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Gott ist böse E-Book

Tom Falkner

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Beschreibung

Er will dein Blut. Er liebt den Schmerz. Er spielt um dein Leben. Der Psychoanalytiker Robert Forster kennt sich aus mit Gewalt - seine Patienten sind Schwerkriminelle und Psychopathen. Ihn wirft so schnell nichts aus der Bahn. Da geschieht das Unfassbare: Während eines seiner Anti-Aggressionstrainings explodiert eine Bombe, ein Patient stirbt. Kurz darauf kommt der nächste Schock: Sechs von Forsters Studenten werden entführt. Der Täter fordert Forster zu einem makabren Spiel um das Leben der Menschen auf. Er droht, jeden Tag einen von ihnen brutal zu töten, wenn Forster nicht mitmacht. Forster begreift, dass nur er die Studenten retten kann – und dass der Täter jemand sein muss, der ihn kennt.

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Gott ist böse

Der Autor

TOM FALKNER ist studierter Psychologe und Drehbuchautor. Die große Liebe zu Büchern hat ihn zum Romanschreiben gebracht. Er liebt es, sich in andere Menschen einzufühlen und die Welt durch ihre Augen zu betrachten – je verrückter die Person, desto besser. Das Buch ist für ihn die Bühne, und Falkner ist der Schauspieler, der in die Rollen all seiner Figuren schlüpfen kann und darf. Genau darin besteht für ihn das Vergnügen: mit jedem seiner Charaktere zu leben, zu leiden und zu lieben.

Tom Falkner

Gott ist böse

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage August 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Arcangel / © Jarno Saren (Nägel), © FinePic®, München (Hintergrund)E-Book powered by pepyrusAlle rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-2936-9

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

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Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Die Selbstherrlichkeit aber ist die schlimmste unter den Todsünden und muss bestraft werden.

Gott

1

Die Spannung im Raum war mit den Händen zu greifen. Sechs Stühle, angeordnet zu einem Kreis. Fünf einfache Holzstühle, helles Birkenholz mit Metallbeinen, dazu ein gepolsterter schwarzer Sessel mit Armlehnen und einem hohen Rückenteil. Hinter jedem Stuhl hatte eine Person Aufstellung bezogen. Fünf junge Menschen und er, der Therapeut.

Der Sessel war normalerweise für ihn reserviert, aber heute würde einer der Gruppenteilnehmer darauf sitzen. Derjenige, der seiner Ansicht nach in den letzten Wochen die größten Fortschritte gemacht hatte. Noch wussten sie nicht, wer das sein würde.

Es war ein Experiment. Die Person, die seinen Platz einnahm, durfte die Sitzung leiten. Natürlich taten sie alle so, als sei es ihnen egal. Aber er sah die Gier in ihren Augen, die Hoffnung, einmal aus der Gruppe herausstechen zu können. Das wünschte sich jeder von ihnen.

Sie waren alle auf die eine oder andere Art in eine Sackgasse geraten. Fünf junge Menschen, die bereits Gerichtsakten und Vorstrafen hatten. Die einem Verfahren entgegensahen und ein Gutachten von ihm benötigten.

Der gemeinsame Nenner waren die Aggressionen, die sie nicht in den Griff bekamen. Deshalb waren sie hier. Um zu lernen, wie man seine Impulse kontrollierte.

Robert Forster ging um den Stuhlkreis herum in die andere Ecke des Raums und schaltete die Kamera ein, mit der er die Sitzungen aufzeichnete. Er diskutierte sie später in seinen Seminaren an der Universität.

Es war ein großer Raum in einem gesichtslosen Gebäude in der Innenstadt, in dem sich verschiedene Firmen und Institutionen niedergelassen hatten. Vom Fenster aus sah man auf einen Dönerladen und eine Weinhandlung. Es gab einen Fahrstuhl und eine Tiefgarage. Die Ausfahrt mündete direkt neben einem Hotel auf die Straße. Zur Förde waren es nur ein paar Hundert Meter.

Im hinteren Bereich befanden sich eine Küche und die Toiletten. Bis auf die Stühle und einen Tisch, auf dem Flyer für verschiedene Freizeitangebote lagen, war der Raum leer. Eine große Uhr im Bahnhofsdesign war genau in der Mitte zwischen den beiden Fenstern angebracht.

An den Wänden hingen Plakate gegen Gewalt und abstrakte Zeichnungen in Schwarz-Weiß, die nach Forsters Meinung das genaue Gegenteil darstellten. Schlanke, mit wenigen Pinselstrichen angedeutete Figuren, die sich attackierten. Aber das war nur seine Interpretation, andere mochten das anders sehen.

Den Raum hatte man auf Forsters Wunsch hin für das Anti-Aggressions-Training angemietet. Weder seine Praxis noch das Institut für Psychologie boten den geeigneten Rahmen. Die Räumlichkeiten in dieser Etage gehörten der Stadt und wurden von unterschiedlichen Gruppen genutzt, unter anderem auch von einigen seiner Kollegen, die hier spezielle Klienten betreuten. Die zentrale Lage und der hohe Sicherheitsstandard machten die Sache attraktiv.

Forster ließ sich Zeit. Er spürte, dass die Jugendlichen vor Ungeduld vibrierten. Trotzdem sagte niemand ein Wort.

Das war das Erste, was sie hatten lernen müssen. Nur zu sprechen, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Selbstkontrolle war das Thema, um das sich in ihren Sitzungen alles drehte. Jeder von ihnen wusste, dass er nicht auf dem Sessel am Fenster sitzen würde, wenn er das Schweigen brach.

Forster hörte den gepressten Atem zu seiner Linken und das Geräusch einer Hand, die über Jeansstoff rieb, zu seiner Rechten. Er sah, wie sich einer der Jungen immer wieder nervös die Lippen leckte und wie das einzige Mädchen in der Gruppe an seinen Fingern zupfte. Alle versuchten, ihre Anspannung zu verbergen. Keinem gelang es.

Forster fixierte Joel und Leander und bedeutete ihnen, sich auf ihre Stühle zu setzen.

Zwei Augenpaare loderten gefährlich auf. Fäuste ballten sich, Zähne knirschten. Das war die zweite Lektion. Sich mit Niederlagen abzufinden.

Für einen Moment war er sich nicht sicher, ob die beiden sich fügen würden oder ob die Stimmung kippen würde. Es gab Sicherheitspersonal im Nebengebäude, und Forster hatte einen Notfallknopf in der Tasche, aber wenn tatsächlich einer der jungen Männer auf ihn losging, käme die Security vermutlich zu spät. Ein Messer war leicht zwischen den Rippen hindurch ins Herz gerammt, eine Kehle schnell durchtrennt, eine gebrochene Nase rasch mit der Handkante so weit in den Schädel gedrückt, dass binnen Sekunden der Exitus eintrat.

Das war sein Berufsrisiko. Kalkulierbar, aber immer da. Die Waffen, mit denen er den Jugendlichen gegenübertrat, waren ausschließlich psychologischer Natur. Ein scharfer Blick aus seinen blaugrauen Augen. Seine Präsenz. Und seine Berufserfahrung. Er war kein unsportlicher Typ, doch er wusste, dass er gegen einen jungen Mann, der in Raserei handelte, kaum eine Chance hatte.

Bisher hatte er alle kritischen Situationen erfolgreich gemeistert. Das war gut, aber auch gefährlich. Er hatte sich längst daran gewöhnt. Die Angst, die ihn am Anfang seiner Berufslaufbahn regelrecht überschwemmt hatte, war nur noch ein Kitzeln irgendwo im Hinterkopf. Ein durchaus angenehmes Gefühl, so wie es in der Achterbahn, beim Fallschirmspringen oder bei manchen besonders mitreißenden Kinofilmen entstand. Angstlust, wie man es im Psychologenjargon nannte. Ein feines Gruseln, das zu einer Adrenalinausschüttung führte, aber keine Panik erzeugte, sondern ein Gefühl besonderer Lebendigkeit. Weil man wusste, dass die Gefahr nicht echt war.

In diesem Fall war sie es allerdings. Die Jugendlichen hatten sich zwar im Behandlungsvertrag verpflichtet, unbewaffnet zu den Sitzungen zu erscheinen, doch Forster nahm an, dass dennoch der eine oder andere von ihnen ein verstecktes Messer oder irgendeine andere Waffe in der Hose oder im Stiefel hatte.

