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1295 n. Chr. kehrte Marco Polo von seiner großen Asienreise zurück nach Venedig. Die Erlebnisse und Wunder seiner Reise ließ er niederschreiben. Wohlwissend, dass ihm niemand glauben würde, verschwieg er den unglaublichsten Teil seiner Reise. Sieben Jahrhunderte später wird aus dem archäologischen Museum in Zadar ein antikes Buch gestohlen - das bisher unbekannte Tagebuch des Marco Polo. Polizist Luka Sefic vermutet den bosnischen Mafiaboss Danko Vladic hinter dem Einbruch. Zusammen mit der wissenschaftlichen Leiterin des Museums und unterstützt von einem britischen Milliardär macht er sich auf die Suche. Doch sie sind nicht die Einzigen. Denn das Tagebuch soll versteckte Hinweise auf den Verbleib von Marco Polos größtem Schatz enthalten: der Göttermaske! Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem die Wahrheit über Marco Polos geheimste Entdeckung ans Licht kommen könnte.
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Seitenzahl: 506
Veröffentlichungsjahr: 2024
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„Ich habe nicht die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe, weil keiner mir geglaubt hätte.“
Marco Polo, Entdecker und Handelsreisender, 1254-1324
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
WISSENSCHAFTLICHE HINTERGRÜNDE
Karakorum / Mongolei, 1274 n. Chr.
Es stank bestialisch! Die Mischung der Gerüche drehte einem förmlich den Magen um. Die Luft wurde von den tausenden atmenden und schwitzenden Menschen verpestet, die sich durch die zu engen Gassen der Stadt schoben. Es gab Händler, die verschiedenste lebende, tote oder verwesende Tiere zum Verkauf feilboten. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte. Die lebenden Tiere – wie auch deren Besitzer – verrichteten ihre Notdurft an Ort und Stelle. Dazu gesellten sich Gerüche der kleinen Garküchen, an denen allerlei Undefinierbares in heißem Yak-Fett zubereitet wurde. Und nicht zuletzt der Gestank, den die Gerber verursachten, die ihre frisch abgezogenen Häute zum Trocknen auf hölzerne Stangen aufgehängt hatten.
Der Edelmann zog ein weißes Seidentuch aus dem Ärmel seines Samtmantels und hielt es vor Mund und Nase. Was für ein fürchterlicher Gestank, dachte er. Der feine Herr schaute sich angewidert um. Er und seine beiden Begleiter wirkten auf dieser Straße völlig fehl am Platz. Sie zogen unweigerlich die Blicke der meist ungewaschenen Leute auf sich.
»Lasst uns schnell weitergehen, bevor es mir die Eingeweide verdreht«, sagte er, ohne das Tuch herunterzunehmen. »Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Gestank noch ertragen kann. Ist es noch weit?« Die Frage richtete sich an den Älteren seiner beiden Begleiter.
»Nicht sehr weit, Herr!«, antwortete Akai. Akai war ein großgewachsener, kräftiger Mann mit orientalischen Gesichtszügen.
»Ich hoffe, du hast recht. Mir ist schon speiübel«, sagte der Edelmann gequält.
Akai vermochte sich ein Schmunzeln nicht zu verkneifen. Im Gegensatz zu seinem Herrn schien ihm der Gestank nichts auszumachen.
Sie marschierten zwischen den Hütten und Pagoden aus Holz und Lehm die Straße entlang. Akai führte die kleine Gruppe an. Sein Herr und der zweite Diener Tulga folgten ihm auf dem Fuße. Nachdem sie mehrere Male abgebogen und einige Gassen hinter sich gelassen hatten, ließ das Getümmel zusehends nach. Der beißende Gestank wurde erträglich, sodass der Edelmann sein Seidentuch einstecken konnte. Die Bebauung wurde weniger und änderte sich. Statt größerer Häuser säumten hier nur einzelne Hütten und Jurten ihren Weg. Der Herr gestand sich ein, dass er sich ohne seine Begleiter unweigerlich verlaufen hätte.
»Wir sind da«, verkündete Akai, während sie um eines der letzten Gebäude bogen. Sie waren am Stadtrand von Karakorum angekommen und es eröffnete sich der Blick auf die weite Steppe. Eine schier endlos erscheinende Fläche aus Gras erstreckte sich vor ihnen. Wie die Wellen eines grünlich schimmernden Ozeans wurden die kurzen Halme sanft vom Wind hin und her gewogen. Ließ man den Blick schweifen, wurde aus der flachen Steppe Hügelland, das bis zum Horizont zu den majestätischen weißen Giganten des Himalayas heranwuchs.
Der Herr hielt einen Augenblick inne. Nach all den Jahren, die er in diesem Land verbracht hatte, überwältigte ihn die Natur immer wieder aufs Neue.
Akai steuerte unterdessen zielstrebig auf eine einzelne Hütte zu. Es war das letzte Gebäude vor der Steppenlandschaft. Neben der Unterkunft war eine weitläufige Koppel angelegt, auf der etwa ein Dutzend mongolischer Pferde graste. Die stämmigen Tiere mit den kurzen Beinen bewegten sich ruhig und gemächlich. Nur ab und zu schnappten sie nacheinander, wenn sie sich beim Fressen in die Quere kamen.
»Warte hier mit dem Herrn. Ich melde uns an«, wies Akai den Jüngeren an.
Tulga nickte.
Akai klopfte an die hölzerne Tür und trat ein.
Der Herr und Tulga standen schweigend nebeneinander vor der Hütte. Aus der Stadt drang kein Lärm zu ihnen. Lediglich der Wind, der sanft durch das Steppengras wehte, verursachte ein leises und gleichmäßiges Rauschen.
Der Herr ließ seinen Blick über die endlose Weite schweifen. Er genoss den Anblick und die Ruhe, die er auf ihn ausstrahlte. Einzelne Wolken warfen Schatten auf das Gras, die wie dunkle Flecken über das Land wanderten. Er atmete tief ein und saugte genüsslich die frische, klare Luft des Hochlandes ein.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und Akai trat heraus. Er war in Begleitung eines zweiten Mannes. Der Mann ging gebeugt und trug die typische Kleidung der Landbevölkerung: Hose und Hemd aus graubraunem Stoff, der vermutlich einst um einiges heller gewesen war. Über das Hemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte, hatte er eine Weste aus braunem Pferdefell geworfen. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, die aus dem gleichen Fell gefertigt war. Das Alter des Mannes war unmöglich zu schätzen. Seine Haut war braun gebrannt und faltig, was bei einem Leben am Rande der Wildnis nichts Ungewöhnliches war. Der ständige Kampf um die eigene Existenz zerrte an einem Körper und ließ ihn schneller altern.
Der Mann nahm höflich seine Mütze ab und kam lächelnd auf den Herrn zu. Das Lächeln brachte eine Reihe gelber Zähne zum Vorschein, von denen einige fehlten.
Akai trat neben den Mann. »Mein Herr, darf ich Euch Atilla vorstellen? Er ist der beste und zuverlässigste Führer, den man in der Mongolei finden kann. Seine Pferde gelten als besonders ausdauernd und sind weithin bekannt.«
Atilla hob seine rechte Hand vor die Brust und verbeugte sich tief. »Seid gegrüßt, mein Herr! Es ist mir eine Ehre, Euch zu Diensten sein zu dürfen.«
»Jaja«, winkte der Edelmann gelangweilt ab. Derlei Floskeln waren ihm schon immer zuwider. Er blickte den Alten einige Sekunden prüfend an, bevor er fragte: »Kannst du uns zum Tempel von Chjatruun führen?«
Atilla erstarrte und sein Lächeln wich einem erschrockenen Ausdruck. Er sah fragend zu Akai. Nachdem der keinerlei Regung zeigte, wandte sich Atilla wieder an den Edelmann.
»Mein Herr, was wollt Ihr in dem Tempel, wenn ich fragen darf?«. Seine Stimme klang besorgt.
»Geschäfte. Mehr hat dich nicht zu interessieren«, entgegnete der Herr.
Die Antwort schien Atilla in keiner Weise zu beruhigen. Nervös knetete er seine Fellmütze zwischen den Händen.
»Mein Herr, verzeiht! Der Tempel ist kein sicherer Ort. Er wird von der Bruderschaft der Khangai-Mönche bewohnt. Das sind gefährliche Männer. Niemand geht freiwillig zu den Mönchen. Sie mögen es nicht, wenn man sie in ihrer Ruhe stört. Nein, das mögen sie nicht.« Atilla schüttelte energisch den Kopf.
Der Herr atmete genervt aus, verdrehte die Augen und gab dann Akai ein Zeichen. Der griff ruckartig an seinen Gürtel, dass Atilla erschrocken zusammenzuckte. Aber Akai zog keine Waffe, sondern einen braunen Lederbeutel hervor. Er holte eine Silbermünze heraus, die er dem Fremdenführer in die Hand drückte.
Atilla sah auf die Münze in seiner geöffneten Hand und schluckte. Sie war sicher gut das Zehnfache wert als das, was er sonst für seine Dienste verlangte.
»Mein Herr …«, begann er zögerlich.
