Gorilla in Gefahr - Gill Lewis - E-Book

Gorilla in Gefahr E-Book

Gill Lewis

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein neues spannendes Tierabenteuer aus der Feder von Gill Lewis Seit sie aus ihrem Dorf entführt und im Gesicht schwer verletzt wurde, lebt die 15-jährige Imara im Kongo bei einer Truppe von Rebellen. Genau wie der Anführer der Rebellen, Black Mamba, ist auch Imara selbst davon überzeugt, dass ein Dämon in sie hineingeschlüpft ist. Dieser Dämon spricht mir ihr und gibt ihr Anweisungen. Er sorgt dafür, dass sie überlebt und dass sie von Black Mamba als eine Art Beraterin gehört wird. Doch als die Rebellen ein Gorillajunges stehlen, um es zu verkaufen, wird Imara so etwas wie dessen Ersatzmutter. Und damit ändert sich alles, denn durch die enge Bindung an das Tier erwacht Imaras früheres Ich und sie will sich mit ihrem Schicksal als Dienerin der Rebellen nicht länger abfinden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 306

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gill Lewis

Gorilla in Gefahr

Aus dem Englischen von Siggi Seuß

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Im Osten der Demokratischen Republik Kongo liegt in waldreicher Wildnis die Heimat des Östlichen Flachlandgorillas. Unter dem Dach der Baumkronen bergen die Urwälder eine außergewöhnliche Vielfalt an Lebensformen, von seltenen Pflanzen bis zu Waldelefanten. Selbst unter der Erde lagern Naturschätze, die man sonst auf dem gesamten Erdball nicht in dieser Dichte findet – Rohstoffe, die die inneren Konflikte des Landes schüren und die weltweite Gier nach Bodenschätzen.

Diese Dschungel beherrschen unsere globalen Wetterlagen. Sie beeinflussen die Luft, die wir atmen, und das Wasser, das wir trinken. Sie bilden die Lebensgrundlage derjenigen, die am Rand der Wälder leben, und jener, die Tausende Meilen entfernt zu Hause sind.

Die Urwälder sind für uns alle lebensnotwendig.

Und trotzdem besteht die Gefahr, dass sie für immer verloren sind.

In diesen Wäldern beginnt unsere Geschichte …

Wenn wir versuchen, irgendetwas Einzelnes aus einem Meer von Dingen herauszugreifen, bemerken wir, dass es mit allen anderen Dingen im Universum verbunden ist.

John Muir (1838–1914)

Erster Teil Damals …

Du gehörst mir, Imara.

 

 

An dem Tag, als sie dich aufschlitzten, bin ich in dich hineingeklettert.

 

Wenn du mich gut in dir bewahrst, werde ich dich stark machen.

 

Wenn du mich preisgibst, werden sie deine Schwäche bemerken und du wirst sterben.

 

Du kannst weder mit mir leben, noch wirst du ohne mich überleben.

 

 

Du gehörst mir, Imara.

 

Du bist das Kind des Teufels.

Kapitel 1Imara

Es ist an der Zeit, Imara.

Imara trat aus dem Schatten, ging in den Kreis, den das Licht des Mondes bildete, und lauschte dem Dämon, der in ihren Gedanken hin- und herschritt.

Es ist an der Zeit, Imara. Die Männer warten auf dich. Sie warten auf deine Kraft, die sie beschützen soll.

Sie kniete sich hin, schüttete den Inhalt ihrer Wasserflasche in die Asche des Feuers von vergangener Nacht und rührte mit dem Finger darin herum, bis ein grober Brei entstanden war.

Der Wald hüllte alles in Dunkelheit und Stille. Nichts bewegte sich. Hoch droben im Blätterdach schmiegte sich ein blasser Nebel ans Laub. In der Luft schwebten zarte Dunstgespinste, als würden die Bäume in Erwartung der Morgendämmerung ihren Atem anhalten.

Tiefe Mondschatten umschlossen Black Mamba und seine Männer. Nur das kalte Licht, das sich im Eisen ihrer Gewehre verfing, erinnerte daran, dass sie nicht zu diesem Ort gehörten.

KOMM SCHON, IMARA, zischte der Dämon, SIE BEOBACHTEN DICH.

Imaras Hände schwebten zitternd über dem Aschebrei.

Dummes Mädchen. Zeig nicht deine Angst. Du weißt, was sie tun, wenn sie deine Angst sehen.

Imara atmete tief ein und füllte ihre Lungen mit der kühlen Nachtluft. Sie bemühte sich, nicht an den Zweck ihres Auftrags zu denken, summte leise vor sich hin, versuchte den Dämon zu ignorieren und schob den Aschebrei auf ihre Hand.

Beeil dich, Imara. Sie wollen ihr Geisterkind sehen.

Sie schabte hastig noch mehr feuchte Asche aus der Mitte der Feuerstelle und presste sie mit ihren Händen zusammen, sodass Wasser durch ihre Finger trat. Sie verschmierte den Aschebrei und bedeckte damit die wulstige Narbe, die ihr Gesicht in zwei Hälften zerschnitt. Sie fuhr die verhärtete Oberfläche der Narbe entlang, von ihrer Stirn über die Wange bis zu ihrem Unterkiefer. Die Wunde war schon lange verheilt, hatte den Dämon tief in sich eingeschlossen, aber die Spannung, die die Narbe verursachte, verzerrte Imaras Mund und verlieh ihr ein finsteres Aussehen.

Sie spürte, wie das Aschegemisch trocknete und hart wie eine Muschelschale wurde. Als Nächstes schmierte sie den Aschebrei auf ihre nackten Arme und zeichnete – von den Schultern bis zu den Handgelenken – lange, geschmeidige Schlangenkörper auf die Haut. Im Mondlicht glänzte die getrocknete Asche weiß und hob sich von Imaras dunkler Haut ab.