Forster erwiderte die flammenden Blicke von Joel und Leander, bis die beiden wegschauten und seiner Aufforderung folgten, sich auf ihre Holzstühle zu setzen. Die Enttäuschung, dass sie heute nicht auf dem Sessel des Therapeuten Platz nehmen würden, war ihnen deutlich anzusehen, auch wenn sie versuchten, sich gleichgültig zu geben. Zuckende Mundwinkel, schnelles Blinzeln, unruhige Finger. Forster entging keines der Signale, er war darauf geschult.

Die Anspannung der anderen drei stieg weiter an.

Forster signalisierte Tessa, den Platz auf ihrem Holzstuhl einzunehmen. Wieder regten sich Enttäuschung und Trotz, wieder brodelte es, doch auch dieses Mal passierte nichts.

Nun standen nur noch Dustin und Vincenzo hinter ihren Holzstühlen, zwei hochaggressive junge Männer. Die Anklagen lauteten auf schwere Körperverletzung und Mord.

Für Forster war vollkommen klar, wer von den beiden sich das Anrecht auf die Rolle des Therapeuten für die heutige Sitzung erworben hatte. Für die beiden Männer war es das ganz offensichtlich nicht. Forster sah Aufregung, Euphorie und bange Erwartung über ihre Gesichter fliegen. Er deutete auf den Therapeutensessel am Fenster.

»Vincenzo.«

Die Augen des Italieners leuchteten auf. In denen von Dustin Heuer glomm der Hass.

»Verdammter Spaghettifresser«, spie er aus und machte ein paar schnelle Schritte auf Vincenzo zu. Der ging sofort in Kampfposition.

Forster zeigte auf Dustins Stuhl. »Setz dich hin«, sagte er ruhig.

Neben ihm regte sich einer der anderen jungen Männer. Joel.

»Hau ihm auf die Nase«, rief er Vincenzo zu. »Ich will sehen, wie das Blut spritzt.«

Forster wandte sich an den Italiener. »Deine Entscheidung. Wenn du dich nicht im Griff hast, wirst du ebenfalls nicht auf dem Therapeutensessel sitzen.«

Vincenzo, der sich offensichtlich ungerecht behandelt fühlte, schnaufte. »Und was ist mit ihm?« Seine Augen hafteten an Dustin.

»Jeder, der sich prügelt, verlässt die Gruppe. Er kommt auch nicht wieder. Das wisst ihr.«

Forster sah, wie widerstreitende Gefühle in Dustins Brust tobten. Der junge Mann brauchte sein Gutachten, um nicht für lange Zeit hinter Gitter zu wandern. Forsters Urteil entschied darüber, ob man eine verminderte Schuldfähigkeit anerkennen würde. Dustin war zum Zeitpunkt der Tat betrunken gewesen. Die Frage war, ob man von Vorsatz ausgehen musste.

»Ich hab nix gemacht.« Dustin ließ sich auf die Sitzfläche des Holzstuhls fallen, der gefährlich knackte.

Vincenzo grinste zufrieden. Er schritt zu Forsters Sessel, drehte sich zur Gruppe um und hob die Hände, als wollte er die anderen segnen. Dann setzte er sich.

Der Knall war ohrenbetäubend.

Ein greller Lichtblitz zuckte zwischen Vincenzos Beinen auf. Dann riss ihn die Detonation in Stücke.

2

Das Blut war überall. Es klebte an den Wänden und Fenstern, auf den Plakaten, den schwarz-weißen Bildern und der Bahnhofsuhr. An jedem Kleidungsstück, auf sämtlichen Schuhen und auf den Gläsern von Forsters Brille. Der Boden war davon bedeckt. Selbst an der Decke hafteten Spritzer, die aussahen wie rote Tränen.

Vincenzo war vom Therapeutensessel geschleudert worden und lag mit seltsam verdrehten Gliedmaßen mitten im Raum. Es hatte ihn von innen heraus zerrissen. Sein Körper war aufgeplatzt, die Gedärme quollen aus seinem Bauch. Das Gesicht dagegen war überraschenderweise intakt geblieben. Es sah jung und unschuldig aus, auch wenn es über und über mit Blut bedeckt war. Vincenzos Augen waren weit aufgerissen, sein leerer Blick war wie staunend zur Decke gerichtet.

In Forsters Ohren hallte der Knall nach. Eine ganze Weile lang hörte er die Stimmen um sich herum wie aus weiter Ferne. Dann gewann das Entsetzen, das er in den Mienen der Jugendlichen sah, auch in ihren Schreien Gestalt. Schrill und unartikuliert bei den einen, eine Folge wüster Flüche bei den anderen.

»Krasser Scheiß«, murmelte Dustin, der gewöhnlich durch nichts zu erschüttern war.

Forster nahm die Brille ab und startete einen vergeblichen Versuch, sie mit dem Hemdzipfel sauber zu wischen. Erst jetzt registrierte er, dass es nicht nur Blut war, was an den Fenstern hinter dem Sessel haftete. Er erkannte Knochensplitter und Teile einer weichen, weißgrauen Masse. Offenbar war Vincenzos Kopf auf der Rückseite nicht so unversehrt geblieben wie vorn. Auf dem Boden lagen ein paar kleine rechteckige weiße Objekte. Zähne vermutlich.

Der Sessel war auseinandergerissen worden. Teile der Rückenlehne, der Sitzfläche und der Armlehnen lagen überall im Raum verteilt. Nur der Metallfuß mit den Rollen stand noch an seinem Platz.

Die herumfliegenden Teile hatten zwei der Jugendlichen getroffen, Dustin und Leander. Dustin starrte ungläubig auf seinen rechten Oberschenkel, aus dem ein langes spitzes Holzstück ragte, Leander war auf seinem Stuhl zusammengesunken, offenbar bewusstlos. Aus einer Wunde an seiner Stirn sickerte Blut. Tessa, die neben den beiden saß, kauerte mit angezogenen Beinen auf ihrem Platz und hatte sichtlich Mühe zu begreifen, was geschehen war. Niemand schien in der Lage, sich zu rühren. Bis auf einen.

Joel war aufgestanden. In seinen Augen tanzte ein wildes Feuer, auf seinen Lippen lag ein Lächeln. Er ging vor Vincenzo in die Hocke, wühlte mit beiden Händen in dessen Eingeweiden und zog die Darmschlingen so weit heraus, wie er es vermochte. Anschließend erhob er sich und hängte sich die Gedärme wie eine Kette um den Hals.

Einen Moment lang stand er einfach nur da, hoch aufgerichtet, ein Gott des Horrors und der Tränen. Dann kniete er nieder und begann, das Blut von Vincenzos Hals zu lecken.

3

Als die Rettungskräfte eintrafen, hatte Robert Forster das Gefühl, dass nur Sekunden vergangen waren. Die von blutigen Schlieren bedeckte Uhr an der Wand belehrte ihn eines Besseren. Der Beginn der Sitzung lag bereits über eine halbe Stunde zurück.

Wahrgenommen hatte er das Verrinnen der Zeit nicht. Aber er war zu Leander gegangen, hatte ihn in die stabile Seitenlage bugsiert und die Blutung an der Stirn mit einem Tuch gestillt. Außerdem hatte er Dustin immer wieder gut zugeredet, das Holzstück nicht aus seinem Oberschenkel zu ziehen. Die Gefahr, dass Blut aus einer verletzten Arterie sprudelte, war viel zu groß.

Nachdem Leander die Augen wieder aufgeschlagen und ruhig geatmet hatte, hatte sich Forster auf Vincenzos leeren Holzstuhl gesetzt. Er fühlte sich vollkommen erschöpft, und den Jugendlichen schien es genauso zu gehen. Bewegt hatte sich in den letzten zehn Minuten niemand. Bis auf Joel, der immer noch neben Vincenzo kniete und nicht aufhören konnte, den zerfetzten Körper zu betasten und immer wieder am Hals des Toten zu lecken. Forster brachte nicht die Energie auf, ihn daran zu hindern.

Die beiden Polizisten, die als Erste den Raum betraten, zogen Joel mit angewiderten Mienen vom Leichnam weg. Sie nahmen ihm die Kette aus Darmschlingen ab und legten sie nach einem Moment der Ratlosigkeit neben dem Toten auf den Boden.

Gleich darauf kamen weitere Beamte, die Tessa und Joel hi­nausführten. Sanitäter beförderten Leander und Dustin auf Tragen und brachten sie weg. Eine Polizistin winkte Forster. Er erhob sich wie in Trance und folgte ihr.

