Green Lies - U.T. Bareiss - E-Book

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U.T. Bareiss

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Beschreibung

Green Lies – Tödliche Ernte «In dem Moment knackte es im Funkgerät. Plötzlich ging alles ganz schnell. Die Söldner stürmten auf ihr Versteck zu. David stand auf und blickte in fünf Uzis, die sich auf ihn richteten.» Der Jurist David Kepler kann den schnellen Erfolg kaum fassen. Bereits nach kurzer Zeit erhält er eine Spitzenposition bei Global Green Palm Oil. Die Firma trägt stolz das grüne Label für Nachhaltigkeit und zeigt sich ihren Mitarbeitern gegenüber äußerst spendabel. In Borneo angekommen, mehren sich jedoch die Zweifel an der Seriosität des milliardenschweren Konzerns. Weshalb könnte jemand Interesse daran haben, ihn zu überwachen? War der Tod seines Vorgängers wirklich ein Unfall? Unterstützung findet David bei der Biologin Floriana Anders, die sich leidenschaftlich für den Schutz der bedrohten Orang-Utans und der letzten Tieflandregenwälder Borneos einsetzt. Gemeinsam versuchen sie, die dunklen Machenschaften seiner Firma aufzudecken. Dabei geraten sie selbst in tödliche Gefahr … Ein packendes Abenteuer voller Intrigen, Verrat, einer heimlichen Liebe und der rücksichtslosen Zerstörung der Natur Mit einem Nachwort von Daniel Merdes, Geschäftsführer Borneo Orangutan Survial (BOS) Deutschland, www.orangutan.de «Ein erschreckend realistischer Umweltthriller. U.T. Bareiss ist mit „Green Lies“ ein packender Pageturner gelungen, der ins Bücherregal eines jeden Thrillerfans gehört.» Bestsellerautorin Julia K. Rodeit

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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GREEN LIES
TÖDLICHE ERNTE
von
U. T. BAREISS
Wie du säest, so wirst du ernten
(Marcus Tullius Cicero)
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig. Die Vorkommnisse könnten jedoch genau so passiert sein und geschehen tagtäglich.
Impressum
GREEN LIES
U.T. Bareiss
© Ute Bareiss 2024
c/o Müller ImpressBehringstrasse 1370565 Stuttgart
1. Auflage: Juni 2024
www.weltenbummler-blog.de
Social Media @weltenbummelnde_autorin
(Facebook / Instagram / TikTok)
Covergestaltung: © RebecaCovers
Unter Verwendung von Motiven von @depositphotos.com @Das-Syndikat @BOS
Motiv Inhalt: Danke an biggerthanpluto© Michael Hourigan @Pixabay
Kartenmaterial © Daniel Feher
@ indonesien-geographie-hd.jpg (1200×509) (freeworldmaps.net)
Der Text und das Cover wurden komplett ohne Zuhilfenahme von KI erstellt
Lektorat: Katrin Rodeit
Korrektorat: Ralf Gebhardt
Printed in Europe
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Green Lies – Tödliche Ernte
«In dem Moment knackte das Funkgerät.
Plötzlich ging alles ganz schnell.
Die Söldner stürmten auf ihr Versteck zu.
David stand auf und blickte in fünf Uzis, die sich auf ihn richteten.»
Der Jurist David Kepler kann seinen schnellen Erfolg kaum fassen. Bereits nach kurzer Zeit bei Global Green Palm Oil erhält er eine Spitzenposition. Die Firma trägt stolz das grüne Label für Nachhaltigkeit und zeigt sich ihren Mitarbeitern gegenüber äußerst spendabel. In Borneo angekommen, mehren sich jedoch die Zweifel an der Seriosität des milliardenschweren Konzerns. Weshalb könnte jemand Interesse daran haben, ihn zu überwachen? War der Tod seines Vorgängers wirklich ein Unfall?
Unterstützung findet David bei der Biologin Floriana Anders, die sich leidenschaftlich für den Schutz der bedrohten Orang-Utans und der letzten Tieflandregenwälder Borneos einsetzt. Gemeinsam versuchen sie, die dunklen Machenschaften seiner Firma aufzudecken. Dabei geraten sie selbst in tödliche Gefahr …
Ein packendes Abenteuer voller Intrigen, Verrat, einer heimlichen Liebe und der rücksichtslosen Zerstörung der Natur
«Ein erschreckend realistischer Umweltthriller. U.T. Bareiss ist mit „Green Lies“ ein packender Pageturner gelungen, der ins Bücherregal eines jeden Thrillerfans gehört.»
Bestsellerautorin Julia K. Rodeit
Für Hajot
Meine Liebe, mein Leben
Dem BOS und den „Waldmenschen“,
die sie schützen
Mögen noch viele Generationen
die Chance erhalten,
die Orang-Utans zu erleben
PROLOG
Was gepflanzt wurde, das wird wachsen.
(Indonesisches Sprichwort)
Die Angelschnur sirrte durch die Luft, bis der Haken mit einem kaum wahrnehmbaren Platschen im Wasser versank. Kleine Wellen breiteten sich um das Ruderboot aus, als er den Köder wieder herankurbelte und erneut auswarf. Der See lag wie ausgestorben da, Nebelschwaden waberten über die Oberfläche. Die Morgensonne war nur vage, als milchige Scheibe, hinter der dichten Wolkendecke zu erahnen. Ab und zu störte der Flugverkehr von Frankfurt die friedliche Stille, und einmal joggte ein Frühaufsteher, halb verdeckt von den Büschen und dem Schilfgras am Ufer, keuchend vorbei.
Doch jetzt war es ganz ruhig, nur untermalt von einem sanften Plätschern. Demnächst würde die Winterruhe einsetzen und dem sonntäglichen Vergnügen für einige Monate Pause verordnen. Bereits heute waren die Temperaturen nur wenig über Null geklettert. Die Kälte kroch in seine alten Glieder und sein Atem hing wie eine weiße Fahne vor dem Gesicht. Er schlüpfte aus den Handschuhen und rieb die Handflächen aneinander, um sie zu wärmen, dabei klemmte er die Angel zwischen die Knie.
Plötzlich schlug der Alarm an, etwas zog am Haken. Er ließ die Handschuhe fallen und versuchte, die Leine einzuholen. Du liebe Güte! War das ein kapitaler Hecht? Der Zug an seinen Armen wurde stärker. Er verlagerte das Gewicht nach hinten, kämpfte mit der Angel, die sich immer weiter nach unten bog. Zog an, ließ nach und kurbelte. Wieder und wieder.
Auf einmal begann das kleine Holzboot unkontrolliert zu schaukeln. Reflexartig griff er zur Bordwand, um Halt zu suchen. Die Angel mit der Beute entglitt seinen Fingern. Seine Hand fasste ins Leere, er kippte nach hinten. Als er in die eisigen Fluten eintauchte, stockte ihm der Atem. Wie Nadelstiche bohrte sich das kalte Wasser in seine Haut. Panisch riss er die Augen auf, sah nur verschwommen grünes Seewasser um sich herum, versuchte, dorthin zu schwimmen, wo es heller schimmerte. Die durch die Nässe schwer gewordene Winterkleidung zog ihn nach unten. Doch da war mehr. Irgendetwas hielt ihn am Fuß fest. Er trat aus, das sorgte jedoch lediglich dafür, dass dieses Etwas nun beide Füße noch enger umklammerte. Waren es Schlingpflanzen? Luft! Die Angst ergriff sein Herz wie eine eiserne Klaue. Mit den Armen ruderte er hektisch nach oben. Das eisige Wasser verlangsamte seine Bewegungen. Die Lungenflügel begannen zu schmerzen. Das Zwerchfell zitterte. Er brauchte Luft! Verzweifelt versuchte er, seine Beine zu befreien.
Ein dunkler Schatten breitete sich unter ihm aus, nur verschwommen nahm er alles durch das trübe Grün wahr. Luft! Sein Körper hatte sämtlichen Sauerstoff in der Blutbahn bereits verbraucht. Schmerzhaft zuckte das Zwerchfell, wollte die Lungenflügel zur Arbeit antreiben.
Im selben Moment, in dem er registrierte, dass er es nicht schaffte, sich von dem, was immer ihn festhielt, zu befreien, gab sein Körper auch den Kampf gegen den Atemreiz auf, und er schnappte vermeintlich nach Luft. Der Schmerz explodierte in seinem Kopf, als das grüne Seewasser in die Lungen trat.
Mit aller Macht brach die Panik über ihn herein. Er würgte, hustete, inhalierte noch mehr Wasser. Sein Herz pumpte in einem verzweifelten Aufbäumen noch einige Male, dann setzte das Herzkammerflimmern ein. Ein letztes Zucken und der See, auf dem er Zeit seines Lebens geangelt hatte, wurde zu seinem nassen Grab.
Der Schatten unter ihm verschwand so leise, wie er gekommen war.
1
Wenn der Mensch nicht über das nachdenkt,
was in ferner Zukunft liegt,
wird er das schon in naher Zukunft bereuen.
(Konfuzius)
Drei Monate zuvor
Indonesien, Borneo
Balikpapan, Zentrale der Global Green Palm Oil Limited (GGP)
Unsere Hauptenergie konzentriert sich momentan auf die bevorstehende Fusion von Global Green mit Sembal Palm Oil. Wir werden unser Team hier vor Ort vorübergehend um einige Leute aufstocken.“ CEO Richard „Rick“ Gross sah in die Runde und badete für einen Moment in der konzentrierten Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde. Die Mehrheit des guten Dutzends führender Mitarbeiter, die an dem blank polierten Mahagonitisch im Besprechungszimmer der obersten Etage von Global Green Palm Oil Limited, kurz GGP, saßen, stammten nicht aus Indonesien. Ein Großteil kam aus Deutschland, der Produktionsleiter hatte italienische Wurzeln, auch zwei Amerikaner und ein Asiate waren dabei. Dass sie hier im östlichen Borneo alle fern von Zuhause in einem Land wohnten, das sich mit seiner unbarmherzigen, feuchten Tropenhitze, dem Smog, den allgegenwärtigen Moskitos und der fremdländischen Kultur so sehr von ihrem Zuhause unterschied, schweißte sie eng zusammen. Sie waren quasi eine Familie, deren unbestrittenes Oberhaupt Rick selbst war. In den meisten Blicken las er auch unverhohlene Untergebenheit.
