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Unheimliches geschieht in der Finstermail, einem verwilderten Waldstück in der Nähe des fränkischen Dorfs Gramstein. Während eines Herbstgewitters wird durch einen Blitzschlag ein uraltes Wesen befreit. Es ist die Mondhexe, genannt die Schwarze Uhsa, die Dank ihres Stirnreifs unsterblich ist. Sie war für Jahrhunderte unter einer Eiche lebendig begraben. Nun ist sie wieder frei, und schon bald wird sich ihre unselige Anwesenheit auch unten im Dorf bemerkbar machen.
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Seitenzahl: 182
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Die Handlung spielt in den 1980er Jahren in einem fiktiven fränkischen Dorf.
PROLOG
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
EPILOG
Blitze zuckten durch die Novembernacht, verzweigten sich über den hohen Baumwipfeln des Waldes und erhellten jeweils für die Dauer eines Augenblicks die kleine Lichtung zwischen den dunklen Bäumen. Der Sturm rüttelte an den Ästen und Zweigen der mächtigen Tannen, die wie schwarze Wächter den freien Platz umstanden. Jedem Blitz folgte das gewaltige, ohrenbetäubende Krachen des Donners. Regen prasselte vom nachtschwarzen Himmel und die Äste rauschten im Wind.
Inmitten der von Farnen und Schachtelhalm bewachsenen Lichtung trotzte eine uralte, knorrige Eiche dem Unwetter. Der Sturm fegte die letzten braunen Blätter des Herbstes von den Zweigen und die nackten Äste winkten wie riesige, verwachsene Arme und Hände in die kalte Nacht. Die Maserung der Rinde und die warzenähnlichen Auswüchse am Stamm erschienen im flackernden Aufleuchten der Blitze wie ein Gesicht. Fast konnte man glauben, ein Wesen aus uralten Zeiten stünde auf der kleinen Lichtung und vollführte einen unheimlichen Tanz zu Ehren des Donnergottes.
Allmählich ließ das Unwetter nach, der Wind wurde schwächer und die Bewegungen der Äste sanfter, so als wollten sie den Tanz ausklingen lassen. Der Regen fiel nur noch nieselnd.
Doch die Kräfte der Natur hatten sich noch nicht beruhigt. Ein letzter, gewaltiger Blitz fuhr vom Himmel, schlug mit der Lautstärke einer Explosion in die alte Steineiche und spaltete sie genau in der Mitte. Mit einem gequälten Ächzen sanken die beiden Hälften zur Seite, als hätte der Blitz einen riesigen Keil zwischen sie getrieben. Es klang wie das Knarren der Angeln einer schweren Kellertür, die seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet worden war.
Die dunklen Gewitterwolken machten einem käsigen Vollmond Platz, der die Szenerie in ein fahles Licht tauchte. Dünne Rauchfahnen stiegen von der zerstörten Eiche auf und vermischten sich mit dem Nebeldampf, der sich über dem feuchten Boden gebildet hatte. Die Wucht des Blitzes hatte den Baum bis zu den Wurzeln geteilt. Die umgestürzten Hälften hatten die Erde zwischen ihnen aufgerissen, eine metertiefe Grube war dort entstanden. Auf dem Boden der Grube lagen Holztrümmer, aber sie waren glatt und anscheinend bearbeitet worden.
Inmitten dieser Bretter kauerte eine Gestalt.
Es war eine alte, gebückte Frau, die reglos in den Überresten einer Holzkiste hockte. Anfangs konnte man glauben, man hätte eine lebensgroße, holzgeschnitzte Statue vor sich. Die Arme waren schützend über den gesenkten Kopf gelegt, man konnte das Gesicht nicht sehen. Die grauen, dünnen Haare wurden von einem Reif aus Bronze zusammengehalten, in dessen Vorderseite, genau über der Mitte der Stirn, ein schwarzer Edelstein eingearbeitet war. Als das Mondlicht auf den Opal fiel, glühte in seinem Innern ein Licht wie eine Flamme auf. In dem Stein schien etwas zum Leben zu erwachen.
