Gott ist gratis, aber nicht umsonst - Beno Kehl - E-Book

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Beno Kehl

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Beschreibung

Der Franziskaner Bruder Benno hat drei Gelübde abgelegt - Armut, Gehorsam und Keuschheit. Seither hat sein Leben einen Sinn. Aber er will mehr: denen Hoffnung schenken, die an keine Zukunft mehr glauben.

Packend und hautnah erzählt Benno-Maria Kehl von seinen Erfahrungen und Erlebnissen als Streetworker in der Züricher Drogenszene. Sein Bericht wühlt auf. Präzise und einfühlsam beschreibt er die Schattenseite einer prosperierenden, bürgerlichen Gesellschaft: Drogenszene, Prostitution, organisierte Kriminalität. Doch die Arbeit im sozialen Souterrain ist alles andere als Routine. Die tägliche Konfrontation mit Elend und Verzweiflung wird immer wieder zur Prüfung des eigenen Glaubens.

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
AUF DER SUCHE
1. WIE ALLES BEGANN
Spiritualität und Strenge
Der Weg der »Erdung«
Copyright
VORWORT
Es war eine Überraschung, als ich gefragt wurde, ob ich etwas über meine Erfahrungen mit der Drogenszene schreiben würde. Vieles habe ich darüber bereits im Fernsehen und im Radio erzählt. Aber es ist ja schon eine besondere Ehre, wenn ein Verlag anfragt, ob man etwas schreiben möchte. Und als ich es mir genauer überlegte, sah ich ein solches Projekt als Chance, nicht nur die großen wundersamen und traurigen Geschichten wiederzugeben, sondern auch kleine alltägliche Einblicke in das Leben mit suchtbetroffenen Menschen zu geben. Außerdem ist es eine Möglichkeit, einige von ihnen selbst zu Wort kommen zu lassen, damit sie von ihren Erfahrungen berichten und ihre Suchtund Krisengeschichten verarbeiten können.
Zugleich schreibe ich dieses Buch aus Dankbarkeit gegenüber Gott und den vielen Menschen auf der Gasse, in der Kirche und in der Gesellschaft, denn diese Begegnungen waren entscheidend dafür, dass ich der bin, der ich heute bin. Kaum ein soziales Umfeld lässt den Glauben so reifen und wachsen wie die Menschen auf der Gasse. In der Kirche sind wir oft sehr höflich, so höflich, dass wir Wahrheiten häufig verschweigen, um nicht zu verletzen. Bei Vorträgen bin ich meist der große Referent auf der Kanzel, dem man nur schwer widersprechen kann oder will. Bei den meisten Gottesdiensten sind wir in unseren genau abgesteckten Rollen und auch mit den Brüdern lernt man ein Gleichgewicht von Nähe und Distanz zu finden, sodass man gut in seinem Lebenstrott voranschreiten kann. Ebenso ist es an vielen Arbeitsplätzen und in den Familien. Alles hat seinen Rhythmus, damit man sich im unsicheren Alltag doch relativ sicher bewegen kann. Eines ist gewiss: Wer mit Suchtbetroffenen auf der Gasse zu tun hat, der bekommt einen Spiegel vorgehalten, der das eigene Leben unverblümt zeigt.
Viele dieser Menschen sind an dem Punkt angekommen, an dem sie die höflichen und netten Verhaltensspiele der »normalen« Gesellschaft nicht mehr mitmachen müssen oder können. Natürlich gibt es auch auf der Gasse gewisse »Benimm-Regeln«. Aber viele haben schlichtweg nichts mehr zu verlieren und können so Dinge sagen oder veranstalten, die sonst undenkbar wären. Manchmal scheint es mir, als ob das Leben, ja Gott selber durch solche Menschen zu uns spricht, uns belehrt, korrigiert und weiter in die Wirklichkeit hineindrängt.
Hinter all diesen Geschichten, die ich aus meiner Erinnerung wiedergebe, sehe ich Heilsgeschichte, die Geschichte Gottes mit mir und den Mitarbeitern, mit den Suchtbetroffenen und auch mit der Kirche selbst. Diese Geschichten sind alle in sich abgeschlossen und trotzdem möchte ich den roten Faden der Heilsgeschichte durch alles hindurchleuchten lassen.
