Göttin im Spiegel - Georgia Hoost - E-Book

Göttin im Spiegel E-Book

Georgia Hoost

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Beschreibung

Truman Andersson ist Fotograf und Künstler, und er mordet. Er fotografiert jedes Jahr einen Menschen im Todeskampf und verarbeitet dieses Bild zu einem einzigartigen Spiegel. Detektiv Bernd Stecker findet heraus, dass sieben ungeklärte Todesfälle gibt, die alle eine besondere Gemeinsamkeit aufweisen: Die Opfer gleichen sich wie Doppelgänger. Wird der Detektiv das Geheimnis des Künstlers aufdecken, bevor es weitere Todesopfer gibt?

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Seitenzahl: 233

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

1. Ars speculi

2. Stricher vs. Loser

3. Unrast

4. Der Fluch der Schönheit

5. Sündenfall

6. Phasma ex speculo (Der Geist im Spiegel)

7. Der letzte Tanz

8. Der ultimative Spiegel

9. Vater Rhein

1. Ars speculi

Vor einem Jahr

Er widerstand der Versuchung, den Ärmel seines weißen Einmaloveralls hochzuschieben. Seine Hände schwitzten in den dünnen Handschuhen, und der Wasserdampf raubte ihm fast den Atem.

Klarsichtfolie glänzte am Boden ebenso wie auf der Werkbank, und auch den Stuhl hatte er damit überzogen. Reine Vorsichtsmaßnahme. Er hatte das mal im Fernsehen gesehen.

Die große, geschliffene Glasplatte lag in einer flachen Eisenwanne auf der Werkbank. Er hatte sie stundenlang poliert, bis sie im wahrsten Sinne des Wortes spiegelblank war und sie dann sorgfältig gereinigt. Die Herstellung eines perfekten Spiegels war nämlich mehr als bloßes Handwerk. Es war eine Kunst.

Er strich das Glas satt mit Zuckerlösung ein und summte zufrieden vor sich hin. Das Stück Filz, welches er zuvor zurechtgeschnitten hatte, lag bereit.

Von jetzt an musste das Ganze unbedingt durch den Wasserdampf aus dem Rechaud warmgehalten werden. Wenn das Glas zwischendurch abkühlte, war alles verdorben. Er glättete den Filz liebevoll mit seiner behandschuhten Hand, dann goss er Ammoniak mit Silbernitrat darüber. Bloß nicht spritzen, das Zeug gab hässliche Flecken. Er stellte das Glas ab und stieß den Atem aus, den er unbewusst angehalten hatte. Geschafft. Er hatte jetzt eine Stunde Zeit, denn so lange dauerte es, bis sich das metallische Silber auf der Glasplatte abgesetzt hatte.

Truman setzte, noch in Arbeitskleidung, den Wasserkocher auf und griff nach den Teebeuteln, um sich eine Tasse Tee zuzubereiten. Eigentlich zog er losen Tee vor, doch dieser Oolong war überhaupt nicht schlecht.

Aus dem hinteren Teil der großen Garage, der fast völlig im Dunkeln lag, waren verhaltene Geräusche zu hören, ein Scharren und ein leises Stöhnen. Er ignorierte es, schwenkte den Teebeutel einige Male durch die ausgeblichene Tasse mit dem Logo eines großen Pariser Vergnügungsparks und nahm ihn dann heraus. Er mochte seinen Tee schwach und ohne Zucker. Truman strich sich die feinen blonden Haare aus der Stirn und nippte an seinem Tee, dann nickte er. Fast hätte er geseufzt. Es gab kaum eine Sorge, die nicht durch eine kultivierte Tasse Tee gelindert werden konnte. Er holte ein Musikmagazin aus dem Rucksack, lehnte sich zurück und las interessiert, bis der Timer seines Smartphones ihn daran erinnerte, dass die Silberschicht fertig war.

Truman entfernte den Filz von der Glasplatte und prüfte sie eingehend. Sie sah gut aus, nein, korrigierte er sich in Gedanken, sie war perfekt. Er lächelte sein Spiegelbild an. Zeit für den nächsten Schritt. Er räumte die schwere Eisenwanne weg, schüttete das Wasser aus und setzte eine Atemmaske auf. Dann füllte er den Warmhaltebehälter mit einer Lösung aus Jod und Brom, legte die Spiegelplatte darüber und stülpte eine große Plastikwanne darüber. Truman löschte die Deckenbeleuchtung und zündete ein Teelicht an. Er beobachtete gespannt, wie der Spiegel mit einer gelbbraunen Schicht überzogen wurde. Sehr gut. Nach zwanzig Minuten war er mit der Farbe der Beschichtung zufrieden. Er lüftete ganz kurz, denn jetzt musste es schnell gehen. Er nahm die nun lichtempfindliche Platte aus der Wanne, föhnte sie trocken und setzte sie in eine hölzerne Kassette ein. Die große, altmodische Camera, die er nach alten Bauplänen selbst hergestellt hatte, stand an der Wand der Garage. Sie war mit einem schwarzen Tuch verhüllt.