Abgesehen von einem Augenpaar  …
Fühlte sein Justitiar sich zurückgesetzt? „Wir werden auch die Rechtsabteilung verstärken, Kört“, versicherte Rick. „Ihr junger Kollege in Frankfurt …“
„David Kepler“, warf Kurt Gutenke ein.
Rick presste kurz die Lippen zusammen. Natürlich kannte er den Namen – er hatte all seine Mitarbeiter im Blick. „Genau. Wir werden Dave für einige Wochen herbeordern, um Sie zu entlasten. Die Hauptarbeit liegt schließlich mit auf Ihren Schultern.“ Er musste sich zu einem anerkennenden Lächeln zwingen – seine feinen Antennen sagten ihm ganz deutlich: Etwas stimmte nicht.
Als der Justitiar nicht sofort antwortete, sondern ihn nur weiterhin mit diesem kritischen Blick bedachte, hob Rick fragend die Augenbrauen. „Sie selbst haben ihn doch in den höchsten Tönen gelobt. Hegen Sie Zweifel an seiner Kompetenz oder Zuverlässigkeit?“
„Keinesfalls. David Kepler ist ein äußerst fähiger junger Mann, der vollen Einsatz bringt und dabei außergewöhnliche Arbeit leistet. Er wird mir eine große Hilfe sein.“ Die Pause wirkte beinahe dramatisch, bevor er weitersprach: „Das sind jedoch nicht meine Bedenken.“ Der Justitiar richtete sich so abrupt auf, als gäbe er sich innerlich einen Ruck. „Ich werde jetzt mal ganz deutlich: Eine Fusion mit einem anderen Palmölproduzenten allein bringt uns nicht weiter, wenn wir nicht ausreichend zertifizierte Plantagen haben. Ich habe geschwiegen, als wir Land erschlossen haben, das eigentlich den Ureinwohnern gehört.“ Er hob die Hand, als Rick ihn unterbrechen wollte. „Lassen Sie mich bitte ausreden. Viele Areale von Sembal Palm Oil sind nicht von der ISCC als nachhaltig zertifiziert. Wir können nicht immer alles zurechtbiegen, irgendwann ist auch Schluss. Ohne den Nachweis, dass das Palmöl umweltgerecht produziert wurde, finden wir auf dem deutschen Markt keine seriösen Käufer. Von den erhofften Subventionen des Staates ganz zu schweigen.“
Für einem Moment kämpfte Rick mit dem aufbrodelnden Unmut. Doch wenn er auf die Vorwürfe einging, würde sich die Aussage nur noch mehr in den Köpfen einprägen. Wer sich verteidigt, klagt sich an. Von der Respektlosigkeit abgesehen - glaubte Kurt vielleicht, das wüsste er nicht? Oder dachte der Kerl, Erfolg würde so mir nichts, dir nichts vom Himmel regnen? Rick war selbst ganz gewiss gottesfürchtig, nahm nie eine Mahlzeit zu sich, ohne dem Schöpfer für die Gnade zu danken, er versuchte auch, die zehn Gebote nach bestem Wissen und Gewissen einzuhalten. Aber Gott half denen, die sich selbst halfen. Hier stand verdammt viel Geld auf dem Spiel, da durfte nichts schiefgehen.
Dieser Jurist sollte sich auf seine Aufgabe fokussieren, die Verträge für die Fusion auszuarbeiten, und sich nicht um die Beschaffung der Rohstoffe kümmern, dafür hatte die Firma andere Leute. Gute Leute, zum Beispiel seinen Goldjungen, wie er ihn im Geheimen nannte. Der auf ein Vorankommen hinarbeitete und sich nicht von jedem Stein auf dem Weg von ihrem gemeinsamen Ziel abhalten ließ.
Zum Glück nahm ihm dieser die Antwort ab. „Warum lassen Sie die verfügbaren Rohstoffmengen nicht unsere Sorge sein, Kört, und konzentrieren sich auf Ihr Aufgabengebiet?“
Der Justitiar ließ sich nicht davon beirren. „Weil ich keinen Betrug unterstützen möchte.“
Für einen Moment herrschte Totenstille im Raum, als traute sich keiner zu atmen.
„Jetzt machen Sie mal halblang!“ Es kostete Rick fast übermenschliche Kraft, einigermaßen ruhig zu bleiben. „Ich habe Ihre Unterstellungen hingenommen, weil jeder in diesem Raum weiß, dass sie haltlos sind. Aber in Ihrem Beruf sollten Sie wissen, dass man seine Worte abwägen sollte, bevor sie den Mund verlassen.“
Gutenke ging gar nicht darauf ein. „Wir stehen im Fokus einiger Umweltorganisationen. Dieser Ole Thomas von Kinder der Erde ist uns auf den Fersen. Er hat die Lastwagen, die unsere Ölfrüchte bei den Mühlen anliefern, überwacht. Diese sind nicht immer von unseren als nachhaltig zertifizierten Plantagen gekommen. Auf fünf Lastwagen, die unsere offiziellen Plantagen verlassen haben, kamen acht Fahrzeuge, die unsere Mühlen mit Lieferungen von Palmöl-Früchten erreicht haben. Wo sind die übrigen drei hergekommen?“
Rick erstarrte. Was fiel diesem Gutenke ein, solche Vorwürfe in der großen Besprechungsrunde, in der sich die verschiedenen Abteilungen versammelt hatten, auszusprechen? Fast wirkte es, als hätte Kurt absichtlich auf das Meeting gewartet, anstatt ihn selbst in einem vertraulichen Gespräch zu informieren. Was bezweckte er damit? In letzter Zeit hatte er sich bereits einige Male rebellisch gezeigt. Wollte er so kurz vor seinem Ruhestand noch Ärger machen?
Er musste doch auch verstehen, dass man manchmal gezwungen wurde, Kompromisse einzugehen, wenn es die Umstände erforderten. Schon der Apostel Paulus wusste, dass man nur gekrönt wird, wenn man gesetzmäßig gekämpft hat. Wie hieß es so schön? Der Zweck heiligt die Mittel.
Sämtliche Blicke im Raum wanderten zwischen dem Juristen und ihm hin und her. Rick zwang sich zu einem Lächeln. „Warum sagen Sie das nicht gleich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es tatsächlich Fehllieferungen gegeben hat. Vermutlich will dieser vermeintliche Weltverbesserer nur wieder mit falschen Behauptungen Furore machen und im Rampenlicht stehen. Er liebt es, Unfrieden zu stiften, doch damit wird er innerhalb unserer Reihen keinen Erfolg haben. Selbstverständlich werden wir das überprüfen. Falls tatsächlich etwas mit den Lieferungen schiefläuft, bringen wir das unverzüglich in Ordnung. Die wenigen Stunden, die wir zwischen Ernte und dem Mahlen zur Verfügung haben, bevor die Ölfrüchte verderben, sind ein enges Zeitfenster. Sollte tatsächlich in der Hektik etwas schiefgelaufen sein, gehen wir dem natürlich nach und ziehen die Mitarbeiter zur Verantwortung.“ Er sah in die Runde. „Wenn man diese Leute vor Ort nicht ständig überwacht, bringen sie alles durcheinander. Sie kennen eben keine deutsche Zuverlässigkeit.“
Die Mitarbeiter stimmten in sein Lachen ein.
Speichellecker, schoss es Rick durch den Kopf. Dennoch gab es ihm eine gewisse Genugtuung, wie all diese Männer ihm aus der Hand fraßen. Außer Kurt. Auf dem grauen Gesicht breiteten sich noch mehr Falten aus, als er dem Blick ungerührt standhielt. Rick presste die Lippen zusammen. Er musste sich diesen Gutenke vorknöpfen. So kurz vor Abschluss konnten sie keine Hindernisse mehr dulden.
Auch wenn sich Ricks Konzentration vorwiegend auf die weiteren Besprechungspunkte und die Aufstockung der Mitarbeiter in den anderen Abteilungen richtete, arbeitete sein Verstand im Hintergrund bereits an einer Lösung für das Problem.
Woher wusste Kurt, was dieser vermaledeite Ole Thomas herausgefunden hatte? Der Justitiar musste Kontakte haben – die Kinder der Erde hatten solcherlei Ergebnisse bislang nirgendwo veröffentlicht. Das wäre Rick bekannt, schließlich überwachten sie deren sämtliche Aktionen rund um die Uhr.
Sie mussten vor allem herausfinden, mit wem dieser Ole Thomas noch gesprochen hatte. Solche Gerüchte konnten auf dem Aktienmarkt verheerende Folgen haben. Der Kerl war ihm schon lange ein Dorn im Auge.
Als sich die Besprechung auflöste, bedachte Rick seinen Justitiar mit einem strahlenden Lächeln. „Kommen Sie gleich mit in mein Büro? Es gäbe da noch zwei, drei Punkte, die ich gern mit Ihnen durchgehen möchte.“
An dem Gesichtsausdruck sah Rick, dass Kurt ganz genau wusste, worum es ging, trotzdem nickte er – zum Glück ohne weiteren Kommentar.