Die Zeit mit den Süchtigen ist immer wieder der traurige Marsch vom Berg Tabor hinab in den Alltag, hin zum gemeinsamen letzten Abendmahl, mit dem Kreuz der Sucht und der Konflikte hinauf zum Berg Golgota, wo Tod und Verzweiflung das letzte Wort zu haben scheinen. Aber letztlich leben wir Christen von der Auferstehung her und nur aus dieser Hoffnung heraus können wir immer wieder neu an die Tragik der Menschen mit Suchtgeschichten herangehen. Dabei ist der Pfingstgeist, der Heilige Geist oder eben der Geist des Trostes immer wieder ein wunderbarer Beistand und Paraklet (Anwalt).
Natürlich weiß ich inzwischen, dass wir auch »gut« ohne Gott oder das Göttliche leben können. Er hat diesen Planeten so wunderbar gemacht, dass wir auch ohne ihn leben können. Sei es ohne die personale Beziehung zu diesem Gott, der sich in Jesus in besonderer Weise offenbarte, oder zu diesem Göttlichen, ewig Seienden, dem wir kaum einen Namen geben können. Mir jedenfalls wurde der Glaube an eben diesen Jesus von Nazareth geschenkt und auch wenn ich ohne ihn leben könnte, ich möchte es nicht, da mit ihm die buntesten, schrägsten, spannendsten und auch traurigsten Geschichten in meinem Leben geschrieben wurden.
Bruder Benno-Maria Kehl
AUF DER SUCHE
Eine der besonders schönen und wertvollen Lebensgeschichten führte mich mit Roger Gartenmann zusammen. Ihn habe ich gebeten, etwas für das Buch zu schreiben.
Fälschlicherweise wird das Wort »Sucht« oft nur mit »Suchen« in Verbindung gebracht. Man ist auf der Suche, man vermisst, es wird versucht, es wird probiert. Die Deutung des sehr strapazierten Begriffes »Sucht« ist neudeutsch wohl korrekt, wenn aber Wortstamm und Wortherkunft analysiert werden, entdeckt man, dass der altdeutsche Begriff »Siechtum«, Krankheit, der Ursprung des heutigen Begriffes »Sucht« ist.
Verständnisvolle ereifern sich, dass das »Suchen« in der heutigen Zeit beinahe nicht möglich ist, ohne sich dem Rauschkonsum hinzugeben. Die Wahrheit? Verbietende Instanzen weisen in gleichem Eifer darauf hin, dass »Labilität«, Faulheit und Desinteresse an den wichtigen Dingen die primären Auslöser für den enormen Missbrauch von Rauschmitteln in unseren Breitengraden sind. Die Wahrheit? Kann es sein, dass das Verhältnis zu Drogen und deren Interpretation einem ähnlichen Nichtwissen unterliegt, wie es auch mit der Herkunft des Wortes »Sucht« geschieht?
Als Suchtmittelkonsument empfindet man den Weg vom Suchen bis zum Aufprall auf die Gefängnismauern oder die Gitterstäbe der Akutpsychiatrie oft als einen schnurgeraden und kurzen Weg. Das verlorene Zeitempfinden, das hämmernde 1000-fache Stakkato des sich wiederholenden »Ich brauche wieder etwas« hat bald das anfängliche Suchen in Form von »In sich kehren« - »Großes Denken« - »Sich anderem hingeben« abgelöst. Still hat diese Sucht der Sucht des »Siechtums« Platz gemacht. Die fehlende Einsicht der Suchtmittelkonsumenten, das Treiben der Abhängigkeit, das Hoffen auf das »große nächste Gefühl«, das sehr wohl in den ersten Phasen des Konsums auftaucht, sind denkbar ungünstige Voraussetzungen, um einen Wirklichkeitsbezug von außen her zum Rauschmittelkonsumenten zu vermitteln.
Für die Umwelt (Familie, Partner, Freunde, Behörden, Pflegeinstanzen) ist es nicht nachvollziehbar, dass vielfaches Warnen, Einreden und Verhaften nicht genügend wirksam sind, um den »Siechtum-Süchtigen« von seinem Verlangen abzubringen. Der Weg des Verlorengehens ist aus der Sicht der Umwelt, im Gegensatz zum Süchtigen, gespickt mit vielfach fürchterlichen Ereignissen; der Verursacher jedoch kann diese nicht nachvollziehen, da er ein völlig verschobenes Werteempfinden besitzt.