Truman schob die Kassette in die Camera. Darüber legte er eine Mattscheibe, damit er die Schärfe einstellen konnte, ohne seine Fotoplatte zu früh dem Licht auszusetzen. Jetzt fehlte nur noch sein Fotomodell: Vera.

Wie zuvor hatte Truman eine Anzeige aufgegeben: ‚Androgynes Fotomodell (m/w) für altmodische Fotoaufnahmen gesucht. Alter: bis 22 Jahre, dunkelhaarig, schlank. Vergütung nach Zeitaufwand‘.

Eine Handvoll Studenten hatte sich angesprochen gefühlt, doch nur eine junge Frau entsprach seiner Vorstellung: Vera. Sie studierte Kunst im zweiten Semester. Er hatte sich mit ihr in einem Café unweit der Universität getroffen. Sie sah aus wie aus einem Traum von Man Ray, einem der größten amerikanischen Fotografen des zwanzigsten Jahrhunderts, sein absolutes Idol.

„Und was machen Sie für Aufnahmen?“, hatte sie misstrauisch gefragt. Sie hatte einen zynischen Zug um den Mund, der einer so jungen Frau nicht gut zu Gesicht stand.

„Nichts unanständiges“, beruhigte er sie. Sein Lächeln war vertrauenserweckend, das wusste er.

Vera lächelte ebenfalls, ein schmales, dünnes Heben der Mundwinkel, bevor sie sich eine Zigarette anzündete.

„Also nicht nackt?“

„Nein“, erwiderte er leise. „Das wird nicht nötig sein.“

Irgendetwas an der Formulierung störte Vera, doch sie brauchte das Geld sehr dringend. Sie hatte ein bisschen was gespart für sich und ihren besten Freund Wolfram, nicht viel, doch dann war ihr diese verdammte Schwangerschaft dazwischengekommen. An ihre Ersparnisse würde sie nicht gehen, aber das Baby musste weg, und dafür brauchte sie eben Geld.

„Gut“, sagte sie und zog hart an der Zigarette, „dann sind wir im Geschäft. Besondere Bedingungen?“

„Ich möchte, dass du eine weiße Bluse trägst und eine schwarze Jacke oder Weste. Keinen Schmuck, Haare streng zurück gegelt, die Lippen bitte rot geschminkt. Das ist alles.“

„Ich werde nicht mit Ihnen ins Bett gehen“, stellte sie trocken fest.

„Auch das wird nicht nötig sein.“

Er nannte ihr die Adresse, ein altes Haus in der Nähe des Berliner Herthasees.

„Noble Adresse“, meinte sie, doch er zuckte nur die Schultern. Mochte sie doch denken, dass er ein junger, gelangweilter, reicher Kerl war, der aus Mangel an echter Beschäftigung altmodische Fotos schoss. Er hatte es für das Wochenende gemietet und würde ohnehin nur die Garage benutzen. Die Endreinigung konnte er sich also sparen.

Wäre es nur um das Geld gegangen, hätte Vera ihren besten Freund Wolfram eingeweiht. Es war immer gut, jemanden zu haben, der wusste, wo man sich aufhielt, wenn man sich auf seltsame Deals einließ.

Doch diesmal konnte sie nicht mit Wolfram darüber sprechen, noch nicht. Sie hatte für Geld schon bizarrere Jobs erledigt, unter anderem auf einer SM-Party stundenlang nackt auf einem Sockel gestanden, weiß gekalkt und als Statue verkleidet.

Im Nachhinein war ihr klar, dass man auf diesen Partys so sicher war wie eine Jungfrau in der Kirche.

Sie und Wolfram hatten spät nachts, Vera immer noch mit Kalk in den Haaren, auf seinem zerschlissenen Sofa gesessen, billigen Chianti getrunken und sich herrlich über die Lack- und Lederspießer amüsiert. Damals, in Düsseldorf, als noch alles einfacher gewesen war.

