Gott geht unter die Haut - Rainer Fuchs - E-Book

Gott geht unter die Haut E-Book

Rainer Fuchs

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Beschreibung

Hinter seinen Tätowierungen stecken wahre Geschichten, hinter seinen Worten echte Erfahrungen und hinter dem, was er tut: Leidenschaft und Überzeugung. Rainer Fuchs ist evangelischer Diakon und zeigt, wie Glaube begeistern und die Welt verändern kann. Und: Dass es gut ist, wenn man anders ist. Rainer Fuchs ist alles, nur kein Kirchenmann-Klischee. Er liebt Johnny Cash, ist begeisterter Biker und über und über tätowiert: Fuchs fällt auf. Nicht nur wegen seines Aussehens, sondern vor allem auch wegen seines Auftretens. Sein Auftrag dabei: Kirche wieder sichtbar machen. Öffnung statt Rückzug, Kontakt mit Kirchenfernen und den Menschen am Rand. Er besucht Häftlinge, hilft Alleinerziehenden, kümmert sich um Jugendliche an sozialen Brennpunkten, ist als Seelsorger für alle da. Dabei spürt man: Fuchs kennt Krisen und Umbrüche nicht aus gelehrten Büchern, sondern dem eigenen Leben. Er spricht aus dem Herzen zu den Herzen. Bei ihm finden Menschen das, wonach sich heute so viele sehnen: Heimat. Rainer Fuchs zeigt buchstäblich mit Leib und Seele: Egal zu welcher Konfession man gehört, egal wo man lebt – Gott geht uns nicht nur an, sondern auch unter die Haut. Nach der Scheidung von seiner Frau ist er in einer schweren Krise. Und macht selbst in diesem schwärzesten Tief die Erfahrung, ein geliebtes Kind zu sein und behält die Gewissheit, dass ihm seine Beziehung zu Gott niemand nehmen kann. Deshalb erzählt er seine Geschichte, daraus zieht er seine Glaubwürdigkeit. "Diese Gottesbeziehung und die daraus erwachsende Geborgenheit haben mich über alle Zweifel hinweggetragen – und mit dem guten Ausgang, den diese Krise dann nahm, mich noch mehr glauben lassen, dass da etwas ist, was mich begleitet und gut nach mir schaut. Gott ist da. Das ist das eine. Das andere ist: Auch das Leid ist da. Und das Dritte bleibt: Es gibt immer eine zweite Chance! Stell dich deinen Umbrüchen. Versuche sie aktiv zu gestalten. Du selbst bist verantwortlich für dein Leben. Ich bin nicht vorherbestimmt. Nicht seine Marionette. Du selbst bist verantwortlich dafür, dass Leben gelingt." Sein "Glaube aus Leidenschaft", in dessen Zentrum die sieben Werke der Barmherzigkeit und Nächstenliebe stehen, ist seine Berufung. Er ist seine Botschaft, die er an andere weitergibt. Als Gemeinwesendiakon ist er im Münchner Stadtteil Giesing als "Gottes Biker" unterwegs und tut, was er tut, damit Menschen wieder ernst genommen werden, die christlich glauben. Er trägt seinen Teil dazu bei, in Giesing und weit darüber hinaus: "Ich hoffe, sie fühlen sich angeregt, belebt und unterhalten und tragen die frohe Botschaft des Buches weiter."

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www.BruderFuchs.de

Rainer Fuchs

Gott geht unter die Haut

Glauben aus Leidenschaft

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

S.9 ff: Text von »Ring of Fire« (englisches Original; im Text deutsche eigene Übersetzung)

Ring Of Fire

Words and Music by June Carter and Merle Kilgore

© 1962 Painted Desert Music Corp

Shapiro Bernstein & Co Limited, New York, NY 10022-5718, USA

Reproduced by permission of Faber Music Ltd

All Rights Reserved.

S. 172: »The Immigrants’ Creed«, deutsche eigene Übersetzung

»The Immigrants’ Creed« by Jose Luis Casal / The Book of Common Worship: 2018 Edition

(Louisville, Ky.: Westminster John Knox Press, 2018), pp. 613-4.

Die Bibelstellen stammen aus der Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Covergestaltung: ©Network! Werbeagentur GmbH, München

Covermotiv: © Fritz Beck, München

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book 978-3-451-81999-5

ISBN Print 978-3-451-38744-9

Inhalt

Brief von Joanne Cash

Über dem Herzen ist die Haut besonders dünn

That’s enough: Es ist vorbei …

Fahrt mit Gott, aber fahrt!

777: Reverend Ray Fox

Gott geht unter die Haut

Die Eingebung

Man in Black: Mitten drin in Giesing

Wer nicht wagt, hat schon verloren

Wo die Luft noch brennt …

Anpacken, nicht einpacken

Über eine geheimnisvolle Macht

Wie Kirche wieder Heimat wird

Zugbrücke runter und raus ins Leben

Giesing in my heart

Bildteil

Ain’t no grave …: Woran ich glaube

Freiheit, die ich meine

Nicht predigen, begeistern!

»Bei strenger Pflicht, getreu und schlicht«

Wüstgläubig: Wie Kirche enttäuscht

Glauben kann ein wunderbares Abenteuer sein

»Tu es«: Jeder hat seine Berufung

Die Brüderschaft: Getragen und gesendet

Jesus in der Sauna

Haltung statt Vorhaltung

Du lässt die Asche zurück und nimmst das Feuer mit

Panda oder Porsche: die Versuchung

»Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe«

Füllwörter braucht kein Mensch

»Ich glaube, wir sollten noch mal kurz spazieren gehen …«

»Gott, hilf mir beten …ich kann es nicht allein«

Windmühlen statt Mauern – und das Gesicht in der Sonne

Glauben aus Leidenschaft

Danksagung

Über den Autor

Brief von Joanne Cash

Johnny Cash mit seiner Schwester Joanne

Ich habe im Buch von Diakon Rainer Fuchs gelesen und fühle mich dadurch sehr gesegnet zu wissen, dass die bedingungslose Liebe der Schlüssel ist, um Tür und Tor für den Dienst am Nächsten zu öffnen. Diese Liebe ist Liebe, die wirklich vergibt.

Jemand hat mich kürzlich gefragt, ob es jemanden auf der Welt gibt, dem ich nicht vergeben könnte. Ich sagte ihm, dass ich jedem und allen vergeben kann und es auch tue, die meine Vergebung brauchen – im Namen Jesu. Das ist Gottes Liebe!