Wenn ich meinen Freundeskreis betrachte, sehe ich mannigfaltiges Verhalten, das der Sucht nahekommt oder diese bereits beinhaltet - sei es der abendliche Joint oder das wöchentliche Besäufnis in der nahe liegenden Bar. Dies sind eindrückliche und zugleich »laute« Hinweise darauf, dass »Sucht-Suchen« und »Sucht-Siechtum« einen schmalen Grat innerhalb unseres Verständnisses von Gut und Böse und Richtig und Falsch bilden.
Auf der Gasse wird mit »Sucht-Siechtum« Marktwirtschaft in Reinkultur, nämlich ohne Haken und Ösen, betrieben. Einerseits der Konsument, der alles tut und in Kauf nimmt, um das Produkt seiner Begierde zu bekommen, und andererseits der Anbieter, der alles tut, um sein Produkt zu einer maximalen Rentabilität dem Käufer anzubieten.
Traumhafte Margen. Kein Debitorenrisiko - Barzahlung garantiert! Der lästige Werbeetat muss nicht einer unberechenbaren Generalversammlung vorgelegt werden. Die Kundenstruktur ist nachhaltig und erneuert sich mit jeder Generation neu. Ein rechnerisch beinahe unerschöpfliches Kundenpotential. Unzählige Nennungen der Produkte in den Medien. Zahlreiche Berühmtheiten, die für diese Produkte werben in Form von Koks-Heroin-Alkohol-Tabletten-Rund-um-die-Uhr-Berichterstattungen - und das kostenlos.
Ich weiß, natürlich sind es nicht die Medien und auch nicht die Banken, die die Drogengelder verwahren; natürlich sind es nicht die Gemeinden oder die Schulen, die nicht mehr wissen, wie sie die Jugendlichen fördern können; natürlich sind es nicht die Eltern, die keine Zeit mehr für die Kinder haben; natürlich sind es nicht die Politiker, die entsprechende Gesetze erlassen oder es unterlassen, diese einzuführen; natürlich ist es nicht die Polizei, die mit zum Teil fragwürdigen Methoden versucht, Süchtige aus ihrem Einsatzradius zu verdrängen; natürlich ist es nicht die Wirtschaft, die immer mehr fordert; natürlich sind es nicht die zum Teil merkwürdigen Therapieangebote, die exorbitante Geldsummen der Krankenkassen und Gemeinden verschlingen; natürlich sind es nicht die Kirchen, die es nicht mehr schaffen, Jugendlichen das Evangelium nahezubringen.
Wie, niemand ist für den Umstand verantwortlich, dass jemand Rauschmittel konsumiert!? Der Antrieb, Neues und Schönes erleben zu wollen, Unbekanntes zu erforschen, auszuprobieren - wo wäre unsere Zivilisation ohne diese angeborenen Eigenschaften? Diese Eigenschaften führen im positiven Fall zu Entdeckungen und Entwicklungen, die unser Leben bereichern können, im negativen Fall geraten wir dabei unter Umständen in einen Strudel, der tödlich enden kann.
Regulierungen, Gesetze und fehlende Wertemaßstäbe stehen einer konsumwütigen Gesellschaft gegenüber, die sich durch materiellen Besitz auszeichnet. Schneller, größer, mehr - noch mehr - alles! Devisen, die das Menschsein auf ein Minimum reduzieren, da praktisch sämtliche Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, dafür aufgewendet werden müssen, Geld zu verdienen, um uns dann mit dem korrekten Konsumverhalten in der Gesellschaft positionieren zu können.
Gerät ein Jugendlicher aus dieser Konsumgesellschaft in ein Drogenumfeld, kann es geschehen, dass Drogen und Gleichgesinnte ihm auf einmal ein neues, bisher unbekanntes Gefühl vermitteln. Ein Gefühl der Wärme, der Geborgenheit, der Ruhe. So paradox und unverständlich dies für viele auch klingt - es entspricht der Wahrnehmung vieler Süchtiger und schließt meine Erfahrung mit ein.