Plötzlich ging ein Zucken durch den scheinbar leblosen Körper. Der Kopf ruckte fast unmerklich nach rechts, dann nach links. Aus der abgehackten Bewegung wurde allmählich ein geschmeidiges Wiegen, langsam streckte sich der gebückte Oberkörper, der Kopf erhob sich und man konnte in das Gesicht einer steinalten Frau blicken. Eine lange, spitze Nase, die wie der Schnabel eines Raubvogels bis über die dünnen, zusammengekniffenen Lippen reichte, beherrschte das Gesicht. Runzlige Falten, die steil von oben nach unten in die Haut einschnitten, verstärkten den bösartigen Eindruck. Als die Gestalt die Lider hob, reflektierten die Pupillen das Mondlicht – wie die Augen eines Nachtgetiers, die grünlich leuchten. Sie huschten blitzschnell hin und her und erfassten ihre Umgebung; dann blitzte Freude in ihnen auf.
Mühsam erhob sich die Gestalt – sie hatte anscheinend nur wenig Kraft; so dauerte es einige Zeit, bis sie gebückt und leicht zitternd vor Schwäche zwischen den Baumhälften stand. Um ihren hageren Leib schlotterte ein schwarzes Kleid aus festem Stoff, das über der knochigen Hüfte durch einen Gürtel zusammengehalten wurde. Die Gürtelschnalle bildeten zwei Schlangenköpfe, die sich ineinander verbissen hatten. Um den mageren Hühnerhals trug die Gestalt an einem Lederband ein Amulett, aus Speckstein geschnitten.
Der Mund verzog sich zu einem hässlichen Lächeln. Doch der gebrechliche Körper wankte und schwankte, und es schien, als würde er gleich wieder zusammenfallen und das soeben neu gewonnene Leben wieder verlieren. Doch die Alte sammelte ihre Kräfte, löste die Hände vom Kopf und hob mit sichtlicher Anstrengung die Arme nach oben. Die Handflächen zeigten auf den milchig weißen Vollmond, während die schwarzen Augen zum Himmel starrten. Dabei bewegte die Gestalt die dünnen, blutleeren Lippen und wisperte kaum hörbare Laute, die allmählich zu einem geheimnisvollen Singsang anschwollen. Die Alte begann sich im Mondschein zu wiegen, erst zaghaft, zittrig, dann geschmeidiger, der Körper straffte sich und – begann sich sichtbar zu verändern!
Der Gesang wurde lauter, die Stimme fester, die runzlige Haut des hässlichen Gesichts glättete sich, die Nase schrumpfte, die dünnen Lippen wurden voller. Und die Veränderung beschränkte sich nicht nur auf die Gesichtszüge. Der Körper richtete sich auf, schien zu wachsen; unter dem schwarzen Kleid wurden frauliche Rundungen erkennbar, die immer vollkommener wurden, je länger die Gestaltwandlerin singend im Licht des Vollmonds tanzte. Die Verwandlung nahm nur wenige Minuten in Anspruch: Dann stand anstelle der alten Frau ein Mädchen von geheimnisvoller Schönheit auf der Lichtung. Es sah nicht älter als zwanzig Jahre aus.
Nur die Augen hatten sich nicht verändert. Unter den langen, schwarzen Wimpern blitzten nach wie vor dunkle Pupillen, die Hass und Bösartigkeit ausstrahlten.
Mit einem Ruck streckte sich der Körper und aus dem Mund drang ein Schrei des Triumphs in die Nacht. »Die Schwarze Uhsa ist wieder erwacht! Niemals wird sie sterben!«
Unten im Tal trotzten die wenigen Häuser von Gramstein dem Gewitter. Man war in dem Dorf schwere Unwetter gewohnt, die sich aber vor allem in den bewaldeten Höhen austobten, die den Ort umgaben.