Sein Justitiar wirkte kein bisschen von seinem scharfen Blick eingeschüchtert, als er kurz darauf vor ihm stand, er blieb völlig ruhig. „Das ist Betrug, was wir da betreiben, Rick. Das ist gefährlich! Falls das herauskommt, haben wir nicht nur jede Menge Ärger am Hals, sondern verlieren auch unseren guten Ruf und die Aufträge in Deutschland. Es soll momentan über die neue Gesetzeslage abgestimmt werden – es spricht nicht für uns, wenn man sich nicht auf unser Versprechen der Nachhaltigkeit verlassen kann. Von den Subventionen, die wir dabei verlieren, und den Einbrüchen auf dem Aktienmarkt ganz zu schweigen.“
„Seit wann haben Sie Kontakte zu Ole Thomas?“, fragte Rick, ohne auf die Anschuldigung einzugehen, obwohl bei dem Wort „Betrug“ erneut Hass in ihm aufwallte.
Kurt hielt abermals seinem Blick stand. „Er kam auf mich zu, als ich kürzlich abends aus dem ‚Le Grandeur' vom Essen kam, und hat mir die Vorwürfe an den Kopf geworfen.“
Rick trat an die gläserne Fensterfront und schaute über den sich endlich dahinziehenden Strand von Balikpapan. Das sonst meist ruhige Meer brach sich heute unruhig am Ufersaum – und entsprach damit seiner eigenen inneren Aufgewühltheit. „Wer war noch dabei?“
„Ich war allein unterwegs.“
„Weshalb kommt er zu Ihnen, anstatt es publik zu machen, wenn er glaubt, so etwas beobachtet zu haben? Kennen Sie ihn näher?“
„Ich kenne ihn nicht näher und ich weiß nicht, warum er damit an mich herangetreten ist“, gab Kurt ungehalten zurück. „Was unterstellen Sie mir, Rick?“
„Wieso sind Sie nicht gleich mit dieser Angelegenheit zu mir gekommen, sondern haben bis zu der heutigen Besprechung gewartet?“ Nun hielt Rick die Schärfe in seiner Stimme nicht mehr zurück, und er drehte sich wieder zu seinem Justitiar um.
Kurt blieb unverändert ruhig, fast nachdenklich. „Wenn an diesen Vorwürfen etwas dran ist, sollten wir das allegemeinsam angehen. Wussten Sie von den fehlgeleiteten Lieferungen, Rick?“ Die Betonung ließ seine Zweifel an einem Zufall deutlich herausklingen.
„Wir produzieren tonnenweise Palmöl. Ich kann nun wirklich nicht jeden der Lkw-Fahrer überwachen, die hier herumfahren“, gab Rick mit nur mühsam unterdrücktem Zorn zurück. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, wie das Gespräch verlief. „Sie haben mir immer noch nicht erklärt, wieso der Kerl auf Sie zukam? Und warum er Ihnen solche wertvollen Informationen zuspielen sollte, anstatt mit seinem angeblichen Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Das zeigt doch nur, dass er keine tatsächlichen Fakten vorweisen kann. Außer er kam zu Ihnen, weil er Unfrieden stiften und die Fusion verhindern will. Oder vielleicht wollte er Sie über unsere Pläne oder Hintergründe aushorchen mit seinen vermeintlichen Informationen?“
„Wir trafen zufällig aufeinander, er war auch im ‚Le Grandeur‘ und hatte wohl schon einiges an Alkohol intus. Mir erschien es von seiner Seite aus eher spontan, er provoziert ja gern. Unter Umständen wollte er, dass ich etwas Unbedachtes heraus plaudere, das ist sehr gut möglich – jedoch nicht geschehen.“
„Hatten Sie auch getrunken?“
„Ja, aber nicht so viel, dass ich nicht mehr wusste, was ich sage. Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Rick! Nehmen wir einmal an, wir erhalten das Regierungszertifikat. Diese riesigen Produktionsmengen, die wir benötigen, können wir niemals allein mit den Plantagen bewerkstelligen, die die Anforderungen an die Nachhaltigkeit erfüllen.“
Rick versteifte sich. Seit wann hatte Kurt Zugriff auf die Daten ihrer Produktionsstätten? Ganz bewusst trennte er die verschiedenen Aufgabengebiete strikt, sodass jeder der Abteilungsleiter nur über seinen eigenen Zuständigkeitsbereich Bescheid wusste. Um solch lästigen Rückfragen aus dem Weg zu gehen. „Gerade Ihnen sollte es nicht entgangen sein, dass wir momentan erweitern, Kurt. Deshalb fusionieren wir, um den Bedarf zu decken. Und Ihre Aufgabe ist es, diese Fusion mit vorzubereiten“, gab er kalt zurück.
„Ich habe verstanden“, sagte Kurt steif.
Ehe Rick sichs versehen konnte, drehte sich der unverschämte Kerl ohne Abschied zur Tür.
Fassungslos sah er seinem Juristen hinterher. Was fiel diesem arroganten Schnösel ein, ihn einfach so stehenzulassen? Dem würde er zeigen, wer hier das Sagen hatte. Heiß wallte der Zorn in ihm auf.
Er packte den Hörer und hämmerte die Ziffern 3–2-1 in die Tastatur. Das erste Läuten erklang noch nicht richtig, da wurde abgenommen.
„Ja, Rick?“
„In fünf Minuten in meinem Büro.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, warf er den Hörer auf die Gabel.
Rick trank selten Alkohol, weil er Herr seiner Sinne bleiben wollte. Doch nun öffnete er das Barfach, nahm die Holzkiste mit dem dreißig Jahre alten Laphroaig heraus, schenkte sich zwei Fingerbreit dunkelgoldenen Whisky in ein Nosingglas und verstaute ihn wieder im Schrank. Er nippte, rollte ihn auf der Zunge und ließ den Geschmack nach Eichenholz, vermischt mit einer leichten Süße, wirken. Honigwarm rann der Single Malt seine Kehle hinunter, und mit ihm verschluckte er einen Teil des Ärgers. Er würde sich solch ein Verhalten von seinem Juristen ganz sicher nicht bieten lassen. Keinesfalls duldete er so kurz vor der Zielgerade eine Störung. Dazu hatte er viel zu hart dafür gearbeitet, den Erfolg hatten sie doch quasi schon in der Tasche.
Als es exakt fünf Minuten nach dem Telefonat an seiner Tür klopfte, hatte er sich wieder im Griff.
Rick war froh, dass der Goldjunge direkt zum Thema kam: „Wie gehen wir vor?“
„Wir müssen herausfinden, welche Informationen dieser Ole Thomas besitzt, und was er damit bezweckt hat, Kurt zu kontaktieren. Vor allem, was dieser Idiot dabei erzählt hat. Die Aktionäre verlassen sich auf uns. Solche Gerüchte können verheerende Auswirkungen auf die Kurse haben. Wir brauchen die finanziellen Mittel für die Fusion.“
„Alles klar. Ich schaue, was ich rausfinden kann. Ich hoffe, wir kriegen keine Probleme.“
„Mit wem könnte Ole Thomas noch gesprochen haben?“
„Der Kerl vögelt sich ja quer durch die weiblichen Umweltfreaks.“ Manchmal hörte man seiner Ausdrucksweise die Vergangenheit an, vor allem wenn er aufgebracht war, doch bevor Rick ihn zurechtweisen konnte, sprach sein Vertrauter bereits weiter: „Eine Zeit lang war er mit der Leiterin von OUP, der Orangutan Protection, Floriana Anders, liiert. Falls sie Bescheid weiß, haben wir ein Problem, sie ist eh so penetrant in ihren Nachfragen bei den Behörden. Und hockt wie eine Glucke auf dem Gebiet rings um Bukit Hijau.“
„Wir brauchen das Areal, es ist riesig und liegt inmitten der anderen Plantagen. Dann hätten wir eine einheitliche Fläche“, warf Rick ein.
„Noch hält diese Orang-Utan-Tussi ihre Konzession, aber vielleicht nicht mehr lang.“ Der Goldjunge grinste siegessicher, wurde jedoch gleich wieder ernst. „Wir müssen dafür sorgen, dass sie keine Gründe in die Hand bekommt, um gegen uns vorzugehen.“
„Gut, versuch herauszufinden, was sie wissen könnte.“
„Okay. Und was machen wir mit ihm?“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Büroflügels, in dem der juristische Bereich untergebracht war.
Rick verschränkte die Finger und stützte sein Kinn darauf. „Irgendwann wird er in Ruhestand gehen“, sagte er langsam.
In den dunklen Augen seines Gegenübers stand der Grimm. „Und was, wenn er uns bis dahin Ärger macht und die Fusion gefährdet? Wenn Sembal Palm Oil hört, dass es bei uns Probleme gibt, ziehen sie vielleicht ihre Zusage zurück und fusionieren mit einem anderen Partner? Wir brauchen sie zwingend, um weltweit der größte Lieferant zu werden. Von dem Ziel rücken wir nur wegen so einem Querulanten ganz bestimmt nicht ab.“
Rick zögerte. Er hatte den Jungen – er wusste selbst nicht, warum er für ihn immer noch „der Junge“ war, obwohl der sich nun schon fast im mittleren Alter befand – einst quasi direkt von der Straße aufgelesen und ihn bis zu seiner heutigen Position aufgebaut. Sie zogen beide am gleichen Strang.
„Was schlägst du vor?“
„Vielleicht möchte er schon vor der Fusion in Ruhestand gehen? Er wirkt ständig so gestresst, nicht, dass er uns noch einen Herzinfarkt erleidet.“
Rick atmete tief durch. „Gut, ich spreche noch mal mit ihm.“
„Wenn Kurt … vorzeitigausscheidet“, ein diabolisches Grinsen schlich sich auf die Züge, das Rick für einen Moment einen kalten Schauer über den Rücken jagte und gleichzeitig eine eigenartige Erregung in ihm hervorrief, „wen haben wir, der seine Position einnehmen kann und keinen solchen Ärger macht? Denkst du, Dave wäre der Richtige?“
„Zumindest hat er eine starke Motivation, die ihn davon abhalten wird, Schwierigkeiten zu machen, nicht wahr? Er braucht den Job dringend. Aber überlass das ruhig mir!“
Gott sei unserer Seelen gnädig, fügte er in Gedanken hinzu.