Bruder Benno hat auf seinem Weg »Sucht-Siechtum« in tausendfacher Art und Weise erlebt. Einerseits erstaunt er mich immer wieder aufs Neue, wie er auf sehr pragmatische Art und Weise seinen süchtigen Mitmenschen begegnet, und andererseits ist es beeindruckend, wie er und sein Team mit den vielen Widrigkeiten mit dieser scheinbar hoffnungslosen Arbeit umgehen. Ich bin aus meiner Erfahrung heraus überzeugt, dass Glaube, Hoffnung, Liebe, Humor und eine Portion Ironie dafür sorgen, den Realitätsbezug im Umgang mit »Siechtum-Süchtigen« nicht zu verlieren. Bruder Benno zeigt, dass auch Schwerstabhängige, unabhängig von Verschulden und Schuld, betreut, versorgt und geliebt werden können.
Roger Gartenmann
1. WIE ALLES BEGANN

Spiritualität und Strenge

Nachdem ich mich entschieden hatte, Franziskaner zu werden, lebte ich die ersten drei Jahre völlig zurückgezogen im Kloster und hatte kaum Kontakt nach außen. Es war eine harte und zugleich schöne Zeit, mir war, als ob ich einen neuen Kontinent bereisen würde. Es war unglaublich, als ich die verschiedenen alten Schätze der Spiritualität, welche in der kirchlichen Tradition und besonders in den Traditionen der alten Orden liegen, zu entdecken begann.
Damals hatte ich die echte Gnade des Gebets: Ich konnte stunden, ja tagelang im Gebet verweilen und war überglücklich, als ich nach dem Noviziat zu Bruder Eugen in die Berge gehen durfte. Er bewohnte eine kleine Einsiedelei bei der Kapelle der Heiligen Maria vom Wiesenberg und war bekannt für seine asketische und eher konservative kirchliche Praxis.
In dieser Zeit konnte mir nichts hart genug sein, denn ich wollte Gott ganz und gar finden und ihm dienen. So gehörten die tägliche Messe, das Fasten, das Rosenkranzgebet, das Stundengebet, die Züchtigung des Leibes und die schlichte Hausarbeit zu meinem Alltag in der Einsiedelei. Als einmal meine Schwester zu Besuch kam und ich sie zur Begrüßung auf die Wangen küsste, verlangte Bruder Eugen, dass ich in Zukunft keiner Frau mehr so nahe kommen dürfte, auch nicht meiner Schwester. Zudem sollte ich alle Frauen siezen und so weiter, denn es sei besser für die Reinheit der Seele.
Es war die echte asketische Schule und ich dachte wirklich, dass ich Gott durch solche Übungen näherkommen kann. In den Büchern von den alten Mystikern las ich, dass es am wichtigsten ist, Dunkelheit und Leiden durchzustehen, und da ich von Natur aus auch eine etwas selbstquälende Seite habe, fielen mir die Übungen nicht einmal so schwer, denn es war wie Leistungssport, der nach großer Anstrengung ein befriedigendes, gutes Gefühl in einem hinterlässt. Viele Menschen, die als Asketen leben oder gelebt haben, sind jedoch stolz geworden und haben sich innerlich über andere erhoben und diejenigen verurteilt, welche nicht die asketischen oder moralischen Höchstleistungen bieten konnten. Immer wieder war es ein Kampf, in der Liebe zu bleiben oder wenigstens die Liebe nicht aus dem Blick zu verlieren, da Asketen meist etwas überhöhte Ideale haben und schnell einmal recht lieblos miteinander umgehen. Ihnen geht es um das »religiöse Leben« und weniger um einen konstruktiven, von Wohlwollen geprägten Umgang mit der konkreten Realität des Alltags.
So hatte ich manchmal Tränen in den Augen, weil ich das Zusammenleben in der Einsiedelei und die Botschaft der Liebe trotz aller Meditation und allen Betens oft nicht zusammenbrachte. In meinem Eifer habe ich viele Menschen, auch nahe Familienangehörige, ziemlich vor den Kopf gestoßen. Zum Beispiel verbot ich meinem Schwager im Namen des rechten Glaubens, die Eucharistie zu empfangen. Wenn man richtig hinschaut, habe ich vielleicht nichts wirklich Falsches gemacht, aber dahinter steckte die harte, lieblose Frömmigkeit, die auch in mir schlummerte und sich immer wieder zeigte. Im Großen und Ganzen jedoch war die zurückgezogene Zeit in der Einsiedelei eine Zeit des Segens und des Glücks. Vieles begann sich in meinem Geist zu weiten und zu vertiefen.