Harry Yates, mein Mann und Pastor der Nashville Cowoboy Church, besaß mehrere Jahre lang auch ein Motorrad, und ich fuhr mit ihm immer und überall hin. Durch sein Buch hab ich Rainer Fuchs als einen Diakon und Motorradfahrer in Deutschland kennengelernt, der noch dazu ein echter Bewunderer und Fan meines Bruders Johnny Cash ist. Er vergleicht einige seiner Kämpfe und Krisen im Leben mit Songs von Johnny Cash, darunter »Ring of Fire«, »Man in Black« und »Ain’t No Grave«. So echt, wie das Leben ist, müssen auch unser Glaube und unser Zeugnis echt sein!

Jesus sagte: »Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben, ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben.« Die Zeiten ändern sich, und das Elend scheint gerade überall zu wachsen. Wir als Jesu Nachfolger müssen versuchen, Menschen zu erreichen, die vielleicht nie in unsere Kirchen kommen, und das tun Ray und seine Brüder in Christus.

Unser Auftrag ist es, wirklich Leib Christi zu werden, das Licht in einer dunklen Welt, das Salz der Erde! Wir müssen leben, denken, gehen und beten und wie Christus in dieser Welt, mitten unter den Menschen sein, auch wenn unser persönliches Leben und andere Dinge um uns herum auseinander zu fallen scheinen.

Dazu brauchen wir Dinge, die uns auch persönlich stärken und uns gut tun. Für viele Menschen ist das zum Beispiel das Motorradfahren. Hier finden viele, wie auch Rainer, ihre Zeit für Gott in der Freiheit des Moments, unbelastet von gestern oder morgen. Sie fahren einfach und lassen sich den Wind um die Nase wehen und werfen all ihre kleinen und großen Sorgen auf den Herrn. Egal wie groß und unüberwindbar die Sorgen und Nöte auch wirken mögen, wir werden in den Tälern des Lebens nie allein gelassen! Auch davon berichtet das Buch von Reve­rend Ray Fox. Wie ein großer Vater legt unser Vater, legt Gott seine Arme um uns und lindert unsere Schmerzen und Verletzungen. Selbst wenn es zu Trennungen und Brüchen im Leben oder im Tod kommt, ist Gott ein Gott des Trostes und des Friedens! Er bringt dich gestärkt aus der Tragödie heraus. Alles, was ER verlangt, ist, dass wir ihm vertrauen. Es gibt immer eine zweite Chance. Wir müssen uns unseren Schwierigkeiten nur stellen und sie Jesus zu Füßen legen. Gott geht einem wirklich »unter die Haut«!

Dieses Buch gewährt große Einsicht und Frieden in und durch alle Situationen des Lebens. Am Ende dieses Buches sagt das Glaubensbekenntnis der Apostel alles. Danke, dass Du es so sagst, wie es ist!

Joanne Cash

Über dem Herzen ist die Haut besonders dünn

The taste of love is sweetWhen hearts like ours meet.I fell for you like a childOh, but the fire went wild.

I fell into a burnin’ ring of fireI went down, down, downAnd the flames went higher,And it burns, burns, burns,The ring of Fire

Johnny Cash

Mit dem Schmerz kommt die Erinnerung. Gleißende Bruchstücke zunächst, die zusammenhanglos plötzlich aufblitzen und sich dann zu immer größeren Bildern vereinen. Meine Kindheit. Sonne blitzt durch die kleinen Autofenster, Lichtreflexe aus der vorbeisausenden Landschaft. Ich sitze auf der Rückbank, der sonntägliche Ausflug in die fränkische Schweiz. Mein Vater am Steuerrad seines Opel Manta Typ B, Ellbogen locker aus dem offenen Fenster und nur eine Hand am Steuerrad. Meine Mutter mit Kopftuch über dem sorgsam frisierten Haar und »Frühstück bei Tiffanys«-Sonnenbrille auf dem Beifahrersitz. Aus dem Kassettendeck dröhnt genau dieses Lied, das mir mit seinem treibenden Takt seit Tagen nicht mehr aus dem Ohr geht, sich dreht und durch meinen Kopf windet, immer und immer wieder: »The Ring of fire«. Aber in der Originalversion. Von Johnny Cash, nicht Bruce Springsteen. Dieser geniale, mehrdeutige Text mit seinen teuflisch tiefen und himmlisch hochfliegenden Ebenen, den kaum jemand ins Deutsche zu übersetzen vermag, ohne dass es holpert: »Der Geschmack der Liebe ist süß, wenn sich Herzen wie unsere treffen. Ich verfiel Dir wie ein Kind, oh, aber das Feuer schlug hoch. Liebe ist ein brennendes Ding, und sie bildet ’nen feurigen Ring. Und es brennt, brennt, brennt, der Ring aus Feuer, der Ring aus Feuer.«

Meine Begeisterung für Johnny Cash, diesen tief gläubigen Sänger, wurde durch meinen Vater geprägt, der auf unseren Ausflugsfahrten derart häufig seine Lieder spielte und mitsang, bis ich sie bis heute teilweise auswendig herbeten kann. Johnny Cash, Country- und Westernsänger, Rock’n’Roll war die Musik seiner Jugend. Die Melodie seiner Auflehnung und seiner inneren Revolution gegen die Welt der Erwachsenen. Mein Vater war Mitglied im Verein christlicher junger Männer, CVJM. In diesem Sinne war mein Vater ein »Believer«. Cash, die Begleitmusik seiner Jugend. Zeltlager. Unbeschwerte Sommer. Und immer wieder die rauchige Stimme von Johnny Cash. Dieser Rhythmus, der Motorsound vom Opel Manta, die vorbeirauschende Landschaft und der sich im Takt wiegende Glatzkopf meines Vaters haben mich geprägt. Wie oft haben wir auch laut mitgesungen. Meine Mutter machte mit, obgleich sie fünf Jahre jünger als mein Vater und vom Musikgeschmack eher ein Kind der Beatles-Zeit war oder auch gerne deutsche Schlager hörte. Auch die kann ich auswendig. Auch wenn ich das nicht so gerne zugebe. Johnny Cashs Texte allerdings, die haben sich in meine Seele gebrannt, wie jetzt die Nadel in meine Haut. Ihre Spuren werden bleiben, so wie die genialen Lieder von Cash, der für mich Jahr für Jahr neue, überraschende Facetten aufscheinen lässt. Seine Musik hat sich entwickelt, ein wenig wie mein Glauben. Erst kindlich naiv, aufbegehrend – und dann mit den Jahren an Lebenserfahrung immer tiefer die ganze Dimension erfassend.