Black Mamba trat aus dem Dunkel des Waldes. Hinter diesem Namen verbarg sich ein riesenhafter Mann mit einem breiten Rücken wie ein Büffelbulle. Auch sein Zorn war so unberechenbar wie der eines Büffels. Er krempelte den Ärmel hoch und streckte Imara seinen Arm entgegen. Ihr Blick richtete sich auf das Amulett, das er ums Handgelenk trug – Skelettteile einer Schlange, der giftigen Schwarzen Mamba, von der er seinen Namen hatte.

»Schütze mich, Imara«, flüsterte er.

Imara steckte ihre Finger in die Asche, malte die Konturen einer Schlange auf seinen Unterarm und kringelte den Schwanz zu einer Spirale. »So ist es gut«, sagte sie. »Die Geister werden dich beschützen. Niemand kann dir jetzt etwas anhaben.«

Der Hüne nickte und stand auf. »Und nun schütze meine Männer.«

Die Männer stellten sich in einer Reihe auf, um ihre Arme mit Imaras schwarzer Magie bemalen zu lassen, doch niemand wagte es, ihr in die Augen zu blicken. Sie war Black Mambas Geisterkind. Sie unterhielt sich mit dem Teufel und bewegte sich in der Geisterwelt. Die Geister beschützten sie. Sie war von einer Schwarzen Mamba gebissen worden und hatte überlebt.

»Los«, sagte Black Mamba. Er hielt seinen Arm hoch und die Ascheschlange glimmte in der Dunkelheit. »Es wird Zeit, uns das zurückzuholen, was uns gehört.«

Imara folgte dem büffelstarken Black Mamba und seinen Männern bis zum Waldrand. Sie presste ihre Augenlider ganz fest zusammen und umklammerte den Lauf ihres Gewehrs, sodass das Metall ihre Haut kühlte. Sie konzentrierte sich auf die Geräusche des erwachenden Waldes, auf das Konzert der Vögel und auf die Blätter, die über ihr in einer frischen Brise erzitterten. Sie versuchte langsamer zu atmen und spürte, wie die feuchte, erdige Luft in ihre Lungen strömte. Und sie bemühte sich, den Dämon zu ignorieren, der in ihrer Brust klopfte.

Aber der Dämon gab keine Ruhe.

Mach die Augen auf, Imara.

Der Dämon schlug mit der Faust gegen ihre Brust. POCH … POCH … POCH.

Mach die Augen auf, Imara! Sie sind nicht wie wir. Sie sind schwach. Sie haben es verdient zu sterben.

Imara zwang sich, die Augen offen zu halten, und starrte angestrengt auf das Dorf, das im Tal unter ihnen lag. Noch war die Sonne nicht hinter den Bergen aufgegangen. Im fahlen Licht der Dämmerung flackerten kleine Feuer. Zwischen den Hütten bewegten sich Dorfbewohner. Das Rot und Gelb der Frauenröcke leuchtete im blauen Dunst des frühen Morgens. Vom Tal her drang das Gemecker der Ziegen und von den Hängen weiter oben war das gleichmäßige Hämmern beim Zerstoßen der Maniokfrüchte zu hören. Über die Felder trieb Holzrauch und trug den Geruch von geröstetem Mais in Richtung Waldrand, wo Imara, von der Dunkelheit eingehüllt, kauerte.

Mit Daumen und Zeigefinger formte sie einen Kreis und hielt ihn vors Auge. So sah sie das Dorf, umschlossen von ihrer Hand. Sie versuchte das Bild festzuhalten, es in ihrem Gedächtnis einzuprägen, als könnte sie so die Dorfbewohner vor dem bewahren, was auf sie zukam.

Aber nun kam ein neuer Tag.

Eine neue Morgendämmerung.

Am östlichen Horizont strömte ein purpurrotes Licht in den Himmel. Im Dorf drunten bemerkten die Bewohner das Mädchen am Rand des Waldes nicht, das Mädchen mit einem Gewehr und einer Halskette aus Patronen. Sie ahnten nichts von Black Mamba und seinen Männern. Sie ahnten nicht, dass viele von ihnen den Sonnenaufgang über den Bergen nicht mehr erleben würden.

Kapitel 2Imara

Black Mamba klopfte mit den Fingern an sein Gewehr. »Werden wir beobachtet, Imara? Wissen sie, dass wir hier sind?«

Imara suchte die Felder nach verräterisch glimmenden Zigaretten von Männern ab, die im Dickicht der Maispflanzen auf sie lauerten. Aber die Felder lagen still und friedlich vor ihnen.

»Sie sehen uns nicht«, antwortete sie.

Selbst in der Dunkelheit konnte Imara die Allgegenwart von Black Mamba spüren.

»Niemand bewacht das Dorf«, sagte sie. »Aber sieh mal, wie fett das Vieh ist. Diese Menschen sind mit dem Land hier verwurzelt. Das geben sie so leicht nicht her.«

Der Anführer der Mamba atmete langsam aus. »Das ist nicht ihr Land. Sie haben es uns weggenommen, als sie aus ihren Häusern in Ruanda geflohen sind. Das ist kongolesische Erde. Das ist unser Land.«

Imara hörte, wie dreißig Gewehre gleichzeitig entsichert wurden. Sie richtete ihren Blick auf die Baumreihe am Waldrand. Die Männer verbargen sich im Schatten. Sie warteten. Unsichtbar. Nur der säuerliche Geruch ihres Schweißes hätte sie verraten können.

»Los!«, befahl der Anführer seinen Männern und berührte das Schlangenamulett an seinem Handgelenk. »Holen wir uns zurück, was uns gehört.« Er trat aus dem Schatten und hielt inne. »Ratte«, rief er, »wo bist du?« Ein drahtiger Mann mit Haarsträhnen wie Rattenschwänze hob den Kopf. »Ratte, du bleibst bei Imara. Pass auf, dass unserem Geisterkind nichts geschieht. Sie macht uns stark und beschützt uns. Und nur sie verwandelt die Kugeln der Feinde in Regentropfen.«

Imara zog sich tiefer in den Schatten zurück und sah zu, wie die Männer über die Felder ausschwärmten. Sie bewegten sich geräuschlos durch den Mais.