*
Gegenwart
Indonesien, Borneo
Rehabilitations-Station der OUP – Orangutan Protection
Kampung Kera („Dorf der Affen“)
Floriana Anders schlug nach einem Moskito, der sich auf ihre Hand gesetzt hatte, bevor sie ihren Hut lüftete und sich über die Stirn wischte. Es war drückend heiß heute. Das Khakihemd der Rangeruniform klebte an ihrem Rücken und zwischen ihren Brüsten rann der Schweiß hinunter. Den ganzen Morgen hatte es wie aus Kübeln gegossen. Die Sonne, die sich gegen Mittag durch die Wolkendecke gekämpft hatte, verwandelte den Regenwald von Kampung Kera in eine Dampfsauna, der Geruch nach feuchter Erde umhüllte sie. Die Gummistiefel saugten sich bei jedem Schritt in dem knöcheltiefen Matsch fest, als sie vom Jeep zur Krankenstation der Orang-Utan-Rehabilitationsstation stapfte. Die Regenzeit hier in Kalimantan Timur, dem Osten Borneos, würde noch gute drei Monate andauern. Doch ihr aktuelles Problem bedrückte sie viel mehr. Sie seufzte und versuchte, sich zu wappnen. Es schnitt ihr jedes Mal tief ins Herz, wenn ein schwerverletzter Orang-Utan angeliefert wurde. Und das geschah leider viel zu oft.
Sie blickte durch die Glasscheibe in den OP-Vorbereitungsraum. Obwohl sie sich innerlich vorbereitet hatte, traf sie der Anblick des ausgemergelten, von zahlreichen Eiterkratern verunzierten Zweijährigen, der bereits intubiert regungslos auf der Krankenliege lag, wie ein Keulenschlag. Er war so zerbrechlich, kaum größer als ein Baby. Am liebsten wäre sie hineingeeilt und hätte ihn in den Arm genommen, doch jetzt hatten seine OP und eine sterile Umgebung Vorrang.
Das Ärzteteam, das aus Humanmedizinern und Veterinären bestand, hatte den Kleinen teilweise rasieren müssen, um die Schrotkugeln, die in seinem Körper steckten, entfernen zu können. Nur an wenigen Stellen waren noch flauschige Reste des charakteristischen kastanienroten Fells zu sehen.
Dr. Tiwi Prasetyo, die Fachtierärztin von Kampung Kera, trat zu Floriana und deutete auf das Röntgenbild. In den Armen, zwischen den Rippen, in den Beinen, ja, über den ganzen Körper verteilt zeigten sich weiße Punkte.
„Wir haben ihn auf einer Palmölplantage beschlagnahmt. Ein Arbeiter hatte sich anonym bei uns gemeldet und den Vorfall angezeigt. Anscheinend kam die Mutter mit ihrem Kleinen auf der Suche nach Futter zu der Plantage. Das umliegende Land wurde brandgerodet – sie muss sehr hungrig und verzweifelt gewesen sein, dass sie sich so nah an menschliche Behausungen gewagt hat.“ Tiwis dunkle Augen waren vor Kummer, oder vielleicht auch Ärger, fast schwarz. „Die Männer haben die durch Schüsse verletzte Mutter erschlagen und an einen Metzger verkauft.“
Floriana schnaubte empört auf. Wozu gab es das Verbot für den Verkauf des Fleischs ihrer Artverwandten, das unter der Bezeichnung „Bush Meat“ lief, wenn sich keiner um die Einhaltung kümmerte? Aber bei zweitausend Euro pro Kilo für diese „Delikatesse“ konnten viele Augen zugedrückt werden.
Tiwi fuhr fort: „Den Kleinen, der wohl beim Schuss auf die Mutter ebenso verletzt wurde, haben sie in einen Käfig gesperrt. Jemand verriet uns, sie wollten ihn an eine Orang-Utan-Show zur Bespaßung von Touristen verkaufen.“
Für einen Moment schloss Floriana die Augen. Sah dieses zarte Wesen vor sich, in Schau-Boxkämpfe verwickelt, untermalt von Zirkusmusik. Niemand würde sich darum scheren, was sie dem Kleinen damit antaten. Wenn er sich dabei verletzte, was ständig vorkam, die Brüche schlecht verheilten und schief zusammenwuchsen, und er kampfunfähig werden würde, dann musterte man ihn eben aus. Der nächste Metzger war nicht weit entfernt.
Wieder musste Floriana an sich halten, um ihren Schmerz nicht an der Tierärztin auszulassen, doch ihre Stimme war lauter als beabsichtigt. „So viel zur Zertifizierung sämtlicher Plantagen in der Umgebung, die sich verpflichtet haben, den Orang-Utans, die auf Nahrungssuche sind, kein Haar zu krümmen, sondern uns oder eine der anderen Tierschutzorganisationen hier in Kenntnis zu setzen.“
Mit einem Seufzer schlang sich Tiwi die schwarzen Haare zu einem Knoten. „Natürlich haben die Arbeiter behauptet, sie hätten den Kleinen gefunden und der Käfig hätte nur zu seiner Sicherheit gedient. Wir können ihnen nichts nachweisen und die Behörden …“ Sie verstummte. Doch eine Erklärung war auch nicht nötig. Die Behörden, die den Besitz von Orang-Utans seit 1994 unter Strafe gestellt hatten, würden nichts unternehmen. Zu mächtig war die Lobby der großen Plantagenbesitzer, zu viel Geld im Spiel.
Ohnmächtige Wut brodelte in Floriana hoch, während sie beobachtete, wie der kleine Orang-Utan in den OP-Raum geschoben wurde. Natürlich würde sie, wie immer, eine Meldung an sämtliche Behörden verfassen, die wahrscheinlich ungelesen in einem Papierkorb verschwinden würde.
Resigniert sah sie Tiwi hinterher, die sich die OP-Haube aufsetzte, den Mundschutz umband, die Hände schrubbte und desinfizierte, bevor sie sich von der Schwester in den OP-Kittel helfen ließ und vorsichtig die Handschuhe überzog.
Am späten Abend schaute Floriana noch einmal nach ihrem neuen Schützling, der mit den anderen Verletzten von zwei Pflegern rund um die Uhr überwacht wurde. Der Kleine war schon wach. Über den ausgemergelten Körper zogen sich Bandagen. Der schmerzerfüllte, verwirrte Blick aus den haselnussbraunen Augen ließ sie um ihre Fassung ringen. Nun hatte er nicht nur seine Mutter verloren, die sonst bis zum Alter von fünf bis sieben Jahren Tag und Nacht für ihn da gewesen wäre, ihn versorgt und gelehrt hätte, wie er sich im Urwald zu verhalten hätte, sondern wurde auch noch gefangen, gequält und schließlich hier operiert. Dass er durcheinander war, konnte sie nur zu gut nachvollziehen.
Sie desinfizierte die Hände, zog einen Mundschutz auf und setzte sich neben ihn. „Natürlich können wir deine Mutter nicht ersetzen, aber wir werden uns bei der Orangutan Protection gut um dichkümmern und dich aufpäppeln, bis du alt und stark genug bist, um im Urwald ausgewildert zu werden. In einem Gebiet, das unter unserem Schutz steht, wo du sicher in Freiheit leben kannst. Bukit Hijau wird dir gefallen. Und vorher bilden wir dich gut aus. Hier gibt es auch einige Spielkameraden für dich, die dein Schicksal auf die ein oder andere Weise leider teilen.“
Als sie sich zu ihm beugte und zart über den Arm strich, ergriff er ihren Daumen und umklammerte ihn hilfesuchend.
„Ich nenne dich Dedo“, wisperte sie und blinzelte die aufkommenden Tränen weg.
Auch nach den ganzen Jahren als Leiterin von Kampung Kera, in denen sie mit so viel Elend konfrontiert gewesen war, hatte sie es immer noch nicht geschafft, den Einzelschicksalen innerlich unbeteiligter gegenüber zu stehen. Es nahm sie nach wie vor mit, wie wertlos viele Menschen ein Tierleben betrachteten.
Eine ganze Weile blieb sie reglos neben dem Kleinen sitzen, der, ihren Daumen immer noch in seiner Faust, wieder eingeschlafen war. Sie zuckte zusammen, als die Tür aufging und die Tierärztin hereintrat.
„Was machst du denn so spät noch hier?“, wisperte Tiwi.
„Dasselbe könnte ich dich fragen“, gab Floriana leise zurück.
Tiwi erwiderte ihr Lächeln und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken. „Er wird gesund werden.“ Doch die Besorgnis in ihrem Blick war nicht zu übersehen.
Vorsichtig löste Floriana ihren Daumen aus Dedos Fingern, ohne ihn aufzuwecken, und fuhr zärtlich über seinen Arm.
Auch Tiwi strich, nach der Überprüfung der Werte, liebevoll über das weiche Fell. „Wie ich dich kenne, hast du noch nichts gegessen. Meine Mädchen übernachten heute bei ihrer Großmutter. Hast du Lust, mit mir etwas essen zu gehen? Ich muss …“ Sie machte eine vage Handbewegung, doch sie brauchte auch nicht auszusprechen, dass sie etwas anderes sehen musste, abgelenkt werden wollte. So häufig mit Elend konfrontiert zu werden, ging manchmal ganz schön an die Nieren.
„Prima Idee, sehr gern.“ Nach einem letzten zärtlichen Blick auf ihren Schützling stand Floriana auf.