Jetzt bewegten sich zwei Scheinwerferlichter auf den Ort zu. Noch befanden sie sich auf der Waldstraße. Das Fahrzeug kam nur langsam voran, denn der Regen stürzte wie eine Wasserwand vom Himmel.
Kurz darauf hielt das Auto, es war ein Taxi, auf dem kleinen Dorfplatz vor dem Gasthaus. Über der Tür des Gebäudes hing ein großes, schmiedeeisernes Schild, das drei Raben in einem Kreis darstellte. Ein etwa dreißigjähriger, blonder Mann stieg aus dem Wagen. Der Taxifahrer beeilte sich, dem Mann beim Ausladen seiner großen, blauen Sporttasche zu helfen. In diesem Augenblick ertönte von der Anhöhe ein gewaltiges Krachen. Dort hatte ein Blitz eingeschlagen. Gleichzeitig hörte mit dem verhallenden Donner auch der Regen auf.
Das Taxi machte sich wieder auf den Rückweg und das tuckernde Brummen des Dieselmotors verklang. Als die gelbe Dachbeleuchtung hinter der nächsten Kurve in einem Nebelschleier verschwunden war, stand der späte Ankömmling allein da. Tief atmete er die nasskalte, aber wohltuende Nachtluft ein.
Er blickte sich im Schein der Straßenlaternen um. Auch hier zwischen den Häusern hatte sich der dichte Novembernebel niedergelassen. Aus dem Wanderführer, den er schon während der Fahrt studiert hatte, wusste er, dass Gramstein ein ziemlich altes Dorf war, das auf natürliche Art gewachsen war. Es war keines dieser Straßendörfer, die an den großen Verbindungsstraßen lagen, und oft unkontrolliert wucherten.
Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Den gepflasterten Dorfplatz säumten mehrere Gebäude – ein kleiner Gemischtwarenladen, Fachwerkhäuser und die Kirche, die alle anderen Häuser überragte. In der Mitte des Dorfplatzes plätscherte Wasser in einen steinernen Brunnen. Aus einigen Fenstern drang noch Licht nach draußen, aber die Bewohner schienen im Allgemeinen früh schlafen zu gehen, wie es auf dem Land üblich war.
Der Mann wandte den Blick zum Gasthof Drei Raben; eine historische Gaststätte, wie der Hinweis auf dem Wirtshausschild verriet. Den Eingang bildete eine schwere, aus massivem Holz gearbeitete Tür.
Die Gaststube war einfach, aber gemütlich ausgestattet. An den Wänden zogen sich Holzbänke entlang, auf denen buntgemusterte Sitzkissen verteilt waren. Vor den Bänken waren die Tische und Stühle angeordnet.
Die Gaststätte war zu dieser späten Stunde nur spärlich besucht. Drei Augenpaare blickten dem Ankömmling neugierig und etwas überrascht entgegen, als er den Raum betrat. Vorne, gleich neben der Tür, saßen zwei Männer an einem Tisch, der durch ein Schild, das in der Mitte aufgestellt war, als Stammtisch ausgezeichnet war. Die beiden – allem Anschein nach Einwohner von Gramstein – schienen in ein Gespräch vertieft gewesen zu sein, das sie aber beim Eintreten des Fremden beendeten.
Etwas entfernt von den beiden saß ein weiterer Besucher, der sich schon durch seine Kleidung von den anderen unterschied. Er trug einen hellen Anzug und eine bunte, ziemlich geschmacklose Krawatte.
Der eine der beiden Männer, die am vorderen Tisch saßen, erhob sich gemächlich. Sein Gesicht, das die typische kräftige Farbe der Landbewohner hatte, strahlte Gemütlichkeit aus; aber auch unverhohlene Neugier und etwas Spitzbübisches waren darin zu erkennen. Um den strammen Bauch spannte sich eine dunkelbraune Lederschürze.
Das musste der Wirt sein! Er betrachtete zunächst den jungen Mann mit der blauen Sporttasche von oben bis unten. Anscheinend hatte er kein Bedürfnis, das Gespräch zu beginnen. Er kniff lediglich das linke Auge misstrauisch zusammen und als er den goldenen Ring im rechten Ohrläppchen des Ankömmlings sah, pfiff er lautlos.