Neues Stechen, neuer Schmerz, neue Erinnerungen. Die Bilder meiner Kindheit folgten in einer schnellen Abfolge. Ich sehe mich mit meinen grün gefärbten Haaren, sehe das Entsetzen meiner Lehrer, meiner Eltern und meines Großvaters. Ich sehe meine besorgten Eltern mir ins Gewissen reden, ich solle mich endlich anstrengen, etwas Ordentliches lernen, in die Bank oder eine Versicherung gehen. Meine Vorfahren waren immer schon Arbeiter und Tagelöhner gewesen. Und das sage ich voll trotzigem Stolz: Ich bin ein Arbeiterkind aus Nürnberg. Ich stamme väterlicherseits aus einer dieser klassischen, fränkischen, bodenständigen Arbeiterfamilien, die evangelisch-rechtschaffend leistungsorientierten Werten folgten. Fleiß. Pünktlichkeit. Gründlichkeit. Ehrlichkeit. Strebsamkeit. Zuverlässigkeit. Tugendhaftigkeit. Genügsamkeit. Gehorsam.

Wieder sticht und brennt es. Ich öffne kurz die Augen, sehe die stechende Nadel und den Tätowierer, der sie führt. Der Schmerz fährt tief, tief wie der seelische Schmerz, der ebenfalls in mir brennt. Ich schließe die Augen wieder und falle in die Erinnerung zurück. Wie passt das zusammen, diese evangelische Bodenständigkeit, diese genügsame Strebsamkeit und Johnny Cash? War und ist das nur Rebellion, Auflehnen gegen das Elternhaus und dessen Werte? Nein. Nicht nur, dass ich meine Kindheit als behütet, als glücklich empfunden habe, alles war so intakt. Nein, auch deshalb, weil Johnny Cash und seine Musik und seine Lieder mehr sind. Auf meinem Körper finden sich auch ein paar Tattoos aus Cashs Leben, die unmittelbar mit meinem Leben zu tun haben: Zum Beispiel ein Zellenfenster, vergittert mit Blick nach draußen, und eine Dampflok, als Tribute an das legendäre siebzigminütige Cash-Konzert im Knast Folsom-Prison am 13. Januar 1968, diesem Meilenstein der Musikgeschichte. Jahrelang hatte Cash vergeblich mit seiner Plattenfirma gekämpft, ausgerechnet dort, an einem Ort des Bösen, ein Konzert geben zu dürfen. Niemand traute ihm das noch zu. Cash war nach seinem ersten Megahit »Ring of Fire« – meinem zweiten Lieblingstitel – an seinem Welterfolg fast erstickt und wirklich tief abgestürzt. »Manchmal bin ich zwei Personen: Johnny ist der Nette, und Cash macht all den Ärger. Sie kämpfen miteinander!« Ein bekanntes Zitat des Musikers, der ein Mensch mit zwei Gesichtern war. Hier die populäre Country-Ikone, ein Hüne mit markantem Bassbariton und einem missionarischen Glauben. Dort der raue Rebell, der launische Egoist und Drogensüchtige, der mit dem Gesetz in Konflikt kam, mit Schuldgefühlen, Depressionen und Schmerzen rang, sich umbringen wollte, seine Vorsätze verriet und längst am Ende schien. Schließlich erlaubte es die Plattenfirma, hatte aber zwei Durchläufe angesetzt, aus Angst vor Cashs drogenbedingten Aussetzern. Doch schon das erste Konzert mit seiner roh und so authentisch wirkenden Knastausstrahlung lief fehlerfrei und wurde eines der besten Livealben seiner Zeit, mit dem »Folsom Prison Blues« wird es zum Welthit. Für mich ist das Album noch mehr: Ich habe selbst hin und wieder im Knast als Seelsorger gewirkt, in Stadelheim und anderswo, und das, was Cash dort machte, ist gesungene Diakonie. Gefangene besuchen, das ist eines der Werke der Barmherzigkeit und die wiederum essenzieller Bestandteil meiner Spiritualität.

Ruhig führt der Tattoo-Meister seine Hand, aber mit jedem Zentimeter wühlt er mit seinen Nadelstichen alles weiter auf, füllt mit Farbe, was eben noch schwarzweiß aus dem Dunkel kam. Über dem Herzen ist die Haut besonders dünn. Die Nadeln schlagen ihre Spur, tief unter meine Haut. Es ist, als würden die Stiche dein Brustbein perforieren, es zertrümmern, um dann immer tiefer vorzustoßen – mitten in dein Herz. Was waren das für Gefühle gewesen. Der erste Kuss, irgendwo auf einem Dachboden auf einer alten verstaubten Couch, verborgen vor den strengen Eltern der Freundin: »Gefangen durch wildes Verlangen fiel ich in einen Ring aus Feuer. Ich fiel in einen brennenden Ring aus Feuer. Ich fiel in einen brennenden Ring aus Feuer, ich sank tiefer, tiefer, tiefer. Und die Flammen stiegen höher, und er brennt, brennt, brennt:Der Ring aus Feuer.«

Es hätte nicht so enden dürfen. So nicht. Nach fünfzehn Jahren Beziehung.

Die Stiche und der Schmerz, mit ihnen kommt noch mehr Erinnerung: An vergangene Tage, Tage, an denen ich mir klein vorkomme. Und schwach. Ungeliebt. Und fühle mich nicht mehr so selbstsicher, wie ich einst war. An manchen Tagen ist mein Unglück so übermächtig, dass ich nicht aus dem Bett komme, so schwach fühle ich mich. Zu schwach, aufzustehen und den Tag, die Sonne, das Licht in mein dunkles Zuhause und mein Herz scheinen zu lassen, das sie verlassen hat. Sie hatte sich nicht mal mehr die Mühe gemacht, es mir persönlich zu sagen. Eines Abends hatte sie angerufen, aus der Ferne von ihrem neuen Arbeitsplatz, und zunächst fast geschäftsmäßig mitgeteilt, Rainer, es geht nicht mehr. Dann war es still gewesen zwischen uns. Wie all die Monate zuvor, wenn sie nur noch an den Wochenenden – und dies auch immer seltener – abgearbeitet nach Hause kam. Wie bei meinen Besuchen bei ihr, wo mir Stadt und Apartment gleichermaßen fremd waren. Wo wir uns fremd waren. Wir waren uns nie wieder so nahe gekommen wie all die Jahre zuvor. Jetzt – sie in der fremden Stadt und dem fremden Apartment und ich hunderte Kilometer entfernt – jetzt drang erst langsam bei mir durch, dass jetzt da war, was wir beide längst wussten. Dass es aus ist. Ein Moment, der dich kalt anfasst, dir den Atem nimmt – wie wenn jemand stirbt. Ich konnte nichts sagen. Minutenlang. Zu übermächtig waren all die Gedanken, die Erinnerungen und der Abgrund an Konsequenzen, der sich vor mir auftat. Stille kann sehr laut sein.