Der Dämon trommelte mit den Fäusten ein Schlachtenlied, schneller und schneller.

Ratte hielt sich angespannt an ihrer Seite, den Blick konzentriert aufs Tal gerichtet. Sein Zeigefinger zupfte am Abzug des Gewehrs. Imara hörte, wie er auf einem Daggaklumpen kaute. Sie spürte, wie die Wildheit, die sich in seinen Augen spiegelte, seine Gedanken durchdrang.

Drunten im Tal durchbrach das Gebell eines Hundes die Stille.

Imara steckte sich die Finger in die Ohren, um den Lärm der bevorstehenden Schlacht auszublenden. Sie wollte am liebsten davonrennen. Sie wollte überall sein, nur nicht hier. Aber es gab keinen Ort, an den sie hätte flüchten können. Die Mambas würden sie überall aufspüren.

Bei den ersten Gewehrsalven brach Ratte in stakkatoartiges Gelächter aus. »Schau, wie sie rennen, Imara! Das sieht so witzig aus. Wie ihre Füße in die Luft fliegen! Und die Kinder. Schau, wie sie sich an ihre Mamas klammern, wie Pavianbabys!«

Imara blinzelte mit halb geschlossenen Augen. Sie sah Gestalten durch die Felder rennen und andere, die wie alte Lumpen über den Boden verstreut lagen. Sie sah das orangefarbene Mündungsfeuer der Gewehre, dort, wo die Männer Jagd auf die Dorfbewohner machten. Der schrille Schrei eines Jungen wurde durch Schüsse jäh beendet. Imara wandte ihr Gesicht zum Wald. Sie hasste es, die Kinder sterben zu sehen.

Ratte spie neben ihr auf den Boden. »Brauchst kein Mitleid mit den Kleinen haben. Die werden zu Löwen, die dich jagen.«

Aus dem Schatten heraus betrachtete sie den Mann. Höchst erregt trat er immer wieder auf der Stelle. Sie wusste, dass er drunten im Tal kämpfen wollte, um sein Stück von der Beute zu kriegen, sein Stück Ruhm.

Er blickte in ihre Richtung, vermied aber, ihr in die Augen zu sehen. »Bleib hier«, sagte er. »Zeig dich nicht, bevor ich zurückkomme.« Er schulterte sein Gewehr und machte sich auf den Weg in die Schlacht.

Imara kauerte sich zusammmen und versuchte sich einzureden, sie sei nicht Teil dieses Albtraums. Aber der Dämon zwickte sie in ihren Bauch. TU NICHT SO, ALS WÄREST DU NICHT HUNGRIG, IMARA. DU HAST SEIT TAGEN NICHTS GEGESSEN. DIE MÄNNER KOMMEN MIT ESSEN ZURÜCK, MIT REICHLICH ESSEN. HAST DU BLACK MAMBA NICHT GEHÖRT? DAS IST UNSER LAND. WIR HOLEN UNS ZURÜCK, WAS UNS GEHÖRT.

Der Dämon lachte wie wild, als die erste Hütte in Flammen aufging und aus dem Strohdach eine dicke Rauchwolke aufstieg. Imara sah die Umrisse von Black Mamba und seinen Männern, die sich auf den Weg zurück in den Wald machten. Sie schleppten Säcke mit sich. Zwei Männer trugen jeweils eine lebende Ziege quer über den Schultern. Am Ende des Zugs sah sie drei Jungen, die von Ratte vorwärtsgetrieben wurden.

Keuchend und schwitzend erreichte der schwergewichtige Anführer den Waldrand. Seine Halsvenen traten wie Seilstränge hervor. »Du hattest recht«, sagte er zu Imara. »Sie haben sich gewehrt. Drei unserer Männer sind tot.« Er wischte das Blut von der lange Klinge seines Buschmessers im Gras ab. »Also haben wir drei von ihnen mitgenommen.«

Die drei rußgeschwärzten Jungen stolperten in die Mitte des Kreises, den die Männer der Schwarzen Mamba gebildet hatten. Ihre Gesichter waren tränenverschmiert. In ihrer Kleidung hing der beißende Geruch von Rauch.

Der erste Junge war groß und schlaksig. Seine Augen waren weit aufgerissenen.

Der Anführer sah ihm ins Gesicht. »Wie alt?«

Der Junge starrte vor sich hin, unfähig, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. Seine Wangen pulsierten heftig, bliesen sich auf, sackten wieder zusammen und seine Augen quollen aus den Höhlen.

Black Mamba hielt die Wange des Jungen fest in der Hand und lachte.

»Das ist kein Junge … das ist ein Frosch!« Er drehte sich zu seinen Männern. »Wir haben einen Frosch gefangen!«

Die Mambas lachten. Sie waren in guter Stimmung. Ratte kaute auf einem Stück gerösteten Mais, das noch warm war.

Der zweite Junge war kleiner, etwa so groß wie Imara. Er hatte aufgeweckte, flinke Augen.

»Und du? Wie alt bist du?«

»Zwölf«, antwortete der Junge.

»Wie heißt du?«

»Dikembe.«

»Also, Dikembe, du bist alt genug, um ein Mann zu sein. Kannst du kämpfen?«

Der Junge nickte.

Black Mamba hielt Dikembe den Schaft seines Buschmessers hin.

»Würdest du ihn für uns töten?«, fragte er und deutete auf den dritten Jungen. »Würdest du ihn töten?«

Dikembe nickte, obwohl seine Hand zitterte und das Buschmesser in ihr hin- und herwackelte.

Der Hüne lachte und nahm das Messer wieder an sich. »Und du«, wandte er sich an den dritten Jungen, »wozu taugst du?«

Ratte stieß den Jungen zu Boden. »Das ist ein Batwa. Ein Pygmäe.«

Imara sah, wie sich der Junge wieder hochrappelte. Er war dünn und klein, nicht größer als das Gewehr der Schwarzen Mamba. Zuerst dachte sie, er sei ein Kind, aber sein Gesicht war das eines älteren Jungen.