Doch dann hatte sie sich in diesen Kerl verliebt, Roman, und irgendwie war alles den Bach runtergegangen.

„Komm mit nach Berlin, Baby, Berlin ist heiß“, hatte er gesagt, und Wolfram hatte nur den Kopf geschüttelt. Er wusste, wie heiß Berlin war. Sein nachhaltigstes Andenken an diese Stadt und ihr ausschweifendes Nachtleben hieß HIV. Doch Vera ließ sich nicht aufhalten und folgte Roman in die Hauptstadt. Sie hatte sich vorgenommen, Kunst zu studieren, aber ihr Lover war dagegen gewesen.

„Was willst du an der Uni? Das ist was für Reiche, nicht für Leute wie uns. Geh kellnern, Baby, das gibt gutes Geld. Die setzen dir an der Uni nur Flausen in den Kopf, und Flausen kann ich überhaupt nicht leiden. Am Ende denkst du noch, du bis zu schlau für mich.“

Sie hatte gekellnert, und heimlich hatte sie sich an der Kunsthochschule beworben und war angenommen worden. Es hatte zwei Semester gedauert, bis er es herausbekam. Roman prügelte sie windelweich, anschließend vergewaltigte er sie.

Dabei hatte er immer wieder geschrien: „Das hast du davon, dass du dich für was Besseres hältst.“

Am nächsten Tag war er weg gewesen, und sie war alles andere als unglücklich darüber.

Lange, nachdem die blauen Flecken und die gebrochenen Rippen verheilt waren, merkte Vera, welches Geschenk der Mistkerl ihr hinterlassen hatte. Sie wohnte bei einer Freundin, als sie auf den Streifen pinkelte und ein lächelndes Babygesicht auf dem Display sah. Oh, was für ein gottverdammter Mist. Gerade jetzt, wo sie kurz davor war, das Steuer wieder herumzureißen. Wenn sie Glück hatte, würde sie in Düsseldorf weiter Kunst studieren können, eine Empfehlung Ihres Berliner Professors hatte sie bekommen. Nur die Bewerbung fehlte noch. Die neue Mappe war fast fertig, denn ihre alte hatte Roman in seinem letzten großen Wutanfall zerrissen und die Reste verbrannt. Also war ihr jeder Job recht, um Romans Parasiten loszuwerden, und sie hatte nur noch zwei Wochen Zeit für den Schwangerschaftsabbruch. Dann wollte sie zurück nach Düsseldorf, zu Wolfram. Okay, er stand nicht auf Frauen, aber von Männern hatte sie für lange Zeit genug.

Als der komische, aalglatte Typ mit dem Fotojob daherkam, konnte sie ihr Glück kaum fassen.

Dreihundert Euro für einen halben Tag Arbeit, das war fast zu schön um wahr zu sein. Die halbe Miete, sozusagen. Also zog sie sich an, wie er es verlangte, und schminkte ihre Lippen rot. Wie die Hure Babylon, fand sie. Sie trug niemals Lippenstift und musste sich extra für diese Gelegenheit einen kaufen.

Aber egal, Geschäft ist Geschäft.

All das schoss ihr durch den vernebelten Kopf, als sie in der düsteren Garage wach wurde, den Geschmack von Chloroform im Mund und an einen Stuhl gefesselt. Wie viel beschissener konnte es noch werden? Sie dachte an das Baby und fragte sich, ob das Chloroform ihm wohl geschadet hatte. Vera war sich relativ sicher, dass sie auf diese Frage keine Antwort mehr erhalten würde, und es war ihr herzlich egal. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen, und wie es war, so war es in Ordnung.

Truman trug den Stuhl mitsamt der schlaffen Vera darauf keuchend in die Mitte der Doppelgarage, direkt vor die hölzerne Camera. Für eine echte, scharfe Daguerreotypie war das Licht zu schlecht, aber er wollte auch kein gestochen scharfes Foto schießen. Für seine Zwecke war das Licht mehr als ausreichend. Er schlug ihr sanft auf die Wangen.

„Wach auf, Vera, Zeit für die Fotos“, sagte er freundlich. Ihr Kopf wollte sich nicht so recht heben.

Der nächste Klaps war fester, aber noch nicht schmerzhaft. „Komm schon. Es wird nicht lange dauern.“ Vera hob müde den Kopf.

„Ja, so ist es gut. Ich werde gleich hinter die Camera treten und dich fotografieren.“

Er machte seine Ankündigung wahr, verschwand hinter dem Holzkasten und dem schwarzen Tuch und stellte mit der Hand die Linse scharf.