Dann habe ich geweint.

Dann hat sie geweint und aufgelegt.

Und seither war ich allein.

Mein Leben lang habe ich die Einsamkeit gefürchtet, war vor ihr geflohen und hatte immer die Gemeinschaft mit vielen anderen Menschen gesucht, um mich aufgehoben und geborgen zu fühlen. Das ist seit meiner Kindheit schon so. Vielleicht, weil ich Einzelkind bin. Jetzt hatte mich die Einsamkeit eingeholt, und das war nicht gut so. Alles Vertraute war fort. Unser Bett blieb kalt. Ich schlief auf dem Wohnzimmerboden. Wo war jetzt noch Heimat? Wie oft haben meine Großeltern davon erzählt, die wirklich Heimatlosen. Wie groß die Not im ersten Winter nach dem Krieg war, auf der Flucht: vor Hunger, Frost, Verfolgung und Tod. Wo Säuglinge erfroren und Menschen verhungert sind in ihren fensterlosen Wohnungen. Kriegsende Weihnachten 1945 war überall Bethlehem. Die Lebenden, die noch von diesen Fluchtgeschichten und dem Elend des Krieges und dem anschließenden Mut für die ungeheure Kraftanstrengung des Wiederaufbaus als Augenzeugen berichten und uns warnen könnten, sterben leider langsam aus. Mein Opa mütterlicherseits, ein Zimmermann, stammt aus dem Sudetenland, er flüchtete aus russischer Gefangenschaft. Meine Oma flüchtete mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter gen Westen. Allein kam meine Oma im völlig zerbombten Schweinfurt an – und mein Opa in Nürnberg. Er hatte keine Ahnung, ob seine Frau und ihre zwei Kinder die Flucht und die Kriegswirren nach der Kapitulation überlebt hatten. Nur durch Zufall bekam er von einem Bekannten den Hinweis, meine Oma sei wohl in Schweinfurt gesehen worden.

Mein Opa ließ daraufhin alles stehen und liegen, lieh sich ein Fahrrad und fuhr die knapp 120 Kilometer nach Schweinfurt durch das vom Krieg verwüstete Deutschland. Sein Mut wurde belohnt: Mein Opa fand meine Oma und seinen Sohn und seine Tochter tatsächlich. Und die Geburt meiner Mutter neun Monate später war das Ergebnis dieser Wiedersehensfreude. So stark ist Liebe in Zeiten des Krieges mit all seinen Katastrophen. So stark kann das Leben sein, das gegen Not und Elend neues Leben und damit Liebe und Hoffnung zu setzen vermag.

Und was tat ich in den Tagen, als ich auf dem Wohnzimmerboden schlief? Ich bekam nicht einmal die Jalousien hoch.

Meine Familiengeschichte ist übrigens einer der Gründe, warum ich heute so überhaupt nicht verstehen kann, dass es Widerstand gibt gegen die Zusammenführung von Familien, die auf der Flucht sind vor Krieg und Elend, vor allem, wenn durch die Trennung Kinder betroffen sind. Deren Schutz, Aufnahme und Betreuung, bis der Frieden zurückkehrt, ist tätige Nächstenliebe und genau das, wofür ich ohne Wenn und Aber einstehe und worüber ich nicht diskutieren möchte. Mein Opa ist später mit seiner Familie nach Nürnberg gezogen und hat dort als gelernter Zimmermann Anstellung gefunden bei der staatlichen Schlösser- und Seen-Verwaltung. Nürnberg war im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges zu über 90 Prozent zerstört worden, und wenn ich heute auf der Burg vor dem eichenen Tor mit dem Reichs­adler stehe – der an die Reichstage der Kaiserzeit des Mittelalters erinnern soll, wohlgemerkt –, dann weiß ich, dass dieses Tor und alles, was ich dort oben an Holzarbeiten sehe, an Türen, Fenstern, dem Fachwerk, den Fensterläden und Dachstühlen, durch die Hände meines Großvaters und seiner zwei Gesellen gegangen ist, die namenlosen Helden, Männer wie Trümmerfrauen, des Wiederaufbaus.

Doch nicht nur deshalb und weil meine Großeltern mit meiner Mutter zur Dienstzeit meines Großvaters auch noch auf der Burg gewohnt haben, ist die Burg, wie ganz Nürnberg, ein besonderer Ort für mich. Sie ist Herzensheimat: Es löst bei mir heute noch ein kribbelndes Gefühl aus, dass auch Martin Luther schon die Burg und den Sinnwellturm in seiner heutigen Form gesehen haben muss. Seine Anwesenheit auf dem berühmten Weg nach Rom gilt durch seine Erwähnung des Schlagwerks einer Nürnberger Uhr als bestätigt. Luther war einfach aufgebrochen, weil er pflichtbewusst war – und vor allem wohl, weil er sich voller Vertrauen in Gottes Hand aufgenommen gefühlt haben mag. Vier Wochen soll sich Luther in Rom aufgehalten haben. Doch der Wunsch seines Orderns an die Kurie, im Glaubensstreit zu schlichten, wurde abgelehnt, und so zog Luther unverrichteter Dinge zu Fuß zurück nach Wittenberg.

Luther sagte von Nürnberg, die Stadt sei »das Auge und Ohr Deutschlands«. Tatsächlich war Nürnberg zu Luthers Zeit eine der modernsten und am schnellsten wachsenden Städte des Mittelalters, eine Art Silicon Valley für Innovation, technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, auch in der Kunst – und eben auch in der Emanzipation des im Wirtschaftsboom immer wohlhabender werdenden Bürgertums vom Adel. Mit seinen 21 Druckereien war Nürnberg die Medienstadt Deutschlands, das Zentrum der revolutionär fortentwickelten neuen Technik des Buchdrucks – und damit einer der wichtigsten Knotenpunkte für die Verbreitung von Luthers reformerischen Ideen. Hier wurden seine 95 Thesen gesetzt, unzählige reformatorische Flugschriften erstellt und die Luther-Übersetzung der Bibel gedruckt, mit der Lutherrose als Gütesiegel und Echtheitszertifikat. Ebenso Luthers Acht-Liederheft, das als erstes evangelisches Gesangbuch aufgelegt wurde und das Luther seinen Kindern zu Weihnachten geschenkt haben soll.

