ dasselbe oder etwas andres zu sein?

Gorgias. Ich meine, Sokrates, etwas anderes.

Sokrates. Recht hast du. Das wirst du hieraus erkennen: Wenn einer dich nämlich fragte: »Gibt es, Gorgias, falsche und richtige Überzeugung«? Dann würdest du wohl ja sagen.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Weiter. Gibt es falsches und wahres Wissen?

Gorgias. Nein.

Sokrates. Klar ist also, dass es nicht dasselbe ist.

Gorgias. Du hast recht.

[e] Sokrates. Aber es ist doch der Fall, dass die, die gelernt haben, überzeugt worden sind, und auch die, die eine Überzeugung gewonnen haben.

Gorgias. Das ist richtig.

Sokrates. Wollen wir also zwei Arten von Überzeugung ansetzen, die eine, die Überzeugung ohne Wissen, die andere aber, die Wissen vermittelt?

Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Welche von den beiden Überzeugungsarten vermittelt die Redekunst vor Gericht und anderen Menschenversammlungen über das, was gerecht und was ungerecht ist? Diejenige, aus der Überzeugung ohne Wissen, oder die, aus der Wissen entsteht?

Gorgias. Natürlich diejenige, Sokrates, aus der Überzeugung entsteht.

Sokrates. Die Redekunst also, wie es scheint, ist [455a] Herstellerin von Überzeugung, die auf Glauben, nicht auf Belehrung über das, was gerecht und was ungerecht ist, beruht.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Der Redner belehrt also Gerichte und andere Versammlungen nicht über das Gerechte und Ungerechte, sondern ist einer, der zu überreden versucht. Denn keinesfalls könnte er eine so große Menge in so kurzer Zeit über so wichtige Dinge belehren.

Gorgias. Natürlich nicht.

Sokrates. Lass uns also zusehen, was wir über die Redekunst sagen. [b] Denn ich selbst kann nicht klar verstehen, was ich sagen will. Wenn die Stadt eine Versammlung abhält, um Ärzte zu wählen oder Schiffsbaumeister oder eine andere Art von Handwerkern, dann wird der Redner nicht zu den Ratgebern gehören. Denn natürlich muss bei jeder Wahl der kundigste Fachmann gewählt werden. Er wird nicht dazugehören, wenn der Bau von Mauern oder die Einrichtung von Hafenanlagen oder Schiffswerften zur Debatte stehen, sondern die Baumeister. Und wiederum nicht, wenn über die Wahl von Strategen oder eine bestimmte Schlachtordnung gegen Feinde oder eine Eroberung von Land beraten wird, [c] sondern dann beraten die Strategen, nicht aber die Redner. Oder was meinst du dazu, Gorgias? Da du ja selbst angibst, ein Redner zu sein und andere zu Rednern zu machen, ist es nur billig, von dir zu erfahren, was zu deiner Kunstfertigkeit gehört. Sei überzeugt, dass es auch mir jetzt um deine Sache geht. Denn vielleicht will ja zufällig einer der hier drinnen Anwesenden dein Schüler werden, wie ich es einigen, ja eigentlich ziemlich vielen anmerke, die sich wohl nur scheuen, dich zu fragen. Wenn also ich dich frage, dann gehe davon aus, dass die Frage auch von ihnen kommt. [d] »Was werden wir davon haben, Gorgias, wenn wir uns dir anschließen? In welchen Angelegenheiten werden wir der Stadt Rat geben können? Nur über Gerechtes und Ungerechtes oder auch über das, wovon Sokrates eben sprach?« Versuche ihnen zu antworten!

Gorgias. Ich will also versuchen, Sokrates, dir klar die ganze Wirkung der Redekunst zu enthüllen. Du selbst hast den Weg gewiesen. Denn du weißt ja genau, dass diese Werften [e] und die Mauern der Athener und die Hafenanlagen zum einen auf Anweisung und Rat des Themistokles, zum anderen auf den des Perikles entstanden sind, aber nicht auf den der Fachleute.