„Sehr schön“, rief er aufmunternd, und Vera dachte kurz, dass das jetzt kaum sein Ernst sein konnte. Sie hing in ihren Fesseln wie ein Schluck Wasser.

Fesseln. Ihr dämmerte entfernt, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, doch ihr Kopf wollte einfach nicht funktionieren.

„Ja, ganz wunderbar. Gleich sind wir so weit.“ Truman kam mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck und geröteten Wangen hinter dem Tuch hervor. „Nur noch eine Kleinigkeit.“

Vera lächelte müde. Bald würde es vorbei sein. Truman trat hinter sie und zog etwas aus der Hosentasche. Sie konnte es nicht sehen. Seine Hände streiften sanft ihren Hals, und kurz dachte sie: Wäre doch Roman je so zärtlich zu mir gewesen. Dann straffte sich plötzlich ein Drahtseil um ihre Kehle. Vera keuchte und konnte schlecht atmen.

„Nur die Ruhe, Liebes“, schnurrte Truman hinter ihr mit sanfter, einschmeichelnder Stimme. Er zog die Garrotte zu und drehte die Holzgriffe graziös umeinander. In seinem Unterleib pulsierte es, und seine Wangen röteten sich noch etwas mehr. Veras Luftröhre war fast komplett verschlossen, und nur ein leises Pfeifen drang noch über ihre Lippen. Ihre Augen trugen einen überraschten Ausdruck.

„Bleib so, Liebes. Nicht mehr lange.“ So konnte sie noch wenigstens eine Stunde am Leben bleiben, wenn es sein musste. Truman verschlang die Griffe der Garrotte in Veras Nacken, so dass sie sich nicht lösen konnten, und trat wieder hinter die Camera. Er entfernte die Mattscheibe und öffnete den Kasten mit der lichtempfindlichen Glasplatte. Das Bild war scharf. Er belichtete nur zwei Minuten lang. Sein Körper bescherte ihm höchst angenehme Empfindungen, die er jedoch beiseiteschob wie ein Lehrer ein aufdringliches Kind. Es spielte keine Rolle, ob Vera sich bewegte oder nicht. Sie hatte ohnehin nicht viel Spielraum in ihren Fesseln. Nach Ablauf der zwei Minuten verschloss er den Holzkasten wieder. Er würde die Platte jetzt bald entwickeln und fixieren müssen.

Sein Blick fiel auf Vera. Ihre Lippen wurden unter dem kirschroten Lippenstift blau, ihre Augen schauten ihn nur sprachlos an. „Ich erlöse dich“, flüsterte Truman lächelnd, trat wieder hinter sie und drehte die Garrotte rasch zu. In dem Moment entlud sich seine Anspannung in einem heftigen Orgasmus, und er fühlte, wie es in seiner Hose feucht wurde.

Truman schloss die Augen und genoss die Wellen, während er sich vorstellte, dass er in den Armen seiner Göttin kam. In dem Moment war er ebenso schön wie sein Modell. Als es vorbei war, würdigte er Vera keines weiteren Blickes. Nur die Garrotte nahm er ab, reinigte sie mit Alkohol und steckte sie zusammen mit dem Lappen in seine Reisetasche.

Er zog die Fotoplatte aus dem Holzkasten und legte sie wieder auf die Werkbank. Vorsichtig holte er eine mit Quecksilber überzogene Kupferplatte aus einem Futteral, legte sie über das Rechaud und befestigte die belichtete Fotoplatte darüber. Dann stülpte er den Plastikkasten wieder darüber und entzündete die Gasflamme. Nur wenige Minuten, dann würde die Entwicklung abgeschlossen sein. Er machte sich nicht mehr die Mühe, die Platte optisch zu überprüfen. Er kannte die erforderliche Zeit ganz genau, sie war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Am Ende fixierte er sie mit einer Salzlösung, trocknete sie und überzog sie als krönenden Abschluss mit Versiegelung. Nun hatte er noch eines zu erledigen, und diesen Teil seiner Arbeit hasste er. Er musste Veras Leiche loswerden.

Truman holte eine frische Rolle Klarsichtfolie hervor und wickelte Vera darin ein, nachdem er sie von dem Stuhl losgebunden hatte. Es war kein Leben mehr in ihren Augen. Er fand, dass auch vorher nicht allzu viel davon vorhanden gewesen war. Sie war erlöst, und nun würde er sie für immer unsterblich machen.