Tessa und Joel saßen bereits im Nebenraum am Tisch. Tessa war leichenblass, Joel dagegen lächelte mit rot verschmierten Lippen. Neben der Tür standen ein Mann und eine Frau in der Uniform der Sicherheitsfirma, beide mit betretenen Mienen. Erst jetzt realisierte Forster, dass er nicht auf den Notfallknopf gedrückt hatte.

Zu den Uniformierten gesellten sich Beamte in Zivil. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen, doch Forster wusste, dass das nur der Schock war. Er reduzierte alle Empfindungen auf ein Minimum und verzerrte die Wahrnehmung von Zeit und Raum. Das Handeln erfolgte automatisiert und instinktgesteuert. Es würde eine Weile dauern, bis er wieder in Kontakt mit seinen Gefühlen kam und sein Denken wie gewohnt funktionierte. Ein uralter biologischer Mechanismus, der sich nicht umgehen ließ. Forsters Fachwissen half ihm hier nicht weiter.

Trotzdem entging ihm nicht, dass eine der Beamtinnen aus der Menge herausstach. Eine junge Frau mit mediterranem Teint, halblangen dunklen Haaren und braunen Augen. Klein, schlank und sportlich, vielleicht Mitte zwanzig. Sie trug schwarze Jeans, ein hellbraunes Top und einen dunkelbraunen Blazer. Offenbar leitete sie die Ermittlungen.

»Dr. Forster?« Sie legte ihm kurz die Hand auf den Arm, und Forster blickte in warme braune Augen. »Lassen Sie uns in die Küche gehen, da sind wir ungestört.«

Forster folgte ihr in den winzigen Raum, in dem sich ein großer Kühlschrank und ein mit buntem Geschirr beladenes Regal neben dem Spülbecken drängten. Die Gruppenräume waren großzügig bemessen, aber bei der Küche hatte der Architekt an Platz gespart.

Die Beamtin füllte ein Glas mit Leitungswasser und reichte es ihm.

»Trinken Sie. Das hilft gegen den Schock.« Sie lächelte knapp. »Aber das wissen Sie natürlich selbst.«

Forster nahm das Glas dankbar entgegen.

»Kommissarin Kayra Davari von der Bezirkskriminalinspektion Kiel. Mordkommission«, stellte die Frau sich vor, nachdem er getrunken hatte. »Ich möchte Ihnen mein Beileid zum Tod Ihres Patienten aussprechen.« Sie sah ihn anteilnehmend an. »Fühlen Sie sich in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

»Ich denke schon.« Tatsächlich hätte Forster sich lieber in der Ecke auf den Boden gesetzt und den Kopf in den Händen vergraben, aber ihm war klar, wie wichtig es war, in einem solchen Fall rasch die Ermittlungen aufzunehmen. In den ersten achtundvierzig Stunden nach der Tat waren die Chancen, einen Täter zu fassen, am größten. Danach begannen sich Spuren zu verlieren und aufzulösen, und die Aussagen von Zeugen wurden zunehmend unzuverlässig.

Direkt nach der Tat waren die Eindrücke frisch und unverfälscht. Je länger das Erlebnis zurücklag, desto mehr verwischten die gespeicherten Bilder und wurden von nachfolgenden Ereignissen überlagert. Forster wusste, dass Erinnerungen kein Abbild der Wirklichkeit waren, sondern nur ein Konstrukt, das von vielen Faktoren beeinflusst wurde, nicht zuletzt auch von dem Wunsch, seelischen Schmerz fernzuhalten.

»Gut.« Davari nahm ein schwarzes Notizbuch und einen Bleistift aus der Handtasche. Er sah das Mitleid in ihren Augen, aber ihre Stimme war sachlich. »Der Name des Toten ist Vincenzo Biraghi?«

Forster nickte.

»Können Sie mir sagen, warum er an Ihrer Gruppe teilgenommen hat? Ein Anti-Aggressions-Training, wenn ich richtig informiert bin?«

»Ja.« Forster stellte das Glas beiseite und versuchte, sich zu sammeln. Normalerweise war die Herausgabe von Patienteninformationen nicht erlaubt, auch nicht an die Polizei. Als Psychologe unterlag er der Schweigepflicht, die über den Tod hinaus galt. Sie konnte nur durch eine richterliche Anordnung aus besonderem Grund aufgehoben werden. In diesem Fall allerdings stand alles, was die Beamtin wissen musste, in den Gerichtsakten, die der Polizei ohnehin zugänglich waren.

Der siebzehnjährige Vincenzo Biraghi hatte seinen Stiefvater erstochen. Weil dieser Vincenzos Mutter und seine Schwester wiederholt auf brutalste Weise verprügelt hatte. Irgendwann hatte Vincenzo es nicht mehr ertragen. Er hatte den Stiefvater zur Rede gestellt und versucht, ihn aus dem Haus zu werfen. Der Stiefvater hatte ihn ausgelacht und als halbe Portion bezeichnet. Er war mit dem Messer auf Vincenzo losgegangen. Der junge Mann hatte es ihm im Kampf abgenommen und den Stiefvater seinerseits damit attackiert.

Bis zu diesem Punkt wäre das Ganze als Notwehr durchgegangen. Problematisch wurde es, weil Vincenzo nicht nur ein- oder zweimal zugestochen hatte, sondern unfassbare dreiunddreißig Mal. Der Polizei hatte er gesagt, dass er hatte sichergehen wollen, dass sein Stiefvater nicht wieder aufstand. Damit er seiner Mutter und seiner Schwester niemals mehr Gewalt antun konnte. Forsters Aufgabe bestand darin, ein Gutachten für die anstehende Gerichtsverhandlung zu verfassen. War es trotz der hohen Anzahl an Stichen eine Notsituation gewesen – oder vorsätzlicher Mord?

»Wie lautete Ihr Urteil?«, fragte Davari.

»Ich hatte mir noch keine abschließende Meinung gebildet«, erwiderte Forster. Nicht, weil er mauern wollte, sondern weil es die Wahrheit war. Vincenzo war ein Patient gewesen, dessen Gefühlswelt schwer zu ergründen gewesen war.

Die Kommissarin schrieb etwas in ihr Notizbuch. »Gibt es jemanden in der Gruppe, der einen Grund hatte, Biraghi zu töten?«

Forster musste nicht lange darüber nachdenken. »Die Jugendlichen scheuen keine Auseinandersetzung. Wenn es ums Überleben geht, setzen sie ihre Fäuste ein, vielleicht auch ein Messer. Aber sie wählen den direkten Weg. Sie können ihre Aggressionen schlecht kontrollieren und geraten deshalb immer wieder in Gewaltsituationen, aber sie sind nicht heimtückisch. Das langfristige Planen der Tat und die aufwendige Herstellung einer Bombe passen nicht zu ihrer Charakterstruktur.«

Davari sah ihn neugierig an. »Was ist mit dem Jungen, der das Blut abgeleckt hat?«

Forster nahm seine Brille ab und schaute auf die Flecken, die sich nicht hatten entfernen lassen. Er hielt die Sehhilfe unter den Wasserhahn und rieb mit dem Daumen über das Glas. Langsam lösten sich die roten Schlieren. »Joel Drews. Er hat eine psychiatrische Störung. Eine krankhafte Fixierung auf Blut.«

»Die sich wie äußert?«

»Er verletzt andere Personen vorsätzlich. Mit Nadeln. Wenn das Blut fließt, versucht er, es abzulecken.«

»Weil er sich für einen Vampir hält?« Davari tippte mit der Spitze des Bleistifts auf die aufgeschlagene Seite des Notizbuchs.

»Nein. Er hat keine Wahnvorstellungen.« Forster nahm ein Geschirrtuch und trocknete die Brillengläser.