In dieser Zeit wurden mir auch verschiedene Texte in die Hände gelegt, von denen eine tiefe Spiritualität und Frömmigkeit ausging, welche in schlichten Worten die Beziehung und Liebe zu Gott umschrieb. Sie klingen bis heute in mir nach, was ich von der harten Askese nicht gerade behaupten kann, auch wenn es ab und zu guttut, etwas Entsagung zu pflegen. Die Texte waren eine große Inspiration für meinen Weg und ich wollte dies auch anderen weitergeben. So traf ich mich bald alle zwei Wochen mit einigen wenigen frommen Bergbauern, um gemeinsam zu singen, zu beten und miteinander über die Bibel und andere geistliche Texte zu sprechen. Die frommen, aber doch sehr bodenständigen Bergbauern taten mir gut und ihre kernige, ungespielte Frömmigkeit, die gesund in den Alltag eingebettet war, gefiel mir.
Von diesen geistlichen Texten ging für mich damals eine ungeheure Kraft, ja Macht aus. Diese Worte waren ein wichtiger Wegweiser hin zum Geheimnis des lebendigen Gottes. Jetzt, bald zwanzig Jahre später, nachdem ich durch so manche charismatischen, spirituellen und kirchlichen Strömungen gegangen bin, kann ich solche Texte achten, ohne sie überzubewerten.
Inzwischen ist mir sehr wohl bewusst, welche Gefahr manche Texte in sich bergen, da sie fundamentalistischer oder abgehobener Spiritualität Nahrung geben können. Gelingt es nicht, die aufkeimende Spiritualität und Geistigkeit gut zu erden, wird sie kaum fruchtbar und befreiend auf das Leben einwirken. Ich muss eingestehen, dass ich damals eindeutige Tendenzen zu einer religiösen Abhängigkeit oder gar Sucht hatte. Vielleicht war ich sogar ein Jesus-Junkie. Das sind Menschen, die zwar nicht mit Drogen in eine andere Welt flüchten, die aber eine individuelle religiöse Welt »erschaffen« - ein eigenes religiöses Bewusstsein, welches so wenig mit der Realität, die uns im Alltag begegnet, übereinstimmt wie das Bewusstsein eines Drogensüchtigen. Viele Jesus-Junkies sind sehr fromm und verteidigen auf verschiedenste Weise ihre Vorstellungen vom richtigen Glauben.
In mir waren damals noch viele meist unbewusste Ängste, welche mit religiösen Praktiken sozusagen auf Distanz gehalten wurden. Ähnlich wie bei einem Drogensüchtigen, der seine Ängste, seine Selbstzweifel und die Tatsache, dass er nicht mit der Realität fertig wird, mit Drogen auf Distanz zu halten sucht. Ein wahrer Mann Gottes sagte einmal: »Gott umfängt uns in unserer konkreten Wirklichkeit.« Ein Jesus-Junkie flüchtet geradezu aus der konkreten »bösen« Wirklichkeit, meist hinein in eine schwarz-weiße Weltsicht.
Aber es gehörte zu meinem Weg, diese Tendenzen auszuleben, und vielleicht waren solche Texte für mich ähnlich wie für einen Drogenkonsumenten der Stoff, welcher kurzfristig beflügelt. Was davon bis heute blieb, ist das tiefe Vertrauen in den Geist Jesu, der mit jedem Menschen eine Heilsgeschichte schreiben will, auch mit den extrem Veranlagten. Wer sich auf den Weg der Wahrheit und des Lebens macht, kommt nicht darum herum, gewisse Extreme des Lebens zu durchschreiten und sie im Alltag zu läutern. Letztlich bleibt die Liebe und ein Bewusstsein, dass ich im »Großen Ganzen« einen einmaligen Platz ausfüllen darf, dass ich und letztlich jede und jeder Einzelne, der sich auf den lebendigen Gott einlässt, in seiner je eigenen Art am Reich Gottes mitarbeitet.
Einen Abschnitt aus einem solchen, für mich noch immer sehr wertvollen Text, möchte ich hier wiedergeben - und jeder ist frei, ihn zu lesen oder nicht:

So spricht der Herr

Ich bin der Herr, der lebendige, heilige, ewige Gott, der dich mein Volk liebt mit unverbrüchlicher Treue. Ich habe dich heimgesucht; ich gebe dir Zeichen meiner Gegenwart; sei nicht blind, sie zu sehen.