Der unterbrach ihn mit einem weiteren Zeichen an seinen Diener. Akai zog daraufhin eine zweite Silbermünze aus dem Beutel und reichte sie Atilla.
Der sah einige Male ungläubig zwischen den Münzen und dem Edelmann hin und her. Dann schloss er die Hand und sagte ergeben: »Im Morgengrauen können wir losreiten. Ich bereite die Pferde vor. Am späten Nachmittag des Tages werden wir den Tempel erreicht haben. Nehmt warme Kleidung mit – der Tempel liegt auf einem Hochplateau.«
Das Gesicht des Herrn erhellte sich zufrieden. »Sehr schön! Wir werden die Nacht in der Stadt verbringen. Bei Sonnenaufgang sind wir zurück.« Mit diesen Worten wandte sich der Herr ab und marschierte neben Tulga zurück Richtung Stadt.
Akai verabschiedete sich von Atilla und folgte eilig den beiden.
Kaum waren sie einige Schritte gegangen, rief Atilla ihnen nach: »So sagt mir doch wenigstens Euren Namen!«
Ohne sich umzudrehen oder anzuhalten, rief der Herr zurück: »Polo. Mein Name ist Marco Polo.«
Wie sie es mit ihrem Führer Atilla vereinbart hatten, waren sie bei Tagesanbruch gestartet. Am Tag zuvor hatte Marco Polo für sich und seine Diener noch eiligst Mäntel und Mützen aus Fell in einem Laden in der Stadt gekauft. Er hatte entschieden, Atillas Empfehlung zu warmer Kleidung nicht gänzlich zu ignorieren. Danach hatte er die Gruppe in einem heruntergekommenen Gasthaus eingemietet, wo sie sich nach einer Schale Eintopf und vielen Becher Kumys ein paar Stunden schlafen legten. Niemand hatte sich um sie geschert und so konnten sie ohne großes Aufsehen ihre Reise antreten. Polo war das mehr als recht.
Kaum hatten sie das schützende Tal verlassen, wurde das Wetter unangenehm. Der Wind blies ihnen eiskalt entgegen und ließ Marco Polo die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen. Wie frostige Klingen aus Eis schmerzte die Luft auf seinem Gesicht. Trotz der dicken Kleidung hatte er das Gefühl, dass ihm Stück für Stück jegliche Wärme aus dem Körper wich.
Atilla führte die Gruppe mit seiner braunen Stute an. Gemächlich ritt er einen schmalen Pfad in Richtung des Hochplateaus entlang. Nach ihm folgte Akai und dahinter Polo. Tulga bildete den Schluss der kleinen Gruppe.
Ihr Weg hatte sie zunächst durch die schier endlosen Wiesen und Steppen des nördlichen Karakorum geführt. Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen und schließlich aus den Augen verloren hatten, wurde Polo wieder die unfassbare Weite dieses Landes bewusst. Auch nach all den Jahren fühlte er sich hier als einzelner Mensch winzig und verloren.
Am späten Mittag kamen sie am angekündigten Hochplateau an und begannen sofort mit ihrem Aufstieg. Der Weg schlängelte sich am Hang entlang sanft hinauf, wodurch sie zunächst schnell vorankamen. Der obere Teil wurde merklich steiler und die Pferde mühten sich zusehends ab.
»Wir sind bald auf dem Plateau. Dort sollten wir eine kurze Pause machen. Die Pferde sind erschöpft«, schlug Atilla vor.
»Ich möchte so schnell wie möglich zum Kloster«, entgegnete Polo.
»Das verstehe ich, mein Herr«, gab Atilla zurück. »Wenn wir aber keine Pause machen und die Pferde zusammenbrechen, müssen wir den Rest des Weges zu Fuß gehen. Dann wären wir noch später am Kloster.«
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte Polo. Er fühlte Ärger und Ungeduld in sich aufsteigen.
»Noch etwas mehr als zwei Stunden, bis wir das Kloster sehen können«, antwortete Atilla.
Marco Polo verdrehte genervt die Augen. »Na gut, einverstanden! Machen wir eine kurze Rast. Aber sobald die Pferde wieder bei Kräften sind, reiten wir weiter.«
Atilla nickte.
Im Windschatten einiger Sträucher und kleiner Bäume stiegen die Reiter ab. Atilla band die Pferde an einen der Baumstämme. Er kippte Wasser aus seinem Trinkbeutel in ein Säckchen aus Ziegenleder und hielt es den Tieren vor die Mäuler. Tulga sammelte ein paar ausgetrocknete Äste und Zweige zusammen, mit denen er ein Feuer entfachte. Nachdem die Pferde versorgt waren, setzten sich die Männer um die Feuerstelle. Polo spürte, wie die Flammen seine kalten Hände und das Gesicht wärmten. Akai holte ein Leinentuch aus seiner Satteltasche, in das er ein paar gebackene Teigfladen eingewickelt hatte. Er reichte jedem der Männer einen der Fladen, die sie still verspeisten.
»Du redest nicht viel«, meinte Atilla unvermittelt zu Tulga und brach damit das Schweigen.
»Er ist stumm, schon seit seiner Geburt«, erklärte Akai anstelle von Tulga.
»Kennt ihr euch schon lange?«
»Sein ganzes Leben – wir sind Brüder«, sagte Akai lächelnd. Auch Tulga lächelte.
»Was ist mit Euch, mein Herr?«
Polo schaute auf. »Was meinst du?«, fragte er überrascht.
»Was treibt Euch in diese Gegend?«
»Wie ich schon sagte, Geschäfte.« Polos Tonfall ließ erkennen, dass er mit dieser Antwort das Thema abschließen wollte.
»Hm ...«, gab Atilla davon unbeeindruckt zurück. »Mich würde interessieren, welche Art von Geschäften man mit den Mönchen machen kann.«
»Du bist zu neugierig. Du sollst uns nur zum Kloster bringen. Mehr nicht!« Polos Stimme wurde hörbar gereizter.
Atilla ließ es dabei nicht bewenden. »Wisst Ihr, ich habe nachgedacht. Wie ich Euch bereits erklärte, sind die Mönche gefährlich. Und wenn man sich in Gefahr begibt, dann sollte man das entsprechend belohnt bekommen. Daher … ist mein Preis gestiegen.«
Polo sah zu Akai, der ebenso überrascht schien wie er. Danach wandte er sich wieder zu Atilla. »Wie viel?«, presste er hervor.
»Das Doppelte!«, meinte der Mongole, wirkte nun aber sichtlich eingeschüchtert vom harschen Tonfall seines Auftraggebers.
Polo starrte Atilla einige Sekunden eindringlich an, bis dieser dem Blick nicht mehr standhielt und den Kopf senkte. »Akai«, sagte er schließlich, »würdest du Atilla die gewünschte Summe auszahlen und ihn außerdem darum ersuchen, von weiteren Nachforderungen abzusehen?«
Akai nickte stumm. Der Hüne erhob sich und griff zu seinem Lederbeutel am Gürtel. Er nahm eine Handvoll Silbermünzen heraus, zählte zwei ab und steckte die Restlichen wieder ein. Dann schritt er langsam auf Atilla zu.
Dessen Augen wurden immer größer, je näher der breitschultrige Mongole kam. Ängstlich schaute er abwechselnd auf den Boden und auf zu Akai.
Akai streckte ruckartig die Hand mit den Münzen aus und reichte sie Atilla. Dieser erschrak dermaßen, dass er zusammenzuckte. Dann stand er auf, um die Münzen zu empfangen.
In dem Moment packte Akais Pranke zu. Atilla schrie auf vor Schmerz, während Akai ihm seine Hand mit den Münzen darin zerquetschte. Der riesige Mongole hatte einen Griff fest wie Stahl und man hörte Atillas Finger knacken. Tränen schossen ihm in die Augen und er sank auf die Knie. Akai aber ließ nicht los.
Polo erhob sich und trat um das Lagerfeuer zu den beiden. Er setzte sich in die Hocke und sah Atilla direkt ins Gesicht. Der jammerte und weinte vor Schmerz. Polo legte eine Hand auf die geballte Faust seines Dieners, mit der Akai die Hand Atillas quetschte.
»Keine Nachforderungen mehr«, forderte Polo mit kalter Stimme.
»Ich schwöre!«, presste Atilla heraus.
Polo nickte zufrieden, nahm seine Hand herunter und stand auf. Gleichzeitig löste Akai den Griff.
Atilla zog sofort wimmernd seine Hand zurück und untersuchte sie. Dabei fielen ihm die beiden Silbermünzen auf den Boden. Er beachtete sie in diesem Moment nicht weiter, sondern starrte nur seine Hand an. Sie war rot und geschwollen, den kleinen Finger konnte er nicht mehr bewegen. Er musste höllische Schmerzen haben.
»Mein Finger ist gebrochen!«, stellte er schluchzend fest.
»Brauchst du deinen Finger zum Reiten?«, fragte Polo teilnahmslos.
Atilla schüttelte den Kopf.
»Dann los!«, befahl Polo und schwang sich auf sein Pferd.
Am Nachmittag kam das Kloster in Sicht, genau wie Atilla es angekündigt hatte. Die Anlage schien nicht sehr groß zu sein. Polo erkannte aus der Entfernung zwei Gebäude, die auf einer Anhöhe des Plateaus standen und von einer etwa mannshohen Mauer umgeben wurden.