Der Junge streckte sein Kinn vor. »Ich heiße Saka.«

Black Mamba umkreiste den Jungen und blieb vor ihm stehen. Er beugte sich zu ihm hinunter, sein Gesicht dicht an dem des Jungen. »Was tut ein Pygmäe in diesem Dorf?«

»Wir sollten ihn jetzt töten«, schlug Ratte vor und spie auf den Boden. »Die Pygmäen sind wie Tiere.«

Der Anführer kratzte sich an den Bartstoppeln und drehte sich zu Imara. »Lasst das Geisterkind entscheiden.«

Imara wandte sich den dreien zu. Sie sah, wie sie ihr vernarbtes und entstelltes Gesicht anstarrten. Imaras Blick fixierte den kleinen Batwajungen. Er erwiderte ihren Blick mit seinen großen braunen Augen. Sie spürte in ihm keine Angst. Er schien zu akzeptieren, was immer nun geschehen würde. Tief in ihrer Brust fühlte sie den Schmerz, den ihr der Dämon zufügte, als er sich immer und immer wieder um ihr Herz schlang.

Bedaure ihn nicht, Imara. Werd nicht schwach. Nur die Starken überleben.

»Nun?«, sagte Black Mamba. »Was sagen die Geister? Soll der Junge leben oder sterben?«

»Töte ihn!«, beharrte Ratte und versetzte Saka einen Schlag auf die Brust. »Du bist dumm. Nutzlos. Ein Tier.«

Imara ballte die Fäuste und grub die Fingernägel in ihre Haut. Sie wollte die Stimme des Dämons ausblenden, aber er schrie lauter und immer lauter in ihr Ohr.

Der Junge muss sterben.

Der Junge muss sterben.

Der Junge muss sterben.

Kapitel 3Imara

»Nun, Imara? Was sollen wir mit ihm tun?«

Black Mamba wartete auf Antwort. Er drückte sein Buschmesser so gegen die Brust des Jungen, dass die Spitze der langen Klinge die Haut ritzte.

Der Junge sah Imara unerschrocken an. Niemand sonst besaß den Mut, ihr direkt in die Augen zu blicken. Die Männer fürchteten sie. Sie war eine, die mit dem Teufel sprach. Sie hatte die Macht, die Seele eines Menschen zu verfluchen. Wer ihr in die Augen schaute, sah seinen eigenen Tod. Und trotzdem wagte es dieser Junge. Er starrte sie an, als würde er direkt in sie hineinsehen, und brachte sie dazu, ihren Blick abzuwenden.

ER SUCHT DEINE SCHWÄCHE, zischte der Dämon. DER JUNGE MUSS STERBEN.

Das Geräusch von Gewehrsalven drang in Imaras Gedanken und zertrümmerte die Stille. Im Tal schoben sich zwei Lastwagen über die unbefestigte Straße. Orangefarbene Leuchtgeschosse erhellten den Himmel.

Ratte deutete auf die dunklen Schemen der Männer, die den Hügel heraufkamen. »Regierungstruppen«, sagte er. »Die müssen auf der anderen Talseite auf uns gewartet haben. Und sie sind in der Überzahl.«

»Verräter!«, fluchte Black Mamba im Flüsterton. »Aber sie werden uns nicht in den Wald folgen.« Er drehte sich zu Imara. »Beschütze die Männer.«

Imara ritzte die Umrisse einer Schlange in die Rinde des nächsten Baumes – dunkle Magie, um Menschen fernzuhalten. Ratte stand neben ihr und deutete mit dem Gewehr mordlüstern auf den Jungen.

»Nein«, sagte Imara und drückte den Lauf seiner Waffe beiseite.

Ratte machte ein finsteres Gesicht. »Warum? Du hast doch kein Mitleid mit ihm, oder etwa doch?«

»Nein«, fauchte Imara, »aber er kann uns nützlich sein. Lassen wir ihn einstweilen am Leben. Ich werde später über sein Schicksal entscheiden.«

Der Anführer nickte. »Gehen wir!«

Imara spürte, wie sie Rattes Blick durchbohrte.

Der Dämon kroch ihr ins Ohr. SEI VORSICHTIG, IMARA. RATTE HASST DICH. ER IST EIFERSÜCHTIG AUF DICH, WEGEN DEINER MACHT ÜBER BLACK MAMBA. ER SUCHT NACH EINEM WEG, DICH AUSZUSCHALTEN. ZEIG IHM, DASS DIR DER JUNGE EGAL IST.

Sie folgte den Männern auf den Pfaden in den Wald, die sie in der Nacht zuvor ins Unterholz geschlagen hatten. Aus dem Schutz des Waldes heraus beschossen Ratte und zwei andere Männer die Regierungstruppen und verschafften so Black Mamba und dem Rest der Mannschaft Zeit, sich davonzumachen.

Imara blickte finster drein und versetzte Saka einen harten Schlag. »Los jetzt«, befahl sie, »oder ich schieße.«

Während sie lief, kaute Imara auf einem Stück Mais und sog die letzte Süße aus dem harten Kolben. Der Schlamm unter ihren Füßen war weich und klebrig. Das Innere ihrer Stiefel war klatschnass und das harte Leder rieb an der Ferse und bescherte ihr eine neue Blase. Dann überkam sie eine große Müdigkeit. Die ganze vergangene Nacht über war sie marschiert. Mit Schlafen war erst zu rechnen, wenn sie am Abend das Lager erreicht hatten. Auch die Männer waren müde. Während sie sich den Weg durch den Wald bahnten, hörte sie nichts als Gestöhn und mühsames Atmen. Sie sahen aus wie erschöpfte Menschen und nicht wie furchterregende Mambas.