Sokrates. Dies wird, Gorgias, über Themistokles erzählt. Perikles habe ich selbst gehört, als er uns Rat gab über die mittlere Mauer.

[456a] Gorgias. Und sobald es eine Wahl gibt von Leuten, von denen du eben sprachst, Sokrates, siehst du, dass es die Redner sind, die Rat geben und ihre Auffassungen darüber zum Sieg führen.

Sokrates. Darüber staune ich auch, Gorgias, und frage schon lange, was die Wirkung der Redekunst ausmacht. Geradezu dämonisch groß nämlich scheint sie mir, wenn ich sie so betrachte.

Gorgias. Wenn du erst alles wüsstest, Sokrates; fasst sie doch sozusagen alle Kräfte bei sich zusammen und bündelt sie unter ihrer Herrschaft. [b] Ein schlagendes Beispiel will ich dir erzählen. Oft nämlich bin ich mit meinem Bruder und mit anderen Ärzten zu einem Kranken gekommen, der nicht bereit war, eine Medizin zu trinken oder sich schneiden oder brennen zu lassen; da der Arzt nicht in der Lage war, ihn zu überreden, überredete ich ihn, alleine mit meiner Redekunst. Ich behaupte ebenso, dass, wenn ein Redner und ein Arzt in eine beliebige Stadt kämen und wenn es dort in einer Volksversammlung oder in einer anderen Versammlung darum ginge, zu argumentieren, wer von beiden zum Arzt gewählt werden sollte, würde der Arzt keine Rolle spielen, [c] sondern der gewählt werden, der reden kann, wenn er nur wollte. Und wenn er gegen einen beliebigen anderen Fachmann anträte, würde der Redner mehr als ein anderer überzeugen, ihn zu wählen. Denn es gibt nichts, worüber ein Redner nicht überzeugender vor einer Menge sprechen kann als irgendeiner der Fachleute. So groß und so beschaffen ist die Macht der Redekunst. Man muss freilich, Sokrates, die Redekunst anwenden wie jede andere Kampfsportart. Denn auch [d] sonst darf man eine Kampfsportart nicht gegen alle Menschen nur darum anwenden, weil man Boxen, Allkampf und Waffenkampf gelernt hat, so dass man Freunden und Feinden überlegen ist – deshalb darf man nicht Freunde schlagen, stechen und töten und auch, bei Zeus, wenn jemand in die Palaistra geht, in guter körperlicher Verfassung und Faustkämpfer geworden ist, und wenn er dann den Vater schlägt und die Mutter oder jemand anderen von den Freunden und Verwandten, dann darf man deshalb nicht die [e] Sportlehrer und Waffenkampflehrer hassen und aus den Städten verbannen. Denn diese haben ihre Kunst vermittelt, damit man von ihr gerechten Gebrauch mache gegen Feinde und solche, die Unrecht tun, zur Verteidigung, nicht um mit dem Kampf anzufangen. [457a] Sie aber drehen die Sache um und machen von ihrer Kraft und Kunstfertigkeit keinen richtigen Gebrauch. Also sind nicht die Lehrer schlecht und ist auch die Kunstfertigkeit nicht schuld noch deswegen schlecht, sondern diejenigen sind es, die keinen richtigen Gebrauch von ihr machen. Dasselbe Argument gilt auch für die Redekunst. Fähig ist der Redner nämlich, zu allen und über alles zu sprechen, mit der Folge, dass er überzeugender ist in Volksmengen – kurz gesagt –, bei welchen Themen er auch will. [b] Doch darf er deshalb nicht den Ärzten das Ansehen nehmen – weil er das wohl könnte – noch anderen Fachleuten, sondern muss die Redekunst richtig anwenden wie auch die Kampfkunst. Wenn aber einer, so meine ich, Fachmann der Redekunst geworden ist und mit Hilfe dieser Fähigkeit und Kunst dann Unrecht tut, dann darf man nicht den Lehrer hassen und aus den Städten verbannen. Denn der Lehrer vermittelt sie für [c] den richtigen Gebrauch, jener jedoch verwendet sie im entgegengesetzten Sinn. Wer sie aber nicht richtig anwendet, den darf man hassen und hinauswerfen und hinrichten, aber nicht den Lehrer.