»Sondern?«

Forster überlegte, wie sich Joels Störung am besten in Worte fassen ließ. »Es ist eine Art Zwang«, erklärte er. »Joel führt diese Handlungen aus, wenn er angespannt ist. Die Psychodynamik ähnelt der von Personen, die sich selbst verletzen. Nur dass Joel sich nicht die Arme ritzt, sondern dass ihm fremdes Blut Erleichterung verschafft.«

Davari machte sich weitere Notizen. »Er nimmt freiwillig an der Gruppe teil?«

»Nein. Auf Anordnung des Gerichts. Nachdem er eine Kommilitonin mit einem Skalpell verletzt hatte, weil er ihr Blut lecken wollte.«

Die Kommissarin stutzte. »Eine Kommilitonin? Ich dachte, jemand mit einer solchen Störung lebt in irgendeiner Einrichtung. In einer psychiatrischen Klinik oder einem Wohnheim für psychisch beeinträchtigte junge Menschen.«

Forster setzte die Brille wieder auf. Seiner persönlichen Meinung nach wäre das sinnvoll, aber die Rechtslage sah anders aus. »Dazu waren die Vorfälle bis zu dem Angriff auf die Studentin nicht schwerwiegend genug«, erläuterte er. »Für eine Einweisung muss ein deutliches Risiko der Selbst- oder Fremdgefährdung bestehen. Das war erst mit der Benutzung des Skalpells statt einfacher Nadeln der Fall. Vorher ist er trotz seiner Blutlust irgendwie durchgekommen. Seine Eltern haben dafür gesorgt, dass er sein Abitur an einer öffentlichen Schule ablegen durfte und zum Studium zugelassen wurde.« Forster machte eine Pause. »Medizin.«

Kayra Davari lachte auf. »Das ist ein Witz.«

»Nein.«

»Was machen die Eltern beruflich?«

»Sie sind beide Anwälte. Sie für Familienrecht, er für Strafrecht.«

»So wie Ihr Vater.«

Forster hob die Augenbrauen. Man kannte ihn sowohl beim Landeskriminalamt als auch bei der Bezirkskriminalinspektion, weil er regelmäßig als Gutachter für die Behörden tätig war, aber der jungen Kommissarin war er bisher nicht begegnet. »Sie haben sich über mich informiert?«

Davari zuckte mit den Schultern. »Routine.« Ein leises Piepen ertönte, das den Eingang einer Nachricht signalisierte. Die Kommissarin schaute kurz auf ihr Smartphone.

»Mein Vater hat vor mehr als zehn Jahren aufgehört zu arbeiten.« Forster füllte sein Glas erneut mit Leitungswasser und trank. »Inzwischen erinnert er sich meistens nicht einmal mehr daran.«

Der Blick der Kommissarin wurde fragend.

»Demenz«, erklärte Forster knapp. Das Schlimmste, fand er, was einem Menschen widerfahren konnte. Aber er wollte nicht darüber reden.

Die Kommissarin wischte auf ihrem Smartphone. »Diese Blutlust«, fragte sie nebenbei. »Könnte die ein Motiv sein, eine Bombe zu zünden?«

Forster fühlte ein Grummeln in den Eingeweiden. Genau wie bei Vincenzo hatte er es auch bei Joel schwierig gefunden, ihn einzuschätzen. Die beiden jungen Männer waren noch nicht lange Teil der Gruppe gewesen.

»Ausschließen kann ich es nicht. Aber Joel und Vincenzo haben sich gut verstanden. Ich glaube nicht, dass Joel ausgerechnet Vincenzo attackiert hätte.«

Die Kommissarin neigte den Kopf. »Konnte Joel denn wissen, dass sich Vincenzo heute als Erster in Ihren Sessel setzt?«

Aus dem Grummeln wurde ein Brennen. Magensäure schoss Forsters Kehle herauf.

»Den Jugendlichen war bekannt, dass einer von ihnen die heutige Sitzung leiten dürfte. Es war aber nicht klar, wer das sein würde.«

Davaris Blick war ernst. »Wussten die Jugendlichen auch, dass Sie nicht auf dem Sessel sitzen würden, ehe Sie das Zepter an jemanden aus der Gruppe übergeben?«

Forster konnte nicht antworten, weil seine Zunge plötzlich am Gaumen klebte.

»Tut mir leid, wenn ich Sie erschrecke«, sagte Kayra Davari. Sie drehte ihr Smartphone so, dass er auf das Display sehen konnte. Ein Foto von dem aufgeplatzten Sitzkissen, darin Metallsplitter und Drähte.

»Meine Kollegen halten das für die Überreste eines Druckzünders«, erläuterte sie. »Der eingebaute Sensor hat dafür gesorgt, dass die Bombe explodiert, sobald jemand auf Ihrem Sessel Platz nimmt.« Davari drückte auf den Knopf, und der Bildschirm wurde schwarz. »Wir gehen deshalb davon aus, dass nicht einer der Teilnehmer das geplante Opfer war«, fuhr sie fort, »sondern Sie.«

4

Fast hätte er vergessen, dass Mittwoch war. Als es ihm wieder einfiel, war sein erster Impuls, das Treffen zu verschieben. Aber dann sagte er sich, dass ihm das Gespräch mit den Kollegen guttun würde.

War es nicht das, was sie ihren Patienten predigten? Dass sie über ihre Traumata sprechen mussten, um sie zu verarbeiten? Für einen Therapeuten, der Zeuge einer Bombenexplosion geworden war, galt das ohne Frage genauso. Umso mehr, wenn die junge Kommissarin recht hatte und der Anschlag eigentlich ihm gegolten hatte.

»Hast du einen Verdacht?«, erkundigte sich Simon Hildebrand, als sie in Forsters Gruppenraum im Stuhlkreis saßen.

Dieselbe Frage hatte ihm Kommissarin Davari am Nachmittag auch gestellt, doch Forster hatte keine Antwort darauf gewusst. Er hatte keine Feinde, und erst recht gab es niemanden, dem er zutraute, ihn in die Luft sprengen zu wollen. Als Fallanalytiker hatte er an der Ergreifung einiger Gewaltstraftäter mitgewirkt, doch diesen Personen war er nie persönlich begegnet. Wenn es keine undichte Stelle bei der Ermittlungsbehörde gab, wussten die Täter nicht einmal von seiner Existenz.

Eine andere Möglichkeit war, dass ein Straftäter, der aufgrund eines Gerichtsgutachtens von Forster verurteilt worden war, seine Strafe als ungerecht empfand und sich an ihm rächen wollte. Aber Forster war kein Patient eingefallen, der dafür infrage käme. Diejenigen, die zu solch brutaler Gewalt fähig wären, saßen hinter Gittern oder in der geschlossenen Psychiatrie, und die anderen hätten einen weniger spektakulären Weg gewählt, um ihren Rachedurst zu stillen.

Die Kommissarin würde trotzdem sämtliche seiner forensischen Fälle durchgehen und die betreffenden Personen überprüfen. Er selbst hatte im Laufe des späten Nachmittags dasselbe getan und sich durch seine alten Aufzeichnungen gearbeitet, war aber zu keiner Erkenntnis gelangt.

»Nein«, sagte er müde.

»Es kann doch nur einer der Jugendlichen aus der Gruppe gewesen sein«, argumentierte Hildebrand und fuhr sich mit der Hand über die millimeterkurz gestutzten blonden Haare. Wie immer war der Kollege komplett in Schwarz gekleidet, Ausdruck seiner wenig optimistischen Perspektive auf die Welt. Trotzdem war er ein guter Therapeut. »Bist du einem von ihnen auf die Füße getreten? Vielleicht, ohne dass du es gemerkt hast?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Forster und versuchte, sich an die letzten Sitzungen mit der Gruppe zu erinnern. Die Stimmung war immer latent aggressiv, wie bei dieser Klientel nicht anders zu erwarten, aber es hatte keine ungewöhnlichen Vorkommnisse gegeben. Er hatte das Gefühl gehabt, dass sich die Jugendlichen bei ihm wohlfühlten.

»Der Täter muss sich nicht zwangsläufig im Raum befunden haben«, mischte sich René Steinke ein. Er trug eines seiner modischen Hemden, gelb mit einem dezenten Muster in Orange. Die blonden Locken tanzten auf seinen Schultern. Für einen Therapeuten sah er eigentlich zu unkonventionell aus, doch Forster wusste, dass er bei den Intellektuellen beliebt war. Seine Klientel speiste sich zu wesentlichen Teilen aus Altachtundsechzigern, Künstlern und Lehrern. »Die Bombe war mit einer Zündvorrichtung ausgestattet, wenn ich das richtig verstanden habe?«

»Ein Druckzünder«, bestätigte Forster.

»Also könnte der Täter sich zum Zeitpunkt der Explosion am anderen Ende der Stadt aufgehalten und sich ein bombensicheres Alibi besorgt haben.« Steinke nippte an seinem Weinglas.

»Das glaube ich nicht.« Lars Gericke pustete sich eine Strähne seiner dunklen Föhnfrisur aus der Stirn. Er hatte sich in einen der dunkelgrauen Schwingsessel gefläzt und die langen Beine ausgestreckt. Sie steckten in verwaschenen Blue Jeans, zu denen er braune Sneakers und ein weißes Hemd trug. In der Hand hielt er einen dickwandigen Tumbler, in dem er seinen Whisky schwenkte. »Wenn der Täter nicht vor Ort ist, entgeht ihm die Show. Das würden diese Jugendlichen nicht tun. Sie wollen dabei sein und zusehen.«

Forster horchte in sich hinein, welches Argument ihm plausibler erschien, doch seine innere Stimme, sonst ein zuverlässiges Instrument, war verstummt.