Atilla stoppte seine Stute. Seinen Finger hatte er notdürftig mit einem Zweig geschient und mit einem Stoffstreifen, den er von seinem Hemdensaum abgerissen hatte, umwickelt.
»Verzeiht Herr«, sagte er kleinlaut. »Ich möchte Euch nicht weiter begleiten.«
Polo sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Wut an. Er erwartete erneute Forderungen von ihrem mongolischen Führer. »Was willst du nun schon wieder? Hast du nicht schon genug kassiert?«, fragte er.
»Das ist es nicht, Herr!«, beeilte sich Atilla, ihn zu beschwichtigen. »Aber die Mönche ... sie machen mir Angst. Ich habe mein Wort gehalten und Euch zum Kloster gebracht. Mein Herr, bitte lasst mich zurückreiten.«
Polo atmete genervt aus und schaute zu Akai, der nur mit den Schultern zuckte.
»Na gut«, sagte Polo. »Du kannst nach Hause reiten. Aber die Pferde behalten wir, bis wir zurück in der Stadt sind.«
Atilla nickte zustimmend. »Danke, Herr! Vielen Dank!«, sagte er erleichtert. Er schnalzte mit der Zunge und wendete seine Stute. Kaum hatte er Polo und dessen Dienern den Rücken gekehrt, galoppierte er los.
Feigling, dachte Polo angewidert, während er dem Mongolen nachblickte.
Die Sonne stand nahe über dem Horizont, als sie die Mauern des Klosters erreichten. Der beißende Wind hatte nachgelassen, trotzdem war es kühler geworden und der Nachtfrost kündigte sich an.
Polo ritt voraus, Akai und Tulga folgten nebeneinander. Am Tor stiegen sie ab und nahmen die Pferde an den Zügeln.
Die Mauer aus Stein und Lehm, die das Kloster umgab, war etwa eine Armlänge höher als ein Mann, weshalb sie in das Innere der Anlage nicht einsehen konnten. Außer dem stetig wehenden Wind war nichts zu hören.
Polo trat vor und hämmerte mit der Faust an das hölzerne Tor. Nichts passierte. Er hämmerte noch einmal – diesmal fester. Wieder geschah nichts. Er sah Akai ratlos an. Dieser zuckte abermals nur mit den Schultern.
Plötzlich hörte Polo, wie im Innern des Klosters an dem Tor hantiert wurde. Ein Riegel wurde zur Seite geschoben und ein Flügel einen Spalt breit geöffnet. Zum Vorschein kam das Gesicht eines dünnen, alten Mannes. Sein Kopf war kahl geschoren. Er trug ein schlichtes, sandfarbenes Hemd und hatte sich einen roten Umhang über die Schulter geworfen. Sein hageres Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, aber seine Augen wirkten jung und hellwach. Misstrauisch beäugte er die Neuankömmlinge.
»Was wollt ihr?«, fragte er in harschem Ton.
Die Männer sahen einander an und nach einem kurzen Räuspern antwortete Polo: »Werter Freund, wir möchten gerne den Abt sprechen.«
»Warum?« Der Mann zog die buschigen Augenbrauen zusammen.
»Ich möchte ein Geschäft mit ihm machen«, antwortete Polo mit freundlicher Stimme.
»Was für ein Geschäft?«
Polo zögerte kurz. »Das möchte ich gerne mit dem Abt persönlich besprechen.«
Der Alte schien zu überlegen, bevor er antwortete. »Der Abt ist an keinen Geschäften interessiert.«
»Das würde ich lieber aus seinem Mund hören. Ich bin mir sicher, es wird nicht Euer Nachteil sein, wenn Ihr uns zu ihm bringt, werter Freund.« Polo lächelte und seine Stimme klang verheißungsvoll.
Der Mönch musterte Polo einige Sekunden eindringlich. Schließlich zog er den Kopf zurück und schloss das Tor. Polo und Akai schauten sich ratlos an. Doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, wurde wieder an dem Tor hantiert. Diesmal wurden beide Flügel geöffnet. Der Mönch mühte sich sichtlich ab, die einzelnen Torhälften aufzuschieben. Er musste sich mit den ausgestreckten Armen dagegen stemmen. Sobald er es geschafft hatte, winkte er Polo und dessen Begleiter herein. Mit den Pferden an den Zügeln betraten sie den Innenhof.
Das Kloster bestand aus zwei hölzernen Pagoden. Eine davon war prachtvoll verziert und etwas größer. Polo kannte solche Gebäude von seinen Reisen. Er vermutete, dass es sich um einen Tempelbau handelte, der dem Gebet diente. Die imposante Eingangstür war grün und mit goldgelben Schriftzeichen verziert. Das kleinere Gebäude schien die Unterkunft der Mönche zu sein. Der Größe nach zu urteilen, leben hier höchstens zehn Mönche, dachte Polo, während er sich umschaute. In der Mitte des Hofes ragte ein gemauerter Brunnen aus dem Boden. Ein zweiter Mönch war gerade dabei, einen Eimer an einem Seil aus dem Brunnen zu ziehen. Er hielt kurz inne, um die Fremden zu mustern, bevor er sich wieder seiner Tätigkeit widmete.
»Ihr könnt die Pferde dort anbinden«, meinte der alte Mönch und deutete Richtung Mauer. »Dort bei der Pferdetränke.«
Polo sah, dass an der Tränke fünf Metallringe angebracht waren. Seltsam, dachte er. Sonst sind keine Pferde zu sehen.
Sie banden die Tiere an, bevor der Mönch sie aufforderte, ihm zu folgen. Er führte sie über den Hof zu dem größeren Gebäude. Der Eingang wurde an den Seiten von dicken Säulen eingerahmt, die in kräftigem Rot gestrichen waren. Auf den Säulen ruhte ein Vordach, das fließend in das Hauptdach der Pagode überging.
Der alte Mönch schritt voran und hielt erst vor der hölzernen Eingangstür. »Ich werde den Abt fragen, ob er Euch empfangen möchte. Wartet hier!« Er verbeugte sich kurz und verschwand dann im Tempel.
Polo sah sich um. Er atmete tief ein. Die frühe Abendluft roch frisch und klar. Die Sonne war fast untergegangen. Außer dem Mönch am Brunnen waren keine weiteren Menschen auf dem Hof zu sehen. Im Wohngebäude konnte Polo den gelblichen Lichtschein von Kerzen oder einer Feuerstelle ausmachen. Vermutlich sitzen die Mönche beim Abendmahl, mutmaßte er. Vielleicht wäre es besser gewesen, erst am nächsten Morgen im Kloster vorzusprechen. Der Hauch eines Zweifels kam über ihn, wurde aber von der sich öffnenden Tempeltür weggefegt.
Der alte Mönch trat heraus. »Der Abt ist einverstanden, Euch zu empfangen.«
Das Gebäude bestand im Innern aus einem einzigen Raum, der größer war, als es von außen den Anschein hatte. Polo schaute sich um. An den Wänden waren in regelmäßigen Abständen Fackeln angebracht. Zwischen den Fackeln hingen aufwendig verzierte Teppiche. In der Mitte des Raumes sah er zwei Feuerkörbe, in denen Holzscheite brannten. Die Körbe waren größer als ein Mann, etwa so breit wie ein Weinfass, und zusammen mit den Fackeln färbten sie den Raum in ein orangenes Licht und wärmten ihn angenehm auf. Polo und seine Männer genossen die wohlige Wärme, als wären sie Tage unterwegs gewesen. Dabei wusste Polo, dass es erst ein paar Stunden waren, seit sie Karakorum verlassen hatten.
An der rückseitigen Wand des Raumes, einige Schritte hinter den Feuerkörben, war ein großer Stuhl aufgebaut, der dick mit Fellen belegt war. Auf dem Stuhl, der fast schon einem Thron glich, saß ein Mann.
Das muss der Abt sein, mutmaßte Polo. Er trug ähnliche Kleidung wie der alte Mönch, soweit Polo das erkennen konnte. Das Gesicht des Abtes lag im Schatten. Nur seine weißen Augen hoben sich von der Dunkelheit ab. Er war von rundlicher Statur, was vermutlich daran lag, dass er sich nicht an den Arbeiten im Kloster beteiligte. Zu seinen Seiten standen zwei weitere Mönche. Auch sie trugen einen roten Umhang. Jedoch fehlten ihnen die Hemden und sie hatten die Umhänge über ihre nackten muskulösen Oberkörper geworfen. Beide Mönche hielten hölzerne Speere, die sie auf dem Boden abgestellt hatten.
Wachen in einem Kloster? Ein Abt, der auf einer Art Thron sitzt? Polo irritierte die Situation. Er beschloss, sie hinzunehmen und sich auf sein Vorhaben zu konzentrieren.
Der Mönch, der sie eingelassen hatte, deutete ihnen, ein paar Schritte vorzutreten. Nachdem sie seiner Aufforderung nachgekommen waren, entfernte er sich mit einer Verbeugung zu seinem Abt und verließ den Raum. Polo hörte, wie die schwere Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und verriegelt wurde.
Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Nur das Knistern des Feuerholzes in den eisernen Körben war zu hören. Der Abt musterte Polo und dessen Begleiter ohne Regung.
Die Ankömmlinge waren verunsichert und warteten stumm auf eine Reaktion des Abtes, welcher wie versteinert erschien. Tulga wurde zusehends nervöser und schaute hektisch zwischen den Wachen und seinen Begleitern hin und her. Akai gab ihm ein Zeichen, dass er ruhig bleiben solle.
Polo bemerkte ebenfalls, wie seine Anspannung wuchs. Er entschied, das Schweigen zu brechen. »Edler Abt«, begann er. »Mein Name ist Marco Polo und das sind meine Begleiter Akai und Tulga. Wir sind von weit her gereist, um Euch und Eurem Kloster die Aufwartung zu machen und ein Angebot zu unterbreiten.«
Der Abt, dessen Gesicht weiterhin im Schatten lag, wirkte wie eine leblose Statue, was Polo noch mehr verunsicherte.
»Nun ...«, fuhr er fort. »Auf meinen Reisen hörte ich Geschichten über diesen Ort, die mein Interesse weckten. Man erzählte mir ...«
»Seid still!«, unterbrach ihn der Abt forsch. »Ich weiß sehr genau, warum du und deine Diener hier seid.«
Polo fuhr erschrocken zusammen. Akai und Tulga reagierten vom Aufbrausen des Abtes ebenfalls überrascht. Tulga griff reflexartig zu dem Schwert, das er an seinem Gürtel trug. Akai gebot ihm aber rechtzeitig mit einer Handgeste und einem Kopfschütteln, die Waffe stecken zu lassen.
»Ehrwürdiger Abt ...«, wollte Polo erneut ansetzen, wurde jedoch mit einer gebieterischen Handbewegung des Abtes zum Schweigen gebracht. Polo war sofort still. Er versuchte, das Gesicht des Abtes besser zu sehen, aber so sehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte nichts erkennen. Der Abt saß im Schatten der Feuerkörbe. Das Licht der Flammen hinderte Polo daran, mehr als nur die Kleidung und Umrisse auszumachen.
Nach unendlich erscheinenden Sekunden des Schweigens, die Polo wie Minuten vorkamen, erhob sich der Abt. Langsam und stolz wie ein Würdenträger drückte er sich an den Armlehnen aus dem Stuhl. Er wartete einen Augenblick, bevor er auf die drei Männer zuschritt. Die Wachen taten es ihm gleich und bewegten sich neben ihm her. Der Abt trat zwischen den lodernden Feuerkörben hindurch, während die Wachen an den Außenseiten vorbeigingen.
Polo musste schlucken und doch fühlte sich sein Rachen trocken an. Hatte Atilla am Ende mit seiner Warnung recht? Hätten sie das Kloster besser nicht aufgesucht?
Nachdem der Abt durch die Feuerkörbe getreten war, konnte Polo ihn endlich in Gänze erkennen. Er war etwa so groß wie Polo selbst. Durch seine Körperfülle wirkte der Abt aber deutlich imposanter. Polo spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, während der Abt völlig aus dem Halbschatten trat und sich vor ihm aufbaute. Anstelle eines Gesichts sah er das, wofür er die beschwerliche Reise auf sich genommen hatte: die Göttermaske.
Sie bedeckte das gesamte Gesicht des Abtes. Das Licht der Fackeln und der Feuerkörbe glänzte in warmen Tönen auf ihrer goldenen Oberfläche. Auf der Stirn war ein riesiger roter Rubin eingearbeitet. Polo war seit Jahren Kaufmann und ein Meister im Edelsteinhandel – einen Stein dieser Größe hatte er aber nie zuvor gesehen. Er hat gut und gerne die Maße einer Dattel, stellte Polo begeistert fest, der fast alles um sich herum vergaß. Es fiel ihm schwer, den Blick von der Maske abzuwenden, während der Abt den letzten Schritt vor ihn trat und durch die Sehschlitze ihm ins Gesicht schaute.
»Ja …«, stellte der Abt fest. Er sprach leise, fast flüsternd. »Das ist es, was du begehrst.«
»Ich hörte viele Geschichten über die Göttermaske ... aber keine wurde ihrer Pracht gerecht.« Polo schluckte. »Sie ist wunderbar!«
Der Abt zeigte keinerlei Regung, sondern schaute Polo nach wie vor direkt in die Augen. Der konnte dem Blick nicht lange standhalten und starrte eilig zu Boden, nur um kurz darauf wieder vorsichtig zur Maske aufzusehen.
Akai und Tulga, die jeweils einer der Wachen gegenüberstanden, waren sichtlich nervös. Besonders Tulga zappelte aufgeregt und sein Blick huschte wild in der Szenerie hin und her. Akai versuchte Ruhe zu bewahren, obwohl auch ihn die Situation zu verunsichern schien.
»Es ist nicht allein Schönheit und Pracht, was die Maske so einzigartig macht.« Der unvermittelte Satz des Abtes zog die Aufmerksamkeit der drei Männer auf sich.
»Verkauft sie mir«, bat Polo leise, aber mit einem Hauch von Besessenheit in der Stimme, der Akai erschrocken aufhorchen ließ. »Ich zahle jeden Preis.«
Der Abt legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Verunsichert von der Situation, stimmte Polo nach einigen Augenblicken in das Lachen mit ein. Er vermutete, den Abt amüsiert zu haben.
Akai, Tulga und die beiden Wachen lachten nicht. Die Brüder schienen zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Tulgas Hand wanderte erneut zum Griff seines Schwertes und nur Akais gebietender Blick hielt ihn davon ab, seine Waffe auf der Stelle zu ziehen. Dennoch ließ er die Hand auf dem Griff liegen.
Nachdem das Lachen des Abtes nachließ und er seinen Blick wieder auf ihn richtete, meinte Polo einen günstigen Moment erkannt zu haben. Er löste eilig seinen ledernen Münzbeutel vom Gürtel. Er wog ihn kurz in der Hand und streckte dann den Beutel dem Abt entgegen. Das restliche Lachen des Abtes erstarb auf der Stelle.
»Hier drin, erlauchter Abt, befinden sich 30 Goldmünzen. Sie sollen Euch gehören, im Tausch gegen die Maske.«
Der Abt zeigte keine Reaktion, was Polo verunsicherte. Langsam zog er die Hand mit dem Beutel zurück. »Ist das nicht genug?«, fragte er und fügte mit einem angespannten Lächeln hinzu: »Einverstanden! Akai, gib mir deinen Münzbeutel.«
Akai zögerte, aber der Blick seines Herrn ließ keine Widerworte zu. Er löste den Beutel vom Gürtel und reichte ihn Polo, ohne dabei die Wachen aus den Augen zu lassen.
Polo sah kurz in Akais Beutel, bevor er sich wieder an den Abt wandte, der noch immer wie versteinert vor ihm stand. »Nochmals 15 Silbermünzen für Euch, ehrwürdiger Abt.« Er legte einen feierlichen Ton in seine Stimme. »Genug, damit Ihr und Eure Brüder nie mehr Hunger leiden müsst.«
Auch dieses Mal zeigte der Abt keine Regung. Nur das Flackern der Fackeln auf seinem Körper ließ den Anschein einer Bewegung entstehen.
Polo räusperte sich und trat einen Schritt zurück. Er verstand, dass etwas nicht in Ordnung war. Eine angespannte Stille folgte. Polo und seine Begleiter schauten sich vorsichtig und besorgt um. Keiner der Männer wagte es, einen Ton zu sprechen. Polo spürte die Angst, die in ihm aufstieg und den Schweiß, der seinen Rücken hinablief.
»Die Göttermaske befindet sich schon seit über 3000 Jahren im Tempel von Chjatruun«, unterbrach die tiefe grollende Stimme des Abts die Stille, »und genauso lange wird sie durch uns, die Khangais, bewacht. Seit jeher weckt die Maske Begehrlichkeiten bei den Menschen. Es kamen unzählige Männer wie Ihr hierher und versuchten, an die Maske zu gelangen. Sie suchten nach Reichtum und Macht, nach Ruhm und Ehre. Reiche Händler, die noch reicher werden wollten, verschlagene Silberzungen und mutige Krieger. Keiner hatte Erfolg. So war es immer und so wird es immer sein.«
Nach seinem letzten Satz hob der Abt langsam beide Arme in die Höhe. Er riss die Augen weit auf, dass Polo glaubte, das Weiß hinter der Maske zu erkennen. Der Abt ging dabei einen Schritt zurück. Dann ließ er abrupt die Arme fallen.
Es passierte alles unglaublich schnell: Die beiden Wachen sprangen nach vorne und stießen einen Kampfschrei aus. Dabei richteten sie ihre Speere auf Akai und Tulga. Die reagierten sofort und zogen ihre Schwerter.
Der Wächter, der Akai gegenüberstand, griff als Erster an. Er stieß seinen Speer nach vorne und versuchte, Akai zu durchbohren. Doch Akai drehte sich zur Seite und lenkte die Waffe mit seinem Schwert ab.