Sokrates. Ich glaube, Gorgias, dass du erfahren bist in vielen Gesprächen und dabei folgendes beobachtet hast: Wenn Leute untereinander festgelegt haben, worüber sie sich unterhalten und sich gegenseitig belehren und voneinander lernen wollen, ist es nicht leicht für sie, die Unterredung auch so zu beenden; [d] sondern sie werden unwillig, wenn sie über etwas verschiedener Meinung sind, und einer erklärt, der andere habe nicht recht oder rede nicht klar, und sie meinen, sie sagten dies aus Missgunst und Streitsucht, nicht in dem Streben, die Sache zu erforschen, die zur Diskussion steht. Und einige gehen schließlich auf sehr unschöne Weise auseinander, werden beschimpft und sagen und hören solche Dinge, dass sich auch die Zuhörer ärgern über sich selbst, weil sie solchen Menschen haben zuhören wollen. [e] Weshalb ich das sage? Weil du mir jetzt nicht sehr folgerichtig zu sprechen scheinst und nicht passend zu dem, was du zuvor über die Redekunst sagtest. Ich scheue mich freilich, dich zu widerlegen, damit du nicht meinst, ich spreche rechthaberisch und nicht mit Blick auf die Sache, damit sie klar wird, sondern gegen dich persönlich. [458a] Ich möchte dich also, wenn du wirklich zu den Menschen gehörst, zu denen auch ich gehöre, gerne weiter befragen. Wenn aber nicht, lasse ich es lieber. Zu welchen Menschen aber gehöre ich? Zu denen, die sich gerne widerlegen lassen, wenn ich etwas Falsches sage, die aber auch gerne selbst prüfen und widerlegen, wenn einer etwas Falsches sagt, denen es aber auch nicht weniger lieb ist, geprüft und widerlegt zu werden als zu prüfen und widerlegen. Denn dies halte ich für ein größeres Gut, insofern es ein größeres Gut ist, vom größten Übel selbst befreit zu werden als einen anderen zu befreien. Kein Übel nämlich, glaube ich, ist für einen Menschen so groß wie eine falsche Auffassung von dem, worüber wir gerade sprechen. [b] Wenn du also sagst, dass du ein solcher Mensch bist, wollen wir sprechen. Wenn es dir aber richtig scheint, es zu lassen, wollen wir es lassen und die Diskussion beenden.

Gorgias. Aber ich behaupte durchaus, Sokrates, auch selbst ein solcher Mensch zu sein, wie du ihn beschreibst. Man sollte vielleicht auch auf die Situation der Anwesenden Rücksicht nehmen. Schon lange nämlich, bevor ihr kamt, habe ich den Anwesenden vieles vorgeführt, und jetzt werden wir es vielleicht allzu sehr in die Länge ziehen, wenn wir uns unterhalten. [c] Wir müssen also auf sie Rücksicht nehmen, ob wir nicht welche von ihnen festhalten, obgleich sie etwas anderes tun wollen.

Chairephon. Ihr hört selbst, Gorgias und Sokrates, den Protest dieser Männer hier, die hören wollen, wenn ihr etwas sagt. Auch für mich selbst gibt es keine Beschäftigung solcher Art, dass es mir nützlicher wäre, auf solche Gespräche, die so vorgetragen werden, zu verzichten und etwas anderes zu tun.

[d] Kallikles. Bei den Göttern, Chairephon, auch ich habe wirklich schon vielen Gesprächen beigewohnt und weiß nicht, ob ich jemals solche Freude gehabt habe wie jetzt. Daher werdet ihr mir einen Gefallen tun, auch wenn ihr den ganzen Tag sprechen wollt.

Sokrates. Gewiss, Kallikles, von meiner Seite hindert nichts, wenn Gorgias dazu bereit ist.