Er schleifte die leblose Puppe, die einmal ein Mensch gewesen war, hinter sich her, durch den Garten bis zum Seeufer, und versenkte sie im Herthasee, nachdem er ein paar schwere Steine mit in die Folie eingeschlagen hatte. Sie würden sie irgendwann finden, aber das war ihm egal.

In der Garage zog Truman den Overall und die Handschuhe aus. Er räumte seine Materialien zusammen und verstaute sie in dem großen Werkzeugkoffer. Er lud die Eisenwanne, das Rechaud und seine Camera in den Transporter, packte den Overall und die Handschuhe zusammen mit dem Filz in die Folie und rollte alles zu einem großen Ball zusammen. Er würde es morgen in Düsseldorf verbrennen. Als letztes legte er seine Spiegelplatte behutsam in einen gepolsterten Holzrahmen und verstaute auch diese im Wagen. Er freute sich schon auf die Abschlussarbeiten.

Truman verbrachte die Nacht auf der Autobahn. Er verband sein Handy mit dem Autoradio und wählte Rockmusik. Kurz vor Osnabrück dröhnte die Band Muse aus den Lautsprechern, und er ließ es sich nicht nehmen, mitzusingen. Seine schlanken, manikürten Finger trommelten einen komplizierten Rhythmus auf dem Lenkrad. An die junge Frau, die er auf dem Gewissen hatte, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Ihr Leiden war vorüber.

Im Morgengrauen parkte er den gemieteten Lieferwagen in zweiter Reihe vor seinem Atelier auf dem Fürstenwall. Seine Hände zitterten leicht von den zahlreichen Espressopralinen, die er auf der Fahrt gegessen hatte, doch seine Augen leuchteten.

An Schlaf war jetzt nicht zu denken. Zuerst brachte er seine wertvolle Fotoplatte ins Atelier, dann trug er den Ball aus Plastik und Filz durch den Torweg. Die Vorbesitzerin war ebenfalls Künstlerin gewesen, Töpferin, und der Vermieter hatte gefragt, ob er Verwendung für ihren Brennofen hatte. Oh ja, die hatte er. Er heizte den Ofen jetzt auf. Plastik warnicht optimal, aber der Brennofen wurde so heiß, dass er es verkraften würde. Als alles verstaut war, schaute Truman sehnsüchtig auf seine Werkbank, aber zuerst musste der Lieferwagen weg. In der Zeit war der Ofen sicherlich heiß genug. Sobald der Müll beseitigt war, konnte er sein Werk vollenden.

Truman stellte den Lieferwagen bei der Autovermietung ab und schlenderte zurück zum Fürstenwall. Es war ein guter Morgen, trotz der langen Autofahrt schmerzte sein rechter Knöchel kaum, und er hinkte fast gar nicht. Die Bäckerei auf der Bilker Allee hatte bereits geöffnet, und er gönnte sich ein Schokocroissant. Kaffee hatte er genug gehabt, aber im Atelier würde er sich einen Tee zubereiten. Irgendwann würde seine Leidenschaft für Süßigkeiten ihn umbringen, räsonierte er, doch er aß sie zumeist nur an Samstagen oder wenn es etwas zu feiern gab. So wie heute.

Fotoatelier Andersson, stand auf dem dezenten Firmenschild vorne am Torweg. Jedes Mal, wenn er es sah, zog er unwillkürlich eine Grimasse. Am liebsten würde er es abschrauben, und manchmal wollte er mit dem Vorschlaghammer darauf einschlagen. Doch er lebte davon, dass seine Kunden den Weg zu ihm fanden, wenn sie Fotos wollten.

Furchtbare Familienfotos von Bräuten in Kaufhauskleidern, hässlichen Kindern, langweilige Bewerbungsfotos, abstoßende Aktfotos. Er machte all das. Seine wahre Kunst jedoch bekamen diese Kunden nicht zu Gesicht.

Vorsichtig packte er die Spiegelplatte aus und legte sie auf vier lederbezogene Holzblöcke. Die Vorfreude machte ihn ganz schwindelig. Doch zuerst musste er aufräumen. Er öffnete den Brennofen, und eine massive Wand von Hitze schlug ihm entgegen und versengte ihm fast die Augenbrauen. Er warf die Plastikfolie hinein, den Overall, die Handschuhe, den Filz und den Lappen, mit dem er die Garrotte gereinigt hatte. Sogar die Tasche, in der er alles transportiert hatte, verbrannte er. Es war jetzt unglaublich heiß in seiner Werkstatt, und er zog das blau-weiß gestreifte Hemd, die beigefarbenen Chinos und die hellblauen, knöchelhohen Chucks aus. Die Socken steckte er in die Turnschuhe. Er widerstand dem Verlangen, das Hemd ordentlich zusammenzulegen. Es musste ohnehin in die Reinigung. Schweiß stand auf seiner Stirn und seiner schmalen Brust. Er trainierte viel und hart, was man ihm leider kaum ansah.