Gute zwei Stunden später ließ sie sich in ihrem Stuhl zurückfallen und rieb sich den Bauch. „Das war jetzt genau das Richtige.“
Tiwi schob ihr den Teller mit giftgrünen Bällchen aus süßem Klebreis, die mit einer Schicht Kokosraspeln überzogen waren, zu. „Bist du dir sicher, dass du keine Klepon möchtest?“
Floriana schüttelte lächelnd den Kopf. „Bloß nicht, das wäre schade um den guten Geschmack der gegrillten Garnelen.“
„Wie kann man nur eine Mahlzeit ohne Nachspeise beenden?“ Tiwi musterte sie kritisch. „Du solltest auch ein bisschen mehr essen, du hast abgenommen.“
Unwillkürlich lachte Floriana auf. „Das schadet mir nichts. So schnell falle ich nicht vom Fleisch, da sind genug Reserven vorhanden.“
„Willst du etwa sagen, du machst eine Diät?“ Die Verständnislosigkeit in Tiwis Blick war nicht zu übersehen. Zu gerne aß sie, und zu sehr war das gute Essen in ihrer Tradition verwurzelt.
„Nein, Quatsch!“ Floriana verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hatte einfach nicht so viel Appetit in letzter Zeit.“
„Die Sache mit Ole geht dir immer noch nach?“ Der sorgenvolle Blick von Tiwi bohrte sich in ihre Stirn.
Der Abend war so schön gewesen, sie wollte ihn nicht durch das Thema „Ole Thomas“, den Gedanken an seine Untreue oder die Unzuverlässigkeit kaputtmachen. „Das mit Ole ist doch längst vorbei“, sagte sie abwehrend und zog die Schultern zusammen.
Tiwi öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. Eine kurze Zeit herrschte Stille zwischen ihnen. Schließlich konnte sie wohl nicht mehr an sich halten. „Hast du immer noch nichts von ihm gehört, wo er abbleibt?“
„Mir stattet er keinen Bericht mehr ab.“ Floriana presste die Lippen zusammen, dann stieß sie die Luft in einem Schwall aus. „Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, ist, dass er an einer großen Sache dran ist. Wer weiß, mit wem er sich aktuell angelegt hat? Ob es die Tropenholzmafia oder die Palmölproduzenten sind? Vielleicht hat er sich mal wieder irgendwo an einen Baum gekettet?“
„Wissen denn die anderen Kinder der Erde auch nicht Bescheid? Er ist doch ihr Anführer.“
„Nein, er muss wohl einen Alleingang gestartet haben – es wäre ja nicht das erste Mal. Provokation ist seine Natur.“ Sie merkte selbst, dass ihr Schnauben eher verbittert klang. Sie wollte sich jetzt, nachdem sie schon seit einigen Monaten getrennt waren, nicht mehr ständig um ihn sorgen müssen, weil er es in seiner Überzeugung als Umweltaktivist auch gerne mal auf die Spitze trieb. Seit seinem Verschwinden vor sechs Wochen nagte dieses ungute Gefühl an ihr, das sie nicht loswurde, obwohl es sie ja eigentlich nichts mehr anging. Aber er hatte so euphorisch geklungen, als sei er kurz vor dem Aufdecken eines ganz großen Betruges.
Inhaltlich stimmte sie vollkommen mit seinen Protestaktionen überein, doch seine radikalen Methoden hatten nicht immer ihre Zustimmung gefunden. Zu viel stand bei der OUP, der Orangutan Protection, auf dem Spiel, als dass sie sich einen offenen Protest leisten konnte. Ihre staatlichen Konzessionen waren fragil und sie durfte die Sicherheit ihrer Schützlinge nicht gefährden.
Sie seufzte. „Ich möchte uns nicht den Abend verderben. Lass uns das Thema wechseln.“
Tiwi ging kommentarlos darauf ein und erzählte von einer Schulaufführung ihrer beiden Mädchen. Doch Floriana ertappte sich dabei, dass ihre Gedanken immer wieder zu Ole schweiften. Was bloß mit ihm los war?
*
Frankfurt
Langsam wurde der Sarg unter den Klängen der Blaskapelle in die Erde hinabgelassen. Das Lied kam David Kepler vage bekannt vor, doch er konnte sich nicht an den Titel erinnern. Dafür kreuzten andere Erinnerungen seine Gedanken. Die Beerdigung seines Vaters lag schon über ein Jahr zurück, doch Schmerz, Sehnsucht – und auch Wut – schwelten unverändert in ihm. Wieder einmal war da dieser brennende Wunsch, die Uhr zurückdrehen zu können …
Asche zu Asche, Staub zu Staub. Kurz blinzelte David, dann versuchte er, sich wieder auf die salbungsvollen Worte des Priesters zu konzentrieren, der das tragische, abrupte Ableben von „Bruder Kurt“ beklagte.
Vierundsechzig war Davids Kollege erst gewesen, doch er hatte älter gewirkt. Die jahrelangen Zehnstunden-Arbeitstage bei Global Green Palm Oil Limited, die auch oft am Wochenende nicht ausblieben, und das dauerhafte Hin- und Herjetten von Borneo nach Deutschland hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. David hatte nur einige Monate mit ihm zusammengearbeitet und war erst in letzter Zeit verstärkt in alle Tätigkeiten einbezogen worden, er konnte nicht sagen, was Kurt, beziehungsweise englisch ausgesprochen „Kört“, wie er in der Firma genannt wurde, für ein Mensch gewesen war. Gehetzt und unausgeglichen, ständig unter Strom stehend, hatte er in letzter Zeit gewirkt. War bei der geringsten Kleinigkeit aufgebraust. Wenn, dann hätte David eher mit einem Herzinfarkt gerechnet, nicht mit einem Angelunfall.
Ein lautes Schnäuzen in ein Taschentuch brachte ihn in die Gegenwart zurück. Fröstelnd schlug er den Kragen seines schwarzen Mantels hoch und folgte in kleinen Schritten der Schlange Menschen, die sich am offenen Grab von seinem Kollegen verabschieden wollten. Man könnte fast meinen, es wäre ein Staatsbegräbnis. Hatte der Justitiar von Global Green so viele Freunde besessen? Richard „Rick“ Gross, der CEO, war eigens für die Beerdigung aus Borneo eingeflogen und hatte der gesamten Abteilung freigegeben, um dem letzten Abschied beiwohnen zu können. Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, am Grab ein zu Herzen gehendes Gebet für seinen Angestellten zu sprechen.
Doch wenn David die Bestattung mit den Sargträgern sowie den Büttenrednern - wie er sie im Geheimen bezeichnete - und der Acht-Mann-Blaskapelle schon pompös gefunden hatte, wurde er bei dem nachfolgenden Empfang im Steigenberger Frankfurter Hof eines Besseren belehrt. Das Büfett bog sich unter der Last der Kanapees, Meeresfrüchte und kunstvoll geschnitzten Blüten aus Früchten – vermutlich war die Bewirtung an asiatische Gepflogenheiten angepasst, wo bei Bestattungsfeierlichkeiten üppiger aufgetischt wurde. Die farbenfrohe Dekoration biss sich mit den schwarzen Gewändern der hungrigen Meute, die über die Platten herfielen, als wären sie nur wegen des Essens gekommen.
Davids Blick fiel auf die Witwe, die verloren am Rand stand, wie ein Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war. Wie musste sie sich fühlen? Ihr Gesicht lag hinter einem dunklen Schleier verborgen. Es wurde gemunkelt, dass ihr Gatte, nach der anstehenden Fusion mit einem anderen Palmöl-Hersteller eine längere Reise nach Norwegen mit ihr geplant hatte, wo er Angeln wollte. Nun war sie auf einen Schlag allein.
Wenigstens schien sie nicht, wie seine eigene Mutter, nach dem Tod ihres Mannes vor dem finanziellen Ruin zu stehen, wenn sie solch eine prunkvolle Bestattung arrangiert hatte. Kurt hatte sicherlich gut verdient und es hieß, sie hätte von GGP eine beträchtliche Summe aus einem Rentenfonds erhalten. Wahrscheinlich linderte das jedoch ihren Kummer nicht.
David war nicht der Einzige, dem sie aufgefallen war – sein Vorgesetzter Richard Gross trat zu ihr, legte den Arm um ihre Schultern und sprach auf sie ein. Eine außergewöhnlich attraktive Blonde folgte ihm – wahrscheinlich Ricks Frau, zumindest war das anhand der vertraulichen Geste zu vermuten, mit der sie über den Arm seines Chefs strich. Als sie sich umdrehte, sah David, dass sie um einiges älter war, als er aufgrund ihrer mädchenhaften Figur zuerst gedacht hatte. Sicherlich war sie auch schon um die fünfzig, der CEO von GGP, wie sie die Firma nannten, hatte sich doch nicht so weit unter seinem Alter umgeschaut wie anfangs vermutet.
Als hätte Rick seine Blicke gespürt, wechselte er noch ein paar Worte mit den Frauen, dann kam er auf ihn zu. Unwillkürlich fühlte David sich ertappt. Er versuchte, die Verlegenheit zu verbergen und schaute seinen Chef offen an.
„Sie stehen so abseits, Dave.“ Die gebleichten Zähne strahlten unnatürlich hell aus dem tiefgebräunten Gesicht hervor.
Mister Big kannte seinen Namen? Beziehungsweise die Variante, die ihm in der Firma verpasst worden war. Sie hatten bislang nicht viel miteinander zu tun gehabt. David erwiderte das Lächeln und überlegte fieberhaft, was er darauf antworten sollte. „Es war solch ein überraschender Tod“, sagte er schließlich wahrheitsgemäß, zu verblüfft war er, um auf die Schnelle etwas Geistreiches zu bieten.