Ich bin der Heilige und Ewige, der die Welt geschaffen hat, der Abraham und Mose geleitet hat, der die Propheten reden ließ, der über diese Erde ging, tiefer litt als alles Leiden der ganzen Menschheit, der alle Menschen freigekauft hat zu Kindschaft und Freude, weil ich die Sünde weggenommen habe, der ich Euch heute so nahe bin, wie nach dem Herausgerissensein aus dem Grab, der ich meinen Geist in Fülle auf meine Gemeinde gegeben habe.
Ich gebe auch heute meinen Geist in der Fülle; nur mein Volk ist (oft) nicht bereit. Sie sind abgeirrt zum Verstand. Ich will ihnen Antwort geben durch mein Wort, aber sie suchen nach dem Menschen, der es aufgeschrieben hat. Ich will reden als der Lebendige, aber sie bleiben am Grabe stehen - und mein Wort wird für sie »Menschenwort«.
So spricht der Herr der Lebendige: »Nimm mein Wort in dein Leben hinein! Lasst mich nicht bei den Altären! Ich will das Wort wie ein Feuer in euch sein lassen, das in euch brennt in der Freude meiner lebendigen Gegenwart. Ich will eure Probleme verbrennen und euch Antwort geben, wenn ihr nach ihr sucht. Ich will, dass ihr in Wogen und Stürmen den Weg wisst, und die Feuerzeichen seht, die ich setze.
Ich will euch selbst zu Feuerzeichen machen, wenn ihr mir nur gehorcht; wenn nur mein Wort für euch ohne Zweifel verbindlich wird.
Ich will, dass ihr mein Wort lernt und es Tag und Nacht in euch lebt und brennt und euch tröstet und euch auf die Knie drängt, dass ihr mich preist.
Ich will euch zu Inseln der Freude machen mitten im Meer der Verzagtheit.
Ich will wohnen im Lobpreis eurer Gebete, eurer Worte und eurer Gedanken.
Ich will, dass ihr euch leiten lasst von mir. Ich will nicht eure langen Diskussionen und Sitzungen, sondern dass ihr mich fragt, damit ich euch antworten kann. Sucht in meinem Wort, lernt es, lebt es aus, dann will ich eurem Herzen Gewissheit geben. Mir ist der Zigarettenrauch eurer langen Sitzungen ein Gräuel und euer Unglaube.
Ich will ein gehorsames Volk haben, das ich segnen kann. Ich der Herr, habe dich lieb, überströmend lieb. Und ich will euch überströmend füllen mit meiner Liebe, mit meiner Gegenwart, mit meiner Freude, wenn ihr mir in meinen Gaben nur gehorsam seid. Jeder Verzicht um meinetwillen wird in euch neu ein Feuer der Freude entzünden.
Bis heute bin ich davon überzeugt, dass der Heilige Geist weht, wo er will, und durch Menschen und solche Texte auch in unsere Zeit des 21. Jahrhunderts hineinsprechen kann. Die heiligen Texte fallen freilich nie direkt vom Himmel, sondern werden immer von Menschen verfasst und in ihrer sozialen und kulturellen Umgebung eingefärbt. So hält die Kirche daran fest, dass die Bibel ganz von Gott inspiriert wurde und zugleich ganz von Menschen in ihrem zeitlichen Kontext geschrieben ist. Unvermischt und zugleich untrennbar hängen solche Sätze ineinander und doch steht das Entscheidende zwischen den Zeilen.

Der Weg der »Erdung«

Wie kam ich von dieser doch sehr verklärten Spiritualität in die Schrecken der Drogenszene?
Bruder Eugen, der Einsiedler, wurde plötzlich schnell gebrechlicher und ich war mit der Pflege des nunmehr achtzigjährigen Mitbruders sehr beschäftigt. Es gab rührende Momente voll von Liebe und ich versprach Bruder Eugen, solange es möglich sei, würde ich ihn pflegen und alles dafür tun, damit er eine gute Zeit in der Einsiedelei haben könnte. So machte ich mit ihm täglich einige Turn- und Yogaübungen und ging in dem kleinen Klostergarten mit ihm spazieren, da er alleine nicht mehr gut gehen konnte. Ich brachte ihm seine Medikamente und betete manchmal Rosenkranz mit ihm, wobei er regelmäßig einschlief. Es gab auch Momente, die nicht so einfach waren, weder für Bruder Eugen, der schwächer und schwächer wurde, noch für mich - mit meinem Temperament.