Gorgias. Das wäre letztlich doch beschämend, Sokrates, wenn ausgerechnet ich nicht bereit wäre, da ich doch selbst dazu aufgefordert habe zu fragen, was ein jeder will. [e] Darum wenn es den Leuten hier gut scheint, sprich und frage, was du willst.

Sokrates. Höre also, Gorgias, über was ich bei deiner Rede staune. Vielleicht nämlich hast du recht und ich habe es bloß nicht richtig verstanden. Du behauptest, du kannst jemanden zum Redner machen, wenn er von dir lernen will.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also auf die Weise, dass er vor der Menge bei jedem Thema überzeugend ist, nicht belehrend, sondern überredend?

[459a] Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Du sagtest doch eben, dass der Redner auch in Bezug auf die Gesundheit überzeugender sein wird als der Arzt.

Gorgias. Das sagte ich, und zwar vor einer Menge.

Sokrates. ›Vor der Menge‹ meint also ›vor Unwissenden‹? Denn kaum wird der Redner vor Kundigen überzeugender sein als der Arzt.

Gorgias. Du hast recht.

Sokrates. Wenn er also überzeugender sein wird als der Arzt, dann ist er überzeugender als der Wissende?

Gorgias. Gewiss.

[b] Sokrates. Obgleich er kein Arzt ist, nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wer aber kein Arzt ist, ist unwissend in den Dingen, in denen der Arzt wissend ist.

Gorgias. Das ist klar.

Sokrates. Der Unwissende wird also vor Unwissenden überzeugender sein als der Wissende, wenn der Redner überzeugender ist als der Arzt. Ergibt sich das oder etwas anderes?

Gorgias. Das ergibt sich zumindest hieraus.

Sokrates. Auch bei allen anderen Künsten verhält es sich mit dem Redner und der Redekunst ebenso; sie müssen von den Dingen selbst nicht wissen, wie sie sich verhalten, müssen aber eine Fertigkeit des Überzeugens gefunden haben, [c] so dass sie vor den Unwissenden den Eindruck erwecken, mehr zu wissen als die Wissenden.

Gorgias. Ist es nicht eine große Erleichterung, Sokrates, wenn man bei den Fachleuten nicht den Kürzeren zieht, obgleich man nicht alle Künste, sondern nur eine gelernt hat?

Sokrates. Ob der Redner gegenüber den anderen den Kürzeren zieht oder nicht, weil es sich so verhält, wollen wir gleich untersuchen, falls es für das Gespräch nützlich ist. Jetzt aber wollen wir zunächst untersuchen, [d] ob der Redner zum Gerechten und Ungerechten, zum Hässlichen und Schönen, zu Gut und Schlecht die gleiche Beziehung hat wie zum Gesunden und allem anderen, für das es die anderen Kunstfertigkeiten gibt; wobei er selbst zwar nicht weiß, was gut oder was schlecht ist oder was schön oder hässlich oder gerecht oder ungerecht, für diese Dinge aber eine Überredungstechnik ausgearbeitet hat, so dass er, obgleich er sich nicht auskennt, vor Unwissenden in höherem Maß über Wissen zu verfügen scheint als der Wissende. [e] Oder muss er Wissen haben und muss einer, der die Absicht hat, zu dir zu kommen, um die Redekunst zu lernen, ein Vorwissen davon haben? Wenn aber nicht, wirst du als Lehrer der Redekunst den, der zu dir kommt, nichts davon lehren – das ist ja nicht deine Aufgabe –, wirst aber bewirken, dass er vor der Menge den Eindruck erweckt, solche Dinge zu wissen, obgleich er sie nicht weiß, und dass er gut zu sein scheint, obgleich er es nicht ist? Oder wirst du überhaupt nicht in der Lage sein, ihn die Redekunst zu lehren, wenn er nicht zuvor die Wahrheit über diese Dinge weiß? Oder wie verhält es sich, Gorgias? [460a] Bei Zeus, wie du gerade sagtest, enthülle und sage, welches die Wirkung der Redekunst ist.

Gorgias. Ich meine, Sokrates, wenn er zufällig das nicht wissen sollte, wird er auch dies von mir lernen.