Die Züge seines Gegenübers verdunkelten sich. „Ja, da haben Sie recht, Dave. Solch eine Tragik! Man kann es immer noch nicht glauben, wenn jemand so plötzlich weg ist. Ich habe Kört, Gott habe ihn selig, sehr geschätzt …“ Es klang mehr wie eine Frage.
David hielt dem bohrenden Blick seines Vorgesetzten stand. „Ja, ich auch. Ich habe persönlich noch nicht so viel Zeit mit ihm verbracht, aber ich denke, er war ein sehr fähiger Mann, der nicht nur privat, sondern auch in der Firma eine große Lücke hinterlässt.“
Rick nickte betrübt. „Allerdings, es ging alles zu plötzlich.“ Er vertiefte es jedoch nicht weiter und schwenkte stattdessen um: „Möchten Sie nichts essen?“ Er deutete auf das Büfett, das sich immer wieder wie von Zauberhand aufzufüllen schien, als wäre er der Gastgeber.
„Nein, danke, ich bin nicht hungrig.“
„Sie haben Ihren Vater vor nicht allzu langer Zeit verloren, nicht wahr?“, erwiderte Rick überraschend feinfühlig, Mitleid stand auf seinen Zügen.
David versteifte sich kurz. Es war erstaunlich, dass sein Chef sich auch an dieses Detail von ihm erinnerte. Ob Rick wohl die Hintergründe zum Tod seines Vaters kannte, die er beim Vorstellungsgespräch, als er nach seiner Familie gefragt wurde, bewusst verschwiegen hatte? Und was wusste sein Boss über die weiteren Umstände?
Schließlich gab er nur einen zustimmenden Laut von sich.
Die Überraschung schien Rick gespürt zu haben. „Ich habe mir Ihre Unterlagen nochmals angesehen, nachdem mir sehr positiv von Ihren Leistungen berichtet wurde.“
Ein warmes Gefühl von Stolz wallte in David auf. Zwar hatte er sein Bestes gegeben, doch bislang war er sich nicht bewusst gewesen, dass es aufgefallen war. „Danke schön“, sagte er schlicht.
Rick legte die Hand auf seine Schulter, drückte sie und lächelte wohlwollend. „Das gefällt mir, Dave. Das gefällt mir sehr.“ Dann deutete er auf die attraktive Blonde, die fragend zu ihnen sah. „Sie entschuldigen mich – Vivi, meine Frau, scheint mich schon zu vermissen.“ Er senkte seine Stimme. „Wir müssen uns um die arme Frau Gutenke kümmern.“
Bevor David antworten konnte, hatte er sich umgedreht.
2
Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewebt,
er ist nur ein Strang dieses Netzes.
Was immer er dem Netz antut, tut er sich selbst an.
(Indigenes Sprichwort)
Indonesien, Borneo, Kampung Kera
Die Tropfen trommelten gegen die Fenster und rannen in kleinen Bächen die Scheiben hinunter. Doch schon nach kurzer Zeit war der tropische Regenschauer vorbei. Die Sonne schob sich durch die Wolkenfront und ließ das dichte Blattwerk des Urwaldes unterhalb des Verwaltungsgebäudes von Kampung Kera frisch gewaschen aufleuchten. Stolz wallte in Floriana auf, als sie auf ihr Werk blickte: Das Brachland, das sie mit harter Arbeit in eine üppige Oase für die Primaten und andere vom Aussterben bedrohte Tierarten verwandelt hatten, die hier Schutz und Aufzucht fanden. Zu gerne wäre sie jetzt draußen, würde den Duft nach feuchter Erde atmen, anstatt hier, in ihrem klimatisierten Büro, zu sitzen und Schriftverkehr zu beantworten, der allesamt unangenehm Bürokratisches enthielt. Oder bei dem sie sich – wie bei den Anträgen auf Fördergelder für die OUP – wie ein persönlicher Bittsteller fühlte.
Ein Klopfen unterbrach sie. Müde strich sie sich einige rote Haarsträhnen aus der Stirn und rief auf Indonesisch: „Herein.“
Ihr Stellvertreter Liam Jensson steckte den Kopf zur Tür hinein. „Störe ich?“
„Nein, passt schon, was gibt’s?“
Er betrat zögernd ihr Heiligtum, zu genau wusste er wohl, wie sehr sie die lästige Büroarbeit hasste. Sie versuchte, nicht allzu mürrisch zu wirken, doch dann erstarrte sie. Die sorgenvolle Miene verhieß nichts Gutes.
Unruhig schob sie ihren Bürostuhl zurück und stand auf. „Was ist los?“ War etwas mit einem ihrer Babys nicht in Ordnung? Dedos Zustand war am Morgen auf dem Weg der Besserung gewesen.
Der Schwede trat unbehaglich von einem auf den anderen Fuß, dann strich er sich seufzend über den sorgfältig gestutzten Dreitagebart. „Sie haben Ole gefunden.“
Liams Miene sagte ihr, dass Ole nicht irgendwo warten und freudig von einem Erfolg berichten würde. In ihrem Inneren breitete sich Kälte aus. Oles sommersprossiges Gesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, die dauerhaft zerzausten dunklen Haare und das leidenschaftliche Glühen für seine Ziele, das sich stets auf seinen Zügen widergespiegelt hatte.
Sie trat zum Fenster und wandte ihr Gesicht zum dichten Grün des Urwalds.
Schließlich brachte sie heraus: „Was ist mit ihm?“
Liam räusperte sich, trat näher und legte von hinten seine Hand auf ihre Schulter. „Es tut mir so leid, Flo, ich weiß, wie nahe ihr euch standet.“
Floriana versteifte sich. Er wusste doch, dass ihre Beziehung längst vorbei war und das Ende nicht gerade harmonisch verlaufen war. Dennoch breitete sich in ihrem Magen ein bohrender Schmerz aus. „Sag es mir.“
„Die DNA-Analysen sind noch nicht beendet“, er stockte, holte hörbar Luft, dann sprach er weiter, „aber sie gehen davon aus, dass es Ole ist.“
Ein Schwall Magensäure drückte sich ätzend durch ihre Speiseröhre nach oben. „Was soll das heißen?“
„Der Körper wurde im Regenwald kurz vor Selanbing, in der Nähe des Wehea Nationalparks, gefunden. Die indonesischen Behörden gehen davon aus, dass es ein Racheakt der Dayak war, weil …“, er stockte wieder, strich ihr beruhigend über die Schulter, dann räusperte er sich und fuhr fort: „der Kopf bislang fehlt.“
Die Worte plätscherten an Florianas Ohren vorbei, als wären diese mit Wasser gefüllt. Es dauerte eine Weile, bis sie den Sinn erfasste. Den Gedanken an Ole schob sie von sich, das war zu unfassbar. „Die Dayak? Was soll der Schwachsinn?“ Ihre Stimme klang selbst für sie seltsam belegt.
Die Kinder der Erde waren bei den Ureinwohnern von Kalimantan hoch angesehen und gerade dort, in dem Gebiet des Wehea Nationalparks, betätigte sich die indigene Bevölkerung selbst aktiv im Umweltschutz und dem Erhalt ihres Erbes.
Liam angehobene Schultern sackten wieder nach unten. „Ich glaube es auch nicht, aber anscheinend deutet alles auf eine rituelle Enthauptung hin.“
Floriana schüttelte sich, als könnte sie damit das Bild von Ole, das sich ihr aufdrängte, abschütteln. Sie wehrte ab, als Liam sie tröstend in seine Arme ziehen wollte. Sie konnte nicht garantieren, ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung zu bewahren, und außerdem war es besser für ihn, wenn er sich keine Hoffnungen machte, seine Avancen häuften sich in letzter Zeit, seit sie Single war. Auf einmal hatte sie das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Sie deutete auf ihren Schreibtisch. „Halte mich auf dem Laufenden, wenn du mehr hörst. Ich muss diese Anträge noch fertigstellen.“
Er ballte die Hand zur Faust, seine Stimme wurde lauter. „Du musst nicht immer taff sein und alles mit dir selbst abmachen, Flo. Sprich mit mir!“
Doch sie schüttelte nur den Kopf.
Das Schließen der Tür hallte in ihren Ohren. Kraftlos ließ sie ihre Stirn gegen die kalte Scheibe sinken.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie sich gefangen hatte. Das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, bemächtigte sich ihrer. Sie wischte sich über die feuchten Wangen und griff nach dem Telefonhörer.
Natürlich waren weder der Chef der lokalen Polizei noch sein Stellvertreter zu sprechen, und nur mit einiger Wartezeit wurde sie schließlich mit einem Inspektor verbunden. Der fühlte sich jedoch nicht zuständig, als er hörte, dass sie wegen des Körperfunds in einem anderen Distrikt anrief.
Nur mühsam unterdrückte sie ihre Ungehaltenheit, damit würde sie definitiv nichts erreichen. „Hören Sie, wenn der …“, sie schluckte, das auszusprechen fiel ihr schwer, „Ermordete Mister Thomas sein sollte, dann ist das Tatmotiv …“
„Es gibt bereits Verdächtige …“
„Aber es wird in die falsche Richtung ermittelt. Das Tatmotiv ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass Mister Thomas eine Umweltsünde aufgedeckt hat, die jedoch nicht zwingend in der Nähe des Fundortes liegen muss. Hier wurden kürzlich …“
„Wie ich Ihnen bereits sagte, sind wir nicht zuständig für diese …“
Nun konnte sie doch nicht mehr an sich halten und unterbrach ihn. „Ich hatte Sie gebeten, mir einen Ansprechpartner zu nennen, der Nachforschungen bezüglich einiger Verdachtsmomente anstellen kann.“ Sie hatte kürzlich schon versucht, eine illegale Brandrodung in der Nähe ihres Gebietes anzuzeigen, an der Ole ebenfalls dran gewesen war, vielleicht wurde ihr im Angesicht seines Mordes mehr Gehör geschenkt. Auch wenn sie nicht sicher wusste, ob ein Zusammenhang bestand, so gab es ihr wenigstens das Gefühl, etwas zu bewegen, damit Oles Arbeit nicht völlig sinnlos gewesen war. Und eventuell ergab sich daraus ja ein Hinweis, wer dahinterstecken könnte.