Eine kleine Geschichte: An einem Donnerstag, dem Fest vom Fronleichnam, wünschte sich Bruder Eugen Kartoffelpüree, Gemüse und ein zartes Stück Fleisch. Als ich die Kartoffeln zubereiten wollte, sah ich, dass sie voller großer kräftiger Keime waren. Na, dachte ich, die pflanze ich jetzt schnell ein, dann wachsen daraus schöne neue Fronleichnamskartoffeln. Singend drückte ich die Kartoffeln in die feuchten Erdhügelchen. Eugen rief mich zu sich und ich unterbrach die Arbeit kurz. Als er meine erdigen Hände sah und erfuhr, dass ich am heiligen Fronleichnamsfest Kartoffeln pflanzte, erlebte ich eine regelrechte Höllenpredigt. Was mir eigentlich einfalle, er hätte den Bauern immer wieder gepredigt, dass sie am Sonntag und an den heiligen Festtagen keine Feldarbeit machen sollen und ich pflanzte Kartoffeln am Fronleichnamsfest, wenn das die Bauern sähen. Ich schaute ihn etwas verdutzt an und sagte, ich würde sofort aufhören. Für mich dachte ich: Was kann der liebe Gott dagegen haben, wenn ich einige Kartoffeln mit Keimen liebevoll in das kleine Gartenbeet drücke?
Am Freitagmorgen pflanzte ich die restlichen Kartoffeln. Bald schon begannen sie zu wachsen und etwa drei Wochen später spazierte Bruder Eugen auf mich gestützt durch den Garten. Er betrachtete die Kartoffeln und begann nochmals mit der Moral, denn für ihn war Glaube und Moral praktisch dasselbe. Ich hatte die Frechheit, zu sagen, dass der liebe Gott das alles vielleicht nicht so eng sehe.
Er schaute mich ernst an, worauf ich mit einem Lächeln sagte: »Schau dir die Kartoffeln an! Das Kraut der Kartoffeln, die ich an Fronleichnam liebevoll gepflanzt habe, ist schon bald fünfzig Zentimeter hoch. Und schau, hier habe ich die restlichen Kartoffeln, die ich am Fronleichnamsfest nicht mehr pflanzen durfte. Ich habe sie nur einen Tag später gepflanzt, aber das Kraut ist erst zehn Zentimeter hoch. Sie sind im Wachstum mehr als zehn Tage zurückgeblieben.« Wortlos gingen wir zurück ins Haus.
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass Gehorsam sehr wichtig ist, denn wenn man nicht gehorchen kann, wenn Menschen etwas von einem verlangen, wie soll man dann gehorchen, wenn Gott etwas von einem wünscht? Für mich aber wurde klar, dass ich - sollte ich einmal in die Position kommen, dass andere mir gehorchen sollten - nach der Motivation der Liebe suchen werde. Denn Gehorsamsübungen, die nicht aus der Liebe kommen, sondern aus einer kühlen Moral, die Angst davor haben, was die anderen denken, dieser Gehorsam ist nicht grundsätzlich falsch, aber er hemmt das Wachstum in uns beträchtlich. Jedenfalls waren mir die Kartoffeln Lehrmeister genug.
So lernte ich Lektion um Lektion über das Leben in der Einsiedelei, sei es durch das Lesen von franziskanischer und biblischer Literatur, sei es durch die Gespräche mit Bruder Eugen oder durch feine Impulse in der Meditation. Besonders gut gefiel es mir, wenn das Leben (Gott) durch die schlichten Alltagssituationen sprach und ich sie wie das Gleichnis der Kartoffeln zu verstehen begann.
Heute finde ich es fast schade, dass ich alle Notizen aus dieser und der folgenden Zeit verbrannt habe. Es ist für mich immer wieder ein Akt franziskanischen Loslassens: Einen Tag nach dem Abschluss des Theologiestudiums verbrannte ich alle Studienmaterialien. Ich tanzte betend um das Feuer und sagte mir, wenn das Wissen in mir nicht Fleisch geworden ist, kann ich es ohnehin nicht wirklich gebrauchen. Manchmal wäre ich froh, ich hätte noch einige Notizen, aber es ist sehr befreiend, nicht ständig die ganze Vergangenheit mit sich herumzutragen.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2008 Diederichs Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte vorbehalten Mit kirchlicher Druckerlaubnis
Redaktion: Dr. Andrea Fausel, Wendlingen
eISBN : 978-3-641-03881-6
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