Halbnackt arbeitete er am liebsten, der Ofen war in mehr als einer Hinsicht ein Segen. Er fühlte sich weniger wie ein Fotograf denn wie Wieland der Schmied, der hoffen durfte, eines Tages aus den Hirnschalen seiner Feinde zu trinken. Obwohl, das war vielleicht ein bisschen krass. Schließlich war er ein kultivierter Mensch.

Truman streifte wieder Einmalhandschuhe über; das Kunstwerk durfte nicht durch schweißige Abdrücke auf der empfindlichen Rückseite ruiniert werden. Er sprühte mehrfach dünne Schichten Fixativ darüber, bis er sich sicher sein durfte, dass die Beschichtung gut geschützt war. In der Hitze seines Ateliers trocknete die Sprühfixierung schnell. Puristen würden über diese Behandlung der Fotoplatten vermutlich in Tränen ausbrechen, dachte er, doch für eine veritable Vergoldung hatte er keine geeignete Werkstatt, und in all den Jahren der Experimente mit verschiedensten Beschichtungen hatte sich das Fixativ als mehr als ausreichend erwiesen. Kleinere, taschenbuchgroße Spiegel, die er schon vor Jahren in Schweden angefertigt hatte, zierten immer noch sein privates Ankleidezimmer. Während die Platte trocknete, trank Truman Andersson Tee.

Es war schon fortgeschrittener Morgen, eigentlich Brunchzeit, als er den alten Rahmen aus dem Filzfutteral schälte. Er kaufte ab und an alte Bilder oder Spiegel, deren Rahmen ihm gefielen. Meistens fand er sie in Antiquitätengeschäften oder auf Flohmärkten. Er feilschte nie, der Preis spielte keine Rolle. Wichtig war, dass der Rahmen stimmte. Dick musste er sein, verziert, am liebsten Art Deco.

Die passenden Glasscheiben ließ er bei einer kleinen Glaserei in Derendorf anfertigen. Beck, so hieß der Glaser, hatte ein echtes Händchen für dickes Glas mit altmodischem Schliff. Am liebsten mochte Beck Facettenschliffe, womit er Trumans Geschmack teilte. Auch diesmal hatte Gero Beck ihn nicht enttäuscht. Obwohl die Glasplatte groß und schwer war, hatte Beck es geschafft, ihr den perfekten Schliff zu geben, ohne einen Kratzer. Truman bewunderte die Arbeit seines Kollegen. Ein Teil von ihm hätte sich ihm gern zu erkennen gegeben, von Künstler zu Künstler, aber das kam natürlich nicht in Frage.

Truman legte den Rahmen kopfüber auf ein Filztuch, nahm die Spiegelplatte vorsichtig von den Böcken und passte sie in den Rahmen ein. Dann legte er eine dünne Schicht Filz und eine Holzplatte auf die Spiegelrückseite und befestigte sie mit vielen kleinen Nägeln am Rahmen. Er drehte den Spiegel um, hob ihn hoch und stellte ihn auf eine stabile Staffelei. Er löschte das Deckenlicht und richtete einen Strahler auf den Spiegel.

Truman Andersson betrachtete sich in dem geschliffenen Glas, ohne den gesamten Spiegel aus den Augen zu verlieren. Das Glas erschien nicht ganz weiß, sondern von zartem Schiefergrau. Das lag am Silbernitrat. Der Schleier von Farbe, oder vielmehr Nichtfarbe, verlieh seinem Antlitz etwas Geheimnisvolles und Distinguiertes. Er strich sich ein paar helle Haarsträhnen aus der Stirn. Es war still bis auf das leise Fauchen des Ofens. Die Beschichtung war makellos, auch an den Rändern.

Er drehte den Strahler, so dass das Licht schräg auf das Glas fiel. Nichts zu sehen. Was, wenn die Schicht zu dick geraten ist, dachte er mit Schrecken. Schon wieder einen Spiegel verschwendet, einen Augenblick verpasst. Noch einmal justierte seine Hand die Lampe. Er trat ein paar Zentimeter zurück, blickte angestrengt ohne zu blinzeln. Seine Augen tränten. Bald würde er sie schließen müssen. Er zwang sich, sie offen zu halten. Dann sah er es.