„Bitte warten Sie einen Augenblick.“
Der „Augenblick“ zog sich beinahe endlos hin, und sie fragte sich, ob sie überhaupt noch etwas hören würde, als sich eine andere Stimme meldete, die genauso desinteressiert klang: „Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, es wird sich jemand mit Ihnen in Verbindung setzen.“
Auf den Rückruf könnte sie lange warten.
„Nicht nötig, ich melde mich wieder.“ Floriana legte resigniert auf. Sie verfluchte sich dafür, dass sie es überhaupt versucht hatte, obwohl sie die Vergangenheit längst eines Besseren belehrt hatte. Wie oft war es vorgekommen, dass die indigene Bevölkerung bei Kahlschlag oder Landraub die Polizei zu Hilfe gerufen hatte? Statt das Verbrechen zu ahnden, waren dabei einige von ihnen selbst gefangen genommen worden, während die gutsituierten Diebe in der Regel ungeschoren davonkamen. Die Ordnungshüter zählten Umweltsünden nicht zu ihren Prioritäten, dafür wurde von der anderen Seite – mit ausreichend finanziellen Mitteln – gesorgt. Und sie persönlich oder die Orangutan Protection hatten nicht das Kapital, um zu bewirken, dass ihre Belange einen höheren Stellenwert erhielten. Selbst wenn sie, wider ihre Überzeugung, Geld in die Hand nehmen würde – wie viel sie auch investierte, die Gegenseite befand sich finanziell eindeutig im Vorteil.
Es gab ihr nur eine winzige Hoffnung, dass die Kinder der Erde es sicherlich ebenfalls versuchten, Einfluss zu nehmen, vielleicht über die befreundeten Umweltorganisationen in Europa und den Staaten. Doch vermutlich endete es wie immer damit, dass ungeliebte Personen, die zu viele unangenehme Fragen stellten, im besten Fall des Landes verwiesen wurden. Falls sie nicht „zufällig“ auf Nimmerwiedersehen verschwanden oder ihnen Oles Schicksal widerfuhr.
Das konnte sie selbst keinesfalls riskieren. Eine ohnmächtige Wut überkam sie.
Sie sah auf ihren Schreibtisch. Mit Sicherheit konnte sie sich nicht mehr auf den Papierkram konzentrieren, so machte sie sich auf, den kleinen Dedo zu besuchen.
„Hallo, mein Kleiner“, murmelte sie gegen das kleine Köpfchen, als er sofort auf ihren Arm kletterte und sich an sie schmiegte. Sie strich zart über die Fellstoppeln. Zum Glück erholte er sich körperlich recht schnell, auch wenn der Verlust seiner Mutter und was er durchgemacht hatte, noch lange seelische Narben hinterlassen würde. In den haselnussbraunen Augen lag ein tiefer Schmerz verborgen, der nicht so schnell weichen würde. Nun lag es an ihnen, ihm all die Liebe zu geben, die er brauchte, und die Mutterrolle zu übernehmen, zumindest in der Erziehung.
„Bald darfst du auch in die Ausbildung mit den anderen Babys. Sie haben auch keine Mama mehr. Dort zeigen wir euch, wie man auf Bäume klettert und wie ihr Futter findet. Das wird dir gefallen.“ Dedo legte ihr die kleine Hand gegen die Wange und sah sie an, als verstünde er jedes Wort.
Am Abend hatte sich Floriana wieder einigermaßen gefangen. Auf dem Heimweg zu ihrem Häuschen, das im Dorf am Rande von Kampung Kera lag, fuhr sie im Supermarkt vorbei und besorgte sich etwas Obst, Gemüse und ein Stück Ziegenkäse. Sie würde sich einen Salat machen und früh zu Bett gehen, vielleicht noch lesen. Mit etwas Glück half die Ablenkung, die Furcht vor den Bildern, die sie im Schlaf heimsuchen könnten, zu mildern.
Sie trat das Gaspedal weiter durch, der Jeep rumpelte über den Zufahrtsweg bis zu ihrem Tor. Den Motor schaltete sie ab, ließ die Scheinwerfer jedoch brennen, um den Schlüssel einfacher ins Vorhängeschloss stecken zu können. Die Kette war verdreht und hatte sich verkantet. Seltsam. Sie legte sie immer in gleicher Weise um die Gitterstäbe. Hatte das Unwetter heute so getobt, dass es dermaßen am Tor gerüttelt hatte? Unbehagen kroch spinnengleich ihren Rücken hinauf. Auf dem inzwischen wieder vollkommen getrockneten Boden sah sie keinerlei Spuren. Sie schalt sich albern.
Etwas gepresst vor sich hin summend parkte sie das Auto, lud die Einkäufe aus und hastete im Stockdunklen zum Eingang. Wieder einmal erinnerte sie sich daran, dass sie längst einen Bewegungsmelder hatte einbauen wollen, doch die Projekte in Kampung Kera gingen immer vor – ihr eigenes Haus hatte äußerlich kaum den Zustand des Rohbaus überwunden. Sie sah sich vorsichtig um, bevor sie die Alarmanlage abschaltete.
Plötzlich raschelte es hinter ihr. Sie fuhr herum.
Nichts war zu sehen. Vermutlich hatte sie eine Eidechse aufgeschreckt. Schnell schloss sie die Tür auf. Während sie die Einkäufe auf ihrem rechten Arm balancierte und verfluchte, dass sie keine Tasche mitgenommen und die Plastiktüte aus Umweltgründen abgelehnt hatte, tastete sie mit der Linken nach dem Lichtschalter und knipste ihn nach unten. Es blieb stockduster. Verflixt! Hatte es mal wieder einen Stromausfall gegeben?
Die Angst packte sie im Nacken wie eine Kralle.
Hektisch sah sie sich um und trat in den Flur, knallte mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und ließ sich erleichtert gegen das Türblatt sinken. Sie versuchte sich zu erinnern, ob die anderen Häuser auf dem Weg auch dunkel gewesen waren, doch sie war zu sehr in Gedanken versunken gewesen.
Mit der Linken hangelte sie in ihrer rechten Hosentasche nach dem Handy, um Licht zu machen, verdrehte dabei den Oberkörper. Eine Orange kullerte zu Boden, rollte über den Flur. Sämtliche Einkäufe drohten, von ihrem Arm zu rutschen. Sie taumelte, stieß gegen etwas Weiches, wo eigentlich nur Wand sein sollte.
Der Schrei blieb ihr im Hals stecken, als sich ein Messer gegen ihre Kehle presste.
*
Frankfurt
Ein kurzer Stich, dann bohrte sich die Nadel in seinen Arm. Die gelblich-klare Flüssigkeit breitete sich mit einem Brennen in ihm aus. David schloss die Augen und holte tief Luft. Es war alles so schnell gegangen. Auf einmal überkamen ihn die Zweifel. Warum tat er das? Brauchte er das überhaupt noch? Das Herausziehen der Nadel spürte er nicht mehr. Ein kleiner Blutstropfen quoll aus der Einstichstelle, wie eine winzige rote Perle.
„Sie sollten die nächsten Tage wieder keinen Sport treiben, Doktor Kepler“, drang die Stimme des Arztes in seine Gedanken.
David nickte. Das hatte er gemerkt, als er am Tag nach der letzten Impfung beim Squash Mühe gehabt hatte, seinen Arm zu bewegen.
Dr. Berndt zog die Kanüle von der Spritze und warf beides in gesonderte Mülleimer, bevor er ein Pflaster aufbrachte. „So, mit den Impfungen sind wir durch. Wann geht es denn los?“
Der Schmerz zog durch seinen Arm, als David die Schultern hob. „Eigentlich hätte ich in gut zwei Wochen starten sollen, aber ich bin nicht sicher, ob der Termin noch steht. Das Team in der Firma wird aktuell umgestellt. Unser Justitiar, den ich begleiten sollte, ist vor Kurzem tödlich verunglückt.“
„Das tut mir leid.“
„Ja, es ist seltsam, wenn jemand so plötzlich fehlt, auch wenn wir uns nicht nahestanden.“
„Mein herzliches Beileid.“ Die Stimme des Arztes wurde wieder geschäftsmäßig: „Falls Sie nach Borneo fahren, Doktor Kepler, denken Sie immer daran, genügend Mückenspray zu verwenden, am besten Sie besorgen sich welches vor Ort, das eher an die Gegebenheiten angepasst ist. Tragen Sie lange Kleidung und schlafen Sie unter einem Moskitonetz. Besonders bei Dämmerung wird es gefährlich, da sind die Stechmücken am aktivsten. Jeder Moskito kann ein potenzieller Überträger von Tropenkrankheiten sein, wie Malaria oder auch Denguefieber. Damit ist nicht zu spaßen.“
David nickte, bevor er sich sein Hemd überzog und die Krawatte umband. Nach einigen gut gemeinten Ratschlägen des Arztes über das Verhalten in den Tropen verabschiedete er sich.
Trübes Nieselwetter empfing ihn. Obwohl es bereits Vormittag war, hing ein düsterer Schleier über der Frankfurter Innenstadt, als wäre der Tag noch nicht angebrochen. Eine graue Masse Menschen waberte über die Straßen, dick vermummt, den Blick auf den matschigen Gehsteig gerichtet. Die Lichter der Autos spiegelten sich in großen Pfützen am Straßenrand.