Fast zeitgleich griff der zweite Wächter Tulga an. Der parierte den Angriff mit einem Schwerthieb gegen den Speer und einem Sprung zur Seite. Bevor der Wächter seine Waffe herumreißen konnte, versetzte Tulga ihm einen Tritt in die Rippen. Der Mönch krümmte sich vor Schmerz und verlor das Gleichgewicht. Er fing sich aber schnell und richtete sich taumelnd wieder auf, um Tulga erneut anzugreifen.
Akai wehrte einen weiteren Speerstoß seines Angreifers ab. Er hieb mit dem Schwert so hart auf die Waffe des Wächters, dass die Spitze des Speers auf den Boden aufschlug. Er setzte nach und schlug der Wache mit der Faust ins Gesicht. Der Mönch taumelte benommen zurück, hatte aber noch immer den Speer in der Hand.
Tulga bedrängte sein Gegenüber mit einer Serie von Schwerthieben. Wie ein Berserker schlug, hieb und stieß er nach dem Mönch. Der wehrte zwar alle Schläge mit dem Speer ab, wurde aber Meter für Meter zurückgedrängt, bis er die Wand des Raumes erreichte.
Polo hatte sich hinter einen der Feuerkörbe in Sicherheit gebracht. Von dort beobachtete er kauernd den Kampf seiner Diener auf Leben und Tod. Er selbst war kein Kämpfer und es gewohnt, die Probleme mit Geld zu lösen. Ihm war es lieber, wenn gegen Bezahlung andere für ihn kämpften.
Kaltes Metall drückte plötzlich an seinen Hals. Der Abt hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen und hielt ihm einen Dolch an die Halsschlagader.
»Stehe auf und drehe dich langsam um«, befahl der Abt.
Polo schloss die Augen und schluckte. Dabei drückte die Klinge noch stärker in seine Haut und er spürte, wie ein Tropfen warmen Blutes seinen Hals hinablief. Er tat, wie ihm geheißen wurde, und drehte sich um. Der Abt stand direkt vor ihm, nahm den Dolch herunter und presste ihn an Polos Bauch.
»Wie ich Euch sagte: Die Maske wird immer Teil des Klosters und der Bruderschaft bleiben.«
Plötzlich ein Schrei. Tulga hatte die Wache bis an die Wand gedrängt. Unter den Schlägen des jungen Mongolen war dem Mönch der Speer aus der Hand gefallen. Tulga zögerte nicht, ihm das Schwert über die Brust zu ziehen. Der Wachmann schrie laut auf, schaute hinab auf die Wunde und sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen.
»Tulga, hilf dem Herrn!«, rief Akai seinem Bruder zu.
Tulga nickte und rannte sofort los.
Polo bemerkte aus dem Augenwinkel die heranstürmende Rettung. Noch im Lauf hob Tulga sein Schwert und brüllte einen wilden Kampfschrei.
Doch plötzlich verstummte der Schrei. Tulga riss die Augen auf und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Sein Blick zeigte eine Mischung aus Schmerz und Überraschung. Die Wache, die er niedergestreckt hatte, war nicht tot. Der Mann hatte offenbar noch genug Kraft gehabt, um seinen Speer zu schleudern. Die Waffe traf Tulga in den Rücken. Der geriet ins Taumeln und stürzte nach vorn. Er prallte hart gegen einen der Feuerkörbe. Funken stoben auf.
Der Abt sah erschrocken zu dem Feuerkorb hinauf und erstarrte. Der Korb kippte auf ihn zu. Er ließ den Dolch fallen, schrie auf und versuchte, die Arme schützend vor den Kopf zu nehmen. Aber es war zu spät: Der Feuerkorb begrub den Abt unter sich. Seine Schreie verstummten abrupt im selben Moment, in dem die Masse aus Eisen und brennendem Holz auf ihn traf.
Akai schrie auf, als er seinen Bruder mit dem Speer im Rücken sah. In blinder Wut hämmerte er sein Schwert auf den Mönch. Dieser wehrte einige Schläge ab, bis es Akai gelang, seinen Speer zu zerschlagen.
Der Wächter schaute erschrocken auf seine zerbrochene Waffe. Bevor er darauf reagieren konnte, rammte ihm der mongolische Riese das Schwert in die Brust. Er öffnete den Mund, um zu schreien, aber es spritzte nur ein Schwall Blut heraus, der Akai im Gesicht traf. Erst nachdem der Wächter aufgehört hatte zu atmen und sein Kopf schwer auf die Brust fiel, zog Akai das Schwert heraus. Der Mönch sackte tot zu Boden.
Akai drehte sich ruckartig um. »Tulga!«, schrie er panisch. Er ließ sein Schwert fallen und rannte zu seinem Bruder, der regungslos am Boden lag. Akai packte den Speer und zog ihn vorsichtig aus Tulgas Rücken, bevor er sich neben ihn kniete und umdrehte. Tulgas Augen standen weit offen, starrten aber nur ins Leere.
»Tulga ... Tulga!«, stammelte Akai. Er tätschelte die Wangen seines Bruders, als würde er ihn aufwecken.
Tulga reagierte nicht.
Tränen schossen in Akais Augen. Er senkte seinen Kopf über Tulgas Gesicht und hielt sein Ohr an dessen Mund und Nase. Nichts. Keine Atmung. Tulga war tot.
Akai konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen ihm über das Gesicht, während er seinen Bruder an sich zog und ihn in die Arme nahm. Er drückte Tulgas Kopf an seine Brust und legte sein Kinn obenauf. Schluchzend wiegte er ihn vor und zurück, als wollte er ihn beruhigen, trösten und ihm die Angst vor der Dunkelheit nehmen.
Polo schenkte dem keine weitere Aufmerksamkeit. Die Göttermaske lag direkt vor seinen Füßen. Sie war dem Abt vom Gesicht gefallen, als ihn der Feuerkorb unter sich begrub. Wie hypnotisiert schaute Polo auf die goldene Maske, die fast magisch im Schein des Feuers funkelte. Besonders der Rubin strahlte so hell, als wolle er alles um sich verzaubern.
Er nahm die Maske in beide Hände und hielt sie sich vors Gesicht. Aufgeregt atmete er ein und aus. Seine Zunge fuhr über seine Lippen. Schweiß rann ihm von der Stirn. Er hatte in seinem ganzen Leben nie etwas Schöneres gesehen.
Ein Kratzen im Hals, wegen dem er husten musste, riss Polo aus dem Bann. Nur schwer konnte er seinen Blick von der Maske lösen. Er sah auf und schaute sich um. Rauch hatte den Raum erfüllt. Um ihn herum lagen die brennenden Holzscheite aus dem Feuerkorb auf dem staubigen Boden. Die Leiche des Abtes war fast zur Unkenntlichkeit verbrannt. Akai hielt noch immer seinen toten Bruder im Arm. Die beiden Wachen lagen tot auf dem Boden.
Polo stand auf und eilte hastig zu einem der Mönche. Grob riss er dem Leichnam den roten Umhang vom Körper und breitete ihn vor sich aus. Er legte die Maske darauf und wickelte sie in das Tuch. Dann klemmte er sich das Bündel unter den Arm und lief zu Akai.
»Akai, wir müssen verschwinden. Komm schon!«
Der Mongole reagierte nicht, sondern wog seinen Bruder weiter vor und zurück.
»Akai, hörst du nicht? Wenn die anderen Mönche bemerken, was hier passiert ist, werden sie uns umbringen.«
»Das ist mir egal«, entgegnete Akai, ohne seinen Herrn anzuschauen.
Polo trat einen Schritt näher und berührte seinen Diener an der Schulter. »Akai...«
Akais Kopf fuhr herum. Er schaute Polo mit einem derart hasserfüllten Blick an, dass der erschrocken einen Schritt zurückwich. Daraufhin wandte Akai sich wieder seinem Bruder zu.
Polo schaute sich ratlos um. Er hatte keine Zeit zu verlieren und musste hier raus, wenn ihm sein Leben lieb war. Aber selbst wenn es ihm gelänge, das Kloster unbehelligt zu verlassen, war das keine Garantie dafür, dass er es bis nach Karakorum schaffen würde. Die Mönche würden ihn verfolgen und es bestand die Gefahr, dass er sich ohne Führer verirrte. Er beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen. Erst musste er es aus dem Kloster schaffen.
Während er nach einem Ausweg suchte, blieb sein Blick unvermittelt an einer der Fackeln hängen. Er hatte eine Idee, die ihm Hoffnung schenkte, aber gleichzeitig zutiefst erschreckte.
Vorsichtig entfernte Polo sich von Akai. Er eilte zu einer der Fackeln, zog sie aus der Wandhalterung und starrte in die Flamme. Er drehte sich nochmals zu Akai um, der unverändert neben seinem Bruder hockte.
Tut mir leid, mein treuer Diener! Dann hielt Polo die Fackel an einen der Wandteppiche und setzte ihn in Brand. Schnell lief er zu zwei anderen und zündete auch diese an. Dann warf er die Fackel beiseite und eilte zur Tür.
Er hämmerte mit der Faust hart dagegen. Einige Sekunden geschah nichts. Er pochte nochmals gegen die Tür. Dann endlich hörte er, wie sie von außen entriegelt wurde. Der alte Mönch kam zum Vorschein.