»Aber weshalb sollten sie Robert angreifen?«, beharrte Steinke auf seinem Standpunkt. »Er hilft ihnen.«

»Das mag der eine oder andere von ihnen anders sehen«, gab Gericke zu bedenken. »Insbesondere dann, wenn Roberts Begutachtung nicht so ausfällt, wie der Betreffende es sich erhofft.«

Hildebrand, der nie etwas anderes trank als Wasser, stellte sein Glas auf einen der niedrigen Bistrotische, die zwischen den Stühlen aufgestellt waren. »Hast du denn einem von ihnen eine Beurteilung in Aussicht gestellt, die derjenige als Provokation empfinden könnte?«

Forster dachte darüber nach, konnte sich aber nicht konzentrieren. In seinem Kopf lief beständig derselbe Film ab. Der Moment, in dem die Bombe explodierte und Vincenzo in Stücke riss. Vermutlich sollte er darüber reden, doch er schaffte es nicht, die grauenvollen Bilder in Worte zu fassen.

Dabei hätte er kaum bessere Zuhörer finden können.

Nicht umsonst nannten sie sich »die Psychologische Mittwochs-Gesellschaft«, in Anlehnung an Sigmund Freuds Gruppierung desselben Namens, die jener 1902 gegründet hatte, um im kollegialen Kreis über die psychoanalytische Arbeit zu diskutieren. Zu den prominentesten Mitgliedern hatten Alfred Adler und Carl Gustav Jung gehörten, die zunächst als Schüler Freuds galten, später aber ihre eigenen theoretischen Schulen begründeten. Freuds Gruppe traf sich regelmäßig mittwochabends im Wartezimmer von Freuds Praxis und diskutierte bei Kaffee und Kuchen Krankengeschichten ebenso wie wissenschaftliche, künstlerische und gesellschaftliche Fragen.

Forster und seine Kollegen hielten es ähnlich. Sie arbeiteten alle vier als Therapeuten, und sie trafen sich jeden zweiten Mittwoch, um schwierige Fälle miteinander zu besprechen. Weil Forster die längste Berufserfahrung besaß, verglichen ihn die Kollegen gelegentlich mit Freud. Dabei hatte er bei ihren Treffen meist das Gefühl, dass vor allem er es war, der von den anderen lernte. Er schätzte Renés streitbaren Geist, Lars’ messerscharfe Analysen und Simons philosophischen Blick auf die Welt.

Die psychoanalytische Arbeit war eine einsame Angelegenheit. Der Therapeut verschrieb sich ganz der Betrachtung der Psyche der Patienten. Er selbst spielte als Person keine Rolle.

Hier bei den Kollegen hätte er sich öffnen können, doch der Schock saß zu tief. Er fühlte sich wie hinter einer Glasscheibe.

Sein Blick glitt über die leeren Wände. Weiß, ohne jede Dekoration. Je weniger Dinge den Geist einengten, desto besser konnte sich dieser entfalten. Im Zimmer nebenan, in dem Forster die Einzelgespräche führte, waren die Wände in einem hellen Apricot gestrichen. Forster hatte ein paar Bilder aufgehängt, abstrakt, mit geometrischen Figuren. Rot und Orange waren die dominierenden Farben. Es gab einige Bücherregale, die eine behagliche Atmosphäre schufen, dazu die Couch, die beiden Sessel und niedrige Tische, um ein Wasserglas abzustellen. Hier im Gruppenraum dagegen wäre jedes weitere Möbelstück zu viel. Die Anwesenheit mehrerer Personen war Anregung genug.

Forster blinzelte, weil die Stimmen um ihn herum laut geworden waren. Die Kollegen diskutierten noch immer darüber, ob das Motiv für den Anschlag in Forsters Arbeit lag. Forster versuchte sich zu fokussieren, so wie er es auch tat, wenn er Patienten gegenübersaß.

»Natürlich sind nicht alle zufrieden mit meinem Urteil«, sagte er bezugnehmend auf Hildebrands Frage. »Aber ich bin mir sicher, dass mich niemand aus der Gruppe deshalb tätlich angreifen würde.«

Gericke beugte sich vor, legte die Unterarme auf die Knie und verschränkte die Finger. »Irgendjemand hat es aber getan, Robert. Wie erklärst du dir das?«

Forster hatte das Gefühl, dass eine kalte Hand nach seinem Herzen griff. Es war die entscheidende Frage, doch er hatte keine Antwort darauf.

Die Türklingel erlöste ihn von Gerickes durchdringendem Blick.

»Entschuldigt mich kurz«, sagte er und erhob sich.

»Guten Abend, Dr. Forster.«

Die Frau, die vor der Tür stand, trug noch dieselbe Kleidung wie am Morgen, die schwarzen Jeans, das hellbraune Top und den kurzen dunkelbraunen Blazer, der mit der Farbe ihrer Haut und ihrer Augen harmonierte. Das halblange schwarze Haar war zusammengebunden.

»Kommissarin Davari.«

»Darf ich kurz hereinkommen?«

»Bitte.« Forster dirigierte sie ins Therapiezimmer. Auf dem Weg dorthin passierten sie die offen stehende Tür des Gruppenraums.

»Sie haben Besuch?« Davari sah ihn an.

»Kollegen.«

»Mit denen Sie über das Attentat sprechen?«

»Ja.« Forster hatte diesen Begriff bisher nicht verwendet. Doch bei objektiver Betrachtung war es genau das.

Kayra Davari betrat das Therapiezimmer und setzte sich. Forster nahm in seinem Sessel Platz.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte er. »Wie geht es den Jugendlichen?« Da er kein Angehöriger war, bekam er vom Krankenhaus keine Auskunft, und die Familien hatte er so kurz nach dem Anschlag nicht belästigen wollen. Sicherlich hatte man dort anderes zu tun, als sich um die Sorgen des Gruppenleiters zu kümmern.

Davari lächelte. »Besser als erwartet«, erwiderte sie. »Dustin Heuer und Leander Grossmann sind aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die Wunde an Dustins Oberschenkel ist versorgt worden, sie ist nicht besonders tief. Und Leander hat ebenfalls nur eine Schürfwunde an der Stirn, keine Gehirnerschütterung, wie die Ärzte zunächst befürchtet hatten. Sie alle haben großes Glück gehabt.«

»Hm.« Forster versuchte, die Gefühle, die auf ihn einstürzten, zurückzudrängen. Ihm wären in Bezug auf die Ereignisse des heutigen Nachmittags eine Menge Begriffe eingefallen. Glück kam nicht unbedingt an erster Stelle. Aber die Kommissarin hatte natürlich recht. Die Bombe hätte sie alle zerfetzen können.

»Joel Drews ist in eine psychiatrische Einrichtung überstellt worden. Tessa Eilers ist bei ihren Eltern«, setzte Davari ihren Bericht fort.

Forster fragte sich, ob sie dort gut aufgehoben war; die Familie hatte wesentlichen Anteil an Tessas unglücklicher Persönlichkeitsentwicklung. Aber im Augenblick gab es wohl keine Alternative.

»Schön«, sagte er deshalb nur und betrachtete sein Gegenüber. Ihrem Namen, den tiefbraunen Augen und dem Bronzeton ihrer Haut nach zu urteilen stammte Davaris Herkunftsfamilie aus dem arabischen Raum. Genauer eingrenzen konnte Forster es nicht, dazu kannte er zu wenige Menschen, die von dort kamen. »Aber ich nehme an, das ist nicht der Grund, aus dem Sie mich aufgesucht haben?«

»Nein.« Wieder lächelte die Kommissarin. »Ich bin hier, weil ich eine gute Nachricht für Sie habe.« Ihr Blick glitt über die Einrichtung und die abstrakten Gemälde an den Wänden. Sie betrachtete die Couch, auf der ein paar Kissen und eine bunte Decke lagen.

Die meisten Menschen, die keine Analyse gemacht hatten, konnten sich nur schwer vorstellen, dass man es als angenehm empfinden könnte, mit jemandem zu sprechen, der hinter einem saß, während man selbst ausgestreckt auf der Couch lag, die Augen zur Decke gerichtet oder geschlossen. Tatsächlich machte die Konstellation das Reden aber leichter, das hatte nicht nur Freud behauptet, diese Erfahrung hatte auch Forster während seiner Lehranalyse gemacht, die bei der Ausbildung zum Psychoanalytiker verpflichtend war. Hunderte von Stunden hatte er auf der Couch seines Lehranalytikers verbracht und mehr über sich selbst gelernt, als er sich jemals hätte vorstellen können.