Es wurde gemunkelt, die Männer der Schwarzen Mamba könnten Tage und Nächte marschieren, ohne Essen, ohne Schlaf. Sie würden sich unbemerkt durch die Wälder bewegen. Unsichtbar und unbezwingbar. Wenn ein Mamba getötet wurde, würden zwei aufstehen und seinen Platz einnehmen. Und sie hatten zu ihrem Schutz noch dazu eine Geheimwaffe – Imara. Sie war ihr Geisterkind. Sie gab ihnen ihre Kraft.

Imara hob den Kopf und erhaschte ein paar Blicke auf die Sonne, die nun über dem Blätterdach erschien. Black Mamba trieb seine Männer ostwärts durch die Ebene auf die Berge zu. Er hatte ihnen die allergrößte Belohnung versprochen, ein Land voller Überfluss, ein Land, das sie reich machen würde.

Imara warf einen flüchtigen Blick zurück auf Saka und wünschte sich fast, Ratte hätte ihn schon früher getötet und alles hinter sich gebracht. Sicher war der kleinwüchsige Junge nicht in der Lage, den Marsch durch den Wald durchzustehen. Trotzdem, jedes Mal, wenn sich Imara umdrehte, sah sie, wie er dicht hinter dem Froschjungen ruhig vor sich hin trottete und mit seinen breiten nackten Füßen durch den Schlamm platschte.

Dikembe lief mit gesenktem Kopf vor den anderen beiden und hielt sich von ihnen fern. Der Froschjunge war der schwächste. Als der Pfad steil nach oben führte, stöhnte er unter der Last des erbeuteten Sackes Reis, den er tragen musste, und rutschte und schlitterte durch den Schlamm. Er stolperte immer wieder, bis er zusammensackte und sich nicht mehr aufrappeln konnte. Seine Brust hob und senkte sich und er atmete nur noch schwerfällig.

Ratte trat ihn in die Seite. »Steh auf, Frosch! Beweg dich!«

Saka setzte seinen Sack ab, um ihm aufzuhelfen.

»Lass ihn!«, blaffte Ratte. »Frosch macht das selbst oder gar nicht. Wir verschwenden keine Zeit mit Schwächlingen.«

Ratte überwachte den Jungen, bis der sich aufrichtete und den Sack auf seinen Rücken hievte. Erst als sie sich wieder in Bewegung setzten, bemerkte Imara, dass Saka seine leichtere Last mit Froschs schwerem Sack getauscht hatte. Ratte brüllte Frosch noch einmal an und Imara hörte den dumpfen Schlag seines Gewehrkolbens, mit dem er Frosch vorwärts trieb.

Bei den Mambas gab es nur zwei Möglichkeiten.

Durchhalten.

Oder sterben.

Kapitel 4 Imara

Black Mamba hielt seine Männer auf Trab. Er folgte alten Waldpfaden und hackte mit seinem Buschmesser die dicken Lianen auseinander. Auf einer Lichtung machte er neben einem reißenden Fluss halt, der über moosbedeckte Felsen strömte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Imara blickte an sich herab und sah ihren Schatten direkt neben ihren Füßen. Die warme Erde dampfte und in den Sonnenstrahlen surrten die Insekten.

Sie blinzelte ins grelle Sonnenlicht. Die Männer sanken zu Boden und ließen Tornister und Gewehre fallen. Manche schliefen ein, sobald sie auf dem feuchten Grund lagen.

Imara ging am Flussufer in die Hocke und spritzte sich Wasser übers Gesicht. Sie ließ es am Hals herunterlaufen und von ihrem Shirt aufsaugen, damit es ihre Haut kühlte und Schweiß und Schmutz wegspülte.

Der Anführer gesellte sich zu ihr und füllte seine Wasserflasche in der Strömung. Er deutete auf die bewaldeten Berge, die sich bis in die Wolken erhoben. »Bald sind wir am Ziel.«

In Imaras Ohren flüsterte der Dämon: SCHMEICHLE IHM. SAG IHM, WAS ER HÖREN WILL.

Imara formte eine Schlange aus der Erde neben seinen Füßen. »Die Berge sind dein Königreich.«

Black Mamba schaufelte sich die Erdschlange auf seine mächtige Hand. »Mein Königreich«, wiederholte er und nickte. »Dieses Mal werde ich nicht zulassen, dass es mir die Diebe und Verräter stehlen.«

Imara entfernte sich, sah hinüber zu den Bergen und kletterte von Fels zu Fels flussaufwärts. Sie wollte allein sein, setzte sich auf ein feuchtes Moosbett, schnürte die Stiefel auf und ließ ihre nackten Füße ins Wasser gleiten. Eine Ferse war wund und gerötet. Die zerfetzten Hautränder der Blase flatterten in der Strömung. Als das kühle Wasser ihre Haut betäubte, schloss sie die Augen.

Wieder drang der Dämon in ihr Bewusstsein. Er folgt dir!

Imara öffnete die Augen. Saka kauerte auf dem benachbarten Fels und starrte auf ihre Füße. Sie runzelte die Stirn. Wie hatte er den Wächtern entkommen können? Wie konnte er ihr so nahe kommen, ohne dass sie ihn gehört hatte? »Was willst du?«

Er legte die Finger an die Lippen.

»Du kannst nicht fliehen.« Sie nickte in Richtung der Männer, die weiter unten am Ufer lagen. »Wenn du’s versuchst, werden sie dich zur Strecke bringen.«

Saka schüttelte den Kopf. »Ich kann dir was für deinen Fuß bringen. Damit wird’s besser«, flüsterte er auf Suaheli, nicht auf Lingala, der Sprache der Männer der Schwarzen Mamba.

TRAU IHM NICHT, IMARA, zischte der Dämon. ER VERSUCHT NUR, SEINE FREIHEIT ZU ERKAUFEN.

Imara fuhr mit den Fingern über ihren Fersenrücken. Sie brauchte etwas für die Wunde. Wenn sie noch größer wurde, würde ihr jeder Schritt wehtun. Sie wollte sich keine Infektion einfangen.