»Was...?«, stammelte der mit weit aufgerissenen Augen, nachdem er den brennenden Raum und die Leichen am Boden entdeckte.
»Schnell!«, schrie Polo. »Der Abt braucht Euch. Er ist verletzt.« Dabei packte er den Alten an der Schulter und zog ihn in den Raum. Der war von der Situation dermaßen überwältigt, dass er nur stumm nickte und sich nicht wehrte. Kaum war er einen Schritt in den Raum gestolpert, sprang Polo an ihm vorbei nach draußen. Sofort schlug er die Tür zu und legte den Riegel vor.
Ohne den Blick von der Tür abzuwenden, wich Polo einige Schritte rückwärts. Dunkler Qualm begann unter der Tür hervorzuquellen.
Was habe ich nur getan? Er konnte es nicht glauben und ekelte sich vor sich selbst. Beherrsche dich! Du musst jetzt ruhig bleiben, wenn du hier herauskommen willst.
Im Raum fing der Alte an zu schreien. Erst war es ein Schrei aus Angst. Doch bald war der schrille Todesschrei eines Mannes zu hören, dessen Haut bei der Hitze des Feuers Blasen warf und sich langsam vom Fleisch löst. Gleichzeitig drang immer mehr beißender Rauch durch die Ritzen der Tür. Von Akai war kein Ton zu hören, aber das Schreien des Alten wollte nicht enden. Polo sah sich um. Hoffentlich hört keiner der anderen Mönche den Alten. Er erschrak erneut vor sich und seinen Gedanken. Es vergingen einige weitere Sekunden, bis das Schreien leiser wurde und endlich verstummte.
Polo fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. Er wusste nicht, ob er sich hassen oder froh sein sollte, dass der Alte endlich still war.
Inzwischen züngelten die ersten Flammen unter der Tür hindurch. Polo entfernte den Riegel von der Tür. Er war bereits so heiß, dass Polo ihn nur mit dem Stoff seines Mantels zu berühren vermochte. Dann wandte er sich ab und lief zum Haupteingang, durch den er auf den Klosterhof gelangte.
Einige Mönche waren inzwischen auf das Feuer aufmerksam geworden. In heller Aufregung rannten und schrien sie wild durcheinander.
»Schnell, der Abt! Ihr müsst ihn retten, beeilt Euch!«, rief Polo den Männern zu.
Die Mönche schauten sich einen Moment ratlos an, bis einer von ihnen anfing, Befehle zu erteilen. Daraufhin eilte etwa die Hälfte der Mönche in den Tempel, während die anderen anfingen, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen und eine Löschkette zu bilden. Mittlerweile stand das Dach des Tempels in Flammen.
Polo nutzte den Aufruhr und schlich sich unauffällig zu den Pferden. Die waren noch immer an dem Trog angebunden und scharrten nervös mit den Hufen. Er band sein Pferd los und führte es zum Tor. Unbehelligt schob er den Riegel beiseite und öffnete einen Flügel. Er eilte mit seinem Pferd vor das Kloster und zog das Tor wieder zu. Anschließend packte er das Stoffbündel mit der Maske in eine der Satteltaschen.
Aus dem Innern des Klosters hörte er die Schreie und Rufe der Mönche, die verzweifelt versuchten, den Tempel zu löschen. Polo musste sich beeilen, wenn er nicht wollte, dass sein Verschwinden zu früh bemerkt wurde. Er schwang sich auf sein Pferd und ritt los.
Nach einigen Metern hielt er und drehte sich nochmals um. Der Tempelbau stand lichterloh in Flammen. Er hörte die hektischen Schreie und Rufe der Mönche noch immer ... aber niemand war ihm gefolgt.
Zagreb / Kroatien, Gegenwart
Der dunkelgraue Transporter fuhr langsam auf der engen Gasse zwischen den mehrstöckigen Häusern entlang. Der Fahrer hatte die Scheinwerfer des Wagens ausgeschaltet. Zum einen bot das gelbe Licht der Straßenlaternen genügend Helligkeit, und zum anderen wollte er vermeiden, dass sie zu früh gesehen werden. An einer Kreuzung bog er nach rechts ab, fuhr noch einige Meter und hielt dann am Fahrbahnrand unter einem Baum.
»Sind sie schon da?«
Der Fahrer schaute kurz in den Rückspiegel und antwortete, während er den Blick wieder nach vorne auf die Straße richtete: »Ich kann niemanden sehen. Aber es kann nicht mehr lange dauern. Wir sind pünktlich.«
Wenn sie denn überhaupt kommen, dachte Luka und nickte stumm. Er lehnte sich auf der Sitzbank zurück und legte seinen Hinterkopf an die Nackenstütze. Obwohl er der Einsatzleiter war, saß er zusammen mit seinen fünf Männern im hinteren Teil des Transporters. Der Wagen besaß keine Seitenfenster, sodass sie nur wenig von der Umgebung mitbekamen. Keiner der Männer sprach. Luka wusste, dass das nicht nötig war. Ihr Einsatz wurde seit Langem geplant und jeder kannte seine Aufgabe, die Abläufe und das Ziel der Aktion. Jetzt galt es abzuwarten und ruhig zu bleiben.
Er atmete hörbar aus und schaute auf seine Armbanduhr. Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht. Wie ich diese Warterei hasse. Er schloss einen Moment die Augen. Um seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, ging er die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit noch einmal durch.
Nach einer Reihe von spektakulären Raubüberfällen auf Autohäuser für Luxuswagen hatte die kroatische Bundesstaatsanwaltschaft eine Sonderkommission innerhalb der Spezialeinheit USKOK zur Ergreifung der Täter eingerichtet. Luka war vor zwei Jahren als neuer Teamleiter zu der Abteilung gestoßen und hatte recht schnell einen gewissen Danko Vladic als die Schlüsselfigur ermitteln können. Die Nachforschungen ergaben, dass Vladic auch in andere Geschäfte des organisierten Verbrechens involviert war. Sein Wirken reichte von Hehlerei mit Luxuskarossen bis hin zum Handel mit Waffen und Sprengstoff. Drogengeschäfte und Menschenhandel wurden ihm ebenfalls nachgesagt, wofür man aber nie stichhaltige Beweise fand.
Seit dieser Zeit hatten Luka und sein Team bei insgesamt vier Aktionen versucht, Danko Vladic und dessen Männer dingfest zu machen. Allerdings konnte er bei keinem dieser Einsätze aufgegriffen werden, was den Erfolgsdruck am heutigen Abend nochmals erhöhte.
»Es tut sich was!«
Der Hinweis des Fahrers ließ Luka die Augen öffnen. Er beugte sich nach vorn und schaute durch die Windschutzscheibe.
Der Fahrer deutete die Richtung durch ein Kopfnicken an. »Der Audi A8 dort drüben.«
Etwa hundert Meter entfernt kam eine dunkle Limousine am gegenüberliegenden Fahrbahnrand zum Stehen.
»Macht euch bereit«, sagte Luka zu den anderen Männern im Transporter, ohne dabei den Blick von der Limousine abzuwenden. »Das müssen sie sein.«
Im Team breitete sich eine fast greifbare Spannung aus, ohne dass Luka den Eindruck bekam, die Männer seien nervös. Jeder von ihnen prüfte nochmal kurz seine Ausrüstung und den Sitz seiner ballistischen Weste und des Helms.
»Zwei Türen des Audis werden geöffnet«, sagte der Fahrer leise.
Luka sah es auch. Der Beifahrer stieg aus und begab sich ohne zu zögern an die Tür des Hauses, vor dem der Wagen gehalten hatte. »Das ist einer seiner Leibwächter«, stellte er fest.
Der Fahrer des Audi blieb sitzen. Der Motor lief. Hinter dem Fahrer stieg ein dritter Mann aus.
»Der gehört auch zu Vladic«, sagte Luka.
Der Mann ging um den Kofferraum der Limousine und öffnete, nachdem er sich kurz umgesehen hatte, die Tür hinter dem Beifahrer.
Luka hielt die Luft an. Jetzt wird sich zeigen, ob die Ermittlungen der letzten Monate erfolgreich und der Mühen wert waren. Wenn sie Pech hatten, gingen ihnen wieder nur kleine Fische ins Netz.
Aus dem Audi stieg ein groß gewachsener Mann mit sportlich schlanker Figur und dunklen Haaren, die zu einem Scheitel gekämmt und an den Schläfen ergraut waren. Sein Alter würde man höchstens auf Ende vierzig schätzen. Luka wusste aber, dass dieser Mann schon in seinen Fünfzigern war.
»Das ist er!« Luka versuchte, weiterhin Ruhe auszustrahlen, was ihm aber überraschend schwerfiel. »Das ist Danko Vladic!«
Vladic stand für einen Moment in der geöffneten Fahrzeugtür und schien sich ebenfalls umzusehen. Er wirkte dabei aber keinesfalls angespannt. Er strahlte eine Sicherheit, ja fast schon Gelassenheit aus, als könnte ihn nichts überraschen oder gar gefährden.
Nachdem er sich umgesehen hatte, ging er mit zielstrebigen Schritten zum Hauseingang, der ihm vom Beifahrer geöffnet wurde. Er und der andere Begleiter folgten Vladic in das Gebäude. Erst nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, fuhr der Fahrer mit der Limousine davon.