Die Spannungen in Nürnberg zwischen Bürgern, die sich der Reformation anschließen wollten, und jenen, die der »alten« katholischen Konfession treu blieben, wurden zutiefst demokratisch im Nürnberger Religionsgespräch in einer Debatte zwischen Theologen beider Lager dahingehend gelöst, dass die Reformation bereits 1525 in allen Ebenen des öffentlichen Lebens der Stadt offiziell vollzogen wurde, weil sich bald die meisten Nürnberger Bürger zu den lutherischen Lehren bekannten. Nürnberg blieb in den folgenden 300 Jahren eine evangelische Stadt – und auch ein Ort der Ausgrenzung. Bis zum Jahr 1806, dem Anschluss an Bayern, durfte in Nürnberg kein Katholik das Bürgerrecht und damit das Mitspracherecht bei Entscheidungen der Stadtpolitik erwerben. Genau hier, im Herzen Frankens, auf diesem für die Reformation Martin Luthers so geschichtsträchtigen Flecken Erde, habe ich meine Kindheit verbracht. Hatte mich selbst in den Dienst der »Sache Luthers«, der »Sache Gottes« gestellt und war Diakon geworden. Und jetzt? Jetzt wünschte ich mir den Mut und die Kraft, die meine Großeltern gehabt hatten, die Luther gehabt hatte, so sehnlichst.

Wie Luther lebten auch meine Großeltern in Umbruchzeiten, hatten Unruhe, Ungewissheit, Unsicherheit, Krieg, Hunger, Flucht und Angst vor der Zukunft zu überstehen. Mein anderer Großvater wollte der jahrelangen Arbeitslosigkeit in der Wirtschaftskrise entgehen und ließ sich – gegen den Widerstand seiner sozialdemokratisch geprägten Familie und seiner beiden anderen, ebenfalls arbeitslosen Brüder – von den Nazis in die Wehrmacht einziehen. Dort wurde er zum »Feuerwerker«, also Sprengstoffexperten ausgebildet, und hat sich anschließend durch die halbe Sowjetunion gesprengt. Er wurde nach dem Krieg als späte Wiedergutmachung Bombenentschärfer und hat unter Lebensgefahr die Blindgänger aus den zerstörten Nürnberger Häusern geholt und so vielfach Leben gerettet. Er hat auch nicht gefragt, warum soll ich mein Leben riskieren – sollen es doch andere machen! Er hat einfach begonnen, mitten in der Trümmerlandschaft Nürnberg. Hat getan, was zu tun war. Weil er einer der wenigen Experten war, die das tun konnten – wie schon die Gemeinde im Hebräerbrief sagten auch die sich: »Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißende empfangt.«

Es waren drei harte Winter gewesen, die die Menschen nach dem Krieg überstehen mussten. Wie groß ihre Dankbarkeit dann später war, als sie zum ersten Mal ein heiles Dach über dem Kopf, wieder Scheiben in den Fenstern und Heizmaterial hatten, auch spärlich aber geregelt zu essen – und fließendes, sauberes Wasser aus dem Hahn – und vor allem: Frieden. Woher haben sie nur diesen Mut genommen, nicht zu lamentieren, sondern in all dem Leid anzupacken und aus den Trümmern wieder Neues aufzubauen? Das Leben ging trotzdem weiter. Was müssen das für tiefe gesellschaftliche Umbrüche gewesen sein und welche Ängste mögen sie damals ausgelöst haben? Es war eine existenzielle Krise, wo es um das nackte Überleben ging, eine weltweite Krise, viel tiefer und schlimmer in den Folgen für Milliarden Menschen als heute, wo alle jammern und klagen auf hohem Niveau – schoss es mir durch den Kopf. Was alles habe ich, als Teil meiner heutigen Wohlstandsgeneration, diesem Mut und Lebenswillen meiner Vorfahren zu verdanken? Und warum war ich jetzt angesichts dieser Lebensleistung angesichts meiner eigenen Krise selbst so verzagt und mutlos und glaubensleer?

Wie demütig waren die Menschen im Krieg geworden, erschüttert, fassungslos, das Inferno überlebt zu haben, genügsam und bescheiden, wie mutig sind sie mit den Herausforderungen fertig geworden – und wie wehleidig und maßlos und undankbar sind wir heute in all dem Überfluss, in dem wir unseren Reichtum nicht mehr erkennen können? Zugleich fragte ich mich: War ich nicht maßlos geworden in meinen Wünschen und Forderungen ans Leben? War ich nicht zu früh angekommen, fast eingeschlafen in meinem Trott – und damit weiter entfernt von meinen Zielen, als ich es jemals war, seit ich dafür aufgebrochen war? Ich hatte über weite Strecken das innere Glück verloren, einfach DANKE sagen zu können, was dieses Leben mir jeden Tag geschenkt hat. Mir wurde klar, wie sehr ich meine Orientierung verloren hatte. Wie sehr ich mich verloren hatte. Vielleicht war meine Zeit nun vorbei. Wo sollte ich nach fünfzehn verlorenen Jahren noch einmal beginnen? Mein Leben war mir fremd und leer. So wie meine Kirche leer geworden und mir manchmal fremd vorgekommen ist. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, heißt die Einladung. Aber es kamen von Jahr zu Jahr immer weniger. In den Gottesdienst. In den Konfirmandenunterricht. In die Bibelstunden. Nahmen nicht Anteil am Gemeindeleben. Dabei war die Not nicht weniger geworden, sondern mehr. Die Leere drinnen. Das Elend draußen. Vielleicht war auch die Zeit für meine Kirche vorbei? Wie oft stand ich vor den spärlich besetzten Bänken vorne am Altar und fragte mich hinterher, ob mein Tun noch Sinn machen würde? Warum uns immer weniger Menschen suchen würden, wenn es um Gemeinschaft und Trost im Gebet eines Gottesdienstes gehen würde? Erreichte ich die Menschen dort vor mir noch? Oder war es nur noch die Gewohnheit, die sie kommen ließ? Kamen sie vielleicht sogar nur mir zuliebe, dass ich nicht ganz allein dastehe? Um mir anschließend wieder Mut zu machen, dass ich immer wieder nach vorne gehen und predigen würde, solange sich auch nur ein Mensch in meine Kirche verirren würde, um mit mir Gottesdienst zu feiern. Wo zwei oder drei von uns zusammenstehen, ist Gemeinde. So hatte ich auch meine Ehe verstanden. Jetzt stand ich alleine da. War alles umsonst gewesen? War ich gescheitert? Konnte ich in dieser neuen Welt der Umbrüche noch ernsthaft spirituell leben, an so etwas glauben wie an Gott? War ich etwa einem großen Schwindel aufgesessen? Dem größten Schwindel der Welt? Dieser Verdacht, um mein Leben betrogen worden, und der Zweifel, naiv gewesen zu sein, raubten mir jeden Mut aufzustehen, nachdem ich so tief aus meiner heilen Welt gefallen war.