»Guten Abend«, sagte der späte Gast munter, ohne auf die neugierigen Blicke zu achten. »Ich habe hier ein Zimmer vorbestellt. Für eine Woche«, fügte er hinzu, als keine Reaktion erfolgte. Der Wirt betrachtete die braune Lederjacke, die der Mann trug. Dann öffnete er das erste Mal den Mund.
»Ah, Sie sind bestimmt der Herr Ringer«, sagte er mit unbeweglichem Gesicht, das aber nicht mehr ganz so abweisend war. »Sie ham angruf’n, stimmt’s?« Sein fränkischer Slang war nicht zu überhören. Er musterte jetzt die Hose des Fremden, eine Jeans, die schon etwas abgewetzt war, und mal wieder eine Wäsche vertragen konnte.
»Richtig«, antwortete der junge Mann freundlich und etwas belustigt. »Ich bin Marco Ringer. Sie sind bestimmt der Besitzer, mit dem ich am Telefon gesprochen habe – Herr Baptist Rabe, nehme ich an!«
»Ich hab’ denkt, Sie sind Wissenschaftler«, sagte Rabe, ohne auf Marco einzugehen. Sein Blick war nun bei Marcos Turnschuhen gelandet.
»Da haben Sie richtig gedacht! Historiker!« Marco strahlte den Wirt an. Dann zeigte er auf die Treppe, die in das nächste Stockwerk führte. »Mein Zimmer ist wohl oben?«
»Äh, ja.« Der Wirt starrte immer noch auf Marcos Schuhe. Dann wurden seine Bewegungen geschäftig. Seine Miene wurde freundlicher. Marco schien seine Prüfung für Fremde, die spät abends noch auftauchten, bestanden zu haben. »Momentla, ich hol’ bloß noch schnell die Schlüssel.«
Er verschwand hinter dem Tresen, kramte in einer Schublade und winkte dann Marco. »Kommen’S mit.«
*
Nachdem Marco sein Gepäck noch oben gebracht hatte, ging er wieder in die Gaststube hinunter, um ein spätes Abendessen zu sich zu nehmen. Die Brotzeit war reichlich und Marco hatte Mühe, alles aufzuessen.
Er hatte sich alleine an einen Tisch gesetzt. Am Nebentisch trank der auffällig gekleidete Mann von seinem Bier. Vermutlich war es nicht sein erstes, denn sein aufgedunsenes Gesicht hatte schon eine rötliche Farbe angenommen. Die wenigen dünnen, dunklen Haare klebten am Kopf. Anscheinend verwendete der Mann Haarcreme, um eine Halbglatze zu kaschieren. Er fixierte Marco aus trüben, wässrigen Augen, die fast zwischen den dicken Lidern verschwanden.
»Was war das gleich noch mal, was sie studieren?«, fragte er dann Marco mit einer lauten, unangenehmen Stimme. Er versuchte dabei einen unbedarften Eindruck zu erwecken, aber seine kleinen Augen blitzten für einen kurzen Augenblick auf. Marco hatte bei seiner Ankunft bemerkt, dass der Mann dem Gespräch zwischen ihm und dem Wirt aufmerksam gelauscht hatte. Daher musste der Mann wissen, dass Marco kein Student mehr war, und versuchte ihn aufzuziehen.
Marco tat so, als hätte er den Spott in der Stimme des anderen nicht bemerkt.
»Ich studiere nicht mehr«, entgegnete er und sah den Mann unverwandt an. »Ich habe vor über einem Jahr meinen Abschluss als Magister gemacht.« Der andere hatte unter Marcos scharfem Blick die Augen gesenkt.