»Achtung, er kommt direkt auf uns zu!« Lukas Warnung war an seinen Fahrer gerichtet, der sofort reagierte und sich mit dem Oberkörper auf den Beifahrersitz warf.
Am Lichtschein der Scheinwerfer erkannten sie, wann die Limousine an ihrem Transporter vorbei war. Erst nachdem der Motor leiser wurde und schließlich völlig verstummte, richtete sich der Fahrer wieder auf.
Luka öffnete den Klettverschluss einer Tasche an der Brustseite seiner Einsatzweste und nahm ein Smartphone heraus. Er wählte die erste Nummer aus dem Kurzspeicher.
»Luka Sefic hier! Vladic ist eben an der Wohnung eingetroffen. Die Information war korrekt.«
»Ist er alleine?«
»Nein, er ist in Begleitung. Soweit uns bekannt ist, hat er zwei Männer dabei.«
»Dann erhalten Sie hiermit die Freigabe. Seien Sie vorsichtig, Luka.«
»Ja, verstanden!« Er legte auf und steckte das Mobiltelefon zurück in die Tasche. »Es geht los«, sagte er leise in die Runde.
Luka nahm seinen ballistischen Kevlar-Helm vom Schoß und zog ihn an. Im Helm war ein Headset integriert, über das Luka mit den Männern sprechen konnte. Er schloss sein Funkgerät, das er an der Einsatzweste befestigt hatte, an das Headset an. Ein leises Knacken in den Ohrmuscheln signalisierte ihm, dass die Verbindung hergestellt war.
»Könnt ihr mich empfangen?«
Die Männer nickten.
»Gut, dann los!«
Der Mann neben Luka öffnete vorsichtig die Schiebetüre des Transporters und einer nach dem anderen stiegen sie aus dem Fahrzeug. Leise, schnell, aber ohne Hektik überquerten sie die Straße. Jeder von ihnen trug eine Waffe oder einen weiteren Ausrüstungsgegenstand mit sich. Neben dem Hauseingang reihten sie sich hintereinander auf. An die Spitze stellte sich ein Beamter mit einem ballistischen Schutzschild, hinter dem sie notfalls in Deckung gehen konnten. Erst nachdem alle ihre Position eingenommen hatten, gab Luka das Zeichen.
Der Trupp setzte sich in Bewegung. Sie gingen zügig und nahezu lautlos an der Hauswand entlang Richtung Eingang.
An der Tür stoppten sie. Einer der Männer hinter Luka löste sich aus der Reihe und machte sich am Schloss zu schaffen.
»Abgeschlossen«, flüsterte er.
»Aufmachen, aber leise!«, antwortete Luka.
Der Mann zog ein Etui aus seiner Weste, in dem er verschiedene Drahtwerkzeuge aufbewahrte. Mit einem Blick begutachtete er das Schloss, entschied sich für eines der Werkzeuge und begann zu hantieren. Nach wenigen Sekunden sprang die Tür mit einem sanften Ruck auf. Der Mann beeilte sich, das Werkzeug zu verstauen, und reihte sich wieder ein. Dann setzte sich der Trupp wortlos in Bewegung und betrat das Treppenhaus.
Im Innern des Hauses war es düster. Durch die Fenster fiel gerade genügend Licht, damit sie sich orientieren konnten. Luka wusste aber auch so, dass er das typische Innenleben eines Mehrfamilienhauses in der Altstadt von Zagreb vor sich hatte. Die gemauerten Wände waren nur grob verputzt. Die steinernen Treppenstufen uneben und nicht gleichmäßig hoch. Er musste bei jedem Schritt aufpassen, nicht zu stolpern.
Durch einen Informanten und die Telefonüberwachung wusste Luka, dass Vladic die Wohnung in der obersten Etage gemietet hatte. Der Informant meinte, die Wohnung erstrecke sich über die gesamte Etage. Allerdings wusste er nicht, wie es in der Wohnung aussah. Die Größe, die genaue Anzahl der Räume – all das war genauso unbekannt wie die Zahl der Schergen, die Vladic um sich geschart hatte.
Langsam bewegte sich das Team weiter die Treppe hinauf, wobei sie stets in alle Richtungen sicherten. Es wäre fatal, wenn sie hier unter Beschuss gerieten.
Oben angekommen, reihten sich die Polizisten seitlich der Wohnungstür auf. Zwei von ihnen standen auf der rechten und die restlichen vier – darunter Luka – auf der linken Seite. Einer der Männer trug eine schwarze Ramme aus Stahl bei sich und brachte sich in Position. Er schaute zu Luka. Der nickte kurz. Daraufhin holte der Mann aus und rammte mit voller Wucht gegen die Wohnungstür.
Das Geräusch des brechenden Holzes unter auftreffendem Stahl hallte durch das Treppenhaus und schien das ganze Gebäude erzittern zu lassen. Luka sah jedoch sofort, dass die Tür zwar stark beschädigt, aber noch in den Scharnieren und dem Schloss hing.
Verdammt nochmal, dachte er. Jeder weitere Versuch kostete sie Zeit, die Vladic und seinen Männern zugutekam. Das Überraschungsmoment konnten sie nun vergessen.
»Gleich nochmal!«, rief er.
Der Mann mit der Ramme hatte bereits ausgeholt und stieß erneut zu. Diesmal flog die Tür aus ihrer Verankerung und krachte in den Wohnungsflur dahinter.
Sie war noch nicht auf dem Fußboden aufgeschlagen, da trieb Luka seine Männer hinein, allen voran den Polizisten mit dem Schutzschild. »Vorwärts!«, schrie er.
Kaum hatten sie die Wohnung betreten, kam einer der Begleiter von Vladic aus einem Zimmer am Ende des Flures gerannt. Überraschung und Wut standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er hielt eine kurze Maschinenpistole in der Hand und eröffnete fluchend und schreiend das Feuer.
»Achtung, Kontakt!«, rief fast zeitgleich der Mann mit dem Schild. Instinktiv gingen alle hinter ihm in Deckung.
Luka hörte, wie die Kugeln in die rettende Schicht aus Kevlar einschlugen. Zwischen zwei Salven aus der feindlichen Maschinenpistole schrie er: »Feuer!«
In diesem Moment ging der Schildträger tief in die Hocke, sodass der Polizist hinter ihm freies Schussfeld hatte. Der gab sofort zwei aufeinanderfolgende Einzelschüsse ab. Die Kugeln trafen den Angreifer in die Brust. Er taumelte nach hinten, kam zu Fall und schlug mit dem Rücken auf dem Boden auf.
Das Team bewegte sich hinter dem Schild weiter den Flur entlang. Immer wieder hielten sie kurz inne, um die angrenzenden Zimmer zu überprüfen.
Am Ende des Flures und damit beim letzten Raum angekommen, hob Luka die Hand und signalisierte, dass der Trupp halten solle. Die Tür war geschlossen. »Aufstellung! Die rückwärtige Sicherung auflösen.«
Die Männer positionierten sich neu. Sie stellten sich auf beiden Seiten der Tür auf, geschützt durch das Mauerwerk. Luka entschied, wieder die Ramme zum Einsatz zu bringen. Da Vladic und dessen Leute längst wussten, dass sie hier waren, wollte er keine Zeit verlieren.
Luka vergewisserte sich nochmals mit einem schnellen Blick, dass alle bereit waren, und gab anschließend dem Mann mit der Ramme das Zeichen zum Öffnen der Tür.
Der holte weit aus und schlug zu. Die leichte Zimmertür hatte der schweren Ramme nichts entgegenzusetzen. Das Holz splitterte und die Verankerung brach. Sofort setzte der Schildträger an, den Raum zu betreten.
Genau in diesem Moment entzündete sich vor dem Trupp ein Feuerball, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall. Die Explosion war so blendend hell, dass Luka den Arm vors Gesicht riss und sich reflexartig wegdrehte. Gleichzeitig trafen ihn Steinbrocken und eine enorme Druckwelle, die ihn nach hinten schleuderte. Dabei riss er einen seiner Männer mit und beide prallten hart auf dem Boden auf. Das Bild vor seinen Augen verschwamm und das Atmen fiel ihm schwer. Die Druckwelle hatte ihm die Luft aus der Lunge gepresst. Rauch füllte den Flur und Staub legte sich auf sein Gesicht. Seine Ohren pfiffen und rauschten von dem lauten Knall. Geräusche nahm er nur wie durch einen dicken Nebel wahr.
Luka versuchte, ruhig und tief zu atmen. Als seine Benommenheit nachließ, fiel sein Blick auf die zerstörte Wand. »Eine Sprengfalle«, keuchte er, während er sich hustend von der Last seines bewusstlosen Kollegen und Trümmerteilen aus Holz und Mauerwerk befreite. »Dieser verdammte Mistkerl.«
Er richtete sich auf. Die Druckwelle und der Sturz hatten ihm seine Maschinenpistole aus der Hand gerissen. Er hob sie auf und versuchte, sich in dem Chaos neu zu orientieren. Zwei seiner Männer lagen regungslos am Boden. Auch sein Kollege mit der Ramme lag benommen im Flur, bewegte sich aber stöhnend. Die beiden übrigen Männer rappelten sich gerade auf und schienen weitestgehend unverletzt zu sein.