That’s enough: Es ist vorbei …

Blicke ich zurück, so war die heile Welt, aus der ich gefallen war, schon lange nicht mehr heil gewesen. Die Risse, die nun wie Gräben zwischen uns gähnten, waren schon viel früher und feiner aufgetreten, wir hatten sie nur nicht bemerkt. Wann genau, weiß ich nicht. Zunächst gingen wir weiter zusammen durch das Leben, machten gemeinsam unsere ersten Schritte im Beruf. Ich hatte die Leitung der Jugendarbeit in der Paul-Gerhardt-Kirche in Nürnberg Langwasser übernommen, mein Traumjob.

Meine Frau kam nach Hause aus sauberen Laboren und Büros, aus Konferenzräumen in Glaspalästen – ich kam mit dem Mief aus Bier und Zigaretten aus dem Jugendkeller. Wir waren frisch zusammengezogen. Hier war unsere Beziehung noch intakt. Wir waren noch fähig, die Unterschiede zu tragen, es auszugleichen. Obwohl die Rückkehr ins Gemeindezentrum mit all seiner nächtlichen Randale, die uns oft den Schlaf raubte, für sie wie eine Zeitreise gewirkt haben muss, zurück ins »soziale Neandertal«.

Irgendwann beschlossen wir, Langwasser zu verlassen. Ich wurde als Dekanatsjugendreferent nach Fürstenfeldbruck gesandt, in den Speckgürtel Münchens. Das Leben in Fürstenfeldbruck war im Vergleich zu Langwasser ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Wohlgeordnetes Bildungs-Bürgertum, Eigenheime, gepflegte Gärten, Familien mit mehreren Kindern, Eltern, die ihre Kinder verantwortungsvoll auf eine vielversprechende Zukunft vorbereiteten. Kurz: Ich stand plötzlich im warmen Sonnenschein der intakten sozialen Mitte der damaligen Gesellschaft. Wurden die Risse in unserer Beziehung damit gekittet? Nein. Während ich brav meinen Dienst versah, nahm das Leben meiner Frau weiter Fahrt auf.

Bald war meine Frau immer länger unterwegs, mit großem Dienstwagen und vielen Bonusmeilen. Wir hatten keinen geregelten Alltag, keine gemeinsame Freizeit mehr, selten Gespräche in der Tiefe wie früher, kaum noch planbare freie Wochenenden.

Irgendwann hatten wir drei neue Mitbewohner: Unzufriedenheit, Eifersucht und Streit. Ich fühlte mich abgehängt, auf dem Nebengleis, und auf der Hauptstrecke bewegte sich meine Frau immer schneller weg von mir, natürlich ICE, 1. Klasse. Zunächst war ich noch mitgekommen zu den offiziellen Empfängen. Da standen alle schick in Anzug oder Kostüm. Und dann kam ich da als der sozial-diakonische-Diakon, gut gekleidet, aber eben anders und auch noch einer der an Gott glaubte, statt an das Unfehlbarkeitsdogma der Naturwissenschaften. Ich langweilte mich dort. Bald noch schlimmer: Ich fühlte mich unwohl. Und letztendlich: Ich gehörte nicht dazu.

Meine Frau setzte ihre großartige Karriere fort, war noch häufiger auf Kongressen und bekam schließlich ein Angebot in einer fernen Stadt, das man nicht ablehnen konnte. Jetzt sahen wir uns kaum noch. Jeder saß für sich abends allein da und starrte die Wände an. Unsere Telefongespräche wurden funktionaler, hektischer, auf Effizienz getrimmt, dann seltener, bald gequälter. Ähnlich wie die gegenseitigen Wochenendbesuche, bei denen uns beiden immer klarer wurde, dass da Respekt war, aber kaum noch Liebe. Wir hatten über Jahre versucht, das Sterben unsere Liebe irgendwie aufzuhalten, sogar zu therapieren. Zunächst verständnisvoll, dann mit immer mehr Verbitterung. Ich fragte mich damals: Was willst Du, Herr? Mal sagte jetzt der eine, er wolle die Trennung, und der andere antwortete: »Komm, lass es uns erneut versuchen.« Das andere Mal war es genau andersherum. Ich war zu verliebt, hatte ihr vor dem Altar was versprochen. Daran wollte ich mich halten. Und irgendwann war es meine Frau, die es nicht nur ahnte, sondern erkannte und formulierte: Nein, wir passen nicht mehr zueinander. Du passt nicht mehr zu mir, und ich passe nicht mehr zu dir. Ich will nicht mehr. Und sie war es, die die Kraft aufbrachte, jenen Anruf zu tätigen, den ich während des Tätowierens immer wieder hörte: »Rainer, Du musst nicht mehr kommen, es ist vorbei!«

Es war vorbei. Und damit auch das, was bis dahin mein gesamtes Erwachsenenleben geprägt hatte. Meine Frau war immer und überall dabei gewesen, bei allen wegweisenden Entscheidungen und Momenten meines Lebens. Wir hatten uns kennengelernt, als ich gerade neunzehn war. Jetzt, fünfzehn Jahre später, stand ich nicht mehr vor Aufbrüchen, sondern Abbrüchen. Ich war allein, mit meiner Wut, meiner Enttäuschung, meiner Scham. Ich leugnete die Trennung wochenlang, versuchte sie vor den anderen geheim zu halten. Ich weigerte mich anzuerkennen, was alle in unserer Umgebung längst wussten: Unsere Ehe war gescheitert. Ich schämte mich: vor meiner Familie. Meinen Freunden. Meiner Brüderschaft. Diakone heiraten aus Liebe, leben ein Leben lang vorbildlich ihre Beziehung und trennen sich nie. So dachte und hoffte ich. Und ich haderte: Auf was sollte ich noch vertrauen?

Fahrt mit Gott, aber fahrt!

Ich bin leidenschaftlicher Biker. Motorradfahrern war bis dahin immer der Moment gewesen, wo ich ganz für mich alleine sein kann, völlige Freiheit genieße und wieder klar werde im Kopf. Was unter meinem Helm passiert auf diesen Fahrten, bleibt unter meinem Helm. Hier konnte ich bis dahin immer alles denken, Absurdes und auch Gefährliches. Aber es passierte nicht oft – weil die Konzentration auf das Fahren so stark ist.