Sokrates. Halt, schön nämlich sagst du das. Wenn du einen zum Redekünstler machen wirst, dann muss er entweder vorher wissen, was gerecht und ungerecht ist, oder es später von dir lernen.

[b] Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Was nun: Wer Baukunst gelernt hat, ist Baumeister, oder nicht?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also auch Musiker, wer die Musik gelernt hat?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und wer Medizin, ein Mediziner? Und alles andere nach derselben Weise: Wer etwas gelernt hat, ist so, wie sein Wissen ihn macht?

Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Also ist nach diesem Argument derjenige, der das Gerechte gelernt hat, gerecht?

Gorgias. Das ist völlig klar.

Sokrates. Der Gerechte aber handelt gerecht?

Gorgias. Ja.

[c] Sokrates. Also ist der Redner notwendig gerecht, der Gerechte muss notwendig Gerechtes tun wollen.

Gorgias. So scheint es wirklich.

Sokrates. Niemals also wird der Gerechte Unrecht tun wollen.

Gorgias. Notwendig.

Sokrates. Notwendig folgt aus der Argumentation, dass der Redekünstler gerecht ist.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Niemals also wird der Redekünstler Unrecht tun wollen.

Gorgias. Es scheint nicht so.

Sokrates. Erinnere dich, dass du kurz vorher gesagt hast, man dürfe die Sportlehrer nicht anklagen und aus den Städten vertreiben, [d] wenn der Boxer die Boxkunst anwendet und dabei Unrecht begeht, und ebenso auch, wenn der Redner von der Redekunst unrechten Gebrauch macht, darf man nicht den Lehrer anklagen und aus der Stadt verjagen, sondern denjenigen, der Unrecht begeht und keinen richtigen Gebrauch von der Redekunst macht. Wurde dies gesagt oder nicht?

Gorgias. Es wurde gesagt.

Sokrates. Jetzt aber scheint derselbe, [e] der Redner, kein Unrecht begehen zu können. Oder nicht?

Gorgias. Es scheint so.

Sokrates. Und in der vorherigen Argumentation, Gorgias, wurde gesagt, dass die Redekunst mit Reden zu tun hat, die nicht das Gerade und Ungerade, sondern das Gerechte und Ungerechte betreffen. Oder nicht?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und ich hatte, als du das sagtest, angenommen, dass die Redekunst niemals eine ungerechte Sache sein könnte, weil sie doch immer von Gerechtigkeit handelt.

Da du aber wenig früher sagtest, dass der Redner die Redekunst auch auf ungerechte Weise benutzen könne, [461a] so habe ich mich gewundert und geglaubt, dass das Gesagte nicht zusammenpasse, und habe deshalb die Meinung geäußert, dass, wenn du es für gewinnbringend hieltest, widerlegt zu werden, wie ich es tue, es die Sache wert sei, das Gespräch zu führen, wenn aber nicht, es bleiben zu lassen. Später aber, bei unserer nochmaligen Untersuchung, da siehst du selbst, dass Übereinstimmung besteht, dass der Redner unmöglich die Redekunst auf unrechte Weise gebrauchen und Unrecht tun will. Um hinreichend durchzudenken, wie es damit nun zugeht, beim Hund, [b] Gorgias, bedarf es nicht wenig Unterredung.

Polos. Was denn Sokrates? Denkst du wirklich über die Redekunst so, wie du jetzt sprichst? Oder meinst du – weil Gorgias sich schämt, dir nicht zuzustimmen, dass der Redner nicht auch das Gerechte wisse und das Schöne und das Gute, und wenn einer ohne dieses Wissen zu ihm käme, er es lehren werde, und wenn aus diesem Zugeständnis sich dann etwas Gegenteiliges im Gespräch ergab, was du liebst, [c] weil du selbst zu solchen Fragen hinführst – wer, meinst du, würde leugnen, dass er das Gerechte kennt und es andere lehren könne? Aber das Gespräch auf solche Dinge hinzuführen, ist sehr ungezogen.

Sokrates.