Forster merkte, dass er abdriftete, und konzentrierte sich wieder auf die Kommissarin. »So? Haben Sie den Täter gefunden?« Er konnte sich nicht vorstellen, was ansonsten im Zusammenhang mit der entsetzlichen Explosion eine frohe Botschaft sein könnte.

»Nein. Noch nicht«, sagte Davari. »Aber ich kann Ihnen mitteilen, dass wir uns getäuscht haben. Der Angriff galt nicht Ihnen.« Sie sah ihn freundlich an. »Die Kriminaltechnik hat die Überreste des Zünders untersucht. Offenbar war es kein Druckzünder, sondern ein Fernzünder.«

Forster blinzelte. Normalerweise bewegten sich die Gedanken mit Lichtgeschwindigkeit durch seinen Kopf, doch heute waren sie so träge, als müssten sie sich durch ein enges Rohr zwängen.

»Das heißt?«

»Dass derjenige, der die Bombe gezündet hat, bestimmen konnte, wen er tötet. Wir gehen davon aus, dass er tatsächlich Vincenzo Biraghi treffen wollte.«

Forster wartete darauf, dass sich so etwas wie Erleichterung einstellte. Stattdessen verstärkte sich sein Unbehagen. »Es wusste aber niemand, dass Biraghi auf dem Sessel sitzen würde.«

Davari nahm ihr Smartphone hervor. »War das eine spontane Entscheidung?«

»Nein.«

»Also gibt es vermutlich Aufzeichnungen?«

»Selbstverständlich.« Forster fertigte von allen Sitzungen Protokolle an, und er hielt auch seine Planungen für die folgenden Stunden schriftlich fest.

»Digital?«

»Ja.«

»Jemand könnte sich Zugriff auf Ihren Rechner verschafft haben und auf diese Weise an die Information gelangt sein. Eine Person, die es explizit auf Biraghi abgesehen hatte.« Davari neigte den Kopf. »Wir nehmen an, dass derjenige sich vorher vergewissert hat, ob sich der Aufwand lohnt. Die Holzstühle der Teilnehmer eignen sich nicht, um eine Bombe zu platzieren. Ihr gepolsterter Sessel dagegen war ein hervorragendes Versteck.«

Forster dachte darüber nach. Sein Computer war nicht leicht zu knacken. Er hatte sich von einem Mitarbeiter in der IT-Abteilung des LKA eine Sicherheitssoftware installieren lassen, die seine Patientenakten schützte. Aber keine Software war so gut, dass ein begabter Hacker sie nicht überwinden könnte.

»Wer diese Dinge in Erfahrung bringen will, findet einen Weg«, stimmte Kayra Davari ihm zu, nachdem er seine Überlegungen mit ihr geteilt hatte. »Wenn nicht über das Internet, dann vielleicht, indem er sich Zutritt zu Ihren Praxisräumen verschafft.«

Forster konnte das nicht ausschließen. Während seiner Patientengespräche war das Büro auf der Rückseite des Hauses leer. Er selbst hatte keine Einbruchsspuren bemerkt, aber das musste nichts heißen.

»Sie haben recht«, räumte er ein. »Jemand könnte diese Information besessen haben.« Er nahm seine Brille ab und massierte mit zwei Fingern die Stelle über der Nasenwurzel. Irgendetwas störte ihn, aber er bekam es nicht zu fassen.

Davari nahm erneut das Zimmer in Augenschein. »Sie haben hier im Haus einen Gruppenraum, wie ich gesehen habe. Warum finden die Treffen der Anti-Aggressions-Gruppe nicht dort statt?«

Forster setzte die Brille wieder auf und sah die Kommissarin verwundert an. Die Frage schien ihm vom entscheidenden Thema wegzuführen. »Es ist ein städtisches Projekt«, erklärte er höflich. »Die Stadt finanziert es und stellt den Raum zur Verfügung. Ich betreue die Anti-Aggressions-Gruppe, aber es gibt noch weitere Gruppen, die von anderen Kollegen geleitet werden.«

»Aha.« Davari tippte auf ihrem Smartphone.

Forster bearbeitete erneut die Stelle über der Nasenwurzel, und endlich schälte sich ein Gedanke aus der trägen Masse in seinem Kopf heraus.

»Sie gehen davon aus, dass es ein gezieltes Attentat auf Biraghi war«, sagte er zu Davari. »Aber das würde bedeuten, dass der Täter sehen konnte, was im Raum passiert. Weil er selbst anwesend war.«

»Richtig.« Davari hob die Hand, ehe er etwas einwenden konnte. »Ich weiß. Sie halten das für ausgeschlossen. Weil die Persönlichkeitsstruktur der Jugendlichen nicht zu derjenigen des Täters passt.«

»Sie denken, ich irre mich?« Forster musterte die junge Kommissarin. Gehörte sie zu jenen, die alles Psychologische für Hokuspokus hielten und sich jegliche Einmischung in ihre Ermittlungen verbaten? Sein erster Eindruck von ihr war ein anderer gewesen. Davari wirkte auf ihn wie eine Frau, die ihre Arbeit ernst nahm und mit Umsicht verrichtete. Aber vielleicht lag er falsch. Sein Sensorium war beeinträchtigt, seit er hatte mitansehen müssen, wie Vincenzo Biraghi von der Bombe in Stücke gerissen worden war.

Davari schnitt eine Grimasse, und Forster erkannte, dass ihr Ablenkungsmanöver mit Absicht erfolgt war.

»Genau genommen darf ich mit Ihnen nicht darüber sprechen«, erklärte sie. »Sie sind in den Fall involviert. Schlimmstenfalls könnten Sie selbst der Täter sein.«

»So ist es.« Forster hatte oft genug mit der Polizei zusammengearbeitet, um die Regeln zu kennen.

»Ich sage es Ihnen trotzdem«, entschied die Kommissarin. »Weil ich denke, dass Sie uns helfen können.«

Forster schwieg, so wie er es auch tat, wenn ihm Patienten gegenübersaßen, die sich nur mühsam dazu durchrangen, ihm etwas anzuvertrauen.

»Meine Kollegen haben sämtliche Hintergrundinformationen gecheckt, nachdem wir den Zünder untersucht hatten«, berichtete die Kommissarin. »Vincenzo Biraghi hat seinen Stiefvater erstochen. Wir denken an eine Vergeltungstat.«

»Sie meinen Blutrache, so wie bei der italienischen Mafia?« Forster hob müde die Mundwinkel. »Sicher nicht. Biraghis Stiefvater war Deutscher. Er hieß Matthias Meyer, war hier geboren und aufgewachsen. Seine Mutter hat ihn nach dem Tod ihres Mannes kennengelernt. Die beiden waren Kollegen. Werftarbeiter. Biraghi hatte einen Arbeitsunfall. Irgendwas mit einer elektrischen Metallsäge, die ihm den linken Arm abgetrennt hat. Man hat ihn zu spät gefunden, er ist verblutet. Meyer hat sich um die Witwe und die beiden Kinder gekümmert. Zwei Jahre später haben sie geheiratet.«

»Exakt.« Davari, die auf ihrem Smartphone mitgelesen hatte, nickte – die Informationen, die Forster referiert hatte, standen in ähnlicher Form in Biraghis Akte. »Aber es gibt trotzdem einen Verdächtigen.«

Sie hielt ihm das Smartphone hin. Forster erblickte das Polizeifoto eines grobschlächtigen Mannes mit breiter Stirn, tief liegenden Augen und einem rasierten Schädel, auf den ein Spinnennetz tätowiert war.