Das ist die eigentliche Freude am Motorradfahren: Du musst zunächst erst einmal alles hinter Dir lassen, was Dich beschäftigt, blockiert und neue Ideen und Gedanken verhindert. Motorradfahren pustet bei mir die dunklen Wolken weg. Die Gedanken werden wieder klar und scharf. Und meist kommt nach so einer Fahrt dann auch Neues in meinen Sinn und ich lasse Altes hinter mir, so wie die abgefahrenen Kilometer meines Wegs. Motorradfahren ist Abschalten und Sich-wieder-Finden auf höchstem Niveau.

Damals allerdings, nach meiner Trennung, kam ich selbst bei stundenlangen Fahrten nicht mehr in diesen beruhigenden, alles erfassenden Flow. Zuviel Geliebtes hatte sich abgewendet. Zuviel Vertrautes war zerbrochen. Neues, ein Ziel, das ich hätte anstreben können, zeigte sich nicht. Aufzustehen und im Leben weiter zu gehen war mir unmöglich. In meinem ganzen Leben fehlte plötzlich Mut, Vertrauen und Sinn. Und dann ging mir den ganzen Tag nicht mehr diese Melodie und dieser Text aus dem Kopf: »Der Geschmack der Liebe ist süß, wenn sich Herzen wie unsere treffen.Ich verfiel Dir wie ein Kind, oh, aber das Feuer schlug hoch.Liebe ist ein brennendes Ding, und sie bildet ’nen feurigen Ring. Einen Ring aus Feuer.« Auch Seelsorger sind eben manchmal mühselig und beladen, Bedürftige, die Hilfe suchen. Und mit Glück hast Du dann Brüderdiakone und Freunde, die Dich auffangen. Deine Gemeinschaft – die Brüderschaft. Jetzt war es sehr wichtig für mich zu wissen, dass es Menschen gab, von denen ich wusste, dass sie für mich beten. Die innere Stärkung, die ich allein aus diesem Wissen spürte, nicht völlig verlassen zu sein, zeigte mir, wie lebensrettend Gemeinschaft ist und dass auch Gebete einfach hilfreich sind. Auf welche Weise sie auch immer wirken mögen – das kann sich jeder selbst aussuchen und kann mir doch völlig egal sein: Ich habe für mich den Beweis, denn ich habe erlebt, wie stark Gebete sind. Das Zweite, was definitiv genauso stark hilft, ist eine intakte Gemeinschaft. Familie, Freunde, Deine Gemeinde, soziale Einbindung. Einer meiner besten Kumpels, die für mich gebetet haben in dieser Zeit, hatte mich eines Samstagmorgens zur Aufmunterung zu sich nach Hause zum Frühstück eingeladen. Es war kurz vor Ostern und eigentlich viel zu kalt zum Motorradfahren. Weil es so kalt war, suchte ich in meinem sich auflösenden Haushalt nach einer langen, alten Unterhose, Marke »Alm-Öhi« – ich wusste, ich hatte noch irgendwo eine. Sie war mindestens fünfzehn Jahre alt und hatte einige Löcher an entscheidenden Stellen – aber was soll’s, dachte ich bitter, die würde eh keine Frau zu Gesicht bekommen, und als Schutz gegen die Kälte des Fahrtwindes würde sie allemal noch genügen. Ich zog die Hose an, es machte »Puff« – und der Gummizug der Unterhose löste sich in einer Staubwolke auf. Weil die Zeit drängte, fackelte ich nicht lange und machte einen Knoten in den Bund, damit sie nicht mehr herunterrutschen konnte, und fuhr zu meinem Kumpel. Als ich geknickt am Küchentisch saß, stellte seine Frau fest, dass der Kaffee alle war. Mein Freund Uli sah mich prüfend an, sah meinen armseligen Zustand, schnappte seine Bikerklamotten und zwinkerte seiner Frau zu: »Schatz, wir fahren mal eben Kaffee holen!« Sie spannte sofort, worum es ging, es gab nichts, was ich hätte verbergen können, und sagte »Fahrt mit Gott, aber fahrt!« Einige Stunden später nach einem Höllentrip über den Brenner saßen wir in der Sonne am Gardasee und haben einen Doppio Macchiato eingeworfen. Die Unterhose hielt, was der Knoten versprach, und erst als wir nach einem langen Tag abends in einer Pension einkehrten, kam sie wieder zum Vorschein. Mein Kumpel Uli sagte später, es hätte ihn nachhaltig traumatisiert, mich wie einen schmutzigen Cowboy aus dem Italo-Western »Spiel mir das Lied vom Tod«, mit durchgeschwitzten Haaren in dieser petrolfarbenen, wie von Kugeln durchsiebten Unterhose zu sehen. An diesem Abend sind wir noch zusammen in den örtlichen Saloon und ich habe – wirklich zum ersten Mal in meinem Leben – einen Grappa getrunken, wenn auch nur einen halben, um dann deutlich beschwingt ins Bett und tiefen Schlaf zu fallen. Diese Männertour hat uns beiden derartig gut getan, dass wir fortan keinen wirklichen Grund brauchten, um uns mal für einen Roadtripp loszueisen. Unser Code ist »Wir müssen Kaffee kaufen – der Espresso ist alle!« Ulis Frau nickt, lächelt milde, und wenn wir am Sonntagabend zurückkommen, steht dann wirklich frischer Espresso auf dem Küchentisch, nebst Amerettini und Cantuccini. Mit dem Motorrad unterwegs sein, ist und bleibt für mich eine Erlösung, auch wenn diese Therapie in meinem Zustand damals nur kurzzeitig wirkte.