Sie ignorierte den Dämon und nickte dem Jungen zu. »Mach schnell.«

Saka suchte das Ufer ab und pflückte zwischen den Felsen kleine kreisrunde Blätter. Er rollte sie zu einem Kügelchen zusammen, schob sie in seinen Mund und kaute darauf wie eine wiederkäuende Ziege. Als aus seinen Mundwinkeln grüner Saft tropfte, nahm er den Blätterpropf in die Hand, hockte sich hin und drückte die durchgekauten Blätter gegen Imaras wunde Haut. Dann riss er ein Stück Stoff aus seinem Hemd, um das Blattpflaster zu fixieren.

»Das war’s«, sagte er. »In drei Tagen ist dein Fuß geheilt.«

Imara nickte. Sie zog ihre Stiefel an, achtete darauf, dass der Blätterverband nicht verrutschte, und ging, gefolgt von Saka, zurück zur Lichtung. Nur Ratte war noch wach und verfolgte die beiden mit misstrauischen Blicken aus seinen kleinen stechenden Augen.

Imara beachtete ihn nicht. Sie war sicher. Sie war das Geisterkind der Schwarzen Mamba und niemand konnte ihr etwas anhaben. Nicht einmal Ratte. Sie holte ein Stück Trockenfleisch aus ihrem Tornister und zerkaute es in dem Bewusstsein, dass sie Saka mit hungrigen Augen beobachtete. Sein Blätterwickel schien zu helfen. Die Wunde brannte nicht mehr. Am Ende konnte Saka nützlich sein. Vielleicht hatte der kleine Batwajunge gerade seine Freiheit erkauft.

 

»Macht schon! Auf! Auf!« Black Mamba stieß seine Leute wach. »Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit am Fuß des Berges sein.« Er wandte sich an einen der Männer. »Bundi, wie weit ist es noch?«

Bundi breitete eine Karte am Boden aus. Er beäugte sie und fuhr mit dem Finger die kurvenreichen Flusslinien entlang. »Vier Stunden Marsch, vielleicht auch fünf«, sagte er. Bundi unterschied sich von den anderen Männern. Er war groß und dünn, hatte hellere Haut, hohe Wangenknochen und eine lange Nase, auf der eine Brille saß. Die Männer misstrauten ihm. Er konnte lesen und noch einiges mehr. Einige meinten, er habe auf der Universität von Kinshasa studiert. Andere glaubten, Black Mamba habe ihn für seine Kenntnis der Gebirgsregion gut bezahlt.

Imara schulterte ihren Tornister und reihte sich in die Kolonne ein. Die Männer bewegten sich jetzt langsamer. Sie wechselten sich dabei ab, einen frischen Pfad durch den Wald zu schlagen, und marschierten im Gleichklang zum Rhythmus ihrer schwingenden Buschmesser, mit denen sie die Lianen vor ihnen zersäbelten, ting, ting, ting.

Die ganze Zeit über ging es bergauf. Sie kletterten über umgestürzte Bäume und wateten durch Flussläufe. Der Wald begann sich zu verändern. Die Bäume drängten sich enger aneinander. Das Blätterdach über ihnen wuchs dichter und vom lichtdurchfluteten Geäst ganz oben schlängelten sich die Lianen bis in die halbdunkle Welt des Waldbodens. Die Bäume hier waren knorrig und gedrungen und bucklig, wie dickbäuchige alte Männer. Ihre gewundenen Äste waren mit Moos bedeckt und sahen aus, als trügen sie einen feuchten grünen Pelz mit glitzernden nassen Perlen. Unaufhörlich tropfte Wasser von den Blättern, plitsch-platsch-plitsch-platsch. Dunstschwaden streckten ihre feuchten Finger nach Imaras Kleidung aus. Sie fröstelte und rieb sich die nackten Arme. Heute Nacht würde es schwierig werden, ein Feuer zu machen.

Als das Tageslicht nachließ, gab ihnen Bundi das Zeichen anzuhalten. Sein Blick glitt über die Landschaft. Mit seinem Finger verfolgte er den Verlauf eines Flusses, der eine tiefe Schlucht in den Berghang gefressen hatte. Das Wasser floss in kleinen Wasserfällen den Hang hinunter und teilte sich weiter unten in verschiedene Ströme. Das Rauschen des Flusses erfüllte das ganze Tal.

Bundi ging in die Hocke und zog das Gebüsch beiseite. Er rieb die Erde darunter zwischen den Fingern, sah zu Black Mamba hoch und nickte.

Der Anführer schnippte mit den Fingern nach den drei Jungen. »Grabt!«, befahl er und drückte jedem der drei eine Schaufel in die Hand. Dann richtete er sein Gewehr auf sie. »Grabt ein Loch, das groß genug für euch drei ist.«

Imara warf ihm einen kurzen Blick zu. Zwar hatte er viele Menschen getötet, aber es war nicht seine Art, die Opfer ihre eigenen Gräber ausheben zu lassen. Dikembe stieß seine Schaufel in den Boden und schleuderte einen Klumpen Erde zur Seite. Während er schuftete, glitt sein Blick immer wieder zu Black Mambas Gewehr hinüber. Frosch versuchte mit zitternden Händen, die weiche Erde umzugraben und dabei die Baumwurzeln zu umgehen. Saka grub wie wild, schaufelte die Erde beiseite und drang immer tiefer in den Boden ein.

Die Mambas saßen da und sahen den Jungen bei der Arbeit zu, bis Bundi mit einer Taschenlampe ins Loch leuchtete. »Es reicht«, sagte er, »kommt jetzt raus.«

Die Jungen kletterten hoch, der massige Anführer umrundete das Loch und legte den Finger an den Abzug seines Gewehrs. »Auf die Seite!«, befahl er.

Imara drehte sich weg. SCHAU!, spottete der Dämon, JETZT STERBEN SIE TROTZDEM.