»Matthias Meyer hatte einen Bruder«, erläuterte die Kommissarin. »Georg Meyer. Ein ziemlich übler Zeitgenosse. Kein Schulabschluss, keine Ausbildung, aber mehrere Vorstrafen wegen Körperverletzung. Meyer hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Bis zur Hochzeit seines Bruders haben die beiden im gemeinsamen Elternhaus gewohnt. Danach ist Georg ausgezogen, und Aurora Biraghi ist mit ihrem Sohn und ihrer Tochter eingezogen. Soweit wir das aus den Akten und Bankunterlagen ersehen können, hat Matthias Meyer seinen Bruder regelmäßig finanziell unterstützt, vermutlich als Ausgleich dafür, dass Georg ihm seine Hälfte des Hauses überlassen hat. Nach Matthias’ Tod haben die Zahlungen aufgehört, und das Haus ist an Matthias’ Witwe übergegangen. Georg dagegen lebt in einer kleinen Mietwohnung in Gaarden.«

Forster hatte keine Mühe, die Informationen zusammenzusetzen. »Georg Meyer hat also nicht nur einen wesentlichen Teil seiner Einkünfte verloren, sondern auch die Hoffnung, seine Hälfte des Elternhauses eines Tages zurückzubekommen. Und er hat Vincenzo dafür verantwortlich gemacht. Ein Mordmotiv, meinen Sie.«

»Sehen Sie das anders?«

»Ihre Theorie ist plausibel«, befand Forster. »Aber wie hätte Georg Meyer die Bombe in meinem Behandlungsraum installieren und zünden sollen? Wenn sich ein derart auffälliger Mann dort herumgetrieben hätte, wäre er dem Sicherheitspersonal aufgefallen.«

Davari schaltete das Smartphone aus und steckte es ein. Forster sah sie fragend an, doch ehe sie reagieren konnte, wusste er die Antwort bereits selbst.

»Sie glauben, Georg Meyer hatte einen Komplizen, richtig? Jemanden, den er dafür bezahlt hat. Einen meiner Patienten.«

»Halten Sie das für abwegig?«

»Nein.« Forster hätte gern etwas anderes gesagt, aber das wäre nicht ehrlich gewesen. Die Teilnehmer seiner Anti-Aggressions-Gruppe waren labil. Sie hatten nicht dieselben Skrupel wie andere Menschen. Sie waren leichter zu manipulieren. Wenn man ihnen genügend Geld bot, waren sie vermutlich zu fast allem bereit. Schlimmstenfalls hatten sie sogar Spaß daran.

»Robert?«

Forster und Davari zuckten zusammen, als die Stimme von der Tür her ertönte.

Lars Gericke, der im Rahmen stand, hob entschuldigend die Hand. »Verzeihung. Ich wollte nicht stören. Aber es ist schon spät. Wenn wir nicht mehr weitermachen, würden wir nach Hause gehen, Simon, René und ich.«

Kayra Davari stand auf. »Nein. Ich muss mich entschuldigen. Ich habe Ihren Freund aufgehalten.«

Gericke lächelte. Es war nicht zu übersehen, dass ihm die junge Frau gefiel. »Ihnen würde ich alles verzeihen.«

»Danke.« Davari stieg nicht auf seinen Flirtversuch ein. Sie wandte sich wieder Forster zu, der gleichfalls aufgestanden war. »Ich melde mich bei Ihnen, sobald wir etwas Neues wissen. Und falls Ihnen noch etwas einfällt …«

Sie reichte ihm eine Visitenkarte und schlängelte sich anschließend an Gericke vorbei. Forster begleitete sie zur Haustür. Auf dem Weg dorthin warf die Kommissarin einen Blick in den Gruppenraum.

»Simon Hildebrand und René Steinke«, stellte Forster die Kollegen vor, die sich erhoben hatten. Sie kamen in den Flur und gaben der Kommissarin die Hand. »Und Lars Gericke.« Forster wies auf den Kollegen, der hinter ihm stehen geblieben war.

Gericke trat vor und schüttelte Davari ebenfalls die Hand. »Sehr erfreut.« Er neigte den Kopf. »Darf ich fragen, wie es Roberts Patienten geht? Den Überlebenden, wenn man so will?«

Davari erzählte, was sie Forster mitgeteilt hatte. »Sie werden wieder gesund«, beendete sie ihren Bericht. Forster sah ihr an, wie erleichtert sie darüber war.

»Die physischen Wunden mögen schnell heilen«, bemerkte Simon Hildebrand düster. »Aber das psychische Trauma wird sie lange begleiten.«

Davari nickte ernst und sah Forster an. »Denken Sie, Sie können den Jugendlichen helfen?«

Forster spürte die Verantwortung wie eine schwere Last auf den Schultern. Natürlich wollte er für die Jugendlichen da sein, doch er selbst hatte ebenfalls ein Trauma erlitten. Er wusste nicht, ob seine Kraft für alle reichen würde.

»Das Erlebnis muss natürlich aufgearbeitet werden«, sagte er. »Und zwar so rasch wie möglich.« Er stockte. Könnte er die Kollegen um Hilfe bitten? Durfte er das überhaupt? Oder musste er warten, bis die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen waren? »Wann kann ich mit den Jugendlichen sprechen?«

Davari nahm sich Zeit, um über die Frage nachzudenken.

»Wir müssen die Teilnehmer der Anti-Aggressions-Gruppe natürlich befragen«, erklärte sie. »Aber das spricht nicht gegen eine therapeutische Intervention.«

»Wäre es nicht besser, wenn die Jugendlichen zuerst die Gelegenheit hätten, den Schock zu verwinden, ehe man sie diesem zusätzlichen Druck aussetzt?«, mischte sich René Steinke ein. Er war nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch ausgebildeter Kinder- und Jugendlichentherapeut und arbeitete oft mit Problemfamilien.

»Dafür fehlt uns leider die Zeit«, entgegnete Davari. »Wir suchen einen skrupellosen Mörder. Das Beste, was wir tun können, ist, die Ermittlungen und die Therapie parallel durchzuführen.«

»Das ist besser als nichts«, befand Forster. »Allerdings werde ich nicht jeden einzeln betreuen können, sondern nur die Gruppe als Ganzes.«

Die Kommissarin blickte zu Forsters Kollegen und stellte die Frage, die er nicht hatte aussprechen mögen. »Wäre es möglich, dass Sie Dr. Forster unterstützen?«

Hildebrand wehrte sofort ab. »Ich habe keinerlei Erfahrung mit jugendlichen Straftätern. Und auch keine freien Kapazitäten.« Hildebrand war auf Paar- und Familientherapie spezialisiert. Trennung, Scheidung, Sorgerecht, damit kannte er sich aus, und oft gelang es ihm sogar, das Zerbrechen einer Beziehung oder Familie abzuwenden. Seine Warteliste war lang.

»Das geht mir genauso«, erklärte René Steinke bedauernd. Die Intellektuellen und Alternativen standen bei ihm Schlange, und die Familienprobleme, mit denen er sich beschäftigte, hatten nichts mit forensischer Psychologie zu tun.

»Ich habe ebenfalls keinen Platz im Terminkalender«, schloss sich Lars Gericke an. Im Gegensatz zu den beiden anderen arbeitete Gericke auch forensisch, allerdings nicht mit Gewaltstraftätern wie Forster, sondern vorwiegend mit Sexualstraftätern. Sein Spezialgebiet war der Täter-Opfer-Ausgleich, und Gericke leistete dort hervorragende Arbeit. Er hatte auch schon etliche Studien zu diesem Thema durchgeführt und eine ganze Reihe wissenschaftlicher Artikel verfasst. »Ich würde mir selbstverständlich etwas freischaufeln. Aber ich glaube nicht, dass es Sinn macht. Ich bezweifle, dass sich die Jugendlichen jemand anderem als Robert öffnen würden.«

Forster nickte müde. Gericke hatte vollkommen recht. Es gab keinen anderen Weg. Er musste diese Aufgabe allein bewältigen.

Davari reichte ihm zum Abschied die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Kraft. Das ist sicher nicht leicht für Sie.«

»Danke.« Forster öffnete ihr die Haustür und sah ihr nach, wie sie über den Gartenweg in der Dunkelheit verschwand.

Die vier Männer kehrten in den Gruppenraum zurück, doch das Gespräch kam nicht mehr richtig in Gang. Gericke und Hildebrand diskutierten verschiedene Ansätze der Trauma-Behandlung. Forster, der sich kaum noch konzentrieren konnte, schaute aus dem Fenster in die dunkle Nacht.

Er hätte gern mit den Kollegen über Davaris Idee gesprochen, dass einer der Jugendlichen aus der Anti-Aggressions-Gruppe als Handlanger für den Bruder von Biraghis Stiefvater tätig geworden war, aber ihm war klar, dass es sich um Ermittlungsinterna handelte, die er nicht weitergeben durfte. Wenn er wollte, dass Kayra Davari ihn weiterhin ins Vertrauen zog, musste er sich an die Spielregeln halten.

Als Steinke zum wiederholten Mal gähnte, beschlossen die Kollegen aufzubrechen.