Und Motorradfahren ist für mich wie Beten – eine Andacht, Gottesdienst. Nirgendwo anders als beim Motorradfahren fühle ich mich meinem Schöpfer so nah, spüre ich so direkt, wie endlich und verletzlich unser Leben doch ist und wie stark wir Vertrauen brauchen, damit wir uns aufgehoben fühlen und das Geschenk des Lebens annehmen können – anstatt es sinnlos zu verschwenden. In Oberbayern kannst Du beim Motorradfahren viel beten. Überall sind Wegkreuze aufgestellt mit dem Herrn Jesus. Ich nicke ihm dann wie selbstverständlich jedes Mal zu und bete darum, dass ich heil nach Hause komme. Das mache ich tatsächlich rituell bei jedem Kreuz, das an mir vorbeifliegt. Ich danke für alles, dass ich da bin und diesen schönen Tag erleben darf. Dass ich nicht mitten im Leben schon tot bin wie so viele, die mir täglich begegnen – sondern dass ich mich spüre, fühle, wie das Leben in mir pulsiert, dass ich Träume habe und ein Ziel, für das es sich lohnt, jeden Morgen aufzustehen. Wegkreuze erzählen Geschichten, die man nur richtig zu lesen verstehen muss. Diese Kreuze scheint jemand nur für mich aufgestellt zu haben. Sie sagen: Denk mal! Gott ist immer dabei. Ist derjenige, der mich schützt und den Sand aus der Kurve kehrt, in die ich mich gerade lege. Meine Verantwortung ist, dass ich das nicht schamlos ausnutze und mit vollem Risiko und mit Tempo hundertdreißig hineinfahre – sondern vielleicht nur mit heruntergeschalteten 90 –, statt mich waagerecht in die Kurve zu legen, mit dem Knie auf dem Mittelstreifen und einem Halleluja auf den Lippen. Ich bin nicht die Marionette, bei der Gott eines Tages die Fäden abschneidet und das war es dann. Es gibt kein fertiges Drehbuch »Reverend Ray Fox«, keine Vorherbestimmung. Mein Leben ist ein Geschenk, und in diesem Sinne muss und will ich es achten, selbstverantwortlich führen und gestalten. Ob Gott unsere Taten sieht? Daran glaube ich.

Viele Menschen nehmen heute diese Wegkreuze gar nicht mehr wahr, sie gehören zur bayerischen Folklore. Vergessen ist, wie viel Mühe, Kraft und Kosten die Erbauer oft aufgewendet haben – in den Bau und den Erhalt ihrer Bildstöcke, von denen viele sehr schöne über Seelen-Rettungen oder auch tragische Geschichten, über Schicksale erzählen könnten, die Anlass für ihre Errichtung gewesen sind. Die Bildstöcke waren früher ein Ort der Andacht, der Dankbarkeit, der Trauer und des Gebets – manchmal auch geheimnisumwittert und wegen des mit ihnen verbundenen Grauens gemieden – aber immer ein Zeichen der überall greifbaren tiefen Frömmigkeit. So hatte ich immer darüber gedacht und gebetet. In den dunklen Tagen meiner Trennung war damals alles anders. Damals sah ich auf meinen Touren nur noch die weißen Kreuze am Straßenrand, nur noch die Dramen, die Verkehrstoten, an die sie erinnern sollten, die Verzweiflung der Angehörigen, die an diesen Stellen einen geliebten Menschen verloren hatten, und nicht mehr das Zeichen der Hoffnung, der Erlösung, den Trost der Auferstehung. Und mir fiel ein, dass das Bayerische Wort »Marterl« vielleicht von der Marter, der Folter und dem Schmerz kommt. Ich sah, wie stark die Witterung viele der Kreuze und Inschriften verblassen ließ, weil niemand es noch für wert befand, sie zu erhalten. Die meisten Geschichten lebendigen Glaubens würden bald völlig in Vergessenheit geraten, wie so vieles ihren Sinn verlieren. Ich dachte daran, wie schnell sie mich vergessen würde, in ihrem neuen, glänzenden Leben im Vorstand einer Pharmafirma, in dem sie nun Stufe für Stufe weiter die Karriereleiter hinaufsteigen würde. Wie wahr ist doch der Spruch: Wirklich tot bist Du erst, wenn niemand mehr an Dich denkt. Sie hatte mich wohl schon vergessen. Ich aber konnte nicht vergessen, sondern drehte mich wie auf einem Karussell immer und immer wieder um denselben Gedanken: Warum?

777: Reverend Ray Fox

Das waren die Gedanken, die mir nicht aus dem Kopf gingen, selbst beim Motorradfahren nicht. In jeder freien Minute flog ich jetzt über die Straßen, um mich abzulenken. Auf meiner BMW R100R, die ich mit großer Hilfe meines Freundes Manfred umgebaut habe zu einem Bobber, der mit meinem Pinstriping auf dem Tank versehen ist. Flach, reduziert und mit breitem Vorderreifen – so kamen die frühen US-Custombikes daher, die in den 40er- und 50er-Jahren in Hinterhöfen entstanden.

Ich habe mich schon sehr früh passend zu meinem Musikgeschmack für diese amerikanische Art Motorräder interessiert. Ihre Form war aus der Not des Geldmangels geboren. Oft war die Basis ein ausgemustertes Militärbike aus dem Zweiten Weltkrieg, das man möglichst billig in Betrieb halten sowie auf simple Weise und dem Vorbild europäischer Motorräder oder sportlicher Hillclimber entsprechend leichter, schneller und individueller aufpeppen wollte. Aus dem Mangel wurde die Tugend der Reduktion. Zu diesem Zweck montierte man diverse vermeintlich unwichtige Teile wie etwa den Frontfender ab, stutzte einige andere auf das Notwendigste zusammen und »tunte« den Motor. Herumschrauben, Motoren auseinandernehmen und wieder gesäubert und geölt zusammenfügen, Bikes so verändern, bis sie eine neue Form und etwas Besonderes darstellen, ist seit jeher mein ZEN – genauso wie die Kunst des gepflegten Motorradfahrens. Etwas in seine kleinsten Einzelteile zu zerlegen, Kaputtes zu reparieren ist meine Art, Funktion und Zusammenhänge zu verstehen. Und wenn Du Deine Maschine bis zur letzten Schraube kennst, fährst Du bewusster und sicherer. Du hörst jeden Muckser, jede Unregelmäßigkeit, bevor ein Schaden eintritt. Du steigst ab, pflegst und reparierst dein Baby. Das ist wie das tägliche Gebet. Dass mein Bike funktioniert, ist auf meinen langen Fahrten meine Lebensversicherung. Mein Motorrad ist ein Teil von mir. Individuell. Ehrlich. Einfach. Auf das Wesentliche und Notwendige reduziert.

Ich habe in meiner Zeit als Jugenddiakon in Fürstenfeldbruck, zusammen mit meinem Freund Helgo, regelmäßig einen Motorrad-­Gottesdienst veranstaltet. Zwar nur einmal im Jahr – aber an diesem Tag hatten wir »die Bude« voll. Meine Erfahrung ist, wenn wir es schaffen, Sonderveranstaltungen zu kreieren, welche die Menschen berühren – dann finden sie auch in die Kirche zurück.

Und Motorradfahren berührt. Schafft Gemeinschaft.

Deshalb fahre ich auch regelmäßig auf Treffen und Ausfahrten. Bei diesen Biker- und Oldtimertreffen, an denen ich immer wieder teilnehme, bin ich ganz selbstverständlich auch als Diakon unterwegs. Das bringt so ein öffentliches Amt einfach mit sich. Wirklich privat bist du nie.