Aber stattdessen kletterte Bundi in das Loch. Imara hörte, wie er in der Erde scharrte. Er stieg mit einer Schüssel voller schlammverkrusteter Steine heraus, die er im Flusswasser hin- und herschwenkte. Der Anführer warf einen Blick in die Schüssel. Imara linste über seine Schultern, sah aber nichts als langweilige graue Steine.

Black Mamba nahm einen heraus und rollte ihn zwischen den Fingern. Er sah Bundi an und nickte. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht und sein goldener Zahn glitzerte im Licht von Bundis Taschenlampe. Er hielt den Steinbrocken in die Höhe. »Endlich haben wir gefunden, was wir gesucht haben«, sagte er. Er griff in eine Kiste und zog eine Flasche Bananenbier heraus. »Heute Nacht feiern wir.«

Er biss den Metallverschluss der Flasche ab und spuckte ihn auf den Boden.

»Morgen graben wir.«

Kapitel 5Imara

»Coltan!« Black Mamba nahm einen Zug aus der Flasche. Aus seinen Mundwinkeln sickerte Bier und rann am Kinn herunter. Er küsste den Steinbrocken und hielt ihn in die Höhe, damit ihn seine Männer sehen konnten. »Columbit-Tantalit«, sagte er und wälzte die Worte im Mund herum. »Auch bekannt als Coltan. Wird für jeden Computer und jedes Handy weltweit gebraucht.« Er legte eine Pause ein und wiederholte dann langsam das Wort, um einen größeren Effekt zu erzielen. »Welt…weit! Jedes Land will es, und wir haben es hier, im Kongo. Mit diesem Stein werden wir die Welt beherrschen. Mit diesem Stein werden wir reich!«

Imara starrte den grauen Stein an. Er sah aus wie jeder andere Gesteinsbrocken, und doch war Black Mamba dafür meilenweit durch den Dschungel marschiert und hatte seine Männer morden lassen. Sie hatte zufällig aufgeschnappt, wie Bundi erwähnte, dass dieser Stein mehr wert sei als Gold.

Die Männer schleuderten ihre Tornister zu Boden, markierten damit das provisorische Lager, öffneten die gestohlenen Bierflaschen und schnippten die Kronkorken in den Busch. Ratte tötete eine der Ziegen, schnitt ihr die Kehle durch und häutete sie, indem er sein Messer über das Fleisch zog. Während der Arbeit hing eine Zigarette aus seinem Mund, deren glimmendes Ende in der Dämmerung leuchtete. Die zweite Ziege blökte jammervoll an ihrem Strick.

Gegen Abend wurde die Luft kühler. Nebelschwaden senkten sich aufs Blätterdach über ihnen. Die Nacht trat nicht plötzlich ein, wie bei klarem Himmel, nein, der Himmel verfärbte sich ganz allmählich hin zur Nachtschwärze. Damit die drei Jungen in der Nacht nicht flüchteten, band Ratte sie zusammen. Imara sah, wie sie zitterten und sich aneinanderdrängten. Frosch saß zusammengekauert da und schluchzte still vor sich hin. Saka nahm Froschs Hand und hielt sie fest. Dikembe saß mit dem Rücken zu den beiden, als wollte er mit deren Schwäche nichts zu tun haben.

Imara rieb sich die Arme und sah sich um. Sie fror und fühlte sich niedergeschlagen. Hier gab es kein Fleckchen trockenen Boden, auf das man sich legen konnte. Der Wald bog sich unter der Last der Feuchtigkeit, als würden die Bäume die Regenwolken in ihrem Geäst festhalten. Das Wasser glitzerte auf den Blättern und ließ Moos und Flechten anschwellen. Es verdichtete sich zu zarten Nebelschleiern und saugte sich in der mit Laub übersäten Erde fest. Es würde nicht einfach sein, ein Feuer anzuzünden, aber schließlich war Imara das Geisterkind. Sie konnte alles tun. Sie räumte Laub und Unterholz beiseite, legte die feuchte Erde frei und kramte trockenes Holz, Gräser und Holzkohle hervor, die unten in ihrem Tornister verstaut waren. Sie stellte die Hölzer zu einem kleinen Podest zusammen, auf das sie die Gräser legte, türmte darauf Holzkohlestöckchen und zündete das Ganze mit dem blauen Feuerzeug an, das ihr Black Mamba gegeben hatte. Dann pustete sie sanft in das rauchende Grasbündel, bis kleine Flammen hervorzüngelten und sich ausbreiteten.

Bevor es zu dunkel wurde, musste sie mehr Holz schneiden, um das Ziegenfleisch braten zu können. Sie verließ das Lager, schnitt sich mit ihrem Buschmesser den Weg durch das Unterholz frei und streifte dabei an den Ästen entlang, um abgestorbene, hohle Zweige zu finden, die trockener als die anderen waren und leichter brannten.

So kam sie an eine kleine Lichtung. Der Boden war vor Kurzem zertrampelt worden. Hier lagen abgebrochene Äste, deren schartige Bruchstellen noch frisch waren. Junge Schösslinge waren herausgerissen und beiseitegeschleudert worden. Ein säuerlicher Mief lag in der Luft. Irgendwo hinter der Wand aus Lianengestrüpp bewegte sich etwas. Hinter ihr in der Finsternis rannte und stapfte es mit gewaltigen Schritten über den Boden.

Imara erstarrte. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Gab es in diesem Teil des Waldes auch noch andere Menschen? Beanspruchte noch eine zweite Rebellengruppe dieses Land? Der Schweißgeruch wurde penetrant. Imara ging in die Hocke und versuchte durch das Geäst zu spähen. Noch immer bewegte sich etwas. Über ihr in den Bäumen knackste es. Etwas Schweres kletterte durch das Astwerk nach unten und knickte dabei Zweige ab. Für einen kurzen Augenblick glaubte Imara, sie sähe hinter dem dichten Geäst ein Gesicht, das sie beobachtete, ein kleines schwarzes Gesicht mit bernsteinfarbenen Augen. Aber bereits im nächsten Moment war es wieder verschwunden. Das Knacken im Unterholz entfernte sich. Jetzt hörte man nur noch das schnarrende Lied der Insekten und das Geräusch der Wassertropfen, die von den Blättern zu Boden fielen.