»Oh, da muss ich mich wohl entschuldigen«, sagte er dann mit einer übertriebenen Geste. »Ich wusste nicht, dass unsere Akademiker neuerdings direkt aus dem Kindergarten kommen.«
»Jetzt machen’S mal halblang, Henning«, mischte sich der Gast vom anderen Tisch ein. »Wieso beleidigen Sie den Mann?« Der andere Gast war ländlich, aber keineswegs nachlässig gekleidet. Marco schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre. Die energische Stimme und das gesunde Aussehen des Mannes zeugten von Tatkraft und Selbstbewusstsein.
»Ich beleidige niemanden, Brenner«, antwortete Henning gereizt und trank mit lautem Schlucken von seinem Bier. Dabei rann ihm etwas Flüssigkeit aus den Mundwinkeln. Er wischte sich über die Lippen und gab sich keine große Mühe, ein Rülpsen zu unterdrücken. »Ich habe nur meine Meinung gesagt, und das ist ja wohl noch erlaubt, Herr Oberförster.«
»Des langt jetzt, Henning!« Der Wirt baute seine kräftige Gestalt vor dem Mann auf. »Entweder Sie lassen mei’ Gäst’ in Ruh’ oder Sie geh’n naus. Ich will kan Streit bei mir! Des wissen Sie ganz genau!«
Henning duckte sich ein wenig, anscheinend hatte er Respekt vor dem Wirt. Er brummte noch: »Ist doch wahr …«, und widmete sich mit mürrischem Gesicht wieder seinem Bier. Kurz darauf stand er auf und ging durch die Tür zu den Toiletten.
»Tut mir leid«, sagte der Wirt zu Marco, als Henning verschwunden war. »Wenn der einen übern Durst getrunken hat, is’ er unausstehlich. Er wohnt a im Gasthof. Ich hab’ Ihnen aber des Zimmer im andern Flur ‘geben. Er is’ nachts manchmal aweng laut«, er warf einen kurzen Blick zur Tür, hinter der Henning verschwunden war, und wo man jetzt das gedämpfte Rauschen einer Toilettenspülung hören konnte. »Tagsüber is’ er aber unterwegs und verkauft seine Versicherungen.«
In diesem Augenblick betrat Henning wieder leicht schwankend den Raum, warf giftige Blicke um sich und ließ sich mit einem lauten Ächzen auf seinen Stuhl sinken.
Jetzt mischte sich der ältere Mann wieder ein, anscheinend wollte er das Thema wechseln. »Wie lange wollen sie denn bei uns im Dorf bleiben? „, fragte er Marco und lächelte ihm freundlich zu. »Und – wenn ich so neugierig sein darf – worin besteht denn eigentlich ihre wissenschaftliche Tätigkeit? Gibt es denn hier bei uns irgendetwas zu erforschen?«
»Zahlen«, brüllte Henning, bevor Marco antworten konnte, und knallte eine dicke Lederbörse auf den Tisch. »Und bringen Sie mir noch ein Kirschwasser, Rabe!« Er schnaufte laut und starrte Marco feindselig an. »Und für den Grünschnabel auch eins. Ich lass mir nicht nachsagen, dass ich die Gäste vergraule.«
»Nicht nötig«, lehnte Marco ab. »Ich mache mir nichts aus Schnaps.«
»Auch gut«, brummte Henning. »Ist sowieso nichts für kleine Kinder.« Der Wirt beeilte sich, Henning das Gewünschte zu bringen und sagte: »Die Getränke setzen wir mit auf die Rechnung.«
»Dann kann ich ja wohl gehen.« Henning schüttete sich den Schnaps in einem Zug in den Hals und gab ein krächzendes Geräusch von sich. »War mir eine Ehre, meine Herren!« Er stemmte sich von seinem Stuhl hoch und schwankte zur Tür. »Wir sehen uns«, setzte er mit einem Blick auf Marco aus seinen wässrigen Augen hinzu. Die Eingangstür schlug mit einem lauten Knall zu, dann war Henning verschwunden.
Eine Weile herrschte erleichtertes Schweigen in der Gaststube.
»Ich werde dann wohl auch …«, sagte Marco und erhob sich.