Vladic, hämmerte der Name in Lukas Kopf. Mit einem Sprung ging er neben dem Loch in der Wand in Deckung und wagte einen kurzen Blick in das Zimmer. Im ganzen Raum lagen Trümmerteile und Papierfetzen zerstreut. Die Luft war trübe durch einen Mix aus Rauch und Staub. Es roch verbrannt und nach Schwarzpulver. Eine einzelne Lampe, die schaukelnd an der Decke hing, schwang ihr Licht gleichmäßig durch den Raum und ließ Schatten über die Wände tänzeln.
Luka erkannte im hinteren Teil des Zimmers einen Schreibtisch aus dunklem Holz, der offensichtlich durch die Detonation umgeworfen wurde. An den Wänden säumten sich mehrere Aktenschränke, die teilweise umgefallen waren. Über die gesamte Länge des Zimmers erstreckte sich eine Fensterfront. Das hinterste Fenster stand offen. Durch den nächtlichen Wind wurde die Fenstergardine in kleinen ungleichmäßigen Wellen immer wieder in den Raum geweht.
Luka wandte sich an seine beiden unverletzten Kollegen. »Vladic ist abgehauen. Ihr bleibt hier und kümmert euch um die anderen. Gebt dem Führungsstab Bescheid. Ich hole mir das Schwein!« Dann rannte er los.
Er spurtete durchs Zimmer zu dem offenen Fenster und riss die Gardine zur Seite. Dahinter lag ein Balkon, der sich über die gesamte Breite der Etage und vermutlich um die Hausecke herum erstreckte.
Luka stieg durch das Fenster. Zu seiner Linken endete der Balkon in einigen Metern Entfernung vor einer Mauer, weshalb er sich für die rechte Seite entschied. Er lief los und seine Schritte hallten durch die ansonsten stille Nacht. In weiter Ferne hörte er die Sirenen herannahender Einsatzwagen. Über das Geländer hinweg erkannte er auf der Straße unter sich einzelne kleinere Gruppen Menschen, die herumstanden und sich aufgeregt unterhielten. Einige von ihnen waren mit Schlafkleidung bekleidet und wohl durch die Schüsse und die Explosion aufgeschreckt worden.
Luka rannte weiter den Balkon entlang bis zur Ecke des Gebäudes. Kurz davor verlangsamte er seinen Schritt und lugte vorsichtig um sie herum. Von Vladic keine Spur. Am Ende des Balkons konnte er eine Leiter erkennen, die an der Hauswand verschraubt war und auf das Dach führte.
»Vladic ist aufs Dach geflüchtet«, sprach er in den Funk. »Ich folge ihm.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er zur Leiter und warf sich dabei den Trageriemen seiner Maschinenpistole über die Schulter. Die metallenen Sprossen klapperten unter seinen Stiefeln, während er schnell nach oben stieg. Als er die Kante zum Dach erreichte, hob er vorsichtig den Kopf und schaute sich um. Er konnte weit über das Flachdach schauen und in einiger Entfernung zwei Personen erkennen. Sie waren eben dabei, über einen schmalen Sims auf das Nachbarhaus zu klettern.
Das habt ihr euch so gedacht. Schnell überstieg Luka die Dachkante und rannte los. Dabei zog er seine MP von der Schulter und hielt sie vor sich. Da die beiden Männer vorsichtig über den Sims kletterten, holte er schnell auf.
Nachdem er sich auf etwa fünfzehn Meter genähert hatte, hob er seine Waffe in den Anschlag und schrie: »Danko Vladic, bleiben Sie stehen!« Dann verlangsamte er seinen Schritt, ohne dabei die Männer aus dem Visier zu nehmen.
Vladic hielt inne und drehte sich langsam um. Er war schon auf dem Sims und im Begriff, auf das Dach des Nachbarhauses zu springen. Sein Begleiter stand noch vor dem Sims und deckte den Rücken seines Bosses.
»Luka Sefic«, sagte Vladic mit auffallendem bosnischen Akzent. »Können Sie es denn nie sein lassen?«
Woher kennt der Kerl meinen Namen? »Nicht, bevor ich Sie endlich weggesperrt habe«, entgegnete Luka, ohne sich dabei seine Verwunderung anmerken zu lassen. Luka war inzwischen bis auf etwa sechs oder sieben Meter herangetreten und blieb stehen. Seine Maschinenpistole hielt er noch immer im Anschlag.
»Das wird nicht passieren … zumindest nicht heute«, rief Vladic ihm entgegen.
Im gleichen Moment riss sein Begleiter die Jacke zur Seite und zog eine Pistole aus einem Holster an seinem Gürtel.
Luka reagierte sofort und drückte ab. Laut ratterten zwei Schüsse aus der Maschinenpistole und trafen den Mann in die Brust. Der ließ seine Pistole fallen und starrte überrascht an sich herunter. Dann sackte er auf die Knie und fiel leblos nach vorn über.
Vladic nutzte die Ablenkung, sprang den Sims hinab und gelangte auf das Nachbarhaus.
Nicht mit mir, dachte Luka und schulterte seine Maschinenpistole. Er rannte los und sprang ebenfalls über den Sims auf das angrenzende Dach. Bei der Landung kam er ins Straucheln und musste sich mit den Händen abstützen, um nicht vornüberzustürzen. Aber er fand schnell wieder das Gleichgewicht und rannte weiter. Vladic hatte sich zwischenzeitlich einen Vorsprung von einigen Metern verschaffen können.
»Bleiben Sie stehen, Vladic«, schrie Luka. Doch der Gangster reagierte nicht und lief unbeeindruckt weiter.
Hoch über den Straßen des nächtlichen Zagrebs rannten die beiden Männer auf dem Flachdach. Lediglich der beinahe volle Mond und das gelbliche Licht der Straßenbeleuchtung erhellten die Umgebung. Immer wieder verlor Luka Vladic aus den Augen, wenn dieser zwischen aufgehängter Wäsche hindurch oder um einen Schornstein herumrannte. Der Gangster ließ ihm keine Sekunde, um einen gezielten Schuss abgeben zu können.
Schließlich erreichte Vladic auch das Ende dieses Gebäudes. Er hastete, ohne zu zögern, auf den Sims und sprang auf das nächste Haus. Luka versuchte, sein Tempo weiter zu erhöhen, aber er lief bereits am Limit. Woher nimmt der Kerl nur diese Kondition?
Vor dem kniehohen Sims angekommen, sah Luka, dass das nächste Gebäude niedriger war, dafür aber durch eine schmale Gasse von diesem getrennt wurde. Luka stoppte und sah hinüber. Er musste etwa drei Meter weit springen und würde dann gute zwei Meter tiefer landen. Na toll!
Luka machte kehrt und nahm ein paar Schritte Anlauf. Dann rannte er los, sprang auf den Sims und stieß sich ab.
Durch den Schwung kam Luka bei der Landung erneut ins Straucheln. Diesmal konnte er sich nicht abfangen und stürzte nach vorn. Er ließ sich bewusst fallen und rollte über seine Schulter ab. Sofort war er wieder auf den Beinen. Fast zeitgleich riss er seine Maschinenpistole hoch und schaute sich in alle Richtungen um. Von Vladic war nichts zu sehen. Vorsichtig bewegte er sich weiter, setzte dabei behutsam einen Fuß vor den anderen und lauschte in die Nacht.
Plötzlich hörte Luka das unverkennbare Geräusch eines heranrasenden Fahrzeugs, gefolgt vom Quietschen abbremsender Reifen. Er rannte zur Dachkante und blickte auf die Straße hinunter. Dort sah er den schwarzen Audi A8 stehen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Einen Augenblick später entdeckte er auch Vladic, der locker über die Straße in Richtung des Wagens joggte.
»Was zum Teufel …?!«, entfuhr es Luka. Wie ist der so schnell nach unten gekommen? Er schaute verblüfft Vladic hinterher und dann rechts und links am Gebäude entlang. Er konnte zu seiner Linken eine Feuerleiter ausmachen, die die einzelnen Etagen miteinander verband und bis fast zur Straße reichte.
»Verdammt noch mal, diese Ratte!«, fluchte Luka.
Vladic, der mittlerweile an der Limousine angekommen war, schritt gemächlich um das Fahrzeug herum und öffnete die Beifahrertür. Doch statt sofort einzusteigen, hielt er kurz inne und blickte nach oben zum Dach. Er musste nicht suchen, sondern sah Luka direkt an. Sie schauten sich einen Moment in die Augen.
Dann hob Vladic eine Hand, führte sie an den Kopf wie zu einem Salut und stieg grinsend in die Limousine. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, raste der Fahrer mit quietschenden Reifen davon.
Zagreb / Kroatien, Gegenwart
»Ich habe einen Termin mit Oberstaatsanwalt Benkic.« Luka stand mit seinem Land Rover Geländewagen an der geschlossenen Schranke zum Gelände der Staatsanwaltschaft der Republik Kroatien. Durch das geöffnete Fenster zeigte er dem Wachmann, der aus dem Wachhäuschen neben der Schranke trat, seinen Dienstausweis.