Hinter seinem eigenen Gesicht zeigte sich, zart und blass wie ein Geist, ein weiteres. Ein geöffneter Mund wie ein Schrei in der Brandung, den niemand jemals hört. Aufgerissene Augen. Vera war schön gewesen im Augenblick ihres Todes, viel schöner, als sie es im Leben je hätte sein können. Er blies den Atem aus, den er angehalten hatte und lächelte sein Spiegelbild an. Vera lächelte nicht zurück.

Salz

Vom Himmel zur Erde

Von flüssig nach Fest

Tränen

Erstarrt.

Dieses Gedicht würde er in den Rand von Veras Spiegel gravieren, entschied er. Sie hatte sich so hartnäckig geweigert, zu weinen, dass sie es sich verdient hatte. Er holte den Koffer mit dem Gravurgerät und machte sich an die Arbeit. Dann signierte er den Spiegel in der äußeren rechten Ecke, in der hinteren Facette des Schliffs: Persson Lindqvist. Seine Mutter hieß Annika Persson, seine Großmutter Cecilia Persson Lindqvist, und er trug den Künstlernamen zu ihrer beider Ehren. Truman Andersson trat ein paar Schritte zurück. Es war vollbracht.

Truman zog noch im Atelier die besudelte Unterhose aus, warf auch sie in den Ofen und zog seine Chinos, sein Hemd und die Schuhe wieder an. Adieu Calvin Klein, dachte er. Ich werde sie meiner Galeristin berechnen müssen. Er gab der Hose ein paar Minuten im Feuer, dann löschte er den Ofen und kippte das schmale Fenster. Es war so klein, dass höchstens ein Eichhörnchen einbrechen konnte, deswegen riskierte er, es offen zu lassen, damit die brüllende Hitze abziehen konnte. Er würde mit dem Bus nach Hause fahren, duschen, ein wenig schlafen.

Dann würde er seine Galeristin anrufen und ihr den Spiegel zum Kauf anbieten. Was für eine Nacht.

Als Truman endlich unter der Dusche stand und minutenlang das heiße Wasser über seinen Körper prasseln ließ, fühlte er sich einerseits tief befriedigt, gesättigt, im Reinen. Andererseits war da wieder diese seltsame Empfindung in seiner Brust, etwas Ambivalentes, Flatterndes, wie ein Schmetterling, den man in die Freiheit entlässt, nur damit er Minuten später auf dem Fensterbrett verendet. Ein Gefühl absoluter Vergeblichkeit. Es riss ihn aus der Befriedigung ins Bodenlose, und Truman ließ sich fallen. Auch das kannte er schon; willig begab er sich in seine private Hölle von Trauer und Wertlosigkeit.

Er setzte sich auf den Boden der Dusche, umklammerte seine Brust mit den Armen und schluchzte hemmungslos, bis die Tränen versiegten.

Eine halbe Stunde später trat er aus der Dusche, schlug sich ein Handtuch um die Hüften und strich sich das nasse Haar aus der hohen Stirn. Sein Gesicht zeigte nicht den Hauch einer Emotion.

Damals

Oliver Ehlert hörte ein jämmerliches Kreischen aus Richtung seines Zimmers und rannte los, als hätte ihn der Blitz getroffen. Betty, dachte er panisch, Betty, was ist los mit dir? Er stürmte um die Ecke, bremste den Schwung am Türrahmen ab und sah seine kleine Katze schlaff an der Wand liegen. Sein Großvater Gustav stand in seinem Zimmer und baute sich über dem Tierchen auf, als hätte er ihr mal so richtig gezeigt, wo der Hammer hängt. Oh mein Gott, was hat er meiner Katze angetan, und was will Opa Gustav überhaupt hier drinnen? Er war ebenso angewidert wie entsetzt. Der hat hier nichts zu suchen, dachte er.

„Betty“, rief er und stieß den Opa beiseite. Das Tier atmete schwach und schien große Schmerzen zu haben. Er wollte sie auf den Arm nehmen, aber sie fauchte und schlug nach ihm.

„Was hast du mit meiner Katze gemacht, du Dreckskerl?“, fragte er. Er schämte sich, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, aber er konnte es nicht verhindern.

„Dreckskerl?“, donnerte Opa Gustav und trat drohend auf ihn zu. „Was glaubst du, wer du bist, du kleiner Arsch. Du wirst gleich spüren, wer hier das Sagen hat. Dein dämliches Vieh hat mich gebissen, also habe ich ihr einen Tritt verpasst, klar?