»Nicht doch«, sagte der andere Gast und nickte Marco freundlich zu. »Setzen Sie sich doch noch zu uns und erzählen uns etwas über ihre Arbeit hier in der Gegend. Wir sind nämlich alle sehr neugierig.«
»Gerne!« Marco ging zum anderen Tisch hinüber.
»Mein Name ist übrigens Bernd Brenner«, stellte sich der Mann mit den grauen Haaren und dem Schnauzbart vor. »Ich bin der hiesige Förster. Schon«, er überlegte kurz, »seit fast fünfunddreißig Jahren. Ich war auch ziemlich jung, als ich hier anfing und kann mir vorstellen, wie’s Ihnen bei solchen Angriffen wie eben geht. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, uns etwas über Ihre Arbeit zu erzählen. Ah, der Wein ist da!«
Baptist Rabe kam mit einer Flasche Wein und drei Gläsern an den Tisch.
Rabe füllte die Gläser, die drei Männer stießen an, tranken und Marco begann: »Wie sie ja schon gehört haben, beschäftige ich mich mit Geschichte. Und zwar speziell mit der vorchristlichen und heidnischen Geschichte in Europa. Dazu besuche ich frühere Kultstätten und ehemalige heilige Plätze und versuche etwas über ihre Geschichte zu erfahren.«
»Lassen Sie mich raten«, warf der alte Förster ein und kniff die Augen zusammen. »Sie wollen unsere Opferhöhle besuchen.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Ich dachte mir, dass sie die Höhle kennen«, sagte Marco. »Aber warum die Bedenken?«
»Ich bin schon ziemlich lange hier«, sagte Brenner und strich nachdenklich seinen Bart glatt. »Kenne so gut wie jeden Winkel im Wald. Die Finstermail – so heißt das Waldstück, in dem die Höhle liegt – ist ein seltsamer Ort. Es sind dort viele seltsame Dinge passiert. Wenn ich ehrlich bin, die Gegend ist mir etwas unheimlich. Der Wald ist völlig verwachsen, man kommt kaum durch. Als man dort vor Jahren ein paar Bäume fällen wollte, hat sich ein Waldarbeiter glatt den Fuß abgesägt. Die Motorsäge ist abgerutscht. Er ist fast verblutet, bevor man ihn ins Krankenhaus bringen konnte. War ja kein Durchkommen in dem Gestrüpp, das dort oben wächst.« Er nippte nachdenklich von seinem Glas. »Seitdem wollte keiner mehr dort arbeiten. Habe auch keinen mehr hingeschickt, der Arbeiter hat es überlebt, aber seitdem läuft er mit einem Holzfuß herum, so einer Prothese, sie wissen schon.« Marco hörte mit ernster Miene zu und nickte nachdenklich. Es war gar nicht selten, dass in der näheren Umgebung von ehemaligen Kultstätten geheimnisvolle Dinge oder Unfälle passierten.
Jetzt wurde der Förster unterbrochen, weil die Tür zum Gasthof laut zufiel. Kurz darauf wurde ein Automotor angelassen. Brenner sah den Wirt fragend an. Der zuckte mit den Achseln. »Henning«, sagte er nur.
Brenner erzählte weiter: »Dann der junge Gerolf! Dass er etwas schwermütig war, wussten wir alle. Eines Tages war er verschwunden. Nach zwei Wochen fand man ihn, sie können sich sicher denken, wo.«
»In der Opferhöhle?«, vermutete Marco.
»Nicht ganz«, antwortete Brenner. »Aber in der Nähe der Höhle, keine fünfzig Meter entfernt, ist eine kleine Lichtung. Seltsam, dass sie nie zugewachsen ist. Na ja, jedenfalls steht in der Mitte dieser Lichtung eine jahrhundertealte Eiche. Und dort fand man Gerolf, er hatte sich mit seinem Gürtel an einem der Äste aufgehängt. Ich will ihnen bestimmt keine Angst einjagen, aber meine Meinung ist, dass dieser Ort Unglücksfälle anzieht; ich denke, er ist …« Brenner überlegte und trank noch einen Schluck. »… gefährlich!«
»Ich tät’ eher sagen: verflucht«, brummte der Wirt, der bis jetzt schweigend zugehört hatte und nur immer wieder zustimmend genickt hatte, als Brenner seine Geschichte erzählte.