Imara schleifte einige der abgebrochenen Äste zum Lagerfeuer und sah sich dabei immer wieder um. Sie zitterte. Sie waren nicht allein. Vielleicht gab es in diesem Wald mächtige Geisterwesen – zu mächtig für Imara. Vielleicht wollten sie sie hier nicht haben.

 

In dieser Nacht veranstalteten die Männer und Imara ein Festgelage mit Ziegenfleisch und Bohneneintopf. Das Ziegenfett zischte und flackerte im Feuer. So wurden die Waldgeister in Schach gehalten, die sich mit ihren Tänzen in die Schatten des Unterholzes zurückgezogen hatten. Die drei Jungen starrten ausgehungert auf das Essen, aber Imara wusste, dass der Boss die neuen Rekruten zuerst einmal hungern ließ. Sie würden sich ihren Unterhalt erst verdienen müssen.

Als dichter Nebel aufkam, wurde es im Lager still und man hörte nichts weiter als das Geschnarche und Gegrunze der mit Bananenbier abgefüllten und besoffenen Männer. Imara erkannte unter den Decken die Umrisse der zusammengekauerten Gestalten. Sie schliefen mit den Waffen im Arm und träumten von den versprochenen zukünftigen Reichtümern. Ihr Anführer schlief in einer Hängematte zwischen zwei Bäumen. Über ihm war eine Plane gespannt, damit er nicht nass wurde.

Auch die drei Gefangenen hielten jetzt Ruhe. Sie waren zu jung, viel zu jung. Black Mamba hätte sie töten oder in den Wald entkommen lassen sollen. Jungen wie sie waren für niemanden von Nutzen. In der Abenddämmerung hatte Imara gehört, wie Frosch stöhnte und wimmerte. Er hatte nach seiner Mama gerufen, so wie es neue Rekruten am Anfang immer taten. Aber sie hielt sich die Ohren zu, weil sie wusste, dass diejenigen, die am lautesten nach ihren Müttern riefen, immer die Ersten waren, die starben.

 

Imara wickelte sich in ihre Decke ein und in die Plastikplane, die sie immer zusammengefaltet in ihrem Tornister mit sich trug. Ihre Haut kribbelte vor Kälte. Sie fror mehr als je zuvor. Um sich zu wärmen, schob sie sich näher ans Feuer. Ein unsteter Wind wirbelte den Rauch auf. Glimmende Aschestückchen tanzten wie kleine Glühwürmchen über den Boden. Imara legte sich wieder hin und versuchte einzuschlafen, aber es gelang ihr nicht. Sie drehte sich vom Feuer weg und war froh, ins Dunkel zu blicken. Das verbarg die Narbe und ließ den Teufel in ihr zur Ruhe kommen. Die Dunkelheit war ein Ort, an dem Geheimnisse in die Nacht entfliehen und stumme Tränen fließen konnten.

»Imara?«

Imara hielt den Atem an. Black Mamba war aufgewacht. Er stapfte über den feuchten Boden. Sie setzte sich auf und hielt ihr Gesicht im Schatten. Als er neben ihr in die Hocke ging und die Dunkelheit, die zwischen ihnen lag, ausfüllte, erschien er noch größer als am Tag. Imara sah ihn nicht an, richtete jedoch ihren Blick auf das Schlangenamulett, das er ums Handgelenk trug.

»Geisterkind …«, flüsterte er.

Imara spürte, wie sich beim Klang seiner Stimme der Dämon in ihr regte. Sie stocherte mit einem langen Stock im Feuer herum und ließ die Funken fliegen.

»Ich muss dich etwas fragen«, fuhr der Anführer fort und drehte sein Amulett hin und her. »Sind wir hier sicher?«

Als er das Amulett berührte und lautlos die Knochen der Schlange zählte, sah Imara, wie seine Hand zitterte. Nie zuvor hatte sie bemerkt, dass sich Black Mamba vor irgendetwas fürchtete. Vielleicht ließ auch er seine Geheimnisse in die Finsternis entweichen.

ER BRAUCHT DICH ZU SEINEM SCHUTZ, lachte ihr der Dämon leise ins Ohr. UND DAS GIBT UNS MACHT.

»Imara!« Mambas Gesicht war so dicht an ihrem, dass sie den schalen Geruch des Tabaks in seinem Atem wahrnahm. Er packte ihren Arm und seine Finger gruben sich in ihre Haut. »Sind wir hier sicher? Werden uns die Geister schützen?«

Erzähl’s ihm, Imara! Erzähl ihm, was wir heute gesehen haben!

»Imara! Ich muss es wissen.«

Erzähl’s ihm, Imara … erzähl, was wir im Wald gesehen haben.

Imara entzog sich seinem Griff. Das Bild des kleinen Gesichts hinter den Lianen ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie stocherte im Feuer, bis noch mehr Funken in die Höhe stiegen.

»Wir sind sicher«, antwortete Imara und hielt inne. »Wenigstens fürs Erste.«

Black Mamba starrte in die Flammen. »Was hast du gesehen?«

Imara zeichnete die Umrisse eines Gesichts in die heiße Asche. »Der Wald hat Augen«, flüsterte sie. »Wir werden beobachtet.«

Kapitel 6Bobo

Bobo zog sich die Decke über den Kopf, schloss die Augen, konnte aber nicht einschlafen. Er hörte, wie seine Schwester auf der Matratze neben ihm ruhig atmete, und er hörte den Regen auf das Wellblechdach trommeln. Die Wolken, die vorher über den Bergen hingen, regneten sich nun über der Stadt ab. Draußen rauschten ein paar Autos durch die breiten Pfützen. Ihr Scheinwerferlicht huschte kurz durchs Zimmer.