Komm her, du Verlierer, dann bringe ich dir ebenfalls Benehmen bei.“

Er griff nach Olivers Hand, doch dieser versetzte seinem Opa einen derben Stoß gegen die Brust, so dass er in den Sperrholzkleiderschrank krachte.

„Finger weg von meiner Katze, sonst bringe ich dich um.“

Gustav Ehlert lachte, aber es klang freudlos.

„Du drohst mir? Heb dir das für später auf, wenn du erwachsen bist. Und jetzt geh und heule um das sterbende Vieh.“

Oliver richtete sich auf. Er war schlank, aber größer als sein Opa, und im Gegensatz zu seinem Großvater war er nüchtern und tödlich wütend.

„Ja“, sagte er ernst, fast feierlich, „ich drohe dir. Du wirst weder mein Zimmer noch einmal betreten noch jemals wieder meine Katze anfassen.“

„Ach ja?“ Er lächelte pomadig. „Und was gedenkst du dann zu tun?“ Sein Opa lehnte jetzt im Türrahmen und schaute amüsiert drein. Doch das lässige äußere täuschte. Er war ein gewalttätiger Mann, und es fehlte nicht mehr viel für einen erneuten Ausbruch.

„Wie schon gesagt“, erwiderte er kalt, „dann töte ich dich.“

Gustav Ehlert wollte seinen törichten Enkel auslachen, aber als er in dessen Augen sah, blieb ihm das Lachen im Halse stecken.

„Du nimmst mal besser das Maul nicht so voll. Und Dein Katzenvieh wird vielleicht ein paar seiner sieben Leben aushauchen, wenn ich es noch mal allein erwische.“

In Olivers Brust breitete sich eine eisige Ruhe aus. „Geh mir aus dem Weg“, sagte er voll unterdrücktem Zorn, „ich muss mein Tier versorgen.“

Der Tierarzt stellte vier gebrochene Rippen fest, wobei eine nur knapp die Lunge verfehlt hatte.

Außerdem waren einige von Bettys innere Organen stark gequetscht worden. „Sie wird es wahrscheinlich überleben, Junge“, meinte er mitfühlend. „Ich drücke Euch alle Daumen, die Kleine hat Biss. Und wer hat sie überhaupt so zugerichtet? Du solltest überlegen, diese Person wegen Tierquälerei anzuzeigen.“

Oliver nickte, obwohl er das nicht vorhatte.

„Ach, und die Rechnung beläuft sich auf 280 Mark.“ Der Tierarzt zögerte kurz. „Kannst du sie bezahlen?“

„Noch nicht“, sagte Oliver aufrichtig, „aber das werde ich. Und außerdem bin ich Fotograf. Das heißt, ich werde einer.“ Dr. Peters lächelte schief. Der Junge gefiel ihm. „Wenn sie also mal Bilder für Ihre Praxis brauchen, übernehme ich das gerne.“

„Darauf einen Handschlag“, sagte Dr. Peters, und Oliver schlug ein.

Betty überlebte die Misshandlung, ohne größere Schäden davonzutragen. Die Hälfte der Schulden zahlte er dem Tierarzt nach einigen Wochen von seinem Taschengeld zurück, die andere Hälfte inklusive Bettys Nachsorge arbeitete er mit dem Anfertigen von Fotos ab. Noch viele Jahre später musste Dr. Peters lächeln, wenn er die Fotografien des jungen Oliver Ehlert ansah, die bis zu seiner Pensionierung an den Wänden der Praxis hingen.

Inzwischen war Oliver Ehlert ein berühmter Mann, und Dr. Peters war stolz darauf, ihm auf seinem Weg ein Stück weit begleitet zu haben. Ein talentierter Junger Mann, der auch noch sein Wort hielt, war viel wert und verdiente Unterstützung.

Oliver trug Sorge, dass er auch in einer weiteren Angelegenheit sein Wort hielt.

An einem kühlen Sonntag im April war sein Opa Gustav so wie jeden Sonntag zum Frühschoppen gegangen. Er war ein eitler Geck, der stets helle Hosen zu zweifarbigen Schuhen trug, Hemd, Krawatte und Jackett, und die etwas zu langen grauen Haare mit Fettcreme nach hinten frisierte. Oliver fand immer, er sah aus wie eine geckenhafte Version von Erich Honecker. Den mochte er auch nicht.