Forster verriegelte hinter ihnen die Tür, ging durch den Flur in sein Büro und legte Davaris Visitenkarte neben das Telefon. Anschließend trat er auf der Rückseite des Hauses auf die Terrasse. Kein einziger Stern war zu sehen, kein winziger Lichtstreif der Hoffnung. Forster legte den Kopf in den Nacken und blinzelte.

Wenn er sich jetzt ins Bett legte, würde er keine ruhige Minute haben. Stattdessen würden die schrecklichen Bilder wieder und wieder vor seinem geistigen Auge aufflackern. Es war besser, wenn er wach blieb, bis ihn die Müdigkeit übermannte und er in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

In der Zwischenzeit würde er darüber nachdenken, wie er die Jugendlichen bei der Überwindung des Traumas unterstützen könnte. Sie hatten etwas Unfassbares erlebt, und eine Reaktion würde mit Sicherheit darin bestehen, die zugehörigen Emotionen abzuspalten. Wenn er ihnen helfen wollte, musste er sich etwas Besonderes einfallen lassen. Eine therapeutische Maßnahme, die den Jugendlichen die Möglichkeit bot, den Kontakt zu ihren Gefühlen zurückzugewinnen.

5

Das Institut für Psychologie befand sich in einem fünfstöckigen weißgrauen Kasten mit zahllosen Fenstern in der Olshausenstraße. Die unteren drei Etagen wurden von einer Forschungseinrichtung belegt, die sich mit der Pädagogik der Naturwissenschaften beschäftigte. Deshalb stand auch der von den Mitarbeitern so­genannte Lolli vor dem Gebäude, eine vielleicht zwei Meter hohe blaugraue Steinskulptur, die das Symbol der Einrichtung war, von der aber niemand wusste, was sie darstellen sollte.

Die Psychologie nahm die beiden oberen Etagen ein und hatte bisher allen Versuchen der Forschungseinrichtung, das gesamte Gebäude für sich zu beanspruchen, erfolgreich getrotzt. Im Inneren war Grau die vorherrschende Farbe, auch wenn man versucht hatte, die tristen Gänge durch Bilder an den Wänden aufzulockern. Aber so recht ließ sich der muffige Charme der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als das Gebäude errichtet worden war, nicht vertreiben.

Auf der Rückseite befanden sich ein Parkplatz und ein Parkdeck. Dort stellte Alessia Ahrens ihren Wagen ab, oben auf dem Parkdeck, ganz am hinteren Ende. Es gab zu viele Idioten und auch zu viele Neider. Sie wollte nicht, dass ihr jemand versehentlich eine Delle in den Wagen fuhr oder mutwillig den Lack mit einem Schlüssel zerkratzte.

Zufrieden mit sich selbst schwang sie die langen gebräunten Beine aus dem zitronengelben Mercedes Cabrio und kontrollierte, dass die hauchdünne Strumpfhose keine Laufmasche hatte. Anschließend betätigte sie den Funkschlüssel und sah zu, wie sich das faltbare Dach des Cabrios schloss.

Es war ein schöner Tag, wie so oft Mitte Oktober, wenn das Semester begann. Der Himmel zeigte das typische helle Blau des Nordens und war fast wolkenlos. Die Luft war angenehm mild, der Wind nur eine leichte Brise.

Alessia verstaute den Autoschlüssel in ihrer Louis-Vuitton-Handtasche, rückte die Gucci-Sonnenbrille zurecht und warf ihre langen blonden Haare zurück. Mit einem Blick in die getönte Seitenscheibe des Wagens versicherte sie sich, dass Top und Rock gut saßen und ihre Vorzüge betonten. Sie hatte ein schönes Gesicht und hübsche runde Brüste, das hatten ihr schon mehr als genug Menschen gesagt. Dafür tat sie auch einiges. Wenigstens jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio und jeden Morgen mindestens eine Stunde vor dem Spiegel, um sich zu schminken. Es lohnte sich; ihr YouTube-Channel, in dem sie Fitness- und Schminktipps gab, hatte mehr als zehntausend Abonnenten.

Sie bekam auch jede Menge Post von jungen Mädchen, die sie um Rat fragten. Und von Jungs, die sie daten wollten. Aber Alessia hatte kein Interesse. Sie wollte einen richtigen Mann, keinen schmalbrüstigen Studenten und auch keinen aufgeblasenen Bodybuilder mit Spatzenhirn.

Der Mann, der sie wirklich faszinierte, war Dr. Robert Forster. Letzte Woche hatte er die Einführungsveranstaltung für das fünfte Semester in seinem Bereich gehalten. Rechtspsychologie, eines der Wahlpflichtfächer, die sie belegen konnte.

Das war einer der Gründe, warum sie sich dazu entschieden hatte, in Kiel zu studieren. Kaum eine andere Universität in Deutschland bot Veranstaltungen in forensischer Psychologie an. Und Alessia faszinierte das Böse. Sie verschlang Thriller, schaute sich massenhaft Splatter-Movies an und verfolgte jeden Podcast über echte Verbrechen, je blutiger, desto besser. Es gab nichts, bei dem man sich herrlicher gruseln konnte. Das war fast so gut wie Sex.

Die Freundinnen aus ihrer Schulclique hatten sich Universitäten in anderen Städten, einige sogar im Ausland gesucht. Alessia hatte auch darüber nachgedacht. Doch die Alternative war zu verlockend. Ihre Eltern waren seit drei Jahren überwiegend in Amerika. Ihr Vater baute in New York eine Dependance seiner Firma für Sicherheitstechnik auf. Deshalb hatte Alessia die Villa in Düsternbrook für sich allein. Inklusive Schwimmbad, Sauna und Partykeller. Warum sollte sie das gegen eine Wohnung in Berlin oder London tauschen, selbst wenn es eine teure Eigentumswohnung wäre? Von ihren eher mittelmäßigen Englischkenntnissen einmal ganz abgesehen.

Die ersten beiden Studienjahre waren dennoch enttäuschend gewesen. Unter den Kommilitoninnen gab es keine, mit denen sie sich auch nur annähernd so gut verstanden hätte wie mit ihren Schulfreundinnen. Blasse, langweilige junge Frauen, die einen Haufen Probleme mit sich herumschleppten und offenbar darauf hofften, im Studium die Lösung dafür zu finden. Männer waren überhaupt nur drei dabei. Sie himmelten Alessia an, aber keiner spielte in ihrer Liga.

Auch das Studium selbst war nicht das, was sie sich erhofft hatte. Lauter nüchterne Grundlagenseminare, Wahrnehmung und Kognition, Emotion und Motivation, Lernen und Gedächtnis, dazu jede Menge Mathematik und Statistik. Erst wenn man diese Module abgeschlossen hatte, kamen die Themen, derentwegen sich Alessia für das Fach entschieden hatte.

Ihr Berufsziel war völlig klar. Sie wollte Kriminalpsychologin werden. Das hatte sie beschlossen, als sie Robert Forster vor fünf oder sechs Jahren das erste Mal in einem Podcast gehört hatte.

Gab es etwas Spannenderes, als herauszufinden, warum Menschen schreckliche Dinge taten? Und der Polizei dabei zu helfen, solche Personen aus dem Verkehr zu ziehen?

Alessia ging die Treppe vom Parkdeck hinunter und überquerte die Zufahrt zum Parkplatz. Sie betrat das Gebäude durch die Hintertür und nahm den Fahrstuhl in den vierten Stock. Natürlich hätte sie auch laufen können, aber wenn es sich einrichten ließ, vermied sie den Weg durch die Etagen des Forschungsinstituts. Zu oft war ihr dort schon ein Mann begegnet, der sie mit unverhohlener Lüsternheit musterte. So etwas brauchte sie nicht.

Vor dem Schwarzen Brett gegenüber dem Sekretariat blieb sie stehen. Die beiden folgenden Semester erforderten neben den Studienleistungen auch das Ansammeln sogenannter Versuchspersonenstunden. Das bedeutete, dass man sich als Teilnehmer für ein Experiment zur Verfügung stellen musste. Angeblich, um Erfahrung mit wissenschaftlichen Methoden zu sammeln, aber tatsächlich ging es nur darum, dass die höheren Semester genügend Versuchspersonen für die Experimente zusammenbekamen, über die sie ihre Examensarbeiten schrieben.

Alessia studierte die Aushänge. Die Experimente, für die Probanden gesucht wurden, klangen allesamt sterbenslangweilig. Sie würde lieber noch abwarten. Wenn man wollte, durfte man schon im fünften Semester Stunden sammeln, doch wirklich gefordert waren sie erst im sechsten.