Der Förster wiegte nachdenklich den Kopf. »Das hört sich sehr nach Aberglauben an. Aber Tatsache ist, dass da oben schon ungewöhnlich viele Unfälle passiert sind. Es gibt noch mehr solche Geschichten, aber ich will ja nicht, dass Sie gleich wieder abreisen.«
»Keine Sorge«, sagte Marco. »Genau wegen dieser Geschichten bin ich ja hier. Meine Aufgabe ist es, vielleicht die Ursachen für diese Unfälle zu finden.«
»Ursachen?« Rabe sah ihn mit großen Augen an. »Sie mahna, Sie könnten da was finden?«
»Wenn die Vorfälle wirklich etwas mit der Opferhöhle oder dem Gebiet um die Höhle zu tun hatten, werde ich versuchen, die Zusammenhänge zu ergründen«, sagte Marco und trank von seinem Glas.
»Ich bin ja wirklich kein Angsthase«, meldete sich Brenner zu Wort. »Aber wenn es einen gemeinsamen Hintergrund für diese Unglücke gibt, möchte ich lieber nichts damit zu tun haben.«
»Wissenschaftler suchen immer nach Zusammenhängen«, erklärte Marco. »Auch wenn es manchmal etwas ungemütlich werden könnte.«
Brenner sah Marco in die Augen. »Ich hoffe doch, dass Sie vorsichtig sind. Sie wollen sicher so bald wie möglich zur Drudnhöhle!«
»Das stimmt«,nickte Marco. »Gleich morgen früh mache ich mich auf den Weg.«
»Sie sollten vielleicht nicht allein dort hinaufgehen«, gab der Förster zu bedenken. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mein Gott«, rief er erschrocken aus. »Wie man sich doch verplaudern kann. Es ist schon nach zehn. Leider muss ich nach Hause. Tja, es hat mich sehr gefreut, Herr Ringer.« Er wollte zahlen, aber Rabe winkte ab. »Lass stecken, Bernd. Die Flasch’n geht auf mei’ Rechnung.«
Brenner stand auf, wünschte Marco noch mal alles Gute und verließ den Gasthof.
Henning taumelte und wäre fast über die Eingangsstufen gestolpert, als er die Drei Raben verließ. Er zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen, dann atmete er tief durch. Diese Hinterwäldler! Henning schalt sich einen Narren, dass er sich überhaupt an diesem Ort eingemietet hatte. Seit fast einem halben Jahr wohnte er nun schon in dieser Einöde. Das Einzige, was man hier nach Feierabend noch erleben konnte, war den Fliegen beim Umherschwirren zuzusehen und vielleicht ab und zu eine zu erschlagen.
Aber heute Abend würde er sich damit nicht zufriedengeben. Es war Vollmond – und wie an jedem Vollmond wollte er noch einen draufmachen; am besten mit ein paar flotten Miezen im Arm. Die Vorfreude ließ ein lüsternes Grinsen über Hennings Gesicht ziehen. Bis zur nächsten Stadt war es mit dem Auto nur eine halbe Stunde. Dort gab es ein nettes, kleines Rotlichtlokal, in dem einige Damen nur darauf warteten, ihm den Abend zu verschönern.
Sein Wagen stand nur wenige Meter vom Gasthof entfernt. Henning setzte sich schwerfällig in Bewegung. Als er den BMW erreicht hatte, stützte er sich schwer auf die Karosserie und kramte in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Er machte sich nicht viel Gedanken darüber, dass er schon ziemlich angetrunken war. Im Gegenteil – mit ein wenig Alkohol im Blut machte ihm das Autofahren gleich noch mal soviel Spaß. Und er fuhr leidenschaftlich gern Auto.