Fröstelnd schlug David den Kragen seiner Daunenjacke hoch und stapfte durch den knöcheltiefen Matsch – die letzten Zeugen des nächtlichen Schneeschauers - zur S-Bahn-Haltestelle. Warum hatte die blöde Autobatterie ausgerechnet heute den Geist aufgeben müssen? Die Feuchtigkeit drang von allen Seiten in seine Lederschuhe, er hätte Stiefel anziehen sollen. Schon nach kürzester Zeit waren seine Socken ekelhaft klamm. Trotz der warmen Jacke kroch die Kälte langsam den gesamten Körper hinauf. Ein Aufenthalt in den Tropen käme jetzt genau richtig.
Erleichtert klopfte David den Matsch von den Füßen und krempelte die Hosenbeine wieder herunter, als er endlich - nach einer ungemütlichen S-Bahn-Fahrt zwischen rempelnden Menschen und einem weiteren feuchten Fußmarsch - an dem Wolkenkratzer ankam, in dem der deutsche Sitz des Palmölkonzerns Global Green Palm Oil Limited,untergebracht war. Noch immer überkam ihn eine Mischung aus Stolz und Fremdheit beim Betreten des stylishen Gebäudes. Den auf Hochglanz polierten Marmorfliesen war das Schmuddelwetter draußen kaum anzusehen, wahrscheinlich waren sie bereits gewienert worden, nachdem der morgendliche Schwarm Arbeitsbienen eingefallen war. Das Klackern seiner Schritte übertönte die leise Instrumentalmusik, die aus verdeckten Lautsprechern drang. Die Empfangssekretärin Brigitte, die unantastbar in ihrer „Burg“, beziehungsweise hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch, umgeben von Grünpflanzen, thronte, verzog ihre dezent geschminkten Lippen zu einem geschäftsmäßigen Lächeln, doch ihr Blick wanderte unverhohlen missbilligend über seine nasse Gestalt.
„Guten Morgen, Dave.“
Möglichst würdevoll nickte er ihr zu. „Guten Morgen, Britt.“
Er betrat den Aufzug und drückte den Knopf für die Rechtsabteilung, die im 17. Stock lag. Hier dämpften dicke Teppichböden seine Schritte. Die Rechtsanwaltsgehilfin Katrin – Katie –, die ihm mit einem Arm voller Akten entgegenkam, blickte mit echter Freundlichkeit und verlegenem Lächeln zu ihm auf. Sie war ebenfalls ziemlich neu hier. Er musste sich nicht verstellen, um den Gruß mit Wärme zu erwidern.
Am Eingang zu seinem Büro verharrte er kurz und sah auf das Türschild. Irgendjemand hatte einen Zettel mit seinem Namen ausgedruckt und aufgeklebt. Ein schlichtes: Dr. jur. David Kepler. Ohne Mittelinitial. Warum hatten ihm seine Eltern auch keinen zweiten Vornamen gegeben, wie es in den englischsprachigen Regionen üblich war? Darüber stand, geschützt hinter Glas: Dr. jur. Kurt F. Gutenke. F. für Friedrich. Niemand hatte sich bislang die Mühe gemacht, nach dessen Tod das Schild auszutauschen, seit David das Büro zugeteilt bekommen hatte - mitsamt den Aktenbergen, die irgendein unsichtbarer Geist vorsortiert hatte.
Energisch schlüpfte David aus seiner Daunenjacke, als könnte er damit auch das ungute Gefühl ablegen, und hängte sie auf einem Bügel über die Heizung zum Trocknen. Dann strich er das Jackett glatt und rückte die Krawatte gerade, bevor er ordnend durch die kurzen braunen Haare fuhr. Er nahm ein Papiertuch aus der Box auf dem Schreibtisch, die sich immer wie von Zauberhand füllte, und versuchte, den gröbsten Schmutz von den Schuhen zu entfernen. Die Blöße würde er sich nicht geben, neben all den blankpolierten Gestalten. Bei solch einem Schmuddelwetter musste er unbedingt das nächste Mal für den Weg Stiefel tragen und die Schuhe einpacken, wenn sein Auto wieder streikte. Sonst parkte er in der Tiefgarage, da bekam er vom Wetter nichts mit.
Gerade hatte er sich an den wuchtigen Mahagonischreibtisch gesetzt und den Rechner hochgefahren, da klopfte es an der Tür.
„Ja, bitte?“
Katie kam herein. Sie trug eine große Tasse Kaffee, die sie auf dem Schreibtisch platzierte.
„Es kamen einige Nachrichten für Sie, die ich in Ihr Postfach gestellt habe. Rick wünscht sofortigen Bescheid, wenn Sie da sind, Dave. Kann ich Sie melden?“
David erwiderte ihr Lächeln. „Sicherlich, danke, Katie.“
Ein erwartungsvolles Ziehen breitete sich in seinem Magen aus. Was „Mister Big“ wohl von ihm wollte?
„Gut, ich sage Ihnen Bescheid, wenn er Sie rufen lässt.“ Ein letzter, warmer Blick, dann schwebte sie wieder zur Tür hinaus.
Das konnte noch eine Weile dauern, bis Richard Gross ihn zu sich beorderte, er war immer schwer beschäftigt.
David streifte die Schuhe ab und rieb die nassen Socken an dem flauschigen Teppich. Ein Himmelreich für trockene Füße! Der heiße Kaffee durchwärmte ihn angenehm von innen. Er sichtete die Nachrichten. Zwei Fragen zu Verträgen, die er die letzten Tage aufgesetzt hatte, ein Anruf seines Indonesisch-Übersetzers Ruben van der Van, der um einen Rückruf bat, sowie die Einladung zu einer Videokonferenz mit einem Dr. Jaques Dupont, für 5 p. m. SGT, Singapore Time. Ein Kollege aus der dortigen Filiale von PT Global Green Palm Oil. Worum es wohl ging? David schaute auf die Uhr. Singapur war sieben Stunden voraus, er musste sich noch eine knappe Stunde in Geduld üben.
Den Anruf an Ruben erledigte er sofort. Es war nur eine einfache Frage zu einer Terminfrist, die sich schnell beantworten ließ.
Gedankenverloren starrte David auf seinen Bildschirm. Bilder von Borneo, die er sich aus dem Internet heruntergeladen hatte: Üppiger Regenwald, in dem Nebelschwaden wie Watte in den Baumwipfeln hingen, wurde von einem schillernd bunten Eisvogel abgelöst, der gleich darauf von einem Orang-Utan-Baby ersetzt wurde, das ihn mit großen schokoladebraunen Augen direkt anzublicken schien. Unwillkürlich lächelte er. Dann beendete er mit der Maus das Schauspiel und konzentrierte sich eine Weile auf die Vertragsentwürfe, die er sich aus dem Indonesischen übersetzen lassen hatte, überprüfte einige Paragraphen, doch die klammen Füße lenkten ihn ab. Verdammt!
Er nahm die Frankfurter Allgemeine aus seiner Aktentasche, riss eine Seite mit Werbeanzeigen heraus, stopfte seine Schuhe damit aus und stellte sie unter den Heizkörper. Dann schlüpfte er aus den nassen Strümpfen. Der weiche Teppichboden fühlte sich wunderbar warm und trocken unter seinen Füßen an. Gerade hatte er die Socken unauffällig hinter dem Vorhang auf dem Heizkörper platziert, da klopfte es. Bevor er etwas sagen konnte, sprang die Tür auf und sein Boss höchstpersönlich stürzte in den Raum. Wie immer sprühte er voller Elan und Dynamik, die Ende fünfzig waren ihm höchstens an den grauen Schläfen anzusehen.
David schoss Hitze in die Wangen, als Rick die Begrüßung im Hals steckenblieb und er ihm fassungslos auf die nackten Füße starrte.
„Dave, was ist denn mit Ihnen passiert?“
„Guten Morgen, Rick. Nasse Füße bekommen“, murmelte er und versuchte, unbeschwert zu klingen, als wäre winterliches Barfußlaufen im Büro etwas Alltägliches. Doch er merkte selbst, dass sein Lächeln schief geriet.
Rick eilte zum Schreibtisch und drückte den Knopf der Sprechanlage. „Katie, gehen Sie Dave ein Paar Socken und Schuhe besorgen, Größe …“
„Fünfundvierzig“, erwiderte David wider Willen und fragte sich, wie schon so oft, warum sich eigentlich niemand Rick widersetzte.
„Größe fünfundvierzig. Und zwar schnellstmöglich. Bringen Sie zwei Paar zur Auswahl mit. Sparen Sie nicht an der Qualität und zahlen Sie mit der Firmenkreditkarte.“
„Jawohl, Sir“, bestätigte Katie, und wahrscheinlich war sie schon halb aus der Tür.
„Rick, das ist nicht nötig“, protestierte David. Jetzt war er sich sicher, dass ihm die Verlegenheit ins Gesicht geschrieben stand. Und vielleicht auch die Verärgerung, dass gegen seinen Willen über ihn entschieden wurde.
Rick legte ihm den Arm um die Schultern – er musste sich etwas strecken, weil David ihn um einen halben Kopf überragte. Wenigstens das gab ihm eine kleine Genugtuung, auch wenn sein Chef durch sein bestimmtes Auftreten größer wirkte, als er war.
Doch, als hätte Rick es gespürt, drückte er ihn auf den Bürosessel, ohne die Hand von seiner Schulter zu nehmen. Sein Gesicht kam so nahe, dass David das herbe Aftershave ganz deutlich riechen konnte.
Mr. Big ließ die schneeweißen Zähne aufblitzen. „Dave, machen Sie sich keine Gedanken. Sie haben wirklich hervorragende Arbeit geleistet, seit Sie bei uns sind – betrachten Sie es als kleinen Bonus.“
David versuchte die Hand, die seine Schulter knetete, zu ignorieren. „Das ist wirklich nicht nötig, ich mache die Tätigkeit gerne.“